I. Afrika im Wandel zwischen Staatszerfall und demokratischer Liberalisierung
Im vierten Jahrzehnt ihrer politischen Unabhängigkeit befinden sich die 52 Staaten Afrikas nördlich und südlich der Sahara in einem keineswegs einheitlichen Prozeß starker Veränderungen mit ungewissem Ausgang. Freie Wahlen (Südafrika), Demokratisierung und Aufbau der „civil society“ (Ghana und Uganda); Desertifikation (Verwüstung im Sahel), wirtschaftlicher Niedergang und Staatszerfall (Zaire und Nigeria); Ethno-Nationalismus (Ruanda/Burundi), Expansion des islamischen Fundamentalismus (Sudan, Algerien), lang anhaltende Bürgerkriege (Sudan, Tschad), nationale Versöhnung (Namibia, Mosambik) und Wiederaufbau von unten (Burkina Faso) -so lauten einige aktuelle Stichworte Mitte der neunziger Jahre. Während die Mehrzahl der Staaten auf der gesellschaftspolitischen Ebene unübersehbare Fortschritte gemacht hat, indem durch Koalitionen konfliktfähiger Bürgergruppen, Berufsverbände und Menschenrechtsbewegungen Diktaturen gestürzt und durch Mehrparteiensysteme ersetzt wurden, ist im staatlichen Bereich von öffentlichen Institutionen (Bildung, Gesundheit, Verkehr), von Wirtschaft (Deindustrialisierung) und Wirtschaftspolitik bei etwa der Hälfte der Länder eher ein schleichender, zuweilen dramatischer Niedergang festzustellen. Gleichzeitig ist eine deutliche Differenzierung zwischen Ländern und Staatengruppen in Gewinner und Verlierer, in Hoffnungsträger und in Staaten, die zu tiefer Resignation Anlaß geben, zu verzeichnen -eine insgesamt widersprüchliche Entwicklung, die in dem vorherrschenden Afrikadiskurs in den OECD-Staaten oft zu wenig Berücksichtigung findet
Die gegenwärtige Staatenwelt Afrikas wird im folgenden mittels dreier Kriterien in drei Gruppen eingeteilt: Legitimation für Herrschaft (formal-demokratisch oder patrimonial-autoritär), politische Stabilität (Staatsimplosion, Bürgerkrieg oder verhandelter Frieden) und entwicklungspolitische Effizienz (Mobilisierung einheimischer Ressourcen zwecks Grundbedürfnisbefriedigung, erfolgreiche Strukturanpassung oder kprrupte Cliquen-wirtschaft). -Gruppe 1: Dreizehn politisch relativ stabile Staaten mit positiven Veränderungen in Richtung auf nationale Aussöhnung, Demokratisierung (Aufbau eines Rechtsstaats) und marktwirtschaftliche Reformen (Strukturanpassungsprogramme): Mauritius, Botswana, Simbabwe, Namibia, Südafrika (seit 1994), Benin, Bourkina Faso, Ghana (trotz der militanten ethnischen Konflikte im Norden), Uganda, Elfenbeinküste, Mali (abgesehen vom Tuareg-Konflikt), Mosambik (seit 1992) und Eritrea. -Gruppe 2: Siebzehn von Bürgerkrieg, Staats-zerfall, schleichender Anarchie oder militanten ethnisch-politischen Konflikten gekennzeichnete Staaten, in denen die Menschenrechte systematisch und anhaltend schwer verletzt werden. Von den 17 Staaten befinden sich -a) zehn im Zustand des Bürgerkriegs und des fortgeschrittenen Staatszerfalls: Liberia, Sierra Leone, Somalia, Sudan, Dschibuti, Ruanda, Tschad, Algerien und seit Juli 1994 nun auch Gambia (die bis dahin längste Mehrparteiendemokratie Afrikas) und die Komoren; -b) die übrigen sieben labilen Staaten schwanken zwischen latenter Bürgerkriegssituation, Bemühungen um eine demokratische Verfassung und politische Kompromißverhandlungen zwischen Zentralregierung und Rebellen (Sezessionisten, Autonomisten) hin und her; -Kongo (demokratische Wahlen, aber fortgesetzte bewaffnete Kämpfe zwischen Regierung und Opposition); -Zaire (trotz Mehrparteiensystem bewaffnete ethnische Konflikte und Rebellion gegen Diktator Mobutu; wirtschaftlicher Niedergang); -Togo (mehrfach verschobene, und dann manipulierte Parlamentswahlen ändern nichts an der Realität des Polizeistaats: 300 0000 Flüchtlinge im afrikanischen Exil; schwere Wirtschaftskrise); -Tschad (trotz Nationalkonferenz Fortsetzung der bewaffneten Konflikte zwischen Regierung und sezessionistischer Opposition); -Burundi (ökonomisch am Ende, ein Land, in dem es jederzeit erneut zu größeren militanten Konflikten zwischen Tutsi und Hutus kommen kann); -Angola (ein vom Bürgerkrieg total zerstörtes Land, das sich noch immer nicht auf eine Verfassung einigen konnte: ca. 500000 Todesopfer durch Kampfhandlungen und Hungersnöte allein zwischen Oktober 1992 und März 1994); -Niger (formal-demokratische Regierung, sozial motivierte Unruhen und fortgesetzte Kämpfe mit den Tuaregs; wirtschaftlicher Niedergang). -Gruppe 3: Die andere Hälfte der afrikanischen Staatenwelt (22) bildet eine heterogene Gruppe von politisch labilen und ökonomisch gefährdeten Staaten, in denen zwar Demokratisierungsprozesse in Gang gekommen sind -obwohl sehr spät wie in Mosambik, Malawi, Tansania und Äthiopien -, bei denen aber der Wahlkampf, die anschließende zivile Regierungsbildung auf der Grundlage eines verfassungsgemäßen Mehrparteiensystems und die notwendigen Wirtschaftsreformen, die von der diktatorischen Vorgänger-Regierung vermieden worden waren, Turbulenzen, vor allem interparteiliche Machtkämpfe, ausgelöst haben. In diesen Staaten hat es zwar eine Öffnung oder Liberalisierung des alten patrimonialen Systems gegeben, nicht aber einen echten Systemwechsel, geschweige denn eine Konsolidierung der Demokratie. Man kann hier von einem bloßen „Eliten-Recycling“ sprechen.
Oftmals sind Liberalisierungsexperimente gewaltsam abgebrochen oder nach erfolgten Wahlen storniert worden -wie in Kenia und in den drei frankophonen, von Frankreich unterstützten Ländern Togo (unter Diktator General Eyadäma), Kamerun und Senegal, in denen die versuchte demokratische Öffnung in vermehrte Repression gegenüber der politischen Opposition, einschließlich ethnisch-regionaler Minderheiten, umgeschlagen ist Dabei haben politische Wahlen des öfteren zu einer Politisierung von Ethnizität geführt, vor allem deshalb, weil angesichts fehlender programmatischer Unterschiede und unzureichender Finanzmittel für politische Wahlkämpfe der Appell eines politischen Führers an die (reale oder fiktive) Ethnizität seiner potentiellen Gefolgschaft Organisationskosten verringert und die emotionale Mobilisierung von Wählern beschleunigt. In diesen Staaten besteht die ernsthafte Gefahr, daß zugelassene Kritik an der Regierung zu einem allgemeinen staatlichen Autoritätsverfall führt, so daß „Grauzonen der Staatlichkeit“ entstehen, in denen „war lords“, Rauschgifthändlerkartelle, bewaffnete Jugendbanden, von fanatischen Sektenführern aufgestachelte Gruppen von Arbeitslosen und modern bewaffnete Stammesmilizen ihr Unwesen treiben
Zwischen 1989 und 1994 haben in immerhin 29 Staaten Afrikas erstmals oder seit langer Zeit wieder pluralistische Wahlen zum Parlament, für das Amt des Staatspräsidenten oder für regionale Körperschaften stattgefunden In 15 Fällen siegte der Amtsinhaber, und in 14 Fällen kam es zu soge nannten Gründungswahlen, die den Beginn einer neuen Ära mit neu festgelegten Spielregeln einläuten und somit den Übergang von einem autoritären zu einem demokratischen Regime verkörpern. Namibia (1989), Kap Verde, Sao Tome, Benin und Sambia (alle 1991), in Mali, Kongo, Madagaskar (alle 1992), in Niger, Lesotho, Burundi, Zentralafrikanische Republik (alle 1993) und in Malawi und Südafrika (1994). Bei den 15 Fällen, in denen es zwar zu pluralistischen Wahlen gekommen ist, jedoch die bisherigen Amtsinhaber entweder durch Manipulation des herrschenden Regimes (Fassadenwahlen) oder durch Fehler, Defizite und ruinöse Rivalität auf seiten der politischen Opposition (Kenia) siegten, handelte es sich um folgende erst in Ansätzen demokratische Staaten: Elfenbeinkünste/Cöte dTvoire (1989); Mauretanien, Ghana, Burkina Faso, Djibuti, Angola, Kamerun, Kenia und Seychellen (alle 1992); Togo, Gabun, Guinea und Komoren (alle 1993) sowie Guinea-Bissau und Mosambik (beide 1994)
Als erste Zwischenbilanz ist festzustellen, daß die auf Destabilisierung, Autoritätsverfall und wirtschaftlichen Niedergang hinweisenden Trends stärker zu Buche schlagen als institutionell konsolidierte Demokratisierungserfolge. Im folgenden soll das Argument entfaltet werden, daß im Lichte der Geschichte der Demokratieentwicklung in modernen Zivilisationen ein durchschlagender Erfolg der liberalen Demokratie in Afrika zur Zeit überhaupt noch nicht flächendeckend erwartet werden kann. Die „gesellschaftliche Qualität“ des formalen Demokratisierungsprozesses in Afrika sei noch nicht vorhanden; der Einfluß der politischen Klasse und besonders der Opposition auf die Demokratiebewegung -behauptet der nigerianische Politologe Claude Ake -sei nicht günstig: „Ihr Engagement für Demokratie ist dünn, falls überhaupt vorhanden, für sie ist Demokratie nur ein Mittel ihrer Machtstrategie.“ Die Etablierung einer demokratischen Kultur, die auch der politischen Opposition verfassungsgeschützte Rechte einräumt, entstand dort -wo sie sich erstmals entfalten konnte, in Europa -als das Spätprodukt einer langen (oftmals Jahrhunderte von Klassenkämpfen umspannenden) Entwicklung der sozialen industriegesellschaftlichen Differenzierung und des modernen durch Technik disziplinierten Menschen (industrial man). Sie besteht aus drei ineinander greifenden und sich wechselseitig verstärkenden Veränderungsprozessen, die sich zuerst in Europa entwickelten, heute aber im Zuge der Entstehung einer kapitalistischen Weltgesellschaft globale Ausmaße annehmen: -erstens die Entstehung einer kapitalistischen arbeitsteiligen Marktordnung (mit Besitzindividualismus, verbrieften Bürgerrechten etc.), -zweitens die mit der Industrialisierung und Disziplinierung der Gesellschaft wachsende Bildung und berufliche Qualifizierung der Erwerbsbevölkerung und -drittens die Entstehung eines parlamentarisch gezähmten Staates, der einerseits das als legitim empfundene Gewaltmonopol verkörpert und der andererseits die sozialen Kräfteverhältnisse zu einer relativ autonomen Instanz verdichtet (die Steuern erhebt und Rechtsnormen setzt), welche in der Vermittlung der sozialen Interessengegensätze die Kohäsion der Gesellschaft hervorbringt bzw. nicht länger blockiert.
Erst eine relativ weit differenzierte und miteinander eng vernetzte Waren-und Tauschgesellschaft, in der Interessengruppen und Meinungen miteinander konkurrieren, macht die Entstehung einer demokratischen Kultur möglich, die ein Klima der Toleranz, des freien Meinungsaustausches und der Regierungskritik voraussetzt. Der Soziologe Dieter Claessens hat diese historische Lehre wie folgt prägnant auf den Punkt gebracht: „Dies ist eigentlich der Grund dafür, daß Demokratie und demokratische Kultur möglich wurden: Es ist die Um-lenkung des Machtkampfes , um jeden Preis'in geregelte und in ihrem formalen Charakter anerkannte Bahnen. Und diese Umlenkung in parlamentarische Formen wird wiederum nur möglich auf der Grundlage des Wohlstands relativ vieler.“ Mit diesem analytischen Rüstzeug der historischen und kultursoziologischen Betrachtungsweisen ausgestattet, ist es wohl leichter, die diversen Blockierungen der Demokratisierung in Afrika -einem der ärmsten und am wenigsten kohärenten Teile der modernen Weltgesellschaft -erklären zu können.
II. Probleme von Landknappheit und relativer Überbevölkerung in Agrargesellschaften
Seit den achtziger Jahren befindet sich die Region Afrika südlich der Sahara (sowie auch in Nordafrika Ägypten, Libyen und Algerien) in einem wirtschaftlichen Abwärtstrend, der für die Mehrzahl der Staaten bis heute anhält. Nach jüngst verfügbaren Statistiken zeichnet sich jedoch für 21 Länder eine leichte Wende ab: zwischen 1988 und 1993 erzielten sie laut Jahresbericht der Weltbank Einkommenszuwächse. Mit seinen 45 Staaten, in denen 559 Millionen Menschen mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 520 US-Dollar leben, ist Afrika südlich der Sahara (ASS) die einzige Großregion der Welt, in der das wirtschaftliche Wachstum pro Kopf im Laufe der achtziger Jahre negativ geworden ist (es betrug im Durchschnitt minus 2, 8 Prozent für 1980-1987 und minus 0, 3 Prozent für 1970-1990). Es steht zu befürchten, daß die absolute Armut (von der heute ca. 100 Millionen Menschen betroffen sind) bis zum Jahr 2000 weiter zunehmen wird.
Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß Afrika als „Spätstarter“ und relativer Verlierer der Weltwirtschaft von der Dynamik der internationalen Marktwirtschaft mehr und mehr abgekoppelt und als ökonomisch uninteressante, weil nicht wettbewerbsfähige Peripherie-Region einem ungewissen Schicksal -dem der politischen Marginalisierung und wachsenden sozio-ökonomischen Pauperisierung -überlassen wird. Die Zusammenbruchs-Szenarien des Club of Rome zu Beginn der siebziger Jahre basierten auf der Hochrechnung einer kumulativen Verstärkung der fünf Indikatoren Bevölkerungswachstum, Umweltbelastung, Industrialisierung, Energieverbrauch und Abnahme nichterneuerbarer Ressourcen; sie prognostizierten bei ungebremstem Wachstum eine ökologische Katastrophe. Diese Szenarien sind gottlob nicht auf globaler Ebene, wohl aber auf regionaler Ebene bereits Wirklichkeit geworden, z. B. in den ariden und semi-ariden Zonen Äthiopiens, Somalias, des Sudans, in dicht bevölkerten Regionen Tansanias, Ugandas, Kenias, Ruandas, Burundis, Ghanas, Nigerias, im Senegal und vor allem in den Sahelzonenländern. Hier schreitet die Verwüstung der Umwelt rapide voran, die sogenannte Desertifikation durch zunehmende Bodenerosion und -Verschlechterung, hervorgerufen durch nicht an die natürlichen Bedingungen angepaßte menschliche Landnutzungsweisen.
Der Kulturgeograph Thomas Krings hat von einer generellen „Ökologiekrise in den Sahelländern“ gesprochen, die eine „Krise des sahelischen Nomadismus“ mit Bürgerkriegsfolgen ausgelöst hätte: „Nomaden finden sich heute als Minderheiten in den Staaten wieder, in denen sie die unfruchtbarsten und trockensten Gebiete besiedeln, entfernt von den Zentren der politischen Macht, die von den seßhaften Völkern ausgeübt wird. Seit der letzten Dürre Anfang der achtziger Jahre gerieten zahlreiche pastorale Gruppen aufgrund der hohen Viehverluste in eine existentielle Krise, die in Mali und Niger seit 1990 mitauslösender Faktor für die innenpolitischen Unruhen war. Daneben liegen die Ursachen für die gegenwärtigen Konflikte in der jahrzehntelangen politischen und sozio-ökonomischen Benachteiligung der von den Dürren am meisten betroffenen Tuareg.“
Diese These war noch vor den Massakern in Ruanda des Jahres 1994 aufgestellt worden, bei denen ca. 500000 Menschen (überwiegend Angehörige der Minderheit der Tutsi) durch Milizen der Hutu-Bevölkerungsmehrheit ermordet worden sind. Die Machtübernahme durch eine von der Front Patriotique Rwandais (FPR) dominierte neue Koalitionsregierung im Juli 1994 ging mit dem Exodus von 2, 3 Millionen Ruandern nach Tansania, Burundi und Zaire einher. Seitdem ist viel über die Ursachen dieses bis dahin unfaßbaren Gewaltgeschehens gemutmaßt und geschrieben worden, wobei sich inzwischen deutlich das große Gewicht des „demographic approach“ herauskristallisiert hat. Der Gerontologe und Genozidforscher Hartmut Dießenbacher ebenso wie der ehemalige Koordinator der Entwicklungspartnerschaft, zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda, Peter Molt, haben auf den fatalen Mechanismus in Agrargesellschaften hingewiesen, wenn die relative Überbevölkerung solche Ausmaße angenommen hat, daß Bauern ihren Kindern kein weiteres Land zur Bestellüng übergeben können, weil alles aufgeteilt und der Weg zu alternativen Einkommensquellen (aufgrund von Rohstoff-und Kapitalarmut) versperrt ist, vor allem auch Chancen zur Industrialisierung: „Die extreme Landnot und Armut erklärt die Disposition für ein bedingungsloses Freund-Feind-Verhalten und zu anarchischer Gewalt. Nur wer die bittere und ausweglose Lage der Armen in Ruanda kennt, vermag zu ermessen, wie leicht sie mit radikalen Parolen aufgehetzt und zu sinnloser Gewalt verführt werden können... Ruanda und Burundi können allenfalls acht Millionen Menschen ernähren, aber nicht die heutige Bevölkerung von 13 Millionen, die in den nächsten Jahren auf 20 Millionen ansteigen wird.“
Hartmut Dießenbacher ergänzt das grausige Erklärungsszenario: „Die Unerbittlichkeit der demographischen Logik war klar: Wenn die 500000 Tutsi-Exilanten, die seit 1961 von der Hutu-Mehrheit schubweise außer Landes getrieben worden waren, zurückkehrten, mußten andere gehen, durch Flucht oder Tod.“ Vor allem bei den land-und perspektivlosen Jugendlichen „heftete sich ihr Streben nach Exzellenz im Gefühl der Überzähligkeit auf die Träger des Begehrten: auf die Mächtigen und Reichen, die Existenzgesicherten und Bevorzugten, die Schönen und Erfolgreichen des Landes. Menschen sind nicht gleich: Einige versanken in Resignation; andere sackten in Kriminalität und Armut ab. Die Vitalen und Ehrgeizigen waren von der Elite des Landes fasziniert -zugleich angezogen und abgestoßen. Sie warteten auf ihre Chance im Kreislauf der Eliten; darauf, daß die Schwachen, Nachdenklichen und Ungeeigneten dort aussortiert würden, sie an deren Stelle treten könnten.“ Die aktiven Täter auf beiden Seiten waren demnach selbst Opfer struktureller Gewalt.
Zweifellos haben noch andere Faktoren beim Zustandekommen dieser Katastrophe eine Rolle gespielt (die nur scheinbar ethnische Ursachen hat), wie die ungebremste Wirtschaftsmisere, die verzögerte Familienplanungspolitik in diesem katholischen Land, unüberlegter politischer Druck von außen in Richtung auf heikle Demokratisierungsprozesse, eigensüchtige geopolitische Interessen Frankreichs usw.. Die Botschaft für die Krisen-politiker dürfte deutlich sein: Mit einer diplomatisch inszenierten Aussöhnung zwischen den verfeindeten Brüdern, gepolstert mit Entwicklungshilfe in noch so großer Höhe, wäre die Rekonstruktion des Staates Ruanda nicht zu erreichen. Was hingegen not tut, ist die territoriale Erweiterung der Staats-oder wenigstens Siedlungsgrenzen der Agrarbevölkerung von Ruanda und Burundi, die in den alten Grenzen nicht mehr lebensfähig sind. Hier sind in allererster Linie die Fachausschüsse der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) sowie die Intellektuellen und Zukunfts-und Entwicklungsplaner an den vielen afrikanischen Universitäten gefragt, um wenigstens erst einmal politisch verhandelbare Problemlösungsverfahren diskussionsreif zu machen.
II. Der Vergleich Afrika südlich der Sahara (ASS) mit den Armutsländern Asiens
Humane und politische Katastrophen wie die in Ruanda, Angola, Somalia oder in Liberia oder auch die in den drei von Militärs regierten und ruinierten Flächenstaaten Zaire, Sudan und Nigeria provozieren bohrende Fragen nach den Ursachen der afrikanischen Krise. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es dafür verschiedene Erklärungsansätze und eine unterschiedlich gewichtete Anzahl von Erklärungsfaktoren. Die vermuteten Ursachen lassen sich nach mindestens vier Gesichtspunkten gliedern: nach externen (weitmarkt-und weltpolitikabhängigen), internen (von den afrikanischen Staaten selbst zu verantwortenden), strukturellen (in der Kolonialgeschichte begründeten) und natürlichen (durch Geographie, Ressourcen-ausstattung und Klima bedingten) Faktoren. Auffallend ist, daß erst nach dem Enje des Ost-West-Konflikts die Argumente an Glaubwürdigkeit gewonnen haben, die interne politische Faktoren wie Ressourcenvergeudung, Prestigeobjekte, Korruption der patrimonialen Staatsklasse usw. in den Mittelpunkt rückten. Tatsächlich war das offensichtliche Mißmanagement in den rohstoffreichen Staaten Afrikas, darunter den großen Flächenstaaten Zaire, Nigeria, Algerien und Sudan, nicht sehr plausibel nur als häßliches Erbe aus der Kolonialzeit zu interpretieren. Zudem entwertete der wirtschaftliche Erfolg der asiatischen Schwellenländer Taiwan, Süd-Korea, Singapur, der Kronkolonie Hong-Kong (und später auch Chiles) das Argument der Dependenztheoretiker, daß die ehemaligen Kolonien eine nachholende Entwicklung prinzipiell nicht bewerkstelligen könnten.
Tatsächlich ist es ratsam, die Krisenursachenforschung auf bislang vernachlässigte interne Faktoren zu lenken, vor allem auf die Frage des „schwachen bürokratischen Staates“, der seine politischen Entscheidungen nicht administrativ gegen eine Gesellschaft durchzusetzen vermag, die nach eigenen neo-traditionellen Gesetzen zu funktionieren scheint. Im Jahr 1989 schockierte der Afrika-Report der Weltbank „Sub-Saharan Africa. From Crisis to Sustainable Growth“ die Öffentlichkeit mit dem Nachweis, daß sich die entwicklungspolitischen Erfolge Afrikas im Vergleich mit denen anderer Armutsregionen der Dritten Welt (Südasien) in krasser Weise unterschieden. Afrikas Ernteerträge seien niedriger, seine Erntezyklen auf bewässertem Land seien weniger zahlreich, seine Transportkosten erheblich höher und seine Fabriken würden weniger produktiv genützt als etwa in Indien, Pakistan oder Bangladesch. Die Kosten für vergleichbare Investitionen seien in ASS um mehr als 50 Prozent höher als in Asien. Höheren Kosten stünden zudem -was die Sache noch gravierender erscheinen ließ -ein Rückgang an Investitionen und vor allem an Investitionserträgen gegenüber. Nach Angaben der Weltbank von 1989 waren die „returns on Investment“ von 31 Prozent in den sechziger Jahren auf 2, 5 Prozent in den achtziger Jahren gesunken Und als Erklärung für diese offensichtliche Fehlentwicklung wurde überraschenderweise eine politische angeboten: afrikanisches Staatsversagen/Politikversagen oder mit der sprachlichen Neuschöpfung „bad governance“. Dabei wurde „governance“ (ein Begriff, der mehr als nur „governmenVVRegierung umfaßt) als „die Ausübung der politischen Macht“ definiert, „mit der die Angelegenheiten der Nation geregelt werden“
Weil Gegengewichte fehlen würden, hätten Staatsbeamte in zahlreichen Ländern ihren eigenen Interessen gedient, ohne befürchten zu müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zur Selbstverteidigung haben einzelne Beamte persönliche Einflußnetzwerke aufgebaut, anstelle den allmächtigen Staat für systemische Fehlleistungen verantwortlich zu machen. Auf diese Weise wurde Politik personalisiert, und die Patronage wurde zur Bewahrung der Macht unverzichtbar. Die Clan-Führer übten auf willkürliche Weise ihre Autorität aus und verloren so ihre Legitimität. Informationen werden kontrolliert, und freiwillige Bürgervereine werden kooptiert oder aufgelöst. Eine solche Umgebung kann für eine dynamische Wirtschaft keine Stütze sein. Nach dieser deutlichen Elitenschelte, die während des Kalten Krieges undenkbar gewesen wäre, wurden vier (positive) Elemente für „good governance“ als neue Leitlinie für die Reform des staatlichen Sektors deklariert, die an Max Webers Begriff der rationalen bürokratischen Herrschaft in modernen Demokratien erinnern: 1. Steigerung der funktionalen Effizienz im Management des öffentlichen Sektors, der auf notwendige Minimalfunktionen zu reduzieren sei; 2. „Accountability“, d. h. Rechenschaftslegung und Kontrolle auf allen Ebenen staatlichen Handelns, einschließlich Dezentralisierung und Partizipation von unten; 3. Schaffung eines zuverlässigen rechtlichen Rahmens für wirtschaftliche und administrative Aktivitäten sowie rechtsstaatliche Mechanismen der Vertragsgestaltung und Konfliktregelung; 4. Transparenz im öffentlichen Sektor und Recht auf Information mit dem Ziel, die Entwicklungsorientierung öffentlicher Haushalte zu verbessern und die Korruption zu vermindern.
Damit war im Kern eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft gefordert, mit anderen Worten eine revolutionäre Anpassungsleistung, die die entmündigten gesellschaftlichen Gruppen und Interessenverbände kaum von heute auf morgen erbringen konnten. Die Umsetzung dieser Norm gestaltete sich schwierig. Sechs Jahre später -im Weltentwicklungsbericht 1995 -hatten sich die wirtschaftlichen Perspektiven für ASS als Gesamtregion noch nicht gebessert: „Die mißliche Lage auf dem afrikanischen Kontinent“ -heißt es dort -bleibe „die schwerwiegendste Herausforderung für die neu entstehende Weltordnung.“
Noch konnte im wirtschaftlichen Bereich der Abwärtstrend nur in einigen Staaten mit harten Strukturanpassungsprogrammen abgebremst werden. Der 1995 vom Vize-Präsidenten der Weltbank für Afrika vorgelegte Afrika-Bericht „Ein Kontinent im Wandel“ sah in den folgenden sieben Staaten aufgrund wieder gestiegener Investitionen und Wachstumsraten Licht am Ende des Tunnels: Elfenbeinküste, Äthiopien, Ghana, Kenia, Mali, Senegal und Uganda. In allen sieben hatte es freie Wahlen (Ausnahme Uganda) und Verwaltungsreformen gegeben. Die Region insgesamt jedoch hat mit 16 Prozent Investitionsquote (Investitionen als Anteil vom BIP) die schlechteste Voraussetzung für aufholende Entwicklung: Südasien hat aktuell 23 Prozent, Ostasien 28 Prozent, China 30 Prozent und sogar die ehemaligen RGW-Staaten erreichen mit 19 Prozent und Lateinamerika mit 20 Prozent (alle im Jahr 1992) höhere Vergleichswerte. Auch der Indikator für Produktivität „durchschnittliche Schuljahre“ weist ASS als Schlußlicht auf der Skala der Entwicklungsregionen aus: Während der aktuelle Wert für Afrika 2, 3 aufweist (im Jahr 1992) und im sogenannten Divergenz-Szenario (das weitgehend auf der Fortsetzung vergangener Trends basiert) für das Jahr 2010 nur 2, 6 anzeigt, beträgt er für Südasien 3, 4 (bzw. 4, 2) und für Ostasien sogar 6, 5 (bzw. 7, 3) durchschnittliche Schuljahre pro Schüler, Damit hat Afrika die ungünstigste Ausgangsposition für „human Capital“ -Bildung -ein entscheidender Indikator für sozio-ökonomischen Fortschritt und Erlangung internationaler Konkurrenzfähigkeit.
IV. Gründe und Hintergründe der afrikanischen Krise
Die Diskussion über die Ursachen der afrikanischen Krise erfuhr durch das provokative Buch der couragierten Kamerunerin Axelle Kabou „Weder arm noch ohnmächtig“ aus dem Jahr 1991 starken Auftrieb. Es ist als „Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer“ verfaßt und attackiert in der Tradition von Franz Fanon den weitverbreiteten Hang zur Selbstbemitleidung der afrikanischen Intelligenz. „Man müsse als erstes die afrikanische Mentalität entgiften, die Uhren richtig stellen und die Menschen in Afrika mit ihrer Verantwortung konfrontieren.“ Als Grund für die Verweigerung, Fortschritt und Entwicklung als Gestaltungsaufgaben selbst aktiv in die Hand zu nehmen, führt Kabou ein psychologisches Argument ins Feld: die afrikanischen Eliten würden eine Politik des Ärmelhochkrempelns „als Eingeständnis der Ohnmacht, der Schwäche, der kulturellen und rassischen Unterlegenheit empfinden“ -und daher von sich weisen. Importierte und eigene Ideologien wie Blockfreiheit und diverse Spielarten des Sozialismus hätten die Funktion gehabt, es Afrika dreißig Jahre lang zu ermöglichen, die Verweigerung von Entwicklung zu kaschieren
Auch im kultursoziologischen Diskurs über die Ursachen und Bedingungen von „Entwicklung“ hierzulande werden die Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen einer Gesellschaft mit den endogenen „Wertefeldern“ und kulturellen Verhaltensnormen rückgekoppelt. In jeder Gesellschaft leisten kulturelle Werte und die in Riten, Sitten und Gebräuchen verfestigten Kollektiverfahrungen wichtige Steuerleistungen, die den Menschen und Gruppen helfen, mit den Herausforderungen ihrer Umwelt zurechtzukommen. Ganz offensichtlich hat der technisch-wissenschaftliche Westen (aus einem Gemisch eigennütziger wie auch humanitä-rer und weltinnenpolitischer Gründe) diese Steuer-leistung den afrikanischen Gesellschaften abnehmen wollen, was unbeabsichtigt vielerorts zu einer entwicklungspolitischen Lähmung geführt hat. Das angeblich am Ideal der Self-Reliance („sich verlassen auf die eigenen Kräfte“) orientierte Tansania ist hier ein tragikomischer Fall des Mißlingens guter Absichten.
Aus der Betrachtung der beeindruckenden Entwicklungserfolge Südostasiens hat der Wirtschaftswissenschaftler Dieter Weiss einen Entwicklungsbegriff in die Diskussion gebracht, der Freiheit des Denkens als elementare Voraussetzung für Kreativität definiert: „Entwicklung heißt, Problemsituationen nüchtern zu analysieren, notwendige Politiken zu konzipieren, Projekte und Programme zu entwerfen und deren Durchführung zu organisieren. Alle genannten Elemente bilden eine Kette, in der kein Glied fehlen darf.“ Und er fügte hinzu: „In vielen Ländern am hinteren Ende des internationalen Entwicklungszuges, insbesondere in Schwarzafrika, fehlt fast jedes Glied dieser Kette.“ Damit korreliert die Tatsache, daß in Afrika -dreißig Jahre nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit -noch immer mehr als 80000 technische Experten im Rahmen von ausländischen Kooperationsprogrammen arbeiten.
Von ähnlichen Überlegungen ließ sich Ernst Hillebrand leiten, der die Erklärung für „das in der jüngeren Menschheitsgeschichte tatsächlich wohl einzigartige Ausmaß des Staatsversagens, der Korruption und Ressourcenverschleuderung, das die Entwicklung des subsaharischen Afrika in den letzten drei Jahrzehnten geprägt hat“, nicht einfach auf das moralische Versagen der Staatsklasse zurückführen möchte. Er vertritt die These, „daß die Dysfunktionalität des Staates in Afrika auf kulturellen Grundmustern der afrikanischen Gesellschaften“ beruhe Diese kulturellen Grundmuster und sozialen Normensysteme -vor allem die Idee der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität unter Verwandten -würden nicht nur den bürokratischen (von den Kolonialherren geerbten) Staat untergraben, sondern auch das Entstehen einer demokratischen Zivilgesellschaft blockieren. Der Zerstörung der Gesellschaft von oben durch den Staat geselle sich „gleichzeitig eine Zerstörung von unten“ hinzu, „und erst diese beiden zusammen erklären die Entwicklungs-Katastrophe Afrika“. Die Normen der gegenseitigen Solidarverpflichtung hätten ihre Wurzeln in den Agrargesellschaften des vorkolonialen Afrikas mit ihrer vordringlich reproduktionsorientierten Subsistenzwirtschaft und stünden „nach wie vor im Mittelpunkt der afrikanischen Alltagskultur“. Diese Feststellung solle nicht den prägenden Einfluß des kolonialen Staates (Verwaltung und Militär) und anderer westlicher Einrichtungen (wie Missionsschulen und Kirchen) in Abrede stellen, aber die westlichen Einflüsse hätten sich „in der Regel bestenfalls als zusätzliches Element des sozialen und kulturellen Normen-systems“ etablieren können, „die grundlegenden Dispositionen des ‘subsistenzwirtschaftlichen Gruppenhabitus’ in der Regel aber (noch) nicht ersetzen“ können
V. Die fehlende afrikanische Menschenrechtstradition und die Bedeutung der ethnischen Grenze
Mit der Gesellschaftsanalyse afrikanischer Sozialwissenschaftler ist die im Vorstehenden skizzierte Problemperzeption durchaus kompatibel. So hat der Gabuner Jurist Isaac Nguema, Mitglied der Afrikanischen Kommission der Rechte des Menschen und de/Völker, und von deren Konstituierung im November 1987 an für die zwei ersten Amtsjahre ihr Präsident, das Argument in die Debatte gebracht, daß das postkoloniale Afrika noch immer durch „Kolonialmentalität“ und die „Mentalität der Hilfsbedürftigkeit“ geprägt stei. Die koloniale Mentalität, eine Mischung aus Resignation und Unterwerfung, hätte „in der traditionellen Lebensorganisation der meisten afrikanischen Gesellschaften einen fruchtbaren Nährboden gefunden; denn dort sind Schicksal, Verhalten und Gesten des Einzelnen im wesentlichen Normen, Praktiken und Traditionen untergeordnet, die von der Gemeinschaft oder der Gruppe geschaffen und geheiligt worden sind. So schließen sie jeden Schritt, jeden persönlichen Weg und jede vom Einzelnen selbst bestimmte Erneuerung aus. Die Rolle des individuellen Willens ist auf ein Minimum reduziert, da jeder nach den Regeln und Praktiken lebt, die sich aus seinem Status ergeben.“
Nguema warnt vor der Illusion, daß die traditionellen Wertfelder und familien-oder ethniebezogenen Normen der (kolonialen oder vorkolonialen) Vergangenheit angehören würden; vielmehr seien sie immer noch aktuelle Realität und müßten als die (Stör) Faktoren angesehen werden, „die sich am stärksten der Entwicklung einer Politik der Förderung der Menschenrechte widersetzen“ würden. Es sei daher notwendig, „anstatt sie als historische Realitäten anzusehen, ... sie als höchst aktuelle Gegebenheiten zu werten, so sehr ist ihre Dynamik in allen Bereichen des täglichen Lebens, sei es Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Beruf oder Kultur zu spüren“. Als die dem modernen Universalismus am stärksten widersprechende Eigentümlichkeit der afrikanischen Tradition nennt Nguema das Denken und Handeln in eng begrenzten primordialen Gemeinschaften: Die Errichtung mehr oder weniger hermetischer (Bewußtseins) Grenzen gehe auf Vorstellungen des traditionellen Afrika zurück, „denen zufolge der Mensch seinen gesellschaftlichen Wert in Abhängigkeit von seiner ethnischen Gruppe, seinem Stamm, seinem Clan oder seiner Kaste erwirbt. Außerhalb der ethnischen Gruppe dagegen ist dasselbe Individuum kein menschliches Wesen mehr.“
Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß es unzählige Beispiele für friedliche Koexistenz von ethnischen Gruppen und immigrierten Minderheiten in den Dörfern und Städten des post-kolonialen Afrika gegeben hat und gibt. Vergessen wir nicht, daß mit zwei Ausnahmen (Somalia und Lesotho) alle afrikanischen Staaten ethnisch extrem heterogene Bevölkerungen haben und daß sie dennoch überwiegend friedlich -in der ersten postkolonialen Phase, der Phase des präsidentiellen Einparteiensystems -miteinander ausgekommen sind. Es ist daher meines Erachtens notwendig, idealtypisch zwei existentielle Grund-positionen in multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften zu unterscheiden: zum einen die normale Situation des friedlichen Mit-und Nebeneinanders der heterogenen Gruppen im neo-patrimonialen Staat auf der Grundlage bewährter Reziprozität; zum anderen die kritische Situation der anhaltenden Ressourcenverknappung bei wachsenden berechtigten Ansprüchen der Klientel auf Ressourcenzuteilung und auf herkömmliche Überlebenschancen.
Peter Molt hat zu Recht in der Zuspitzung des zweiten Szenarios die Ursache für die politische Strukturkrise der afrikanischen Gesellschaft gesehen. „Die Existenz des Staates in Afrika wird einerseits durch die Militärkasten gesichert, andererseits durch die Kohärenz einer politischen Klasse, ‘die mittels klientelistischer Netze die Bevölkerung in den Staat integriert. Der Kern der politischen Krise Afrikas liegt darin, daß die wirtschaftlichen Grundlagen für diese Art der Herrschaft gefährdet oder weggefallen sind. Die Wirtschaft ist überall so ruiniert, daß kaum mehr Geld vorhanden ist für die Aufrechterhaltung der Verwaltung, für den Unterhalt der Armee und schon gar nicht mehr für die kostspielige Befriedigung klientelistischer Ansprüche.“
Von dieser Interpretation her öffnet sich ein Korridor des Verständnisses für all die extrem anmutenden Grausamkeiten, die heute in den „vergessenen Bürgerkriegen“ Afrikas zwischen ethnischen Gruppen und ethnopolitischen Parteien Vorkommen, wobei es ziemlich nebensächlich ist, daß ethnische Identitäts-und Zugehörigkeitsansprüche von Betroffenen nicht genealogisch (oder gar genetisch-biologisch) begründbar sind, sondern auf Glaube und Fiktion der sich selbst definierenden Gemeinschaftsmitglieder beruhen. Entscheidend ist die funktionale Bedeutung der fiktiven oder realen Ethnie, nämlich die Verheißung der persönlichen Sicherheit und Geborgenheit
Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß diese Art der Selbstinterpretation nicht auf allen Ebenen der postkolonialen Gesellschaft vermutet werden darf. Auf der Ebene der Staatsführung hat jahrzehntelang der Integrations-und Kooptationsmechanismus funktioniert, den Jean-Frangois Bayart „die reziproke Assimilation der Eliten“ genannt hat, ein Mechanismus, der lange Zeit politische Stabilität und die Beschränkung präsidentieller Willkür sicherstellte. Der ökonomisch geschwächte Staat (und der durch Korruption zerfressene Verwaltungsapparat, in dem alle Ämter käuflich geworden sind) kann die Reziprozität zwischen Führung und Regierten nicht mehr garantieren, womit die Basis des Klientelsystems beschädigt wird.
VI. Der Zerfall staatlicher Autorität in einer national nicht-integrierten Gesellschaft
Demokratie als geniales, weil das einzig friedliche Verfahren zur Lösung der Wahl, Abwahl und Neubestellung von politischer Herrschaft ist besonders geeignet, vorletzte Fragen eines Staates zu regeln, nicht aber „letzte Fragen“ einer Gesellschaft zu entscheiden. Was den postkolonialen Staat im Innersten zusammenhält, was seine drei gesellschaftlichen Hauptbestandteile -die politische Klasse, die modernen Berufsverbände, Akademiker, Gewerkschaften, Kirchen und andere Träger der „civil society“ und die neo-traditionellen Dorf-und Stadtteilgruppen sowie lebensweltliche Sekten, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden -aneinanderbindet, das kann „Demokratie“ (Mehrheitsentscheidung) nicht klären. Wo der „Kitt“ der Gesellschaft fehlt oder porös geworden ist -etwa die Frage der nationalen oder kulturellen Identität des Staates, der Staat als erfahrbare Interessen-und Wertgemeinschaft, das nationale Gemeinwohl -, erweisen sich demokratische Wahlverfahren oder rationale Regierungspraktiken als nutzlos oder nicht anwendbar. Der islamisch-christlich-animistische Sudan, der drei Experimente mit fairen und freien Parlamentswahlen erlebt hat, ohne dadurch regierbar zu werden, ist der wohl krasseste Beweis für diese These. Es ist kein Zufall, daß gerade hier der erste islamische (integralistische) Staat auf afrikanischem Boden entstanden ist, in dem Parteien verboten, das Mehrparteiensystem durch einen nationalen Volkskongreß mit zahlreichen Basiskomitees ersetzt wurde und heute von den Machthabern (einem gnadenlosen Folterregime) als bewußte religiöse Antithese zum säkularen pluralistischen Verfassungsstaat westlicher Prägung ausgegeben wird
Damit verschiebt sich das Demokratieproblem auf die Frage nach der Kohäsionsfähigkeit einer staatlich verfaßten Gesellschaft, in der ein von der Kolonialherrschaft geerbter moderner bürokratischer Staat (als rechtliche Fiktion ohne eigene Souveränität) eine in sich fragmentierte Gesellschaft beruhigen, lenken, besteuern und „entwickeln“ soll. Wie schwierig diese Aufgabe prinzipiell zu lösen ist, wird an der Tatsache deutlich, daß die Masse der Menschen (Bäuerinnen/Bauern, Hirten, No-maden, Slumbewohner) von den klassischen Strukturen der im Aufbau befindlichen Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Parteien, Interessenverbände, Nicht-Regierungsorganisationen) weder erfaßt noch vertreten wird. Feldforschungen über die politischen Erwartungen von ländlich geprägten Wählern/innen in Mali und Tansania machen die Differenz in den Normen und Wertefeldern zwischen unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten deutlich, die weder durch den Markt, noch durch ein politisches Programm, eine gemeinsame identitätsstiftende Kultur oder durch kollektive wertbesetzte Erinnerungen und Institutionen hinreichend integriert sind Damit fehlt auch die Grundlage für Reziprozität in den Beziehungen zwischen Staat und Bürgern, ohne die in Afrika auf absehbare Zukunft Regieren nicht möglich sein wird
Daraus ist die entwicklungspolitisch relevante Schlußfolgerung zu ziehen: „governance“ im Sinne der Ressourcensteuerung für eine gesamtgesellschaftlich gerechtere (und wenn möglich nachhaltige) „Entwicklung“ ist nicht primär vom Staat bzw.der Staatsklasse zu erwarten, die bisher größeres Interesse an „rent-seeking“ statt an „profitseeking“ an den Tag gelegt hat, sondern eher von den zu „self-governance“ fähigen neotraditionellen produktiven Gruppen an der Basis der Gesellschaft. Der „Staat der Hauptstadt“, allerdings als abgespeckter, verschlankter Staat würde die Aufgabe erhalten bzw. behalten, nicht mehr durch übermäßige Abschöpfung des Mehrprodukts die Entfaltung einer kommerziellen Marktwirtschaft zu behindern, sondern durch Meinungsfreiheit und Marktwettbewerb zu fördern. Dabei ist an Franz Ansprengers Überlegung anzuknüpfen, daß „der Schnitt zwischen wertvollen und verderblichen Strukturelementen des afrikanischen Patrimonialismus da anzusetzen“ sei, „wo dieser Gemeinnutz und Eigennutz, öffentliche und private Finanzen vernetzt“: „Die Unterscheidung zwischen der Kasse des Fürsten und der Kasse des Staates war in der europäischen Geschichte der meines Erachtens entscheidende Schritt in die Moderne, und ich denke, in diesem Punkte kann Afrika Von Europa lernen, ohne schädlichem Neokolonialismus zu verfallen.“ Politische Demokratisierung ist mit Rechtsreformen (Bekämpfung und Bestrafung von Korruption) und wirtschaftlichen Strukturreformen aufs engste verknüpft.
VII. Ausblick
Als Fazit ist daher festzuhalten: Die auf verschiedenen Wegen und Umwegen in Gang gekommene Demokratisierung in afrikanischen Staaten ist ein primär aus internen sozialen Widersprüchen entstandener Veränderungsprozeß -oftmals die kreative Antwort auf das Versagen des neo-patrimonialen Einheitsstaates. Vor allem Studenten, Rechtsanwälte, Journalisten, Lehrer, Geistliche und andere „Professionals“ aus den urbanen mittelständischen Milieus waren als politisierte konfliktfähige Gruppen die Katalysatoren und Promotoren des Wandels. Zugleich sind es die sozialen Gruppen, die unter den notwendigen Strukturanpassungsprogrammen (Abwertung der Währung; Abbau des „urban bias“ der sozialen Staatsausgaben) der hoch verschuldeten Staaten am stärksten zu leiden haben.
Die kurzfristigen Aussichten auf eine fortgesetzte Demokratisierung in den nicht bereits von Staats-zerfall heimgesuchten Ländern südlich der Sahara sind unter den gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Bedingungen und innerafrikanischen Wirtschaftsproblemen und politischen Turbulenzen nicht viel-versprechend. Drei miteinander verschlungene Faktoren behindern rasche Fortschritte: wirtschaftliche Unterentwicklung und Ressourcen-knappheit, wobei zunehmend nutzbare Agrarflächen und Trinkwasser als Überlebensressourcen eine Konfliktursache darstellen; die relative Schwäche der (oppositionellen) Kräfte der „civil society“'gegenüber dem neopatrimonialen Staat, vor allem in Gestalt des brutalen Garnisonsstaats; schließlich die Modernisierungsprozesse an der gesellschaftlichen Basis, die leicht zu ethnisch kolorierten militanten Konflikten um kulturelle Identität, Machtbeteiligung und Ressourcenzugang führen.
Die mittel-bis langfristigen Aussichten in den heute noch repressiv regierten Staaten, in denen wie in Nigeria, Kamerun oder Kenia aber mutige Einzelpersonen und konfliktbereite Gruppen der „civil society“ um freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte (die drei Minima der Demokratie) kämpfen, sind kaum abzuschätzen, aber nichts spricht gegen die Hoffnung, daß auch in Afrika wie in anderen Regionen der Weltgesellschaft die kollektiven Leiderfahrungen von engagierten Minderheiten sich eines Tages in demokratische Systemrationalität niederschlagen werden. Daß dabei die alten kolonialen Staatsgrenzen erhalten bleiben, ist eher unwahrscheinlich. Der militante Ethnonationalismus wird auch in Afrika seine Wirkung entfalten.
Im Unterschied zu den sich demokratisierenden Schwellenländern Asiens sind afrikanische Staaten aufgrund ihrer industriellen Un-und Unterentwicklung latent labile Demokratien, die unter wirtschaftlichem Druck in repressive Anpassungsdiktaturen regredieren können. In einem „schwachen Staat“, in dem die wirtschaftliche Basis nicht gefestigt ist und die Administration durch „Venalität“ (Käuflichkeit) gekennzeichnet ist, kann Demokratisierung auch zur militant vorgenommenen Akzentuierung bestehender Risse und Widersprüche in der Gesellschaft führen. Daher sind notwendige Einwirkungen von außen auf afrikanische Regierungen, demokratische Reformen einzuführen und auf die Einhaltung der Menschenrechte zu achten -was Exilgruppen und die demokratische Opposition Afrikas vom Westen zu Recht erwarten -, mit Augenmaß zu praktizieren.