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Aktivieren, reformieren, negieren? Zum 50jährigen Bestehen der Vereinten Nationen | APuZ 42/1995 | bpb.de

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APuZ 42/1995 Zur Geschichte der Vereinten Nationen Der Beitrag der Vereinten Nationen zur Fortentwicklung des Völkerrechts Deutschlands Rolle in der UNO Aktivieren, reformieren, negieren? Zum 50jährigen Bestehen der Vereinten Nationen

Aktivieren, reformieren, negieren? Zum 50jährigen Bestehen der Vereinten Nationen

Ernst-Otto Czempiel

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Zusammenfassung

Der Erfolg der Vereinten Nationen zeigt sich darin, daß sie, im Gegensatz zum Völkerbund, seit nunmehr fünfzig Jahren bestehen. Ihre Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Entwicklungs-und Umweltpolitik, der Bekämpfung von Drogen und internationalen Verbrechen werden sehr nachgefragt. Entscheidende Leistungen erbringen sie aber gerade auch auf dem Gebiet der Sicherheit. Sie waren 1945 gegründet worden, um den Krieg aus der Welt zu schaffen. Für die Mitwirkung daran haben die Blauhelme den Friedensnobelpreis erhalten. Natürlich müssen die Vereinten Nationen den veränderten weltpolitischen Bedingungen angepaßt werden. Ihre Organe müssen reformiert, der Sicherheitsrat muß erweitert werden, vornehmlich um Staaten aus der Dritten Welt. Reformiert werden aber muß vor allen Dingen die Politik. 1945 lag der Akzent auf der Friedenserzwingung nach Kapitel VII; heute sollte er auf die Friedenssicherung und die Gewaltvorbeugung rücken, wie dies der Sicherheitsrat 1992 beschlossen hat. Das Konzept der kollektiven Sicherheit war und ist ein Mißverständnis. Statt dessen muß durch die intensivierte Kooperation im Sicherheitsrat vor allem ein neuer Konflikt zwischen den Großmächten verhindert werden: Das Sicherheitsdilemma, die aus der Isolierung entstehende wechselseitige Angst, bildet die größte Gefahr für den Weltfrieden. Reformieren heißt daher vor allen Dingen umdenken, und zwar nicht nur in New York, sondern in den Außenministerien aller Staaten. Sie müssen endlich den Gewaltverzicht praktizieren und zu seinen Gunsten zur rechtzeitigen politischen Konfliktbearbeitung vordringen. Nur so läßt sich die internationale Politik schaffen, in deren Rahmen die regionalen Organisationen und die globalen Vereinten Nationen den Frieden sichern können.

I. Abkehr vom Multilateralismus?

Eigentlich können die Vereinten Nationen mit ihrem ersten halben Jahrhundert sehr zufrieden sein. Im Gegensatz zum Völkerbund haben sie, trotz widrigster Umstände, nicht nur überlebt, sondern sich gefestigt und ausgeweitet. Seit 1985 werden sie auch auf dem wichtigsten Sachbereich, dem der Sicherheit, reaktiviert. Hatte der Sicherheitsrat 1987 nur 15 Entschließungen verabschiedet, so waren es 1994 bereits 78. Die Zahl der Friedenssicherungsaktionen stieg im gleichen Zeitraum von fünf auf 17, die der Blauhelme von 10000 auf fast 75000. Für ihren Einsatz beim ersten Golfkrieg erhielten die Blauhelme den Friedensnobelpreis

Es gibt kaum ein innen-und außenpolitisches Krisengebiet der Gegenwart, an dessen Beruhigung die Vereinten Nationen nicht in der einen oder anderen Form mitwirken. An der Entwicklung der Entwicklungsländer waren die Vereinten Nationen ohnehin maßgeblich beteiligt gewesen; auf dieses Problemfeld hatten sie sich konzentriert, nachdem der Ost-West-Konflikt sie fast vierzig Jahre im Sachbereich der Sicherheit immobilisiert hatte. Nachdem sich die Starre zu lösen begonnen hatte, wandten sich die Vereinten Nationen zunehmend allen Problemen globaler Reichweite zu, insbesondere denen der Umwelt, des Drogenhandels, des Terrorismus und des organisierten Verbrechens

Trotz dieser stattlichen und beeindruckenden Erfolgsbilanz mischen sich unter die Glückwünsche zum 50jährigen Geburtstag nicht ni^r ungeduldige und kritische, sondern auch ablehnende und zurückweisende Stimmen. Besonders von der deutschen Öffentlichkeit wird den Vereinten Nationen vorgeworfen, im früheren Jugoslawien versagt, im-mer nur zugegeben, nicht zugeschlagen zu haben. Der Generalsekretär mußte auf sein politisches Oberkommando in Bosnien verzichten; die dreifach gegliederte Befehlskette (Generalsekretär, Repräsentant des Generalsekretärs vor Ort, Truppenkommandeur) wurde aufgelöst. In Zukunft entscheidet der Kommandeur im Rahmen des allgemeinen Auftrags des Sicherheitsrates. So war es, wenn auch mit anderer Genese, im zweiten Golfkrieg auch gewesen, weshalb dessen Legalität und Legitimität nach wie vor in Frage stehen.

Hinter solchen Vorwürfen steckt aber nicht nur profunde Unkenntnis der Wirkungsweise einer internationalen Organisation wie auch der konkreten Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates, sondern auch eine instinktive oder dezidierte Zurückhaltung gegenüber dem Instrument als solchem. Waren die Vereinten Nationen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufgrund einer glücklichen Formulierung des damaligen Präsidenten George Bush als tragendes Element der „Neuen Weltordnung“ angesehen worden und war der Multilateralismus von dem nachfolgenden amerikanischen Präsidenten Bill Clinton zum Hauptinstrument der amerikanischen Weltpolitik erklärt worden so ist seit 1995 eine deutliche Wende rückwärts zu verzeichnen.

Die Neuordnung des europäischen Staatensystems wurde nicht der 1990 mit großem Pomp aus der Taufe gehobenen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa anvertraut, sondern seit 1994 der traditionellen Militärallianz der NATO. In den Vereinigten Staaten distanzierte der seit den Novemberwahlen 1994 mehrheitlich von konservativen Republikanern beherrschte Kongreß die USA immer mehr von den Vereinten Nationen, kürzte den Beitrag und untersagte die Unterstellung amerikanischer Truppen unter UN-Oberbefehl. Auch für den deutschen Außenminister Klaus Kinkel kommt eine solche Unterstellung „nicht in Frage“. Der Unilateralismus, so scheint es, meldet sich wieder zurück, die nationale Selbstbestimmung. Sie scheut vor jeglichem Multilateralismus zurück, weil er ihre Handlungsfreiheit begrenzt. Sie setzt auf die eigenen Macht-und Gewaltmittel, die sie in einer bilateralen Beziehung am besten wirksam werden lassen kann. Es ist dieser zu verzeichnende Wandel im politischen Meinungsklima, der der Diskussion um die Vereinten Nationen und ihre Reform einen lange nicht mehr gehörten Unterton beimischt. Sie waren 1945 als internationale Organisation gegründet worden, als Institutionalisierung des Multilateralismus, um endlich die „Geißel des Krieges“, wie es in der Präambel heißt, aus der Welt zu schaffen. Deswegen wurde mit dem Gewaltverbot des Artikel 2, 4 der UN-Charta der Krieg verboten und dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol überstellt. Nur noch die Staatengemeinschaft selbst sollte zur Waffe greifen dürfen, um einen gebrochenen Frieden wiederherzustellen.

Die Entscheidungsregeln des Sicherheitsrates wie die der Generalversammlung beruhen auf dem Multilateralismus und dem Mehrheitsprinzip. Sie spiegeln die Einsicht wider, daß infolge der wechselseitigen Abhängigkeit Friede und Gewaltverzicht eine internationale Organisation erfordern die Institutionalisierung des Multilateralismus. Diese Einsicht hätte nach 1989/90, nach vierzig Jahren bipolarer Abschreckungspolitik zweier Militärallianzen, in den Vordergrund der Reformdiskussion gerückt werden müssen. Gerade in einer so grundsätzlich veränderten Welt, wie es die nach dem Ende des Kalten Krieges zweifellos ist unter den Bedingungen der „Gesellschaftswelt“ also, stellt der Multilateralismus internationaler Organisationen die geeigneten Verfahren bereit, um die Gewaltursachen aus der Welt zu schaffen. Läßt, so muß man fragen, die Bereitschaft zum Multilateralismus wieder nach? Schlägt, nachdem die den Kalten Krieg kennzeichnende Selbstabschreckung des wechselseitigen Nuklearwaffenbesitzes nicht mehr existiert, das traditionelle Interesse wieder durch, unilateral und notfalls auch mit militärischer Gewalt vorzugehen? Hatte 1945, als die Vereinten Nationen das „Rathaus der Welt“ (Vandenberg) errichten und die für die Lokalpolitik charakteristischen Konfliktbearbeitungsmodi globalisieren wollten, ein Bewußtseinsschub stattgefunden? Oder war die Charta in den diplomatischen Amtsstuben niemals richtig reflektiert, geschweige denn akzeptiert, sondern immer nur zitiert worden, solange die Verhaltenszwänge des Kalten Krieges ohnehin keine Alternative übrigließen?

II. Der Mythos der kollektiven Sicherheit

Der mögliche Rückzug aus den Verpflichtungen der Charta wird dadurch erleichtert, daß die politische Zweckbestimmung der Vereinten Nationen nach wie vor unklar und strittig ist. Können die Vereinten Nationen aber im Sachbereich der Sicherheit -von dem hier ausschließlich die Rede sein soll -als Weltpolizist auftreten? Sehr richtig bemerkt die von der Ford-Foundation eingesetzte Unabhängige Arbeitsgruppe für die Zukunft der Vereinten Nationen (Co-Vorsitz: Richard von Weizsäcker), daß die Vereinten Nationen in einem Großmächtekonflikt nicht tätig werden können Damit zerfällt aber das zentrale Theorem der kollektiven Sicherheit. Es liegt bisher jedenfalls dem Grundverständnis der Vereinten Nationen zugrunde und besagt, daß die rechtzeitige Bildung einer Gegenkoalition einen möglichen Aggressor von seinem Vorhaben abbringen oder abschrecken könnte

Nun hat die internationale Politikwissenschaft seit langem festgestellt, daß dem Theorem ein Mißverständnis zugrunde liegt. Kollektive Sicherheit wird entweder nicht gebraucht oder kann nicht funktionieren: Kooperieren die Großmächte, ist der Mechanismus überflüssig. Wenn aber zwischen den Großmächten selbst ein Konflikt ausbricht, kann er nicht genutzt werden Benutzbar sind also nur kollektive Sanktionen gegen eine Nicht-Großmacht, wie etwa den Irak Saddam Husseins. Darin liegt schon, vor allem wenn sie Chartagetreu ausgeführt werden, eine große Aufgabe für den Sicherheitsrat. In der außereuropäischen Welt vor allem sind noch Auseinandersetzungen um die Regelung der Territorialansprüche zu erwarten. Sie zählen, neben dem Besitz von Rohstoffquellen oder dem Zugang dazu, zu den beiden letzten Gewaltursachen.

Der Weltfriede wird von Auseinandersetzungen dieser Größenordnung zwar gestört, aber nicht zerstört. Dazu bedarf es des Konflikts zwischen Großmächten. Er ist gegenwärtig nicht zu erkennen, jedoch deswegen keineswegs ausgeschlossen. Es muß als absurd gelten, daß die Vereinten Nationen für diese große Friedensgefahr nicht zuständig sein sollen.

Das Theorem der Kollektiven Sicherheit hat unleugbar bei der Gründung des Völkerbundes und bei der der Vereinten Nationen Pate gestanden; es ist den Funktionsprinzipien des europäischen Mächtekonzerts des 19. Jahrhunderts nachgebildet worden, teilt daher seine Vorzüge und seine Schwächen. Die internationale Organisation hat aber noch eine ganz andere, sehr viel tiefer, nämlich bis in die Schichten der Theorie hineinreichende Wurzel. Der Grundgedanke stammt aus dem späten 15. Jahrhundert und ist zu Beginn des 18. von dem französischen Theoretiker Abb 6 de Saint-Pierre erstmals umfassend dargestellt worden Das Konzept basiert, modern ausgedrückt, auf der auch vom Realismus geteilten Einsicht daß die größte Gewaltursache in der Welt in der durch die anarchische Struktur des internationalen Systems gestifteten Ungewißheit über das Verhalten der Nachbarn liegt -aus meiner Sicht: eine der beiden großen Gewaltursachen Sie erzeugt das sogenannte „Sicherheitsdilemma“ das jeden Staat zur Verteidigungsvorsorge zwingt, obwohl sie, da sie von den Nachbarstaaten ebenfalls betrieben wird, zu Bedrohungsbefürchtungen, zu Rüstungswettläufen und schließlich zum Krieg führt. Der Abbä de Saint-Pierre hatte seinen Plan deswegen um die wechselseitige Bestandsgarantie herumgebaut, die die Könige einander gaben und mit denen sie die Bedrohungsvorstellungen, eben das Sicherheitsdilemma, abbauen sollten.

Transportiert man diesen Gedanken in die Moderne, so zeigt sich die zweite, die eigentliche Wurzel der Vereinten Nationen: Indem sie die ständige Kooperation der Großmächte (wie aller Staaten der Welt) institutionalisiert, schwächt sie die Anarchie des internationalen Systems ab, schafft sie die Möglichkeit zu ständiger Information über Intentionen und Fähigkeiten der Nachbarstaaten, schafft sie Vertrauen und Gewißheit, baut sie das Sicherheitsdilemma ab. Zwar kann es, solange die Bedingungen des internationalen Systems existieren, nie völlig aufgehoben, es kann aber so weit abgeschwächt werden, daß es nicht mehr wirkt. In der Europäischen Union beispielsweise sind nur noch verschwindende Reste davon zu erkennen, die keinerlei politische Effekte mehr auslösen und mit jedem Integrationsfortschritt weiter verringert werden. Zwischen den OECD-Staaten herrscht noch nicht der gleiche, aber doch auch schon ein sehr hoher Grad des Abbaus. Dazu haben die zahllosen institutionalisierten und organisierten Beziehungen zwischen den OECD-Staaten beigetragen. Im Verhältnis zwischen ihnen und Rußland, aber auch in dem zu China, Indien oder Indonesien -um drei weitere Beispiele zu nennen -ist der Grad der Kooperation gering, die Unsicherheit daher groß, das Sicherheitsdilemma aktiv.

Hier liegt die eigentliche, die wichtigste Aufgabe der Vereinten Nationen, vor allem des Sicherheitsrates. Sie besteht darin, die Kooperation zwischen den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern zu praktizieren, zu erhalten und auszubauen. Je enger die Zusammenarbeit zwischen ihnen wird, um so kleiner wird das Sicherheitsdilemma, um so geringer die Gefahr eines neuen Großmachtkonflikts.

Das Sicherheitsdilemma kann man nicht sehen, es ist das Ergebnis einer Struktur. Es ist eine Bedingung des Handelns, keine Determinante. Hier irrt der Realismus, auch der Neorealismus. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Anarchie des internationalen Systems perzeptionsgesteuert ist, also abhängt von den Einstellungen, die die Staaten ihm gegenüber einnehmen Damit rückt die zweite (in meiner Zählung: die erste) Gewaltursache ins Licht, nämlich das Herrschaftssystem, auf das hier nicht eingegangen wird Von ihm hängt in starkem Maße ab, wie sich ein Staat zu seiner internationalen Umwelt verhält, wie er auf die Bedingungen von Anarchie reagiert. Dafür ist aber auch der Kontext von besonderer Wichtigkeit, und er gilt für Staaten aller Herrschaftssysteme. Innerhalb des Kontextes von Kooperation wird das Sicherheitsdilemma sehr viel weniger wirken. Das durch die institutionalisierte Kooperation geschaffene Vertrauen ist auch in der Lage, politische Störungen zu überstehen.

Durch institutionalisierte Kooperation das Sicherheitsdilemma abzubauen muß als Hauptleistung der Vereinten Nationen angesehen werden. Die Kooperation vor allem im Sicherheitsrat zu erhalten, auszubauen und zu stärken ist die wichtigste Aufgabe des Sicherheitsrates und seiner Mitglieder. Eine entscheidende Ursache für den Ost-West-Konflikt war, daß er 1947/48 aus dem eigentlich für diese Zwecke gegründeten Kontext der Vereinten Nationen herausgenommen und dem traditionellen Instrument der Militärallianzen anvertraut worden war. Allerdings hatten die Vereinten Nationen während nur zweier Jahre kaum Zeit, ihre kontextverändernde Wirkung zu entfalten. Heute, nach fünfzig Jahren, sollten sie dazu problemlos imstande sein.

Voraussetzung dafür ist freilich, daß diese Aufgaben und Funktionen von den Sicherheitsratsmitgliedern -zu denen gegenwärtig ja auch die Bundesrepublik zählt -, vor allem aber von den ständigen Mitgliedern begriffen und in ihrem politischen Verhalten berücksichtigt werden. Kaum ein Ziel sollte so hoch veranschlagt werden, daß ihm die Kooperation zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates geopfert wird. Dementsprechend darf der Sicherheitsrat nicht als ein weiteres Spielfeld traditioneller Machtpolitik, sondern muß als das spezifisch Neue begriffen werden, das er darstellen könnte -wenn er so benutzt würde: einen Ort multilateraler Diplomatie, deren kooperationserzeugende Wirkung das Auftreten des Sicherheitsdilemmas zwischen den ständigen Ratsmitgliedern verhindert.

Das ist die eigentliche Aufgabe der Vereinten Nationen, das muß das Ziel jeglicher Reform sein. Die wichtigste Voraussetzung dafür, daß die „Geißel des Krieges“ verschwindet, ist die verläßliche, institutionalisierte Kooperation der ständigen Sicherheitsratsmitglieder, die das Sicherheitsdilemma zwischen ihnen bannt. Gelingt dies, ist der Friede der Welt -jedenfalls dessen Grundvoraussetzung -gesichert. Mißlingt es, ist der dritte Anlauf, den nach 1919 und 1945 die internationale Organisation 1989/90 genommen hat, erneut verloren.

Der Konsens der ständigen Sicherheitsratsmitglieder -im Rahmen einer Ratsmehrheit -ist aber auch für den Erfolg kollektiver Sicherheitsmaßnahmen, die sich nur gegen kleinere Staaten richten können, von besonderer Bedeutung. Er dokumentiert einerseits die Legalität einer so beschlossenen Maßnahme des Sicherheitsrates; er begründet aber andererseits auch dessen Legitimität. Sie würde noch erhöht werden, wenn auch die Generalversammlung dazuträte -worüber weiter unten noch gesprochen werden muß. Wenn innerhalb der vorgeschriebenen Mehrheit alle fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates einer Maßnahme zustimmen, kann sie in der Tat einen globalen Konsens für sich verbuchen. Die prozedurale Legalität eines Sicherheitsratsbeschlusses ist nicht ausreichend; der Konsens muß ein Ausmaß erreichen, das ihm auch Legitimität sichert.

Was also sind die Vereinten Nationen? Sie sind keine Weltregierung mit dem Sicherheitsrat als Exekutive und der Generalversammlung als Legislative; diese Analogie war und ist falsch. Schon gar nicht kann der Sicherheitsrat als Weltpolizist angesehen werden, der mit dem Knüppel der Gewalt-maßnahmen des Kapitels VII UN-Charta Kriege und Bürgerkriege bekämpft, die Aggressoren bestraft. Dazu fehlen sämtliche sozialen Voraussetzungen. Die Welt ist noch keine Weltgesellschaft, wenn sie auch keine Staatenwelt mehr ist. Die Bedeutung der Gesellschaften in den Staaten und die Interdependenz zwischen den Gesellschaften und den Regierungen weist sie als „Gesellschaftswelt“ aus Der herrschende Konsens ist groß genug, um den Krieg als Mittel der Politik zu diskreditieren und zu eliminieren. Er reicht auch aus, um einen Verstoß kleinerer Mächte dagegen notfalls vom Sicherheitsrat mit Gewalt sanktionieren zu lassen. Im übrigen bildet die Grundlage für die Wirksamkeit der Vereinten Nationen die durch die Interdependenz geschaffene Einsicht, daß kein Staat seine Ziele erreichen kann, ohne daß die anderen kooperieren. Kooperation also bildet die eigentliche Grundlage aller Regelungen im UN-System. Was als Kennzeichen der zahllosen Regime gilt, die unsere Welt bevölkern, nämlich die der Gemeinsamkeit des Interesses entstammende, regelgeleitete und an Erwartungsstabilität geknüpfte Kooperation hat in den Vereinten Nationen bereits den Grad der Institutionalisierung erreicht. Er muß nur erkannt und implementiert werden.

Kooperation ist aber auch die Grundlage der Friedenssicherung, der friedlichen Streitbeilegung undder Vorbeugung, über die jetzt gesprochen werden muß. Zusammenarbeit ist der Modus operandi in allen funktionalen Zusammenhängen. Beim Verstoß gegen das Gewaltverbot des Artikels 1, Abs. 4 UN-Charta kann der Sicherheitsrat auch zur Gewalt greifen, aber nur als letztes Mittel. Ihm ist zu Recht in der Charta das Kapitel VI vorgeschaltet worden, das sich mit der friedlichen Regelung von Streitfällen beschäftigt, also mit der Kooperation. Sie bildet, bis auf den genannten Ausnahmefall, das Hauptinstrument der Vereinten Nationen.

Multilaterale Kooperation ist das Kennwort aller Reformvorschläge, die in jüngster Zeit für die Vereinten Nationen gemacht worden sind. Frühzeitig und kooperativ Konfliktformationen und Gewalt-ursachen zu beseitigen ist viel erfolgreicher, als zu spät mit Gewalt zu intervenieren. Diese Einsicht gewann der Sicherheitsrat auf seiner Gipfelkonferenz im Februar 1992. Der Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat sie seitdem in zahlreiche ReformVorschläge umzusetzen versucht.

Multilaterale Kooperation fällt nicht leicht, ist bisher kaum erforscht, erfordert schwierige und sehr komplexe Taktiken. Sie stellt eine große Herausforderung an die bisherige Tradition außenpolitischen Denkens dar, dessen Kern die von Max Weber definierte Macht enthielt, nämlich die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen Widerstand durchzusetzen. Die Kooperation hingegen realisiert ihre Ziele durch die Steuerung des permanenten Kompromisses. Die Verfahren der Außenpolitik nähern sich damit immer mehr denen an, die gesellschaftliche Akteure in der Innenpolitik verwenden. Vielleicht liegt es auch an der Größe dieser Herausforderung, daß die Sehnsucht nach dem Einfachen, dem Vertrauten, eben dem Militär wieder wächst.

III. Die Erweiterung des Sicherheitsrates

Natürlich muß der Sicherheitsrat erweitert werden. Seit der Reform von 1965 hat sich die Zahl der UN-Mitglieder fast noch einmal um die Hälfte erhöht; das muß sich in der Zusammensetzung des Sicherheitsrates widerspiegeln. Die Vorstellungen schwanken zwischen mindestens fünf und maximal fünfzehn neuen Mitgliedern Die Weizsäcker-Kommission schlägt acht neue Sitze vor, nennt allerdings keine Ländernamen. Deutschland und Japan drängen besonders stark auf einen ständigen Sicherheitsratsitz, während in den Vereinten Nationen selbst Indien und Indonesien, die südafrikanische Republik und Nigeria, Argentinien und Brasilien genannt werden. Die Reform soll das Übergewicht westlicher Industriestaaten im Sicherheitsrat abbauen, nicht noch verstärken. Daher dürfen nicht nur Leistungskriterien, sondern es müssen auch solche der Bevölkerungszahlen und der regionalen Repräsentanz gebührend berücksichtigt werden.

Sollten also, was durchaus möglich ist, Japan und Deutschland nicht zu ständigen Sicherheitsratsmitgliedern aufrücken, so müssen sie weder in Frustration noch in Enttäuschung verfallen. Sie würden zwar kein Prestige hinzugewinnen, aber auch keine Macht einbüßen. Für die Durchsetzung, Verbesserung und Erweiterung des UN-Systems kann jeder Staat jederzeit wirken, ebenso für die Stärkung multilateraler Verfahren. Von Januar 1994 bis April 1995 wurde im Deutschen Bundestag nicht ein Mal über die Vereinten Nationen diskutiert. Die Bundesrepublik ist ein pünktlicher Beitragszahler -was sie vorteilhaft von den USA und Rußland unterscheidet. Als Vorkämpfer der internationalen Organisation und der Multilateralisierung der internationalen Politik läßt sie sich schwerlich bezeichnen.

Sollen neue Mitglieder das Veto-Recht erhalten, soll es, wie es die Dritte Welt will, ganz abgeschafft oder, wie es die Expertenkommission vorschlägt, auf den Gewalteinsatz reduziert werden? Für jede Option gibt es Argumente Vielleicht sollte das Veto wirklich abgeschafft und durch eine Mehrheitsregelung ersetzt werden, die die Zustimmung der in der betreffenden Region angesiedelten Sicherheitsratsmitglieder vorsieht. Die USA, China und Rußland haben ein solches Gewicht, daß sich ohnehin keine UN-Aktion gegen sie richten kann; die USA genießen darüber hinaus das Privileg, daß ohne-sie der Sicherheitsrat überhaupt nichts auszurichten vermag, jedenfalls heute und auf absehbare Zeit nicht.

Wichtig ist die verbesserte Repräsentanz der Regionen im Sicherheitsrat. Die regionalisierte Welt der zweiten Hälfte der neunziger Jahre kann nichtmehr so gesteuert werden wie die stark europazentrierte von 1945. Die Mitgliedschaft des Sicherheitsrates muß also regional repräsentativer werden. Zu fragen ist auch, ob das zentrale Monopol des Sicherheitsrates noch in die regionalisierte Welt von heute paßt oder ob die UN nicht verstärkt regionale Gremien ausbilden sollte. Dazu stehen prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung: die Einrichtung von „Nebenorganisationen“ (subsidiary Organs) des Sicherheitsrates nach Artikel 29 bzw. die Errichtung von regionalen Organisationen der Vereinten Nationen nach Kapitel VIII der Charta. Der Sicherheitsrat könnte in den wichtigsten Regionen Nebenorgane einrichten, in denen die einflußreichsten Großmächte der betreffenden Region vertreten sind. Damit würde eine Form der Mitgliedschaft und der Mitarbeit geschaffen werden, die sogar den Prestigeansprüchen der Stärkeren Rechnung tragen könnte, ohne die Arbeitsfähigkeit des Sicherheitsrates zu erschweren

Entlastung für den Sicherheitsrat könnten vor allem die regionalen Organisationen bringen, die nach Kapitel VIII der Charta sozusagen die erste Instanz jeder Konfliktregelung zwischen ihren Mitgliedern bilden. Bisher existieren vier solcher Einrichtungen, nämlich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), die Liga der Arabischen Staaten und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Die NATO zählt nicht dazu, sondern ist ein System „kollektiver Selbstverteidigung“, was sich leider die Mehrheit der Richter des Bundesverfassungsgerichts Vorhalten lassen muß, die in ihrem Urteil von 1994 der Militärallianz den gleichen Status zu-schrieben wie den Vereinten Nationen

Der Aufbau dieser regionalen Organisationen ist ganz unterschiedlich, auch müßten ihr Verhältnis zur Zentralorganisation und ihre Kompetenzen sehr viel genauer geklärt werden In den Augen des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali sind die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen und den regionalen Organisationen durch fünf Formen gekennzeichnet: Konsultation, diplomatische Unterstützung, operative Unterstützung, gemeinsame Operationen und gemeinsame Stationierungsprogramme. Von einer stärkeren Inanspruchnahme dieser bedeutenden Möglichkeiten verspricht sich der Generalsekretär auch die Einflußreduzierung solcher inoffiziellen, unter dem Namen „Freundeskreis“ auftretenden regionalen Interessenten, die als Lobbyisten ohne Auftrag, aber mit Einfluß den Generalsekretär umgeben Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat recht, wenn er auf einer klar definierten „doppelten Arbeitsteilung“ zwischen den Vereinten Nationen und den regionalen Organisationen besteht damit Überschneidungen und vor allem gegenläufige Politiken vermieden werden.

In der Praxis aber käme es zunächst darauf an, die regionalen Organisationen überhaupt zu aktivieren. Die OAS verfügt über einen sehr detailliert ausgestalteten Aufbau und einen eigenen Vertrag zur internen Konfliktregelung. Sie steht stark im Zeichen der amerikanischen Hegemonie. Die Organisation für Afrikanische Einheit ist nicht arbeitsfähig, die Arabische Liga ist zerfallen. Die OSZE, 1990 in Paris als internationale Organisation aus der Taufe gehoben, hat zwar im Dezember 1994 einen neuen Namen, aber kein neues Tätigkeitsfeld bekommen. Noch immer sind es vornehmlich die Menschen-und Minderheiten-rechte die Entsendung von Beobachter-und Vermittlermissionen in die Problemstaaten der früheren Sowjetunion. Von einer der UN vergleichbaren zentralen Rolle der OSZE in Europa spricht niemand. Längst hat sie, unter aktiver Beteiligung der Bundesrepublik, ihre Ordnungsfunktion an die Militärallianz der NATO abgetreten, hat der Westen das Instrument des Multilateralismus, das die OSZE darstellt, bewußt ersetzt durch den Rückgriff auf den konfrontativen Bilateralismus, den eine Verteidigungsallianz seinen Nachbarn nun einmal zwangsläufig entgegen-hält. Käme es in allen Weltregionen zur Errichtung aktiver regionaler Unterorganisationen, könnte der Sicherheitsrat in New York eines Tages sich aus Vertretern solcher regionaler Organisationen zusammensetzen und sich um die Probleme globaler Reichweite kümmern, während die anderen von den Regionalorganisationen geregelt würden.

IV. Die Aufwertung der Generalversammlung

Zur Reform der Vereinten Nationen gehört im besonderen Maße die Aufwertung der Generalversammlung. Sie war von Anfang an stiefmütterlich bedacht worden. Der Artikel 12 der Charta verbietet ihr ausdrücklich, sich mit Streitfragen zu beschäftigen, die im Sicherheitsrat anhängig sind. Es war der amerikanische Senator Vandenberg, der wenigstens den Artikel 14 in die Charta hinein-brachte und es damit der Generalversammlung ermöglichte, sich mit den Problemen des friedlichen Wandels zu beschäftigen Die „Uniting-forPeace“ -Resolution von 1951 gab ihr sodann das Recht, bei einer Blockade des Sicherheitsrates durch ein Veto mit Empfehlungen an die Mitglieder heranzutreten. Diese Gewichtsverlagerung nutzte 1956 der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld aus, um sein Konzept der Friedenssicherung auch gegen ein Veto im Sicherheitsrat zu verwirklichen. Beide Kompetenzen aber sind im Laufe der letzten dreißig Jahre immer weiter in den Hintergrund getreten, die Generalversammlung ist immer stärker auf die ihr in der Verfassung eindeutig zugewiesenen Rechte zurückgeführt worden. Alle Friedenssicherungsaktivitäten der Vereinten Nationen werden heute vom Sicherheitsrat beschlossen.

Dieses in der Gewichtsverlagerung zutage tretende Vorrecht des Sicherheitsrates sieht effizienter aus, als es wirklich ist. Das entscheidende Medium der Vereinten Nationen ist, wie erwähnt, die Kooperation. Sie kann nicht erzwungen, sie muß erzeugt werden. Dafür ist die Generalversammlung mit ihren Ausschüssen ein wichtiger Ort. In ihnen artikuliert und formiert sich das politische Bewußtsein der Welt.

So bildet sich in der Generalversammlung die öffentliche Meinung der Welt Ihre Mehrheitsvoten konstituieren globale Legitimität. Das bekam die Sowjetunion nach ihrem Einmarsch in Afghanistan 1980 negativ zu spüren, aber ebenso der Irak nach seiner Invasion in Kuwait. Ein Diktum der Generalversammlung zu umgehen oder zu vermeiden, ist kein Ausweg, weil auch der Sicherheitsrat darauf angewiesen bleibt, globale Zustimmung zu finden. Bleibt sie aus, bleibt auch der Erfolg aus, wie die Irak-Politik nur zu deutlich zeigt.

Diskussionen und Meinungsbildung in der Generalversammlung sind auch für die Früherkennung von Konflikten wichtig. Die „Gesellschaftswelt“ ist dadurch gekennzeichnet, daß staatsübergreifende gesellschaftliche Formationen politisch aktiv werden. Das gilt für die Religionen, wie z. B.den Islam, es gilt aber auch für staatsübergreifende politische Meinungsbildungen, wie sie sich beispielsweise in der Bewegung der Bündnisfreien abgezeichnet hatten. Sie ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ihres Objekts beraubt, deswegen aber nicht inaktiviert worden. Was häufig als „antiwestliche“ Stimmung in der Dritten Welt empfunden wird, muß als politischer Konsens einer sich ausweitenden Staatengruppe verstanden werden. Ihren Dissens in der Generalversammlung kundzutun ist für die Früherkennung kommender Konflikte außerordentlich wichtig, zumal für viele der kleineren Staaten der Welt New York der einzige Ort ihrer diplomatischen Präsenz geworden ist.

Die Generalversammlung ist keineswegs das demokratische Pendant zum Sicherheitsrat. Auch sie ist eine Botschafterversammlung, ein Gremium der Exekutiven. Um wirklich repräsentativ zu werden, sollten die Vereinten Nationen sich eine Parlamentarierversammlung angliedern, wie es die OSZE bereits getan hat. Wenn das Parlament eines jeden Staates der Welt nur drei Abgeordnete schickte (wobei auch Staffelungen denkbar wären), wäre dieses Weltparlament mit 549 Abgeordneten immer noch kleiner als der Deutsche Bundestag. Die Parlamentarierversammlungen regionaler Unterorganisationen könnten sehr viel größer, damit noch repräsentativer sein. Jedenfalls sollte die Strukturschwäche der internationalen Organisationen, nur aus Regierungsvertretern zu bestehen, möglichst bald beseitigt werden. Die Gesellschaften in den Staaten sind heute ebenso wichtig wie die Regierungen, wenn nicht noch wichtiger; ihre Vertretung bei der Weltorganisa­ tion und ihren Unterorganisationen ist daher unentbehrlich. Glücklicherweise haben die Vereinten Nationen den nächsten Schritt bereits getan: die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs). 1995 waren 1003 solcher Organisationen bei den Vereinten Nationen registriert. Sie traten als aktive Akteure auf den großen Konferenzen auf, die die UN zu Umweltfragen, zu den Menschenrechten, zu Bevölkerung und Entwicklung und zur Weltsozialpolitik veranstaltet haben.

Viel schneller als ihre einzelnen Mitglieder haben die Vereinten Nationen registriert, daß sich unter der Decke des Ost-West-Konflikts die Weltstruktur geändert hat, gesellschaftliche Probleme und gesellschaftliche Akteure eine sehr viel größere Relevanz besitzen als vor 1945. Der Weltsozialgipfel in Kopenhagen im Mai 1990 gab ein besonders beredtes Beispiel dafür ab. Die Einrichtung des Kriegsverbrechertribunals für Fälle im früheren Jugoslawien bildet ein besonders demonstratives Beispiel. In beiden (wenn auch sehr unterschiedlichen Fällen) reklamiert die Weltorganisation ein Recht der politischen Einmischung in Bereiche, die vordem als rein „innerstaatlich“ galten. Diese „absolute und exklusive Souveränität“, schrieb Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in seiner Agenda für den Frieden, „gehört jedoch der Vergangenheit an“

Heute muß ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der „ordnungsgemäßen Wahrnehmung der innerstaatlichen Belange und den Anforderungen einer in zunehmendem Maße interdependenten Welt“. Diese sich entwickelnde Dialektik sichtbar und hörbar zu machen wäre die wichtigste Aufgabe der Generalversammlung bzw.der Weltparlamentarierversammlung. Die Identität und Vergleichbarkeit gesellschaftlicher Anforderungen gegenüber ihren Regierungen konstituiert eine die Staaten unterlaufende soziale Interessen-kohärenz, die für die „Gesellschaftswelt“ konstitutiv ist Mit dieser Herausforderung muß der Sicherheitsrat, der ständig Gefahr läuft, in den Traditionen und Kategorien des europäischen Mächtekonzerts zu verharren, permanent konfrontiert werden.

V. Friedenssicherung und Friedenserzwingung

Die größte Versuchung des Sicherheitsrates besteht darin, die Charta von hinten nach vorn zu lesen, also die Friedenserzwingung der friedlichen Streitbeilegung des Kapitel VI vorzuordnen. Er erliegt damit einem weiteren Mythos, nämlich dem des ordnungsstiftenden Erfolgs von Waffengewalt. Sie ist bei der Abwehr reiner Aggressionskriege wie dem Hitlers und dem Saddam Husseins wichtig, ja unentbehrlich, in den weitaus meisten Fällen aber unangebracht. War es schon immer moralisch fragwürdig gewesen, individuelle Existenzen zugunsten kollektiver Interessen (abgesehen vom Verteidigungskrieg) zu opfern, so ist es heute auch noch politisch vergeblich. Die zeitgenössischen Konflikte haben tiefsitzende ethnische, nationale oder soziale Wurzeln, die keine Schockbehandlung vertragen. Man muß, schreibt Boutros Boutros-Ghali, der Versuchung widerstehen, militärische Gewalt zur Beschleunigung des Heilungsprozesses einzusetzen

Die den Vereinten Nationen zur Verfügung stehenden Konfliktbearbeitungsstrategien sind vielschichtig und komplex; zu ihnen habe ich mich an anderer Stelle ausführlich geäußert Natürlich stehen den Vereinten Nationen im Fall einer klaren internationalen Aggression, wie etwa dem Überfall des Irak auf Kuwait, die Zwangsmittel des Kapitels VII UN-Charta zur Verfügung. Freilich müßten sie auch Charta-gerecht angewendet werden. In den meisten anderen Konfliktfällen aber gilt die 1956 von Dag Hammarskjöld entwikkelte Einsicht, daß die Weltorganisation mit der Friedenserzwingung nach Kapitel VII wenig, mit der (in der Charta nicht enthaltenen) Friedenssicherung sehr viel erreichen kann. Sie beruht auf dem Konsens der Betroffenen, kann aber auf dieser Grundlage außerordentlich viel ausrichten.

Konsens ist eine dehnbare, sogar herstellbare Größe Sie verträgt sogar die Gewaltanwendung der Blauhelme zur Selbstverteidigung, gegebenenfalls sogar zur Absicherung ihrer Mission. Sie darf aber den Rahmen des Konsenses nicht verlassen. In der deutschen Diskussion wird gern von einer Grauzone gesprochen, vom fließenden Übergang der Friedenssicherung in die Friedenserzwingung Das trifft so nicht zu. Zwischen beiden klafft sowohl in der Beschlußfassung wie in der Ausführung ein tiefer Graben. Wer diese Unterscheidung unterschlägt, „riskiert den Erfolg der Friedenssicherungsaktion und gefährdet ihr Personal“ „Friedenssicherung und Gewaltanwendung (jenseits der Selbstverteidigung) sollten als alternative Techniken begriffen werden und nicht als nebeneinanderliegende Punkte auf einem Kontinuum, das den leichten Wechsel von einem zum anderen erlaubt.“

Wie wichtig diese Klärung ist -und wie bedeutend ihre Berücksichtigung gewesen sein würde -, zeigen die Erfahrungen, die die Vereinten Nationen mit UNOSOM in Somalia machten und streckenweise auch in Bosnien-Herzegowina machen. In die Friedenssicherungsaktionen dort punktuelle Gewaltermächtigungen nach Kapitel VII einzublenden, wie es der Sicherheitsrat mit der Resolution 1836 vom 4. Juli 1993 getan hat, die die Luftangriffe der NATO autorisiert haben, ließ die UN in ein schiefes Licht und die Blauhelme in Gefahr geraten. Wenn der Konsens der Konfliktparteien nicht mehr gegeben ist oder aufgekündigt wird, ist der Friedenssicherungsaktion der Boden entzogen, so daß sie abgebrochen werden muß. Schwierig allein bleibt die Feststellung, wann der Konsens endgültig als zerbrochen zu gelten hat.

Die Weltorganisation kann genausowenig alle Konflikte der Welt heilen wie die Ärzte jede Krankheit. Gerade weil die UN so vieles können, muß auch klar gesehen werden, was sie nicht können. Dazu zählt die Lösung von Bürgerkriegen, für die die Vereinten Nationen nicht geschaffen wurden und die sich ohnehin gewaltsam einer Einwirkung von außen entziehen.

Die Vereinten Nationen sind geschaffen worden und werden gebraucht -das muß immer wiederholt werden -, um die „Geißel des Krieges“ aus der Welt zu schaffen. Das ist ihre Aufgabe und der Maßstab, an denen ihre Leistungen gemessen werden müssen.

VI. Vorbeugung und Vermittlung

Die Vereinten Nationen sind gleichwohl gegenüber Bürgerkriegen weder hilf-noch machtlos. Das Kapitel VI „Friedliche Streitbeilegung“ ist nicht das beste der Charta, es ist mit sehr schneller Feder geschrieben worden. Dennoch braucht es nicht geändert, sondern nur gedeutet zu werden. Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat in seiner „Agenda“ die vorbeugende Diplomatie, die Tatsachenermittlung, die Rechtsprechung und die Vermittlung erwähnt. Daß sie nicht stärker benutzt werden, liegt nicht an den ärmlichen Formulierungen des Kapitel VI, sondern am „mangelnden politischen Willen der Parteien“ diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Nicht die Charta muß also reformiert werden, sondern die Außenpolitik der Staaten.

Das gilt vor allem für die Vorbeugung. Sie ist in der Außenpolitik eine beinahe unbekannte Größe. Dazu trägt ein antiquierter Interventionsbegriff bei, der zwar den militärischen Eingriff zu später Stunde ohne weiteres erlaubt, aber die rechtzeitige politische Intervention mit Rücksicht auf die „inneren Angelegenheiten“ des Betroffenen verbietet. Insofern der Artikel 2, Abs. 7 der Charta diese alte Denkform beibehalten hat, besteht hier wirklicher Reformbedarf. Da die Interdependenz die Einmischung zum alltäglichen Phänomen gemacht hat, kann sie auch zur rechtzeitigen Konfliktsteuerung eingesetzt werden

Der Widerstand gegen solche „vorbeugende Diplomatie“, auf deren Ausarbeitung der Generalsekretär von der Gipfelkonferenz des Sicherheitsrates 1992 verpflichtet worden war, stammt aus zwei Quellen. Erstens widersetzen sich die Staaten, wenn sie zum Objekt einer solchen vorbeugenden Diplomatie geworden sind. Zweitens fehlt es dem Generalsekretär an Experten, die bereit und vor allem fähig sind, an der Vorbeugung und der Vermittlung mitzuwirken

Hier fehlt es auch an der Ausbildung. Die United States Academy for Peace bemüht sich um solche Ausbildung; in Deutschland fehlt ein entsprechendes Institut bisher. Immerhin wäre analog zum Verfahren der Richterauswahl beim Schiedshof imHaag an einen internationalen Pool von Vermittlungs-und Konfliktexperten zu denken, aus dem streitende Parteien sich ihre Vermittler mit UN-Unterstützung aussuchen könnten.

Vorbeugung aber setzt noch sehr viel früher an, nämlich bei der Beeinflussung der Konfliktursachen. Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat sie genannt: „Wirtschaftliche Not, soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung." 42 Sie gab es im früheren Jugoslawien, sie gibt es in Nordafrika, in allen afrikanischen Staaten, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Hinweis lenkt den Blick auf den wichtigsten Reformbedarf. Er besteht nicht in New York, sondern in den Hauptstädten der Nationalstaaten.

Während sich in den Vereinten Nationen, im Multilateralismus, der Horizont einer qualitativ neuen internationalen Politik öffnet, in der es keine internationalen Kriege mehr gibt und auch der Grad innerstaatlicher Gewaltanwendung abnimmt, verharren die Konzepte und Praktiken der Außen-politik der Nationalstaaten in einer eher traditionellen Ausrichtung. Sie denken an unilaterale Gewinn-und Machtmaximierung, nicht an die institutionalisierte Kooperation als Medium multilateraler Gewinnsteigerung. Sie denken nicht an die Früherkennung der Gewalt und an deren Vorbeugung, sie verlassen sich letztlich auf das militärische Gewaltpotential. Sie denken in den Kategorien der Staatenwelt, unterschätzen und verkennen die Bedeutung der gesellschaftlichen Dimension von auswärtiger Politik. Sie betreiben Außenpolitik, als ob es die Vereinten Nationen nicht gäbe, besser: als ob sie nicht funktionieren könnten. Kurz und überspitzt: Das Problem der UN sind ihre Mitglieder, die sich nicht UN-konform verhalten. Reformiert werden müssen nicht die UN, deren Konzeptualisierung die Erfahrungen und Überlegungen von Jahrhunderten europäischen Denkens präsentiert; reformiert werden muß die Außenpolitik der Nationalstaaten, die sich noch an der machtpolitischen Praxis Europas orientiert. Erst wenn diese Differenz abgebaut, die alte Praxis unter das neue Denken gestellt sein wird, werden sich die vereinten Nationen zu den Vereinten Nationen reformiert haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe zu diesen Einsätzen umfassend United Nations, United Nations Peace-keeping, Information Notes, Update, New York, Dezember 1994.

  2. Eine solide Übersicht über die wichtigsten Leistungsbereiche bietet Helmut Volger, Die Vereinten Nationen, München 1994.

  3. Vgl. ebd., S. 15ff.

  4. Vgl. Ernst-Otto Czempiel/Kerstin Dahmer/Matthias Dembinski/Kinka Gerke, Die Weltpolitik der USA unter Clinton. Eine Bilanz des ersten Jahres, HSFK-Report 1-2/1994, Frankfurt a. M. 1994.

  5. Zur Bedeutung und Rolle von internationalen Organisationen vgl. grundsätzlich Volker Rittberger, Internationale Organisationen -Politik und Geschichte. Europäische und weltweite zwischenstaatliche Zusammenschlüsse, Opladen 1994. Aus völkerrechtlicher Sicht: Klaus Dicke, Effizienz und Effektivität internationaler Organisationen: Darstellung und kritische Analyse eines Topos im Reformprozeß der Vereinten Nationen, Berlin 1994.

  6. Zu diesen Änderungen Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 19932.

  7. Zur Reform-Diskussion im Sachbereich wirtschaftliche Wohlfahrt vgl. Erskine Childers/Brian Urquhart, Renewing the United Nations System, Uppsala 1994. Ein Auszug in deutsch ist abgedruckt unter dem Tjtel: Für eine Erneuerung der Vereinten Nationen in: epd Entwicklungs-Politik, (1994) 23/24, S. 14ff.

  8. Vgl. HSFK-Report (Anm. 4), S. 18.

  9. Vgl. dazu kritisch Peter Rudolf, Kollektive Sicherheit, in: Politik und Gesellschaft, (1994) 4, S. 351 ff.

  10. Vgl. Earl C. Ravenal, An Autopsy of Collective Security, in: Political Science Quarterly, 90 (1975/76) 4, S. 707.

  11. Nach wie vor grundlegend und unentbehrlich Jacob ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung, 2 Bde., Den Haag 1917ff.

  12. Vgl. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading, Mass. 1979.

  13. Zu den sechs Gewaltursachen vgl. Emst-Otto Czempiel, Bausteine einer europäischen Friedensordnung, in: Europa-Archiv, (1994) 2, 8. 91 ff.

  14. Vgl. z. B. Glenn H. Snyder, The Security Dilemma in Alliance Politics, 36 (1984) 4, S. 461 ff.

  15. Vgl. Alexander Wendt, Anarchy is what States Make of it: The Social Construction of Power Politics, in: International Organization, 46 (1992) 2, S. 391 ff.

  16. Vgl. Emst-Otto Czempiel, Friedensstrategien. System-wandel durch internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, S. 112ff.

  17. Vgl. E. -O. Czempiel (Anm. 6), S. 105ff.

  18. Vgl. Harald Müller, Die Chance der Kooperation. in den internationalen Beziehungen, Darmstadt 1993.

  19. Vgl. Emst-Otto Czempiel, Die Reform der UNO. Möglichkeiten und Mißverständnisse, München 1994, S. 59ff. Vgl. auch Klaus Hüfner (Hrsg.), Die Reform der Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwischen Krise und Erneuerung, Opladen 1994.

  20. Vgl. Armin Plaga, Deutsche Leistungen an den Verband der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen, (1994) 42, S. 18-21.

  21. Vgl. E. -O. Czempiel (Anm. 19), S. 63ff.

  22. Vgl. Bruno Simma, Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, München 1991, S. 446f.

  23. Zur OSZE vgl. Herbert Honsowitz, , OSZE zuerst 1. Die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen UN und OSZE, in: Vereinte Nationen, (1995) 43, S. 49-54.

  24. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Schritt zurück bei der Anwendung militärischer Gewalt. Anmerkungen zum Karlsruher Urteil über die Rolle der Bundeswehr und die Außenpolitik Deutschlands, in: Frankfurter Rundschau vom 24. August 1994, S. 5. Zustimmung findet die Entscheidung des BVG -freilich ohne kritische Prüfung -bei Jochen A. Frowein, Regionale Sicherheitssysteme und nationales Recht, in: Verhandlungen des sechzigsten deutschen Juristentages, Bd. II/l, München 1994, S. Q 27.

  25. Vgl. dazu Jochen A. Frowein, Zwangsmaßnahmen von Regionalorganisationen, in: Festschrift für Rudolf Bernhardt, Heidelberg 1995, S. 57ff.

  26. Vgl. Supplement to An Agenda for Peace, Position Paper of the Secretary-General on the Occasion of the 50th Anniversary of the United Nations, United Nations A/50/60, 3. Januar 1995, §§ 83, 86.

  27. Ebd., § 88, c.

  28. Vgl. Peter Schlotter/Norbert Ropers/Berthold Meyer, Die neue KSZE. Zukunftsperspektiven einer regionalen Friedensstrategie, Opladen 1994. Zur Vorgeschichte vgl. Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozeß, Darmstadt 1992.

  29. Vgl. Bruce Russett/James S. Sutterlin, The U. N. in a New World Order, in: Foreign Affairs, 70 (1991) 2, S. 69ff.

  30. Vgl. HSFK-Report (Anm. 4), S. 42.

  31. Boutros Boutros-Ghali, Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung, Bonn 1992, § 17.

  32. Vgl. zum Problem mit anderer Begrifflichkeit, aber ähnlichen Ergebnissen: James N. Rosenau, Turbulence in World Politics. A Theory of Change and Continuity, Princeton, N. J. 1990.

  33. Vgl. Supplement (Anm. 26), § 36.

  34. Vgl. E. -O. Czempiel (Anm. 19), S. 68-182.

  35. Vgl. dazu Peter Bardehle, Internationale Konsensbildung. UN-Peacekeeping als Musterfall für internationalen Konsens und seine Entstehung, Baden-Baden 1991.

  36. Vgl. dazu Winrich Kühne, Die Friedenssicherung der Vereinten Nationen in der Krise? Eine Zwischenbilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/94, S. 21.

  37. Supplement (Anm. 26), § 35.

  38. Ebd., § 36.

  39. B. Boutros-Ghali (Anm. 31), § 34.

  40. Zu diesem Komplex vgl. ausführlich Ernst-Otto Czempiel, Die Intervention. Politische Notwendigkeit und strategische Möglichkeiten, in: Politische Vierteljahresschrift, 35 (1994) 3, S. 402ff.

  41. Vgl. Supplement (Anm. 26), §§ 28, 30.

Weitere Inhalte

Ernst-Otto Czempiel, Dr. phil., geb. 1927; Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, Frankfurt a. M.; Professor emeritus für Auswärtige und Internationale Politik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M. Zahlreiche Veröffentlichungen zu außenpolitischen Fragen. Zuletzt erschien: Die Reform der UNO. Möglichkeiten und Mißverständnisse, München 1994.