I. Einleitung
Partizipation werde zum Kennzeichen der »neuen weltpolitischen Kultur«, prognostizierten vor etwas mehr als drei Jahrzehnten die Politikwissenschaftler Gabriel A. Almond und Sidney Verba; allerdings könne nicht vorhergesagt werden, ob von den möglichen partizipatorischen Modellen der totalitäre Staat, der demokratische Staat oder eine Mischform aus beiden Modellen den Sieg davontragen werde Mit der „dritten Demokratisierungswelle“ schien eine weltweite mehrheitliche Option für das demokratische Modell nicht ausgeschlossen, so daß schließlich Ende der achtziger Jahre die Diskussionen in den westlichen Demokratien um eine von außen unterstützte Förderung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, verbreiterter Partizipation und sozialer Gerechtigkeit als wesentliche Komponenten eines demokratischen Systems in Entwicklungsländern angeregt wurden und vielfach einen hoffnungsvolleren Tenor annahmen. Rückentwicklungen und Blockaden von noch jungen Demokratierungsprozessen, wie sie sich Mitte der neunziger Jahre gerade auch auf dem afrikanischen Kontinent abzuzeichnen begannen, haben wiederum die Zweifel an der Übertragbarkeit westlicher Demokratiemodelle in den Vordergrund treten lassen. Die politikwissenschaftliche Forschung befaßt sich seither wieder intensiver mit den Bedingungen und Hindernissen für eine demokratische politische Entwicklung, insbesondere in Entwicklungsländern.
Eine ausgeprägt skeptische Einstellung charakterisierte die gängige Einschätzung der Demokratisierungskapazitäten der arabisch-islamisch geprägten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens Die begrenzte Reichweite der politischen Liberalisierung in Tunesien nach der Absetzung von Staats-präsident Habib Bourguiba am 7. November 1987 oder die kurze Dauer des Demokratisierungsprozesses in Algerien, der am 23. Februar 1989 eingeleitet wurde und am 11. Januar 1992 mit dem Abbruch der Legislativwahlen sein vorläufiges Ende fand, sowie das Fortbestehen sich traditional legitimierender und auf Stammesbeziehungen basierender autoritärer Systeme auf der Arabischen Halbinsel schienen nur allzu deutlich auf die Inkompatibilität der dominanten politischen Kultur des arabisch-islamischen Raumes mit einem demokratischen politischen System hinzuweisen. In diesem Sinne hat jedenfalls der Politologe Elle Kedourie im Schlußwort seiner 1991 überarbeiteten zweiten Ausgabe von „Democracy and Arab Political Culture“ festgestellt: „Bis europäische Ideen und das europäische Vorbild sich im Nahen und Mittleren Osten verbreiteten, war die arabische Welt wie der gesamte Nahe und Mittlere Osten von Regimen regiert, die zweifellos despotisch waren, deren politische Ordnung jedoch angenommen und anerkannt wurde. Diese politischen Ordnungen wurden durch die Macht und den Einfluß Europas diskreditiert und unwiderruflich zerstört. Nichts vergleichbar Dauerhaftes oder Zufriedenstellendes konnte sie ersetzen.“
Diese allerdings kontroverse Einschätzung Kedouries basiert auf einer statischen Sicht der politischen Kultur im arabisch-islamischen Raum. Kedourie berücksichtigte weder die Veränderungen der Komponenten noch der Strukturen der autoritären Systeme seit der Unabhängigkeit und die sich wandelnden innen-und außenpolitischen Umfeld-bedingungen, die einschneidende Rückwirkungen auf die Gesellschaft und auf die staatlichen innen-wie außenpolitischen Handlungsentscheidungen hatten. Eine zwischen den einzelnen Subregionen des arabischen Raumes und den einzelnen Staaten differenzierende Betrachtung hätte darüber hinaus wesentliche Unterschiede erkennen lassen, die für die systemischen Transformationskapazitäten von Bedeutung sind. Zweifellos stieß Demokratisierung als Institutionalisierung von politischem Wettbewerb ebenso wie die mit ihr verbundene Entmonopolisierung der politischen Entscheidungsfindung auf praktische Umsetzungsschwierigkeiten im arabischen Raum. Dennoch wurden aufgrund der veränderten in-und externen Problemlagen und Umfeldbedingungen -darunter die verstärkten globalen Abhängigkeiten ökonomischer Art, die mit einem Souveränitätsverlust des einzelnen Nationalstaates im Wirtschaftssektor verbunden sind qualitativ neue Voraussetzungen für systemische Veränderungen vornehmlich in den Europa nahegelegenen und ihm eng verbundenen Maghrebstaaten Algerien, Marokko und Tunesien geschaffen.
II. Die Krise des Autoritarismus als Motor für systemische Eingriffe
Die drei Kernmaghrebstaaten -Algerien, Marokko und Tunesien -haben unterschiedliche koloniale Erfahrungen gemacht, die die politische Orientierung nach der Unabhängigkeit beeinflußten. Während Tunesien (1881-1956) und Marokko (1911-1956) französische Protektorate waren, war Algerien, 1830 von Frankreich besetzt, als Siedlungskolonie dazu bestimmt gewesen, dem Mutterland eingegliedert zu werden. Marokko und Tunesien wurden ohne langjährige kriegerische Auseinandersetzungen 1956 souveräne Staaten und entwickelten relativ normale Beziehungen zu Frankreich bzw. Europa. Algerien dagegen errang seine Unabhängigkeit in einem langen Befreiungskrieg (1954-1962). Eine Abwendung von „europäischen“ Konzepten für die Organisation des wirtschaftlichen und politischen Systems und die im Vergleich zu Marokko und Tunesien ausgeprägtere Betonung der arabischen Identität des Landes und seiner Bewohner, waren eine unmittelbare Folge dieser historischen Ereignisse.
In Algerien etablierte sich trotz des Widerstandes in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit ein sozialistisch orientiertes Einparteiensystem (Parteienverbot 1963), dessen institutioneile Grundlagen nach dem Putsch Oberst Boumediennes 1965 sukzessive geschaffen wurden. Eine zivil-militärische Koalition dominierte bis 1989 die Staats-und Parteiführung
In Marokko konnte der Sultan (seit 1957 „König“) seine Macht im unabhängigen Staat -ungeachtet vorhandener Bestrebungen der bereits vor der Unabhängigkeit gegründeten nationalistischen Parteien, eine Republik, zumindest jedoch eine konstitutionelle Monarchie zu etablieren -bewahren und ausbauen. Begünstigt wurde die Machtposition des marokkanischen Königs gegenüber den Parteien durch den Popularitätsgewinn, den ihm der Widerstand gegen die Protektoratsmacht und die dadurch bewirkte Verbannung ins Exil eingebracht hatte 1962, ein Jahr nach dem Antritt der Thronfolge durch König Hassan II., erhielt das Königreich Marokko zwar eine Verfassung, wurde dadurch aber nicht zur konstitutionellen Monarchie: de facto steht der König bis heute außerhalb jeglicher Kontrolle und verfügt seinerseits über alle Kontroll-und Eingriffsmöglichkeiten gegenüber der Legislative. Es fanden weder, entsprechend den gesetzlich vorgesehenen Fristen, regelmäßige Wahlen statt, noch sind die im Parlament vertretenen Parteien frei, königliche Direktiven nicht zu beachten: ihre legislative Kompetenz ist begrenzt * *
In Tunesien hatte der Monarch (Bey) keinen popularitätsfördemden Anteil an der Dekolonisation, so daß die Abschaffung der Monarchie und die Ausrufung der Republik („im Namen des Volkes“) durch die Verfassunggebende Versammlung 1957 keinen Widerstand hervorrief. Mit der Wahl Habib Bourguibas, des charismatischen Führers der nationalistischen Neodusturpartei zum Staats-präsidenten 1958, wurde eine Persönlichkeit an die Staats-und Parteispitze gewählt, die bis 1987 den Staats-und Parteiapparat neopatrimonial verwaltete und damit die Verfassung von 1958, die eine Präsidialdemokratie begründete, unterminierte. De jure war Tunesien schließlich von 1963 bis 1981 ein Einparteienstaat; de facto hat sich an der Dominanz der „Partei Bourguibas“, die 1964 den Namen wechselte und nach der Absetzung Bourguibas erneut in Rassemblement Constitutionnel Democratique (RCD) umbenannt wurde, auch durch die Zulassung von Parteienpluralismus 1981 nichts geändert
Die Anpassungskapazitäten der politischen Systeme der Maghrebstaaten wurden nach der Erlangung der Unabhängigkeit konstant „herausgefordert“. Strukturelle und institutionelle Veränderungen der Systemgrundlagen erschienen in den sechziger und siebziger Jahren zur Absicherung der Interessen der Herrschaftselite nicht notwendig, konnte doch durch die noch vorhandenen finanziellen Spielräume die Klientel gebunden und politischer wie sozialer Unmut durch Subventionen oder personelle Umbesetzungen (bzw. Absetzung „des Schuldigen“) eingedämmt werden. Katalysatorisch für die Krise des Autoritarismus, die schließlich in systemische Veränderungen mündete, die von der Herrschaftselite eingeleitet wurden, waren die Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre in Marokko und Tunesien bzw. ab Mitte der achtziger Jahre in Algerien zu spürenden Auswirkungen des Preisverfalls für Rohöl und Phosphat auf den internationalen Märkten. Die dadurch verringerten Deviseneinnahmen der Maghrebstaaten wurden zunächst durch eine hohe Auslandsverschuldung abgefangen. Trockenjahre und schlechte Ernten nötigten indes zu erhöhten Nahrungsmittelimporten, so daß die Haushaltsdefizite und die Verschuldung anstiegen
Das rapide Bevölkerungswachstum verschärfte die Finanzierungs-und Versorgungsprobleme, und die voranschreitende Urbanisierung akzentuierte und kumulierte diese Defizite in den städtischen Zentren, wo sie ihre Rückwirkungen auf die Bereiche Wohnungsbau, Wasserversorgung, Transport, Bildung und Gesundheit sowie auf die Arbeitsplatz-beschaffung und die Nahrungsmittelversorgung hatten. Soziale, einkommensmäßige und konsumbetreffende Ungleichheiten nahmen zu und förderten in den achtziger Jahren Konflikte um Besitzstandswahrung und Lohnsicherung der organisierten Arbeiter, Angestellten und Staatsbeamten. Es mehrten sich soziale Proteste nichtorganisierter Bevölkerungsteile, die organisierte Streiks oder Demonstrationen der Gewerkschaften und der politisierten Studenten zum Anlaß nahmen, ihren Protest spontan zu artikulieren. Die Altersstruktur der Bevölkerungen (rund 70 Prozent unter 21 Jahren) wirkte sich verschärfend auf die sozialen Konfliktkonstellationen aus, sind es doch insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit und ohne Schulbildung, die in hohem Maße von der Arbeitslosigkeit betroffen sind Verschlechterte Kreditkonditionen lösten schließlich in allen drei Maghrebstaaten eine Finanzierungskrise aus.
Durch die Verengung des staatlichen finanziellen Handlungsspielraumes konnte die bisher umgesetzte Strategie zur gesellschaftlichen Integration Arbeitsloser durch Aufblähung des öffentlichen Verwaltungssektors und der staatlichen Unternehmen -allerdings zum Preis der Unterbeschäftigung zahlreicher Angestellten und Beamten -nicht länger fortgesetzt werden. Soziale Mobilität wurde in den achtziger Jahren gerade auch für Schulabgänger mit höheren Abschlüssen oder Universitätsdiplom unmöglich. In allen drei Maghrebstaaten dienten der informelle Sektor, also jener Sektor, der außerhalb der gesetzlichen Bestimmungen für Mindestlöhne liegt, sowie Aktivitäten im Bereich des Schwarzmarktes (Algerien, Marokko) für einen Teil der Arbeitslosen als Auffangbecken. Die berufliche Perspektivlosigkeit eines Großteils der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus den urbanen unteren Schichten wie auch zunehmend der Mittelschicht ist mit einer unentrinnbaren Abhängigkeit von der Familie verbunden. Gleichzeitig sorgt ein mangelndes Angebot zur Freizeitgestaltung für nicht nur temporäre Langeweile. Alkohol-und Drogenprobleme nahmen massiv zu.
Die Politisierung eben dieses jugendlichen Unzufriedenheitspotentials setzte in den achtziger Jahren ein. Den Jugendlichen und jungen Erwachsenen der urbanen Zentren wurden von den nicht legalisierten, jedoch in allen drei Staaten in den siebziger und achtziger Jahren geduldeten islamistischen Bewegungen an den Schulen, Universitä-ten und Moscheen eine Zukunftsvision angeboten, die den Anspruch hat, System und Gesellschaft zu moralisieren und hinsichtlich der Macht-und Verteilungsverhältnisse zu revolutionieren. Die islamistischen Bewegungen boten (und bieten) Integration in ein Ordnungssystem an, das soziale Gerechtigkeit verspricht; gleichzeitig bieten sie Handlungsmöglichkeiten an, um die empfundene Deprivation in der Mobilisierung gegen das bestehende politische Ordnungssystem, „den Staat“, „die Herrschenden“, auszudrücken. Die Politisierung von Teilen der Zivilgesellschaft gegen „den Staat“ in seiner bisherigen Form und gegen die staatlichen Leistungsdefizite waren Proteste gegen das spürbare Absinken des Lebensniveaus und der verschlechterten Lebenschancen. Die in Algerien, Marokko und Tunesien von zentralstaatlichen Institutionen ausgehende Steuerung der Wirtschaft hatte nämlich nicht vermocht, dem wachsenden Bedarf der Bevölkerung gerecht zu werden oder Strukturdefizite abzubauen.
In einer ersten Reaktion der autoritären Systeme auf diese Krise der Politikanpassung erfolgten Eingriffe zur Liberalisierung der Wirtschaft. Marokko leitete 1983 ein Strukturanpassungsprogramm ein, obwohl vorausgesehen wurde, daß sich die sozialen Spannungen verstärken würden. Nachdem soziale Proteste nicht mehr institutionalisiert geregelt und lokal begrenzt werden konnten, sondern in gewaltsame Aktionen mit einem diffusen, teils von islamistischen Gruppen gesteuerten Protestpotential mündeten, das gewerkschaftlich organisierte Streiks und damit verbundene Massenaufmärsche zur Formierung und Steuerung nutzte wie im Dezember 1990, folgte in Marokko zwar keine politische Neuorientierung. Seit 1991 wurden jedoch die Liberalisierungsforderungen der politischen Parteien und Interessengruppen berücksichtigt (die hauptsächlich den Menschenrechtsbereich betrafen) mit dem Ziel, die institutionalisierte Konfliktaustragung wieder herbeizuführen
In Tunesien wurden liberalisierende Eingriffe durch den Aufschwung der islamistischen Bewegung ausgelöst. Das offensive Auftreten der stärksten Organisation der islamistischen Bewegung in Tunesien, der Bewegung islamischer Tendenz (seit Januar 1989: Nahda/Wiedergeburt), löste 1986/87 einen quasi personalisierten Konflikt mit Staats-präsident Habib Bourguiba aus. Gleichzeitig verschärfte sich die latente Nachfolgekrise. Es wurde immer offensichtlicher, daß der 1903 geborene und seit Jahren kranke Staatspräsident, seine Fähigkeiten zur neopatrimonialen Steuerung des Staates eingebüßt hatte und zu emotionalen, die Staatsinteressen außer acht lassenden Entscheidungen neigte, die eine Radikalisierung der Opposition begünstigten. Die Absetzung Habib Bourguibas am 7. November 1987 durch den damaligen Premierminister, Zine el-Abidine Ben Ali (General a. D.), der die Sicherheitsorgane auf seiner Seite wußte, wurde deswegen von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt und stieß selbst innerhalb der Herrschaftselite auf keinen nennenswerten Widerstand.
In Algerien wurde unmittelbar nach dem Tode des algerischen Staatspräsidenten Boumedienne im Dezember 1978 versucht, die diagnostizierten Defizite des staatsmonopolistischen Wirtschaftsmodells und des fehlgeschlagenen agrarsozialistischen Experiments durch eine -wenngleich zurückhaltende -Entideologisierung des Wirtschaftssektors auszugleichen. Diese ersten liberalisierenden Eingriffe in die Wirtschaft (u. a. Aufwertung des privaten Sektors und Erleichterungen für Auslandsinvestitionen erwiesen sich indessen als unzureichend. Algerien, dessen Haupteinnahmen aus Öl-/Gasexporten stammen, hatte rentenökonomische Strukturen entwickelt, die mit zunehmendem Einnahmenrückgang in den achtziger Jahren die staatlichen Distributionskapazitäten derart einschränkten, daß diese selbst für die Mittelschicht spürbar wurden und sozioökonomisch motivierte Streiks und Demonstrationen gegen die „Profiteure“, die Staatsklasse, eine schwere Legitimationskrise auslösten. Die fast alle großen Städte des Landes erfassenden gewaltsamen Unruhen vom Oktober 1988, in deren Verlauf egalitär-partizipatorische Forderungen artikuliert wurden, die zunächst die Ressourcendistribution betrafen (Schlagwort: soziale Gerechtigkeit), wirkten als Katalysator für die politische Neuorientierung.
Wenngleich die unmittelbaren Auslöser für die Einleitung von politischen Öffnungsprozessen in Tunesien (1987), Algerien (1988/89), Marokko (1991) gewaltsame Konflikte bzw. Unruhen waren, führten diese Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre nicht ausschließlich zum Einsatz des repressiven Instrumentariums, sondern wurden als Systemkrisen weitreichenderen Ausmaßes begriffen, für die jene nicht erfüllten Hoffnungen der nach der Unabhängigkeit propagierten „Wohlfahrt für alle“ mitverantwortlich waren.
III. Ansätze zur politischen Demokratisierung
Demokratisierung als Institutionalisierung von politischem Wettbewerb und institutionalisierter Konfliktaustragung setzt das Aufbrechen bestehender Machtmonopole voraus, das über die Zulassung von politischem Pluralismus und die Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten eingeleitet werden kann. In den Maghrebstaaten wurde dieser Prozeß der Monopolauflösung Ende der achtziger Jahre eingeleitet.
1. Algerien
Nicht unmittelbar nach den gewaltsamen Unruhen vom Oktober 1988, sondern erst im Januar/Februar 1989 fiel der Entschluß von Staatspräsident Bendjedid und der Militärführung, mehr als nur Reformen des Systems durchzuführen (wie sie im November 1988 eingeleitet und innerhalb der Einheitspartei Front de Liberation Nationale/FLN auf erheblichen Widerstand gestoßen waren) und einen vollständigen Bruch mit dem Einparteistaat zu vollziehen, um ein politisches System zu etablieren, das dem Reformflügel innerhalb des FLN und den Liberalen in Wirtschaft und Politik entgegenkam. Insbesondere den dringend notwendigen Wirtschaftsreformen sollte eine Veränderung des Kräfteverhältnisses inner-'halb der Herrschaftselite zugute kommen: nach der politischen Öffnung wurde mit einer Stärkung der Reformfraktion und damit die Unterstützung der Reform-bzw. Demokratisierungsbefürworter erwartet. Die seit November 1988 anhaltenden und sich im Januar 1989 fortsetzenden gewerkschaftlich organisierten Streiks aus Protest gegen Lohneinfrierungen und die sinkende Kaufkraft, die die Wirtschaft lahmzulegen drohten, hatten den Handlungsbedarf verdeutlicht. Für den 23. Februar 1989 wurde schließlich kurzfristig ein Referendum zur neuen Verfassung angesetzt. Bei 78, 98 Prozent Wahlbeteiligung stimmten 7, 2 Mio. Wähler für und 2, 6 Mio. gegen den Verfassungsentwurf, der Parteienpluralismus verankerte, die demokratische Orientierung des Staates festlegte und die bislang als nicht veränderbar geltende sozialistische Option des algerischen Staates ebenso wie die explizit auf die Dritte Welt ausgerichtete Außenpolitik und die Sonderrolle der Armee im Entwicklungsprozeß des Landes aus dem Verfassungstext strich. Das Amt des Premierministers wurde aufgewertet und eine Kontrollmöglichkeit der Regierung durch die Legislative eingebaut. Mechanismen zur Machtbegrenzung des Präsidenten wurden allerdings nicht festgelegt. Ferner wurde ein Verfassungsrat etabliert und im Justizbereich der Staatssicherheitsgerichtshof abgeschafft. Nach Verabschiedung des Gesetzes zur Gründung von politischen Vereinigungen folgte sukzessive die Zulassung von Parteien (bis zu den ersten pluralen Gemeindewahlen im Juni 1990 insgesamt 21; bis heute rund 60 Parteien). Als erster Staat des arabischen Raumes hat Algerien am 6. September 1989 mit dem Front Islamique du Salut (FIS) eine islamistische Partei zugelassen Bereits am 24. Oktober 1988 hatte die Aufhebung des Vereinigungsmonopols zudem die Gründung unzähliger nichtpolitischer Vereinigungen unterschiedlichster Zielsetzungen und politischer Orientierung ausgelöst. Die Systemöffnung und Entmonopolisierung machte sich gleichermaßen in der Presse bemerkbar, die sich privatisierte und von 1989 bis zum Abbruch des Demokratisierungsprozesses und zur bis Verhängung des Notstandes 1992 beispielhaft freizügig war.
Die ersten freien und kompetitiven Wahlen zu den Gemeinde-und Provinzversammlungen fanden am 12. Juni 1990 statt und wurden von 65, 15 Prozent der Wahlberechtigten zur politischen Willensbekundung genutzt. 54, 25 Prozent der abgegebenen Stimmen bei der Wahl zu den Gemeindeversammlungen (das waren 33 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten) fielen an den FIS, der als einzige der elf antretenden Parteien ein echter Herausforderer des FLN war. Lediglich 27, 53 Prozent der abgegebenen Stimmen (16 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten) erhielt der FLN. Der FLN, Symbol für Klientel-und Mißwirtschaft, wurde für den niedrigen Lebensstandard verantwortlich gemacht und von der Bevölkerung nicht als Träger eines neuen Staats-, Gesellschafts-und Wirtschaftsmodells akzeptiert. Ein zweiter Reformversuch der Partei (noch vor den ersten pluralen Legislativwahlen) scheiterte gleichfalls, was sich erneut im Wahlergebnis des ersten Wahlgangs der Legislativwahlen vom 26. Dezember 1991 niederschlug: der FLN erhielt nur 1, 61 Mio. Stimmen; von den demokratisch und säkular orientierten Parteien erwiesen sich lediglich der Front des Forces Socialistes (FFS) mit knapp über 500000 Stimmen und der Rassemblement pour la Culture et la Democratie (RCD) mit etwas über 200000 Stimmen als relativ mobilisierungsfähig. Der FIS trug wiederum mit 3, 26 Mio.der abgegebenen Stimmen (das waren 24, 9 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten, jedoch 41, 7 Prozent aller abgegebenen Stimmen) den Wahlsieg davon. Dank des Wahlmodus (Mehrheitswahl) fielen damit bereits im ersten Wahlgang 188 der 430 Parlamentssitze an den FIS, wenngleich er im Vergleich zu den Wahlen 1990 1, 1 Mio. Stimmen eingebüßt hatte Zwei weitere islamistische Parteien lagen über der 100 000-Stimmenmarke: Hamas (rund 360000 Stimmen) und Nahda (150000 Stimmen). Die Offerte zur politischen Partizipation durch Wahl war 1991 nur von 56 Prozent der Wahlberechtigten genutzt worden.
Nach diesem von der Staats-und Militärführung nicht erwarteten hohen Wahlsieg des FIS, der voraussehbar im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit im Parlament erzielt hätte, versprachen FIS-Parteikader ihren Wählern die umgehende Abschaffung der Verfassung und die Errichtung des „islamischen Staates“; die mit der Legalisierung als Partei verbundene Verpflichtung auf die Verfassung wurde von ihnen -kurz vor dem Ziel -offen als nicht bindend erachtet. Als eine Fraktion des FLN um Generalsekretär Mehr! die Kooperationsbereitschaft der „zweitstärksten“ Partei mit dem FIS signalisierte, hielt die Militärführung, die 1989 nur zu einem Systemwechsel unter demokratischen Vorzeichen bereit war die Aufrechterhaltung einer demokratisch ausgerichteten System-transformation nur durch einen Wahlabbruch für garantiert. Damit der Weg zur Annullierung der Wahl frei wurde, zwang die Militärführung Staats-präsident Bendjedid am 11. Januar 1992 zur Abdankung.
Ende Januar 1992 brach der gewaltsame Konflikt zwischen staatlichen Sicherheitsorganen und bewaffneten islamistischen Gruppen aus, der bis heute die Fortsetzung des Demokratisierungsprozesses blockiert. Die bewaffneten Gruppen setzen sich aus FIS-Mitgliedern, die in den Untergrund gegangen waren, aus islamistischen bewaffneten Gruppen, die bereits seit Ende der achtziger Jahre für den bewaffneten Kampf als einzige Möglichkeit zur Machtergreifung eintraten, und schließlich aus neu rekrutierten Gruppenmitgliedern zusammen. Der FIS ist seit dem 4. März 1992 verboten, alle „nichtpolitischen“ islamistischen Vereinigungen und Gewerkschaften, die den bewaffneten Kampf unterstützten, wurden sukzessive aufgelöst. Über 30000 Opfer auf beiden Seiten ist die bisherige Bilanz der Auseinandersetzungen. Die Brutalität, mit der die bewaffneten islamistischen Gruppen ihre Mordanschläge an Mitgliedern der Sicherheitsorgane, an bekannten „andersdenkenden“ Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, seit 1994/95 insbesondere auch an der Zivilbevölkerung ausüben, förderte und verstärkte Übergriffe der staatlichen Sicherheitsorgane, so daß sich die Menschenrechtslage in Algerien seit 1992 drastisch verschlechterte.
Versuche zur Einbeziehung verhandlungsbereiter und „moderater“ (d. h. hier Gewalt ablehnender) ehemaliger FIS-Mitglieder scheiterten an der Ablehnung jener Vorbedingung für Verhandlungen, die von der Staatsführung gestellt wurde. Diese Vorbedingung verlangt die öffentliche Absage an und die öffentliche Verurteilung von Gewalt durch die (inhaftierten) FIS-Führungskader Abassi Madani und Ali Belhadj. Mit der Einrichtung von Räten versuchte die Staats-und Militärführung die Beziehungen zu den Gewalt ablehnenden Parteien (darunter auch islamistisch orientierte wie Hamas), zu gewerkschaftlichen Interessengruppen und zu Repräsentanten sonstiger zivilgesellschaftlicher Vereinigungen zu normalisieren; diese Absicht hatte indes nur begrenzten Erfolg. Die „größeren“ Parteien, d. h. all jene, die im ersten Wahlgang der abgebrochenen Legislativwahl über 100000 Stimmen erringen konnten, wie z. B. die in ihre Fraktionen zerfallene ehemalige Einheitspartei FLN, die sich seit 1992 offensichtlich von der Staatsführung absetzt, oder der demokratisch und säkular orientierte FFS, verweigern sich einer Kooperation mit dem Argument, daß die Staats-führung nicht genug Zugeständnisse mache, um die Beteiligung des (verbotenen) FIS zu ermöglichen. Andere Parteien wie der demokratisch und säkular orientierte Rassemblement pour la Culture et la Democratie und die aus der ehemaligen kommunistischen Partei der sozialistischen Avantgarde hervorgegangene Bewegung al-Tahaddi (Herausforderung) verweigern sich einer Kooperation wegen der grundsätzlich bestehenden, wenngleich nicht bedingungslosen, Dialogbereitschaft der Staatsführung mit den Islamisten des FIS. Der Demokratisierungsprozeß ist somit weiterhin blokkiert. Die für November 1995 geplanten Präsidentschaftswahlen können -sofern sie regulär stattfinden, denn von den islamistischen bewaffneten Gruppen wurden bereits Sabotageakte angekündigt -den Konflikt kaum einer Lösung näherbringen. Sie können lediglich einen durch Wahl legitimierten Staatspräsidenten hervorbringen und den Vorwurf (vor allem des Auslandes und islamitischer Gruppen) entkräften, die algerische Exekutive sei nicht durch Wahl legitimiert (bzw.sei „illegal“).
2. Tunesien
In Tunesien wurden nach dem Machtwechsel am 7. November 1987 drei weitere Parteien legalisiert, die sich allerdings ebensowenig wie die drei bereits 1981 und 1983 zugelassenen Parteien zur Konkurrenz gegen den regierenden RCD entwickeln konnten. Dem RCD dagegen gelang es, sich als Regierungspartei abzusichern und in einem Verjüngungsschub 1993/94 seine Instanzen zu regenerieren. Angesichts der innenpolitischen Entwicklung (Konflikte mit Islamisten 1987, intensiviert seit 1989; u. a. Aufrufe zur Rebellion gegen die Staatsführung 1990/91; Aufdeckung geplanter Anschläge) und der regionalen Situation (Zulassung islamistischer Parteien 1989 und islamistische Wahlsiege im Nachbarland Algerien 1990 und 1991) wurde ein „starker“ Staatspräsident zur Abwehr einer islamistischen Bedrohung von der tunesischen Bevölkerungsmehrheit gestützt. Dennoch wuchs der Unmut vor allem über die nur begrenzt gewährte Presse-und Informationsfreiheit, über die Einschränkungen für Betätigungen von Menschenrechtsorganisationen (wenn es um Untersuchungen von Foltervorwürfen ging) und über die fehlende Opposition im Parlament. Diese Kritik veranlaßte die Staatsführung 1993/94 zu weiteren systemöffnenden Maßnahmen, um zumindest formal das Monopol des RCD im Parlament aufzubrechen. Anläßlich der Legislativwahl vom März 1994 war das Wahlgesetz entsprechend modifiziert worden: 19 von insgesamt 163 Sitzen waren für die Opposition reserviert worden. Nach Proporz der erhaltenen Stimmen errangen vier der sechs außer dem RCD zur Wahl antretenden Parteien diese 19 Sitze 20.
Bei der am gleichen Tag stattgefundenen Präsidentschaftswahl trat lediglich der amtierende Staatspräsident als Kandidat an, dessen Unterstützung alle Oppositionsparteien bereits im Vorfeld angekündigt hatten. Die Kandidatur von Alternativkandidaten (z. B.des ehemaligen Präsidenten der tunesischen Menschenrechtsliga, Moncef Marzouki) war unterbunden worden. Dem Image der Staatsführung schadete diese Strategie, weil sie an die neopatrimonialen Führungsansprüche Habib Bourguibas anknüpfte.
Das Verhältnis zur islamistischen Opposition sollte 1988 mittels eines Nationalen Pakts, in den Repräsentanten aller legalen politischen Parteien und wichtigen Interessengruppen und sogar Vertreter der nicht legalisierten islamistischen Bewegung einbezogen waren, geregelt werden. An der Grundlage des Nationalen Pakts, nämlich der Anerkennung der Verfassungsnormen, scheiterte die Einbeziehung der Bewegung islamischer Tendenz, deren Legalisierung als Partei unter dem Namen Nahda 1989 schließlich abgelehnt wurde. Im Anschluß an massive Agitationen der Nahda ab Herbst 1989, die sich an der Reform der Schulbücher (Modernisierung der Inhalte) entzündete, kam es im Juni 1990 zu Verboten der Nahda-Zeitungen und 1991 zum Verbot der islamistischen Studentenunion, die 1988 „probeweise“ zugelassen worden war. Nach der Aufdeckung von subversi ven Aktivitäten eines im Untergrund für den bewaffneten Kampf eintretenden Flügels der Nahda setzte die massive Bekämpfung der Organisation durch die Sicherheitsbehörden ein. Bemühungen zur Stärkung des Rechtsstaates durch die Unterzeichnung zahlreicher internationaler Pakte im Jahre 1991, durch die Gründung eines staatlichen Menschenrechtsrates, die Einsetzung von Menschenrechtsberatem in den Ministerien sowie durch Öffentlichkeitsarbeit und Seminare erlitten seit 1990 zunehmend wegen der sicherheitspolitisch bedingten Restriktionen Rückschläge
Offensiv wurde seit 1992 jedoch die Förderung der Frauen betrieben, um sie als „Bollwerk“ innerhalb der Gesellschaft gegen islamistisches Gedankengut zu stärken. Durch eine weitreichende Gesetzesmodifikation wurde die Gleichstellung der Frau und ihre finanzielle Absicherung bei Scheidung vorangetrieben (und damit die Kontinuität der Frauen-förderung der Bourguiba-Ära gewahrt).
Die sozialpolitischen Maßnahmen, insbesondere im Bereich Armutsbekämpfung -ebenfalls als Gegenstrategie zu islamistischen Vereinnahmungsversuchen vor allem der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus sozial benachteiligten Familien gedacht haben bereits sichtbare Ergebnisse (Verbesserung der Infrastruktur und der Wohnungssituation) gebracht. Diese erfolgreiche Umverteilungspolitik, die zudem eine gezielte Regionalförderung mit einschließt, ist jedoch extrem abhängig von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und der innenpolitischen Stabilität. Beides konnte bislang auf Kosten der Demokratisierung aufrechterhalten werden.
3. Marokko
In Marokko wurden nach den gewaltsamen Unruhen vom Dezember 1990 Maßnahmen zur Integration der gesellschaftlichen Problemgruppen eingeleitet, d. h. in erster Linie der arbeitslosen Jugendlichen bzw.der arbeitslosen diplomierten Schul-und Universitätsabgänger (in Marokko wie in Tunesien sollte dies gleichzeitig eine Gegenstrategie zu islamistischen Politisierungs-ZRekrutierungsversuchen sein). In diesem Kontext wurde ein nationaler Konsultativrat für Jugend geschaffen, der nach Untersuchungen der sozioökonomischen Lage konkrete Vorschläge und Programme zur Lösung der Jugendproblematik erarbeiten und die Interessen dieser Bevölkerungsgruppe in den zentralstaatlichen Entscheidungsgremien durch seine Expertisen vertreten soll. Ein weiteres Konsultativorgan, der Wirtschafts-und Sozialrat, in dem überproportional Vertreter der Oppositionsparteien, der Gewerkschaften und der Unternehmer vertreten sind, befaßt sich mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen, primär den Aspekten Armutsbekämpfung und Arbeitsplatzschaffung. Hier wie auch im Fall des 1994 geschaffenen Konsultativrates zur Förderung des sozialen Dialogs findet eine Rückkoppelung zu den politischen Entscheidungsträgern (König, Regierung) statt und erfolgt eine landesweite Mediatisierung der Vorschläge und Debatten der Räte. Die Möglichkeiten zur Interessenartikulation gesellschaftlicher Teilgruppen hat sich durch diese Räte deutlich erhöht
Die Legislativwahlen von 1993, bei denen die Oppositionsparteien im direkten Wahlgang den Sieg errangen und lediglich durch den indirekten zweiten Wahlgang und nachweisliche Manipulationen des Innenministeriums um den Wahlsieg gebracht wurden, haben zu öffentlichen Auseinandersetzungen über das politische System geführt, in die der König eingriff. Er erklärte die Oppositionskoalition zum „moralischen Wahlsieger“ und forderte sie zur Regierungsbildung auf. Diese scheiterte nach monatelangen Verhandlungen im Januar 1995 an der in einem Punkt unnachgiebigen Haltung des Königs; er war nicht bereit, den Posten des wegen seiner repressiven Aktivitäten besonders umstrittenen Innenministers Driss Basri zur Disposition zu stellen, wie es die Oppositionskoalition zur Bedingung machte. Dennoch ist die Stellung der Oppositionsparteien durch die Einbeziehung in die Konsultativräte gestärkt worden. Seit 1990 haben außerdem die Forderungen der Oppositionsparteien vor allem im Menschenrechtsbereich zu stärkerer Berücksichtigung geführt. Das grundsätzliche Defizit bei der Überwachung, der praktischen Umsetzung und der Ahndung von Übergriffen wurde durch die gesetzlichen Neuregelungen allerdings nicht gelöst. Noch handeln die lokalen und regionalen Behörden in zahlreichen Fällen nach ihrem Gutdünken, nicht nach den neuen Bestimmungen. Offiziell wurden schließlich seit 1995 auch die Forderungen der Berberophonen berücksichtigt und gesetzliche Maßnahmen verabschiedet, die berberische Sendungen im Fernsehen und den Unterricht der berberischen Dialekte an den Schulen erlauben.
IV. Restriktionen für politische Demokratisierung
Autoritäre internalisierte Regeln und Beziehungsstrukturen behindern die Umsetzung von politischer Liberalisierung und Demokratisierung im Maghreb. Zudem ist das Kontrollbedürfnis bei den Herrschaftseliten nach wie vor extrem ausgeprägt und die Reizschwelle für das Empfinden einer Bedrohung der eigenen Interessen niedrig.
Sowohl in Algerien als auch in Tunesien und Marokko wurde die Transformation der politischen Systeme von den Herrschaftseliten bzw. Teilen der Herrschaftseliten ausgelöst. Das Militär als Institution spielte als Initiator lediglich in Algerien eine Rolle. Die Restriktionen für eine Demokratisierung ergeben sich zum Teil aus der Tatsache, daß die Initiative von Teilen der Herrschaftseliten ausging, die -vom Militär loyal gestützt -mit keinem organisierten Widerstand konfrontiert wurden. Dennoch kam es hauptsächlich in Algerien von seiten ehemaliger Mitglieder der Herrschaftselite und Profiteure des Systems aus den Reihen des FLN zum Boykott von Maßnahmen, die den Einfluß und den Machtzugang sowie den bisherigen Zugang zu Ressourcen zu beschneiden drohten. Ähnlich verhielt es sich in Tunesien, wo sich dieser Boykott bei den Wahlen in Behinderungen der Oppositionsparteien ausdrückte, oder in Marokko, wo sich die lokalen und regionalen Amtsträger teilweise über gesetzliche Bestimmungen hinwegsetzten.
Die Parteien erhielten in den ehemaligen Einparteistaaten Algerien und Tunesien durch die Einleitung von Liberalisierungsmaßnahmen eine Sonderrolle zugewiesen, weil sie als formale Träger des pluralen politischen Systems fungieren sollen. Die organisatorische Schwäche der demokratisch orientierten Parteien Algeriens, denen es an Infrastruktur und finanziellen Mitteln mangelt, hat den ersten Versuch zur Einleitung einer demokratischen Transitionsphase scheitern lassen, zumal sich die ehemalige Einheitspartei FLN aus eigener Kraft heraus nicht zur überzeugenden demokratischen Volkspartei entwickeln und das demokratische Konzept popularisieren konnte. Die Reform-fraktion der algerischen Herrschaftselite ist seit 1991 somit formal ohne parteipolitische Basis (Rücktritt des damaligen Staatspräsidenten Bendjedid von der FLN-Parteipräsidentschaft).
Die politische Entscheidungsfindung erschwerte sich seit 1992 ferner durch die aus Machtsicherungsgründen erfolgte Annäherung der FLN-Führung an den FIS, der sich 1990 und 1991 als mobilisationskräftigste legale Partei erwiesen hatte, und wegen der mangelnden Kompromißbereitschaft der anderen (relativ) einflußreichen Parteien des demokratischen, liberalen Spektrums. Die Versuche der Staatsführung, nach dem Wahlabbruch eine Vereinbarung (Pakt) zur Regelung der Übergangsphase bis zu freien Wahlen zu treffen, scheiterte an den gegensätzlichen und unversöhnlichen Positionen und an der Befürwortung von Gewalt zur Machtergreifung durch die (inhaftierte) FIS-Führung sowie einen Großteil der ehemaligen FIS-Mitglieder im Untergrund oder im Ausland.
In Tunesien ist der Nationale Pakt, mit dem die politische Partizipation der (nicht legalisierten) Bewegung islamischer Tendenz/Nahda geregelt werden sollte, ebenfalls an der Intransigenz ihrer Repräsentanten, die sich nicht auf die Verfassungsbestimmungen verpflichten wollten, 1990 gescheitert. Ausgeprägt ist nach wie vor die Neigung der Herrschaftselite, die Regeln monopolistisch festzulegen und die Kontrolle nicht aus der Hand zu geben für den Fall, daß die Eigeninteressen gefährdet sind; als Eigeninteresse zählt z. B. die Sicherung der ordnungspolitischen Orientierung (wie in Algerien 1992).
Das Vorhandensein mobilisierungsfähiger, gut strukturierter und gewaltbereiter antisystemischer Opposition, wie sie die islamistischen Bewegungen in allen drei Staaten darstellen (vehement in Algerien und Tunesien; zurückhaltender bislang in Marokko), hat die Bereitschaft zur Systemöffnung in den Maghrebstaaten beeinträchtigt. Die Gewalt-bereitschaft eines Teils der islamistischen Opposition hat repressive Maßnahmen gegenüber diesen Gruppen gefördert.
V. Perspektiven
Die Herausforderung der Herrschaftselite durch die gewaltbereite islamistische Opposition, die zahlreiche mit den staatlichen Leistungen unzufriedene Personen sammelte, ließ die Umsetzung von wirtschaftlicher Entwicklung durch die Einführung von Marktwirtschaft als das langfristig beste Gegenmittel (auch in Algerien) erscheinen und förderte damit direkt die wirtschaftliche Liberalisierung. Die Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen mit dem Ziel, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates zu erhöhen, sollte die innenpolitische Stabilität (den sozialen Frieden) absichern, indem sie u. a. die Rekrutierungsbasis für Islamisten ausdünnte und die islamitische Bewegung personell schwächte.
Innere Befriedung bezeichnen die maghrebinischen Staatsführungen als Vorbedingung für Demokratie. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt somit Priorität vor politischer Demokratisierung. Angesichts der ökonomischen Zwänge, deren potentiell destabilisierenden Auswirkungen durch die soziale Misere eines Großteils der Bevölkerung (vor allem in Algerien und Marokko, in geringerem Ausmaß in Tunesien), das demographische Wachstum sowie die Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung der Armut und Arbeitslosigkeit von Jugendlichen verschärfen werden, ist realistischerweise auch künftig eher eine nur begrenzte Liberalisierung in Teilbereichen als ein weitreichender Abbau von Kontrollmechanismen und Monopolen oder die Umsetzung einer Dezentralisierung von seiten der Staatsführungen zu erwarten.
Das Erfüllen der Auflagen internationaler Finanz-organisationen und des Internationalen Währungsfonds zur Restrukturierung der maghrebinischen Volkswirtschaften würde durch einen Abbau der politischen Kontrolle zudem zusätzlich erschwert. Es sind somit die derzeitigen gesellschaftlichen Machtverhältnisse (relativ schwache soziale Verankerung der demokratisch orientierten Parteien; stark ausgeprägte klientelistische Strukturen, die eine Machtneuverteilung behindern bzw. Berücksichtigung verlangen) wie auch die wirtschaftlichen und soziostrukturellen Bedingungen, die -vor dem Hintergrund einer fortgesetzten sozialen Verelendung durch Verzögerungen beim wirtschaftlichen Aufschwung bei zugleich gesteigerten Erwartungen -eine Radikalisierung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen und ihre politische Aktivierung in antisystemischen Oppositionsgruppen begünstigen.
Bemerkenswert ist, daß die Systemsicherungsreflexe der Herrschaftseliten zwar in Richtung einer Kontrollverschärfung weisen, daß jedoch weiterhin eine formale Aufwertung des Individuums durch Einführung entsprechender gesetzlicher Maßnahmen stattfindet und die rhetorische Selbst-verpflichtung auf die Umsetzung von Entwicklung und Demokratie erfolgt. Die Handlungsmargen der Staatsführungen wurden durch diese wiederholte Verpflichtung auf ein neues Normensystem, den Druck aus den sich organisierenden Bevölkerungsteilen und die strukturellen Zwänge stärker eingeengt, als dies noch vor der Einleitung liberalisierender Maßnahmen und der öffentlichen Debatte über Menschenrechte, Partizipation und Demokratisierung der Fall war.
Die Maghrebstaaten befinden sich derzeit in einer Umbruchphase, die gleichzeitig den Wandel im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich erfordert. Umbruchphasen, die Modifikationen bestehender politischer und wirtschaftlicher Systeme beinhalten, können wirtschaftliche und politische Frustrationen intensivieren und sowohl Instabilität als auch Unruhen fördern. Die Gleichzeitigkeit der zur Lösung anstehenden Probleme -darunter insbesondere das Problem der Kontrolle gewaltbereiter Opposition -erweist sich zunehmend als hemmend für eine politische Demokratisierung.