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Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen Theorie | APuZ 43/1995 | bpb.de

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APuZ 43/1995 Artikel 1 Die Kultur des Friedens Toleranz im Umbruch. Über die Schwierigkeit, tolerant zu sein Konfliktmanagement: Denken in Gegensätzen Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen Theorie Kommentar und Replik

Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen Theorie

Andreas Beierwaltes

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die liberalen Gesellschaften des Westens schienen nach dem Zusammenbruch der Regime in Osteuropa die strahlenden Sieger zu sein. Doch schon seit Beginn der achtziger Jahre diskutieren amerikanische Philosophen und Sozialwissenschaftler zunehmend die Grenzen der liberalen Gesellschaften. Sie kritisieren den übersteigerten Individualismus, der bereits in der Philosophie des Liberalismus angelegt sei, und setzen dieser eine stärkere Betonung gemeinschaftlicher Kontexte entgegen. Diese Position, die seit etwa fünf Jahren auch in Deutschland rezipiert und diskutiert wird, heißt Kommunitarismus. Die Argumentationslinie der Kommunitaristen ist klar: Der Mensch ist ein soziales Wesen und wird von seiner kulturellen und sozialen Umgebung geprägt. Fundamentaler Bestandteil jeder Kultur ist aber ein Wertesystem. Geht dieses verloren oder wird es durch einen falsch verstandenen Pluralismus allzusehr relativiert bzw. zur Disposition gestellt („anything goes“), ist eine Entwicklung des Individuums zu einer moralisch handelnden Person nicht möglich. Eine Gemeinschaft -anders als die liberale pluralistische Gesellschaft -zeichne sich aber gerade durch die Existenz eines solchen Wertesystems aus. Diese Position fordert deshalb u. a. auch die Reform einer repräsentativen Demokratie, die auf der ethischen Neutralität als Grundlage des Staates besteht. Gerade diese Debatte ist in Deutschland aktueller denn je.

Die liberale Gesellschaft ist an die Grenzen ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gestoßen. Dies ist der Grundtenor gegenwärtiger Kritik an den westlichen, liberal verfaßten Gesellschaften. Individualisierung, Pluralisierung der Lebensentwürfe und damit einhergehender Werteverlust bzw. Werte-wandel, Desintegrationsprozesse und „Politikverdrossenheit“ werden als Symptome benannt und ihre Folgen für Politik und Gesellschaft diskutiert.

I. Einleitung

Dem Liberalismus ist diese Kritik nicht unbekannt. Vielmehr ist es ein gemeinsames Merkmal jeglicher Liberalismuskritik -gleich, ob sie vom Konservativismus, Sozialismus oder gar Faschismus ausgeht -, sich auf die Entfremdung des Menschen von seinen Mitmenschen und seiner Natur aufgrund des vom Liberalismus geförderten Individualismus zu konzentrieren. Auch der „Communitarianism“ (engl.: community = Gemeinschaft; im folgenden soll der Begriff „Kommunitarismus“ verwandt werden) hat in dieser Kritik seinen Ursprung. Seit nun etwa fünf Jahren wird diese Denkrichtung amerikanischer Provenienz auch in Deutschland diskutiert.

Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht das Anliegen, nach einer Begriffserklärung die Wurzeln und die Argumentationsweise des Kommunitarismus herauszuarbeiten und schließlich den aktuellen Stand der Debatte zu beleuchten.

II. Begriffserklärung

Eine umfassende und eindeutige Definition des Begriffes Kommunitarismus ist nicht möglich. Vielmehr lassen sich unter diesem Terminus zwei -auf den ersten Blick verschiedene -Aspekte subsumieren: Zum einen bezeichnet Kommunitarismus die Grundposition gegenwärtiger Liberalismuskritik. In diesem Sinn ist Kommunitarismus ganz allgemein als Kritik an der mangelnden Beachtung gemeinschaftlicher Kontexte in der politischen Philosophie des Liberalismus zu verstehen. Jener Kritik werden theoretische Reflexionen über Gemeinschaft bzw. die (Wieder-) Herstellung von Gemeinsinn entgegengestellt Dies ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese in sich heterogene Denkrichtung bringen läßt, denn in ihren jeweiligen Zielsetzungen und Begründungen divergieren die Autoren z. T. erheblich Ich möchte diese Form als philosophischen Kommunitarismus bezeichnen.

In der Forschung existiert noch eine weitere Bedeutung des Begriffes „Kommunitarismus“. Dieser entsprang der soziologischen und historischen Erforschung einer sozialen Bewegung, die sich in der Gründung von kleinen Gemeinschaften manifestiert: Menschen mit kongruenten religiösen bzw. politischen Lebensentwürfen oder gleichen ethnischen Merkmalen schaffen sich eine gemeinsame Lebensumwelt, die ihren Grundsätzen und Wertvorstellungen entspricht Dies geschieht z. B. durch den Aufbau einer Produktionsstätte, die als Zentrum gemeinsamer, über den ökonomischen Kontext hinausgehender Unternehmungen dient. B. Zablocki fand dabei heraus, daß sich signifikant viele Neugründungen derartiger Kommunen immer dann nachweisen lassen, wenn (scheinbar) konsistente Wertesysteme als fragil und nicht mehr bindend betrachtet werden. Diese Bewegung ist nicht auf eine spezielle Region beschränkt, sondern ist auch international zu beobachten (z. B. Kibbuzim)

Wenngleich sich einzelne Gemeinschaften in ihren weltanschaulichen Grundpositionen bzw. ihrer Entstehungsgeschichte unterscheiden, so eint sie doch eine einheitliche Prämisse bzw. Zielsetzung: Es besteht die Auffassung, daß sich verbindliche Entscheidungen nur auf der Basis eines kollektiv geteilten Wertesystems fällen lassen. Ein konsistentes Wertesystem läßt sich aufgrund der im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang herrschenden Pluralisierung von Wertvorstellungen allerdings nur noch in einer -auch zahlenmäßig -kleinen, überschaubaren Gemeinschaft hersteilen.

Der Kommunitarismus als soziale Bewegung versucht deshalb, Entscheidungen auf eine kleinere Ebene zu verlagern. Das Ziel ist, dem individuell wie kollektiv empfundenen Zusammenbruch traditioneller Bedeutungs-und Wertesysteme durch Entdecken, Schaffen bzw. Reaktivieren gemeinsamer Werte entgegenzutreten und in diesem neuen bzw. veränderten Wertehorizont die wesentlichen sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen zu gestalten Erich Fromm beschrieb einen Teil dieser Bewegung als „kommunitären Sozialismus“ Ich möchte diese Auffassung ganz allgemein als praktischen Kommunitarismus bezeichnen.

Die beiden angesprochenen Vorstellungen von Kommunitarismus weisen Gemeinsamkeiten auf. Auch die theoretische Debatte um den Zusammenbruch gemeinschaftlicher Strukturen gründet in der These vom Verlust gemeinschaftskonstruktiver Wertebegriffe durch die Überbetonung individueller Lebens-und Glücksvorstellungen. Ebenso ist die Zielsetzung beider Formen identisch: Rekonstruktion gemeinschaftlicher Strukturen.

Gleichwohl besteht mindestens eine entscheidende Differenz: Während der praktische Kommunitarismus ausschließlich partikular orientiert ist und versucht, dem gesellschaftlichen Zusammenhang zu entfliehen und deshalb auch keine umfassende Perspektive eröffnen kann und will, ist der philosophische Kommunitarismus, wie er gegenwärtig den Diskurs in der politischen Theorie beherrscht und wie er hier behandelt werden soll, allgemein an den Grundlagen umfassender Gemeinschaftsformen orientiert. « Gemeinschaft in diesem Sinn umfaßt dabei Nachbarschafts-Gemeinschaften, Städte, Regionen, Nationen sowie supranationale Gemeinschaften -kurz: alle Formen möglicher Vergemeinschaftungen.

III. Die Wurzeln des philosophischen Kommunitarismus

Der philosophische Kommunitarismus, wie er sich in Amerika ausbildete, ist auf die zahlreichen Strömungen protestantischer Einwanderer zurückzuführen Aus Europa vertrieben, gründeten sie in der Neuen Welt Gemeinschaften, die ihnen ein Leben im Rahmen ihrer religiösen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen ermöglichen sollten. Dies war der Ausgangspunkt, von dem aus sich eine zunehmend politische Position entwickeln konnte, die die weitgehende Autonomie dieser lokalen Vereinigungen befürwortete. Drastisch artikulierte sich diese Haltung erstmals in der Auseinandersetzung um die Bundesverfassung von 1789/91. Hier entwickelten die , Antifederalists‘ eine auf Montesquieu zurückgehende Republikanismus-Version, wonach ein Staatenbund aus kleinen, überschaubaren und möglichst homogenen Republiken einer „Bundesrepublik“, wie ihn sich die , Federalists‘ vorstellten, vorzuziehen sei Die Verfassungsgegner konnten sich in den Ratifikationskonventen nicht durchsetzen. Für die Menschen schienen die Vorstellungen der , Federalists‘ schlüssiger und den großen Problemen der damaligen Zeit angemessener. Doch es blieb ein von den Verfassungsgegnem mitgeprägtes Mißtrauen gegenüber der Zentralregierung.

Eine Renaissance dieser antizentralistischen Haltung erlebte die USA mit dem Beginn der Industrialisierung. Ökonomische und politische Konzentrationsprozesse, Urbanisierung und ein zunehmend anwachsender Einwandererstrom schienen die ländlichen Regionen in ihrer Existenz zu bedrohen. Die populistische Bewegung, die sich primär aus verarmten Farmern rekrutierte, forderte einen gemäßigten Staatsinterventionismus in eine sich scheinbar zügellos entwickelnde Industrie und mehr Partizipationselemente, um die Politik stärker an die Bedürfnisse der Menschen zu binden Die Bewegung scheiterte schließlich an der Unfähigkeit, ein Bündnis mit der neu entstandenen Arbeiterklasse zu schließen, die von den Umbrüchen ebenso negativ betroffen war. Die Forderungen hingegen blieben. Das Programm des „Progressive Movement“, das schließlich in die New-Deal-Politik F. D. Roosevelts mündete, übernahm teilweise die Positionen der populistischen Bewegung und führte sie in Teilen auch politisch zum Erfolg (z. B. Kartellgesetzgebung).

Eine theoretische Fundierung seiner Haltung konnte das Progressive Movement in der Philosophie des Pragmatismus finden. J. Dewey hatte in seiner Schrift „The Public and its Problems“ die Frage nach der Demokratie unmittelbar mit der Existenz und Sicherung lokaler Gemeinschaften verbunden, ja sie geradezu durch sie symbolisiert: „Regarded as an idea, democracy is not an alternative to other principles of associated life. It is the idea of community life itself.“

Der Ansatz eines derartigen Demokratieverständnisses blieb in Amerika weiterhin erhalten. Zuletzt wurde die Verbindung von Gemeinschaft und Demokratie Ende der sechziger Jahre -z. T. auch in einer marxistisch fundierten Argumentation -belebt

So unproblematisch offensichtlich in den USA der Gemeinschaftsbegriff als Grundlage einer Sozialphilosophie gesehen wurde und wird, so umstritten ist er in der deutschen Rezeption. Es war der Hitler-Faschismus, der den Begriff von Gemeinschaft völkisch prägte und ihn zur Grundlage seiner Ideologie werden ließ. F. Tönnies leistete dem Vorschub, indem er die „Gemeinschaft des Blutes“ zum Fundament jeder Gemeinschaft avancieren ließ und diese grundsätzlich positiv bewertete. Für den amerikanischen Kontext war hingegen die Vorstellung einer ethnisch homogenen Gemeinschaft aufgrund einer vielfach fragmentierten Sozialstruktur undenkbar. Gemeinschaft wurde in den USA als Gruppe von Menschen verstanden, die gemeinsame Wertvorstellungen teilte und nach diesen Vorstellungen ihre politischen, sozialen und ökonomischen Beziehungen gestaltete. Historisch und sozial bezog sich dies in erster Linie auf die lokale Gemeinde, die als Gemeinschaft verstanden wurde. Bei zunehmender Zentralisierung sollte dieser Wertekanon aber auch den Staat als Institutionengefüge umfassen und binden. Er sollte angehalten werden, jene Vorstellungen auch in der Praxis zu konkretisieren, zumindest jedoch die notwendigen Strukturen zu schaffen, die eine Realisierung von Werten ermöglicht. Aus Sicht der Kritiker löste die amerikanische Demokratie diese Vorstellung nicht ein. Vielmehr habe sich die liberale Position durchgesetzt, für die die ethische Neutralität des Staates oberster Grundsatz sei und deshalb eine Wertebindung des Staates nicht akzeptieren kann.

IV. Ausgangsposition des philosophischen Kommunitarismus

Die Grundposition des philosophischen Kommunitarismus wurde exemplarisch in M. Sandeis Essay „Liberalism and the limits of justice“ begründet. M. Sandei hatte entschieden gegen den neoliberalen Ansatz der Gerechtigkeitstheorie von J. Rawls Stellung bezogen J. Rawls’ Grundidee bestand darin, Prinzipien der Gerechtigkeit in der Tradition kontraktualistischer, vertragsmäßiger Ansätze zu entwickeln. Im Sinne eines prozeduralen Gedankenexperimentes versetzte er die Individuen in einen fiktiven Urzustand. Um auszuschließen, daß sich die künftigen Vertragspartner einseitige Vorteile verschafften, wurden sie in Unkenntnis über ihre physischen und psychischen Eigenschaften sowie über ihre sozialen Rollen gelassen („veil of ignorance“). Hingegen wußten sie, daß sie im realen Leben Rechte und Freiheiten brauchen. Unter diesen Bedingungen würden, so J. Rawls, die Individuen zwei Gerechtigkeitsgrundsätze wählen, wovon der erste die egalitäre Zuerkennung von Rechten und Freiheiten gewährleisten, der zweite die Bedingungen bei sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit konstituieren soll.

J. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit gehört zu den wichtigsten philosophischen Werken der letzten Jahrzehnte. Es ist hier nicht der Ort, seine Leistung ausführlich zu würdigen. Vielmehr soll die kritische Auseinandersetzung der Kommunitaristen mit den Grundzügen dieser Theorie erörtert werden Zehn Jahre nach Erscheinen von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit unterzog M. Sandei dessen Ansatz einer radikalen Kritik. Nicht die Argumentation als solche, sondern ihre anthropologischen Prämissen standen im Zentrum seiner Analyse. M. Sandeis Einwand richtete sich in erster Linie gegen die Konstruktion des Urzustandes. J. Rawls, so M. Sandei, habe den Urzustand so entworfen, daß der Mensch von seinen moralischen Überzeugungen und Zwecken unabhängig sei. Gerade dies sei aber nicht denkbar: Nach J. Rawls’ Idee wäre der Mensch ein vereinzeltes, von seiner Lebens-welt unabhängiges Subjekt Demgegenüber betonte M. Sandei, daß der Mensch sich im Rahmen bestimmter Moralvorstellungen bewege und seine Identität und sein Selbstverständnis über intersubjektive bzw. kommunikative Prozesse entwickele. Aus dieser Prämisse folgerte M. Sandei nun, daß nicht Rechte bzw. Rechtsprinzipien einer Wertvorstellung vorangehen, sondern vielmehr Rechtsabsprachen als Ergebnis gemeinsamer Wertvorstellungen zu betrachten seien, die in einem sozialen Kontext geschaffen und aktualisiert werden.

Diese Entgegnung umschrieb den Ausgangspunkt des Kommunitarismus: Rechte, deren Sinn und Zweck es ist, die Beziehungen der Menschen untereinander umfassend zu regeln, können nicht entdeckt bzw. konstruiert werden, sondern sie müssen sich -um ihren moralischen Kern entfalten zu können -aus einer durch gemeinsam geteilte Werte konstituierten Gemeinschaft entwickeln. Das Ziel muß es deshalb sein, daß Rechte nicht mehr abstrakt als Regulatoren betrachtet werden, sondern daß ihr moralischer Kern immer wieder aktualisiert wird, um zu verdeutlichen, welche Grundprinzipien eine Gemeinschaft eigentlich zusammenhält. Eine generelle Ablehnung von Grund-bzw. Menschenrechten durch den Kommunitarismus ist daraus nicht zu folgern. Vielmehr wird von einem kommunitären Standpunkt aus die liberale Betrachtungsweise dieser Rechtsnormen kritisiert.

In einem höchst bemerkenswerten Aufsatz versuchte M. Sandei schließlich, die negativen Folgen für die USA zu benennen, die durch eine vom liberalen Personenbegriff geleitete Politik entstanden seien Dabei konstatierte er, daß sich die USA von einer ursprünglich dezentralen Volkswirt­ schaft und ebensolchen politischen Strukturen am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem ökonomisch wie politisch zentralisierteren Staat entwickelt habe -er spricht hier von einer Nationalisierung der Politik: Die Politik wurde zunehmend aus der lokalen Gemeinschaft herausgelöst und in den nationalen Institutionen angesiedelt. Zwar konnten soziale Härten durch die Garantie der Grundrechte und eine wohlfahrtstaatliche Politik gelindert werden, letztere aber war auf ein erhöhtes gegenseitiges Engagement angewiesen. Gerade dies konnte aber von einem tendenziell egoistisch denkenden Individuum nicht entwickelt werden, denn solidaritätsfördernde gemeinsame politische Handlungen waren der unmittelbaren Verfügung entzogen

Als Ausgangspunkt der Debatte nahm M. Sandei an, daß jeder Identitätsbildung aufgrund des sozialen und kulturellen Kontextes, in dem das Individuum lebt, eine Vorstellung vom guten Leben bereits zugrunde liege. Was er aber nicht zeigte, war, in welcher Weise diese Vorstellung auf eine Sozialisierung der eigenen Person einwirkt.

Der kanadische Philosoph C. Taylor versuchte, mit einem handlungstheoretischen Ansatz dieser Frage nachzugehen. In Abgrenzung zum liberalen Freiheitsbegriff, der Freiheit im Wesentlichen als Abwesenheit externer Hindernisse begreife (also: Freiheit vom Staat, „negative Freiheit“), versuchte er zu zeigen, daß dringende Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft die positive Freiheit, d. h. die Freiheit zur Teilhabe am politischen Prozeß sei Was aber ist Voraussetzung für Teilhabe, mithin also menschliches Handeln, das von Freiheit bestimmt ist?

Diese Voraussetzung sieht C. Taylor in der Existenz einer Gemeinschaft gegeben, innerhalb deren Grenzen das Individuum seine Identität ausbildet und zu einer verantwortlichen, moralisch handelnden Person heranreifen kann. Freiheit als Verwirklichungskonzept -so ließe sich C. Taylors Ansatzpunkt zusammenfassen -ist auf die Existenz einer Gemeinschaft angewiesen. Eine liberale Gesellschaft vermag diese Leistung nicht zu vollbringen

In seiner Schrift „Quellen des Selbst“ versuchte C. Taylor, diesen Wertehorizont substantiell zu be-stimmen. Mittels eines hierarchischen Modells versuchte er zu zeigen, daß sich jede Gemeinschaft innerhalb eines festgefügten, universellen Werterahmens („inescapable framework“) bewege, der aus dem Respekt vor den Rechten, der Freiheit und der Autonomie anderer, aus dem Respekt vor der Bedeutung wirtschaftlicher Produktion, der Familie und aus der Beachtung des Wohlergehens anderer bestehe. Für die zweite Stufe („hypergoods“) gilt diese Universalität nicht mehr. Diese Wert-und Idealvorstellungen sind dem äußeren Rahmen hierarchisch untergeordnet und werden von diesem auch substantiell bestimmt. In unterschiedlichen Kulturgemeinschaften haben sich aber diese Wertvorstellungen zweiter Stufe auch verschieden ausgebildet. Es sind diese kulturgebundenen Werte, die die Identität des Individuums maßgeblich formen Dies geschieht allerdings nicht passiv, sondern durch den aktiven Prozeß reziproker Kommunikation zwischen Individuen, in dem diese „Hypergoods“ immer wieder aktiviert werden. Ein solches, für die Identität zentrales Kommunikationsnetz, ist aber auch für C. Taylor bei ungebundenen Individuen nicht denkbar.

Entscheidend ist für C. Taylor die stetige Reaktivierung des Wertehorizontes. Gelingt diese aufgrund von Brüchen in der Kommunikation nicht mehr, läßt sich auch nicht mehr von einer Gemeinschaft im eigentlichen Sinne sprechen.

Damit ist die Grundposition der Kommunitaristen klar umschrieben: Eine moralisch handelnde Person ist auf die Existenz eines Wertekanons angewiesen. Dieser Wertekanon wird durch kommunikative Prozesse und gemeinsame Handlungen lebendig gehalten. Durch zahlreiche Differenzierungsprozesse, von denen die Individualisierung am schwersten wiegt, erlahmte zunehmend das Engagement des einzelnen zum Wohle aller. Die von den Kommunitaristen negativ bewertete Folge war, daß ein die Gemeinschaft konstituierender Wertehorizont nicht mehr lebendig gehalten werden konnte und die Entwicklung nicht-moralisch handelnder Individuen zur Folge hatte -eine in der Tat „beunruhigende“ Erkenntnis.

Zwei Schriften beeinflußten die Kontroverse um die kommunitäre Liberalismuskritik massiv. Bereits 1981 entwickelte A. Maclntyre seine philosophiegeschichtlich orientierte These, daß die Aufklärung die Tugendlehre des Aristoteles gründlich diskreditiert habe und jeglicher Ansatz, eine auf Vernunft basierende Moraltheorie zu konstruieren, gescheitert sei. Kurz: Die Aufklärung als Projekt sei gescheitert. Während Aristoteles bzw. in seiner Fortführung Thomas von Aquin noch die Existenz eines Telos annahmen, das es als Individuum in der Gemeinschaft durch tugendhaftes Verhalten zu verfolgen gelte, verwarf die Aufklärung ein solches Ziel. In Konsequenz dessen, so A. Maclntyre, werde die Gesellschaft nur noch als Arena zur Verwirklichung individueller Ziele gesehen und nicht mehr als ein intensiver sozialer Zusammenhang. Schließlich folgerte er daraus: „Meiner Gemeinschaft beraubt, laufe ich Gefahr, alle wirklichen Maßstäbe des Urteilens zu verlieren.“ Nicht zuletzt deshalb stellt für ihn der „Patriotismus“, der auf den Erhalt und die Verteidigung dieser Gemeinschaft orientiert ist, eine wiederzubelebende, loyalitätsbezogene Tugend dar.

Doch A. Macintyres Studie zeigte nicht, daß die von der Aufklärung auch intendierte soziale Differenzierung (= Individualismus) die entscheidende Ursache für den gegenwärtig mangelnden moralischen Konsens ist und daß die Zurückweisung eines gesellschaftlich akzeptierten Individualismus gerechtfertigt werden könnte. Vielmehr wäre zu zeigen, inwiefern Individualismus destruktiv auf moralbildende und -vermittelnde Gemeinschaftsstrukturen wirkt bzw. wirken kann. Genau dies war die Fragestellung des zweiten wichtigen Beitrages, einer empirischen Untersuchung unter der Leitung des Religionssoziologen R. N. Bellah

Inhaltlich zum Vorbild avancierte hierfür der 1830 von Alexis de Tocqueville über die USA verfaßte Reisebericht. Jener Bericht, welcher das Selbstbild Amerikas bis heute geprägt hat, enthielt eine grundsätzlich positiv gefärbte Bestandsaufnahme der gerade entstandenen Nation. Die Sitten und Gebräuche der Amerikaner, so schrieb Tocqueville seinerzeit, stützten auf einzigartige Weise die Demokratie und gewährleisteten die Existenz freier Institutionen. Doch bereits zu dieser Zeit sah er eine Entwicklung, die sich destruktiv auf die Sozialstruktur und damit auf die Bedingungen der Freiheit auswirken könnte: den Individualismus. Zwar sei dieser ein „überlegendes und friedfertiges Gefühl“ führe aber schließlich zum Rückzug in die Privatsphäre und zum Egoismus. Dies habe aufgrund des erlahmenden Engagements in der Öffentlichkeit die Zerstörung der gemeinschaftlichen Strukturen zur Folge, die -als Garant für Demokratie in Freiheit -schließlich wegfallen würden.

R. N. Bellah differenzierte den Begriff Individualismus, wobei religiöser und republikanischer Individualismus die öffentliche, utilitaristischer und expressiver Individualismus die private Sphäre bestimmten. In seiner Untersuchung stellte er fest, daß die Menschen bereits frühzeitig kollektive Zusammenhänge (z. B. Familie) zum Zwecke der individuellen Selbstverwirklichung verlassen. Der utilitaristische Individualismus stütze dabei das Streben nach Geld und Erfolg, welche als Mittel zur Ausgestaltung eines expressiven Lebensstils dienten. Diese Vorstellung eines ganz in die Privatheit zurückgezogenen Lebensstils habe aber auch Konsequenzen für die öffentliche Sphäre. Ähnlich wie bereits Tocqueville ging auch R. N. Bellah davon aus, daß die Erfahrungen von öffentlichem Engagement ein Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl erzeugen. Da aber Beruf und die Suche nach privatem Glück einen extrem hohen psychischen und physischen Aufwand erfordern und darüber hinaus die sozialen und politischen Zusammenhänge zunehmend komplexer würden, schwinde zusehends das Interesse und die Möglichkeit eines öffentlichen Engagements in der Gemeinschaft. Individuelles materielles Erfolgs-streben dominiere die Idee eines Gemeinwohls, individualisierte Selbstverwirklichung dominiere die Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft wird somit nicht als Partner, sondern als Gegner der eigenen Person aufgefaßt.

R. N. Bellahs Untersuchung gehört zu den wichtigsten Beiträgen der Kommunitarismus-Debatte. Nicht nur die deutlichen Verweise auf notwendige politische Reformen, die insbesondere im Folgeband „The good society“ konkretisiert wurden, sondern auch die einfache und klare Sprache führten zu einer lebhaften Rezeption, die weit über den akademischen Diskurs hinauswies.

Der Kommunitarismus konfrontiert die liberale Philosophie nun nicht nur mit einer theoretischen Position. Vielmehr unterbreiten Autoren ganz unterschiedlicher Disziplinen Reformvorschläge, die auf kommunitären Denkstrukturen basieren. Die übergeordnete Frage ist dabei: Wie lassen sich Gemeinschaftsstrukturen hersteilen bzw. sichern?

V. Die Reform liberaler Gesellschaften

Zuerst einmal beziehen sich die Reformideen auf den politischen Kontext. Eine umfassende Veränderung der repräsentativen Demokratie ist u. a. das Anliegen des Politikwissenschaftlers B. Barber In Ablehnung einer strikt repräsentativen Demokratievorstellung entwirft er nun das Bild einer „starken Demokratie“. Die Kommunikation unter den Individuen, so B. Barbers Vorstellung, führe die Menschen in einer Gemeinschaft zusammen, was den Wunsch nach Partizipation hervorbringe. Konsequenterweise fordert er die Rückverlagerung der wesentlichen Entscheidungskompetenzen in die Gemeinde durch die Ausweitung plebiszitärer Elemente. Über größere, regionale Projekte soll ebenfalls per Plebiszit entschieden werden, wobei interaktive Mediensysteme die technischen Voraussetzungen liefern sollen, ein umfassendes Beratungsforum zu bilden. In fast rousseauistischer Weise sollen nationale Repräsentationsinstitutionen zu reinen Exekutivorganen umgestaltet werden und nur noch wenige Funktionen übernehmen (z. B. Gestaltung der Außenpolitik).

Es ist hier nicht der Ort, die immer wieder geführte Debatte zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratietheorie aufzugreifen und auch nicht über die fast schon hypertrophe Faszination an den neuen Mediensystemen bei B. Barber zu diskutieren. Entscheidend ist die Feststellung, daß er die wohl radikalste Position der Rückbindung von Entscheidungen an die lokale Gemeinschaft bezieht, durch die die Individuen mittels Sprache und Handlung wieder einen Bezug zu ihrer physischen und psychischen Umwelt finden sollen. Die Stärkung plebiszitärer Elemente auf kommunaler Ebene ist allerdings eine Forderung, die sich bei allen Kommunitaristen finden läßt.

Aber auch in der Struktur der Wirtschaft werden Transformationsprozesse angeregt. Der Soziologe A. Etzioni hatte bereits 1968 in seiner Schrift „The Active Society“ die liberale Sicht eines autonomen Selbst als nicht lebensfähige Alternative zum Totalitarismus bezeichnet In Auseinandersetzung mit der Rational-bzw. Public-Choice-Theorie lehnt er eine Sicht vom Menschen als Maximieret seines Eigennutzens ab. Da diese Position aber bereits Bestandteil der modernen Mentalität geworden sei und diese gemeinschaftsorientierte Verhaltensweisen zurückdränge, sei ein Paradigmenwechsel jetzt dringend notwendig. Das Individuum müsse, so A. Etzioni, sich wieder stärker auf seinen Gemeinschaftsbezug besinnen.

Als einen wichtigen Ort benennt er die Transformation des Arbeitsplatzumfeldes -eine zentrale Stelle, in der das Individuum aus seiner Privatheit heraustritt und in einem kollektiven, teilöffentlichen Kontext steht. Auf der Basis zahlreicher Untersuchungen -auf die sich z. T. auch E. Fromm bezogen hatte -plädiert er für stärkere Partizipationsmöglichkeiten der Arbeiter am innerbetrieblichen Produktions-bzw. Entscheidungsprozeß. Die Möglichkeit, gestalterisch und konstruktiv auf die Umgebung Einfluß zu nehmen, steigere nicht nur die Produktivität, die Arbeitsqualität und durch den besseren Informationsfluß von unten nach oben auch die Effektivität des Managements, sondern auch die Erfahrung, daß ein über individuelle Interessen hinausgehendes Engagement positiv und bereichernd empfunden werden könne Neben der Veränderung der Arbeitsplatzsituation geht es ihm aber auch -wie fast allen Kommunitaristen -um eine Demokratisierung der Wirtschaft, also u. a. um die, im Vergleich zu Deutschland, deutlich unterentwickelte innerbetriebliche Mitbestimmung. Mit der Maxime „No participation without representation“ ist dies treffend beschrieben.

Es wären an dieser Stelle eine Reihe weiterer, zusätzlicher Reformvorschläge zu nennen: Reform des amerikanischen Parteiensystems, soziale und ökonomische Sicherung der Familie, partielle Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Instrumente, Reform der Grundlagen der Entwicklungspolitik oder etwa die Einrichtung von intermediären Institutionen, die den öffentlichen Bezug von Religion wieder herzustellen vermögen (z. B. konfessionelle Akademien). All dies geschieht mit der Intention, gemeinschaftliche bzw. solidaritätsfördernde Strukturen zu unterstützen.

Wenngleich einige Punkte nur den amerikanischen Kontext betreffen, so sind doch auch für Europa viele der angesprochenen Problemkreise bedeutsam: Ausgestaltung des Föderalismus, Sicherung des Sozialstaates, Rolle und Funktion der Parteien usw. Ganz allgemein läßt sich der angesprochene Komplex mit der Frage umschreiben: Wie läßt sich innere Freiheit gestalten?

Die Veränderungsvorschläge dürfen nicht die Schlußfolgerung nach sich ziehen, die Kommunitaristen lehnten den Liberalismus als Grundlage der westlichen Demokratien ab und wollten ihn durch ein gänzlich anderes Konzept ersetzen. Aus diesem Blickwinkel sollte man den Kommunitarismus mehr als Ergänzungs-, denn als Alternativprogramm zum Liberalismus verstehen. Nimmt man diesen Standpunkt ein, gilt es auf einen weiteren Autor aufmerksam zu machen, dessen Anliegen gerade die Synthetisierung beider Theoriestränge ist: M. Walzer

M. Walzers umfangreiches und engagiertes Werk weist deutlich auf die Bedrohung der lokalen Gemeinschaft als Zentrum des Lebens hin. In diesem Sinne ist er den Kommunitaristen zuzuordnen Er anerkennt aber auch, daß der Liberalismus durch seine „Kunst der Trennung“ (z. B. von Staat und Kirche, privat und öffentlich) ein Mehr an Freiheit geschaffen hat und daß es dieses Mehr auch zu verteidigen gelte M. Walzer warnt deshalb die Kommunitaristen, sich allein auf den engagierten, sich einzig und allein in den Dienst der Gemeinschaft stellenden Bürger zu verlassen. Eine Zivilgesellschaft müsse sich vielmehr daran messen lassen, ob sie fähig sei, „Bürger hervorzubringen, die wenigstens manchmal Interessen verfolgen, die über ihre eigenen und diejenigen ihrer Genossen hinausgehen...“

M. Walzers kommunitärer Zug zeigte sich deutlich in seinem Gegenentwurf zu J. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie. Seinen Ansatz im Ganzen darzustellen, würde hier zu weit führen *Für unseren Zusammenhang ist jedoch M. Walzers Aussage relevant, daß das wichtigste zu verteilende Gut die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft sei, denn von ihr hänge die Möglichkeit der Mitsprache über alleEntscheidungen ab. Menschen, die zwar in einer Gemeinschaft leben, ihre politischen Rechte jedoch nicht in Anspruch nehmen dürften, seien „verwundbar, sie genießen niemandes Schutz auf dem Marktplatz“

Die Bedeutung dieses Gutes wird einsichtig, wenn man akzeptiert, daß es die Gemeinschaft ist, die das Individuum in ihren sozialen Kontext integriert, ihn zu einer moralisch handelnden Person werden läßt und ihm die notwendige Sicherheit bietet.

Die praktische Aktualität dieser Aussage ist nicht von der Hand zu weisen: die heftige Auseinandersetzung über die Neuformulierung des Asylrechtes in Deutschland macht deutlich, wie wichtig die i Frage nach der Mitgliedschaft in einer -in diesem Fall unserer -Gesellschaft/Gemeinschaft ist. Sollte das Bundesverfassungsgericht die getroffene Asyl-regelung auch nur in Teilen für verfassungswidrig befinden, wird diese Debatte erneut mit aller Heftigkeit auf der Tagesordnung stehen.

VI. Multikulturalismus und Nation Zum Stand der Debatte

Die politische Vision des Kommunitarismus orientiert sich offensichtlich an einer Struktur, die dem Polis-Gedanken des Aristoteles ähnelt. Der Staat soll aus vielen kleinen und weitestgehend autonomen Gemeinden bestehen, die über die Mehrzahl ihrer politischen und sozialen Fragen selbst entscheiden. Die Realität offenbart hier das utopische Moment des Kommunitarismus. Es mag sein, daß eine Rückbindung von Entscheidungen in einigen Punkten sinnvoll und richtig sein kann -doch angesichts globaler Problemkonstellationen (z. B. Ökologie) wird deutlich, daß wichtige Lösungskapazitäten auch nur global zu verorten sind. Es ist aber sicher ein Verdienst des Kommunitarismus, auf die Gefahren und Probleme aufmerksam gemacht zu haben.

Die Grundposition des Kommunitarismus mag eindeutig sein, und doch wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantworten kann. Eine von ihnen ist die bereits erwähnte Grundfrage: Wer darf Mitglied in einer Gemeinschaft sein, und was bedeutet diese Mit-gliedschaft? Bezogen auf den Nationalstaat betrifft der erste Teil die Frage nach einem Einwanderungs-, Flüchtlings-bzw. Asylrecht, während der zweite Teil die Integrationsbedingungen behandelt, die eine Gemeinschaft bieten kann. Im amerikanischen Kontext ist zumindest der erste Teil dieser Frage relativ leicht zu beantworten. Ihrer Entstehung und ihrem Selbstverständnis nach sind die USA ein Einwanderungsland: „E pluribus unum“ -„Aus vielem Eins“: das verspricht das Staatssiegel der USA. Doch die Realität hält dem kaum stand. Vielmehr äußern sich immer deutlicher die Probleme einer ethnischen Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft, der es nicht mehr zu gelingen scheint, ihr Integrationspotential zu entfalten. Die Multikulturalismus-Debatte bezeugt dies

Die Probleme einer Integration von massenhaft Zuwandernden mit anderen kulturellen Prägungen in eine Gemeinschaft sind nicht von der Hand zu weisen. Bestimmte Wertevorstellungen mögen theoretisch als universell und damit als verbindlich angenommen werden, doch bei ihrer Konkretisierung stehen sich zumeist die unterschiedlichen Interpretationen und Interessen unversöhnlich gegenüber. Die kommunitaristische Position zur Lösung dieses Konfliktes -„gemäßigter Ethnozentrismus“ bzw. ein kultureller Relativismus -führt letztlich zu einer Separierung der Gesellschaft in jeweils ethnisch-kulturell homogene Gemeinschaften, die lediglich -wenn überhaupt -durch einen Minimal-kodex zusammengehalten werden.

Die Integrationsproblematik stellt sich auch in Deutschland. Die Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit ausländischen Mitbürgern ist allerdings nur ein Punkt von vielen (wenngleich einer der wichtigsten), die es zu diskutieren gilt. Eine Teilantwort scheint bereits jetzt möglich zu sein: Ein abstrakter Individualismus, der die Existenz einer sozialen Umwelt ignoriert oder leugnet, wird nicht fähig sein, ein realistisches Konzept der Integration zu unterstützen. Die Folgen wären und sind Konflikte zwischen Individuen und Gruppen unterschiedlicher kultureller Herkunft, die keine Fähigkeit entwickelt haben, sich zu verständigen. Der Kommunitarismus hat in diesem Punkt viele Antworten gegeben. Nicht alle sind befriedigend, aber sie sind es wert, in die Debatte über die Zukunft liberaler Gesellschaften aufgenommen zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Walter Reese-Schäfer, Kommunitärer Gemeinsinn und liberale Demokratie, in: Gegenwartskunde, 42 (1993) 3, S. 305-306.

  2. Dieser Beitrag achtet mehr auf das Gemeinsame als auf Differenzen zwischen den Autoren.

  3. Vgl. Robert S. Fogarty, Dictionary of American Communal and Utopian History, Westport 1980.

  4. Vgl. Benjamin Zablocki, Alienation and Charisma. A Study in Contemporary American Communes, New York-London 1980, S. 2.

  5. Vgl. ebd., S. 24-40.

  6. Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Frankfurt a. M. 198010, S. 254f.

  7. Vgl. Arthur Bester, Backwoods Utopias, Philadelphia 1970=, S. 5.

  8. Vgl. Jürgen Heideking, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Entstehung -Inhalt -Wirkungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30-31/87, S. 7; bei den , AntifederaIists‘ handelt es sich um die Verfassungsgegner, die u. a. die zentralistische Tendenz der Verfassung kritisierten. Für diese Position existiert auch die Bezeichnung , Country-Ideologie“ („Land vor Stadt“), die sich zusätzlich durch radikaldemokratische Elemente auszeichnete.

  9. Vgl. Peter H. Argersinger, Populism and Politics. William Alfred Peffer and the People’s Party, Lexington 1974, S. 7f.

  10. John Dewey, The later Works, Vol. 2: 1925-1927, hrsg. von Jo Ann Boydston, Carbondale 1984, S. 328.

  11. Vgl. Robert Paul Wolff, Das Elend des Liberalismus, Frankfurt a. M. 1982, S. 220.

  12. Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 19358, S. 14.

  13. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 19792.

  14. Einen ausgezeichneten Überblick über Inhalt und Rezeption der Rawlschen Gerechtigkeitstheorie bietet: Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 1993.

  15. Vgl. Michael Sandei, Liberalem and the Limits of Justice, Cambridge 1982, S. 52-64.

  16. Vgl.ders., Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. -New York 1993, S. 18f.

  17. Zur Debatte um M. Sandeis Position vgl. Rainer Forst, Kontext der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 20-54.

  18. Vgl. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 118f.

  19. Vgl. ebd., S. 144.

  20. Vgl.ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994, S. 15-204.

  21. Alasdair Maclntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. -New York 1987, S. 13.

  22. Vgl. ebd., S. 261.

  23. Ders., Ist Patriotismus eine Tugend?, in: A. Honneth (Hrsg.) (Anm. 16), S. 93.

  24. Vgl. Robert N. Bellah/Richard Madsen/Wiliam M. Sullivan/Ann Swidler/Steven M. Tipton, Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987.

  25. Alexis de Tocqueville, Werke und Briefe (Band 2), Stuttgart 1962, S. 113.

  26. Vgl. Benjamin Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994.

  27. Vgl. Amitai Etzioni, The Active Society. A Theory of societal and political Processes, New York 1968, S. 3.

  28. Vgl. Amitai Etzioni, The Moral Dimension. Toward a New Economics, New York 1988, S. 239.

  29. Robert N. Bellah/Richard Madsen/William M. Sullivan/Ann Swidler/Steven M. Tipton, The Good Society, New York 1991, S. 108.

  30. Vgl. Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: A. Honneth (Hrsg.) (Anm. 16), S. 157f.

  31. Vgl. Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt a. M. -New York 1994, S. 12; es sei angemerkt, daß sich M. Walzer an verschiedenen Stellen gegen diese Etikettierung gewehrt hat.

  32. Vgl. Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 38f.

  33. M. Walzer (Anm. 32), S. 93 [Hervorhebungen: A. B. ]; es sei angemerkt, daß M. Walzer als bevorzugte Handlungsräume wirtschaftliche Tätigkeit, Nation, Markt (Liberalismus) und politisches Gemeinwesen (Kommunitarismus) annimmt und alle vier zu verbinden trachtet.

  34. Zur Debatte vgl. David Miller/Michael Walzer (Hrsg.), Pluralism, Justice, and Equality, Oxford 1995.

  35. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a. M. -New York 1992, S. 66; M. Walzer bezeichnet diese Menschen i. S. Aristoteles als „Metöken“; Menschen, die zwar am sozialen Leben teilhaben, aber keine politischen Rechte besitzen. Dies entspricht dem Gastarbeiterstatus in Deutschland.

  36. Einen guten Überblick bietet: Amy Gutmann, Das Problem des Multikulturalismus in der politischen Ethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43 (1995) 2, S. 273L

  37. Vgl. Lutz Ellrich, Zulassung und Ausschluß. Der Umgang mit Verschiedenheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41 (1993) 6, S. 1063.

  38. Vgl. M. Walzer (Anm. 32), S. 115f.

Weitere Inhalte

Andreas Beierwaltes, M. A., geb. 1965; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Bamberg und Freiburg i. Br.; Assistent am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u. a.: Die „Communitarians“, Egelsbach 1995; Beiträge zur Medienforschung.