I. Die UNO und das Völkerrecht
Es mag ein Zufall sein, daß der 50. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen in die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 17. November 1989 proklamierte „Dekade des Völkerrechts“ fällt, die von 1990 bis 1999 dauert. Aber das Zusammentreffen ist bedeutungsvoll; denn das Völkerrecht steht in engster Verbindung mit dem Hauptziel der Vereinten Nationen, das in der Präambel ihrer Charta bereits im ersten Satz genannt wird: „künftige Geschlechter vor der Geisel des Krieges zu bewahren“. Positiv gewendet heißt dies, Frieden zu schaffen und zu erhalten, und das wiederum bedeutet eine Hinwendung zum Recht; denn nur auf der Grundlage des Rechts ist ein dauerhafter Friede möglich. Diese Erkenntnis stammt schon aus uralter Zeit. Im Alten Testament verspricht der Prophet Jesaias: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein“, und in der Antike rühmt der griechische Dichter Pindar in seinen Olympischen Oden den Frieden als „Weggenossen des Rechts“. Die Charta der Vereinten Nationen nimmt das Thema auf. In ihrer Präambel bekräftigt sie die Entschlossenheit der Vereinten Nationen, „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können“.
Das Bekenntnis zum Völkerrecht findet sich im operativen Teil der Charta an zahlreichen Stellen, wie zum Beispiel in Art. 1 Ziffer 1, in der die Staaten verpflichtet werden, ihre Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln „nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts“ auszutragen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Charta (in Art. 13 Abs. la) bei der Aufzählung der Befugnisse der Generalversammlung „die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung“ an erster Stelle nennt. Vorsichtig formuliert die Charta nicht etwa ein imperatives Mandat, sondern verlangt von den Vereinten Nationen nur, die Fortentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts zu „begünstigen“. Diese Bescheidenheit ist sehr realitätsnah. Die Schöpfer der UNO-Charta waren sich offenbar der Tatsache bewußt, daß sich das Völkerrecht durch eine Vielzahl von rechtserzeugenden Staatsakten fortentwickelt, von denen die meisten außerhalb des organisatorischen Rahmens der Vereinten Nationen gesetzt werden. Aber man darf sich von der Bescheidenheit der UNO-Charta nicht täuschen lassen: Dieses Dokument markiert einen Epocheneinschnitt in der Völkerrechtsgeschichte von welthistorischer Dimension.
II. Eine neue Epoche
Um die Epochenmarkierung zu begreifen, als die sich die Charta der Vereinten Nationen erwiesen hat, muß man einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Es geht dabei natürlich nur um die Vergangenheit des Völkerrechts; diese aber hängt aufs engste zusammen mit der Entstehung des modernen Staatsbegriffs; denn das Völkerrecht ist zu keiner Zeit ein Recht der Völker gewesen, sondern ein Recht der Staaten. Es entstand daher erst in dem Augenblick, in dem sich der Staatsbegriff, so wie wir ihn heute kennen, herausgebildet hatte, d. h. im Zeitalter der Renaissance. Die theoretische Begründung des Gedankengebildes, das die irreführende Bezeichnung „Völkerrecht“ erhielt, erfolgte im 16. Jahrhundert In ihrem Mittelpunkt stand der Begriff der Staatensouveränität, aus dem für jeden souveränen Staat das Recht zum Kriege abgeleitet wurde. Die seit der Zeit der Kirchenväter bis weit in die Neuzeit hinein geführte Kontroverse über den gerechten Krieg war damit abgebrochen: Jeder Krieg, zu dem ein souveräner Staat sich entschloß, war rechtens. Mit dieser Einstellung trug das Völkerrecht den Realitäten des auseinandergefallenen christlichen Abendlandes Rechnung. In jener Zeit des klassischen Völkerrechts, dessen Wirksamkeit nach einhelliger Meinung der Historiker mit dem Westfälischen Frieden (1648) begann, wurden einerseits die Schranken niedergerissen, welche die scholastische Theologie dem Beginn des Krieges gesetzt hatte, andererseits aber entstanden die ersten Grundlagen für eine Beschränkung der Kriegshandlungen selbst. Durch das Kriegsrecht (nicht zu verwechseln mit dem Recht der souveränen Staaten zum Kriege) sollte der Verlauf des Krieges in geregelte Bahnen gelenkt werden. Vor allen Dingen sollten die Nicht-beteiligten geschützt und alle unmittelbaren Auswirkungen der Kriegshandlungen möglichst begrenzt werden. So stand im ganzen Zeitalter der Aufklärung das Kriegsrecht unter dem Zeichen der Humanisierung, die schließlich in der Gründung des Roten Kreuzes (1863) gipfelte.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts bahnte sich ein erneuter Wandel im Denken über Krieg und Frieden an. Die industrielle Massenproduktion von Waffen ermöglichte die Ausrüstung von gewaltigen Heeren, die durch die allgemeine Wehrpflicht zu „Volksheeren“ wurden. Gegen Ende des Jahrhunderts erkannten Weitblickende bereits die Gefahr von Massenvernichtungswaffen und erhoben die Forderung nach allgemeiner Abrüstung. Ein Erfolg dieser europaweiten Friedensbewegung waren die Haager Konferenzen von 1898 und 1907, auf denen auch große Teile des Kriegsrechts kodifiziert wurden. Unter den zahlreichen damals beschlossenen Konventionen ragt die sogenannte Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 hervor.
Aber die eigentliche Zeitenwende begann erst mit der 1920 in Kraft getretenen Völkerbundsatzung. Der Erste Weltkrieg hatte den Glauben an die Segnungen der Souveränität ins Wanken gebracht. Mit der in Art. 11 der Völkerbundsatzung enthaltenen Feststellung, daß jeder Krieg den ganzen Völkerbund angehe, wurde der Boden des klassischen Völkerrechts, wonach jeder Krieg -sei er Angriffs-oder Verteidigungskrieg -allein Sache des zum Kriege schreitenden Staates war, zum ersten Male verlassen. Die daran anknüpfenden Bestimmungen der Völkerbundsatzung hatten die rechtliche Wirkung eines partiellen Kriegsverbots. Verboten wurde im einzelnen jeder Krieg, dem kein Versuch einer friedlichen Streitbeilegung vorausgegangen war, ferner jeder Krieg gegen einen Staat, der eine einstimmige Empfehlung des Völkerbundrates zur Beilegung des Streites angenommen hatte, und jeder Krieg, der vor Ablauf von drei Monaten nach dem Scheitern der Vermittlung des Rates unternommen wurde.
In den folgenden Jahrzehnten ging die Entwicklung mit einer für welthistorische Dimensionen geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit weiter. Das partielle Kriegsverbot der Völkerbundsatzung wurde durch den am 27. August 1928 in Paris Un terzeichneten Briand-Kellogg-Pakt zum allgemeinen Kriegsverbot ausgeweitet. Mit Recht trägt er die Bezeichnung „Kriegsächtungs-Pakt“. Da praktisch alle der damals bestehenden Staaten dem Briand-Kellogg-Pakt beitraten (die südamerikanischen Staaten schlossen einen eigenen Kriegsächtungs-Pakt, der inhaltlich dem Briand-Kellogg-Pakt glich), erreichte das Kriegsverbot noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs den Rang einer allgemeinen Völkerrechtsnorm.
Die Charta der Vereinten Nationen hat diese Entwicklung fortgesetzt und zu einem Epochenabschluß geführt. Ihr Art. 2 Ziffer 4 verbietet unmißverständlich „jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“. Dadurch wurde das allgemeine Kriegsverbot der dreißiger Jahre zum allgemeinen Gewalt\erbot der UNO-Ära ausgeweitet. Es dauerte nicht lange, bis sich in Ost und West, Nord und Süd die Auffassung durchsetzte, daß dieses allgemeine Gewaltverbot nicht nur Satzungsrecht der Organisation der Vereinten Nationen, sondern allgemeines Völkerrecht sein sollte. Es gilt also für alle Staaten der Erde, ohne Rücksicht darauf, ob sie UNO-Mitglieder sind oder nicht, und es würde auch weiter gelten, falls die Organisation der Vereinten Nationen aufgelöst würde. Aber ohne jene ausdrückliche Bestimmung in der UNO-Charta hätte das allgemeine Gewalt-verbot diesen völkerrechtlichen Rang sicher noch nicht erreicht
Art. 11 der Völkerbundsatzung hatte das Ende der Periode des klassischen Völkerrechts eingeleitet. Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Charta signalisierte das definitive Ende der klassischen Epoche. Nichts war mehr übriggeblieben vom Recht der souveränen Staaten zum Krieg. Juristisch gesehen sieht die Welt seit dem Inkrafttreten der UNO-Charta völlig anders aus als noch zu Beginn des Jahrhunderts. Während damals, noch unter der Geltung des klassischen Völkerrechts, die für die Geschicke der Staaten Verantwortlichen zunächst ihre politisehen Ziele wählen und dann entscheiden konnten, ob sie diese Ziele mit kriegerischen oder friedlichen Mitteln erreichen wollten oder nicht, ist im Völkerrecht der UNO-Ära der Friede zum obersten Ziel der Politik aller Staaten geworden, dem sich die Wahl der Mittel unterordnen muß. Ein Krieg zur Beendigung aller Kriege, oder auch nur ein Präventivkrieg, ist nach geltendem Völkerrecht unzulässig. Nur das Recht auf Selbstverteidigung ist sowohl vom Briand-Kellogg-Pakt als auch von der UNO-Charta unberührt geblieben. Art. 51 der UNO-Charta bekräftigt dies ausdrücklich. Aber die Umbruchphase, die mit dem Inkrafttreten der Völkerbundsatzung begann, ist mit dem Inkrafttreten der UNO-Charta noch nicht zu Ende gegangen. Das klassische Völkerrecht gehört endgültig der Vergangenheit an, eine neue*-Völker-rechtsordnung ist im Entstehen begriffen, aber der Umbau der alten ist noch nicht vollendet. So erklärt es sich auch, daß für die neue Epoche des Völkerrechts, die unbestreitbar im Jahre 1945 begonnen hat, noch kein griffiger Name gefunden worden ist. Am meisten Zustimmung hat der Vorschlag eines renommierten amerikanischen Völkerrechtlers -der schon in den zwanziger Jahren aus dem deutschsprachigen Raum emigrierte -gefunden: Völkerrecht der Zusammenarbeit Zwar hatte es auch im klassischen Völkerrecht durchaus Fälle von internationaler Zusammenarbeit gegeben. Seinem Wesen nach aber war das klassische Völkerrecht ein Koexistenzrecht. Aus der unverbrüchlichen Friedenspflicht, die als Kehrseite des allgemeinen Gewaltverbots entstanden ist, folgt nach durchaus einhelliger Völkerrechtslehre eine Pflicht zur Zusammenarbeit zum Zwecke der Förderung all derjenigen Ziele, die erreicht werden müssen, damit der von der UNO-Charta ins Auge gefaßte Zustand des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit erreicht wird. Unter dem Einfluß der zahlreichen Aktivitäten der Vereinten Nationen und ihrer Spezialorganisationen verdichtet sich das Zusammenarbeitsprinzip zum „Prinzip der Solidarität“ Aber noch niemand hat es gewagt, das internationale Rechtssystem der neuen Epoche als „Solidaritätsvölkerrecht“ zu bezeichnen.
Auch das ist verständlich. In der noch immer anhaltenden Umbruchphase hat das Völkerrecht seine aus der klassischen Zeit überkommene Grundstruktur beibehalten. Noch immer sind die souveränen Staaten die Grundeinheiten des internationalen Systems. Nur sie und die von ihnen gegründeten internationalen Organisationen sowie einige exzeptionelle Rechtsträger, wie z. B. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, sind Völkerrechtssubjekte. Ganz gewiß ist die Souveränität in den letzten Jahrzehnten zurückgedrängt worden Aber verschwunden ist sie nicht, und es sieht nicht so aus, als ob die Staatenwelt in absehbarer Zeit auf sie verzichten könnte. Die UNO-Charta kalkuliert auch das ein und erklärt in ihrem Art. 2 Ziffer 1: „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“ Das bereitet nicht nur dem internationalen Menschenrechtsschutz große Schwierigkeiten.
Es ist selbstverständlich, daß in einer Umbruch-phase alte und neue Rechtsnormen nebeneinander bestehen. Das Völkerrecht der UNO-Ära ist ein Musterbeispiel dafür. Es gehört nicht viel juristische Fachkenntnis dazu, die Schwierigkeiten zu erahnen, die aus einem solchen Nebeneinander entstehen. Beim Völkerrecht wirkt sich erschwerend noch das Fehlen eines internationalen Gesetzgebers und einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit aus. Der Internationale Gerichtshof, den die UNO vom Völkerbund übernommen hat, trägt zwar durch seine Rechtsprechung nicht unwesentlich zur Klärung und Festigung von Völkerrechtsnormen bei, aber seine Kompetenzen sind begrenzt, und die Möglichkeiten, sich seiner Rechtsprechung zu entziehen, sind für die souveränen Staaten noch immer viel zu groß. In einer solchen Situation der Unsicherheit, in der immer wieder geprüft werden muß, ob alte Rechtsnormen noch mit den neuen vereinbar sind, ob sie der neuen Lage durch Interpretation angepaßt werden können, ob sie durch Nichtanwendung obsolet geworden sind, ob sich entgegenstehendes Gewohnheitsrecht herausgebildet hat usw., ist die den Vereinten Nationen satzungsgemäß aufgegebene Verpflichtung, die Kodifikation des Völkerrechts zu fördern, einerseits besonders notwendig, andererseits aber besonders schwierig. Die Vereinten Nationen haben sich in ihrer 50jährigen Geschichte immer wieder dieser Aufgabe gestellt.
III. Die großen Kodifikationswerke
1. Die Funktion der Kodifizierung Die Unsicherheit über Existenz und Inhalt völkerrechtlicher Normen, die in der gegenwärtig noch immer anhaltenden Umbruchphase besteht, wird seit Inkrafttreten der UNO-Charta in zunehmendem Maße als untragbar empfunden. Die globalen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts -Übervölkerung, weltweite Migration, Umweltschutz, enge Verflechtung und gleichzeitig wachsende Unausgewogenheit des Weltwirtschaftssystems, internationaler Terrorismus, Drogen-und Waffenhandel sind nur einige Stichworte -fordern das Völkerrecht weitaus stärker als früher. Die bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenzen zur zunehmenden Verdichtung der Völker-rechtsnormen, zur Ausweitung ihres Wirkungsbereichs und zur Vertiefung ihrer Regelungsintensität haben sich daher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich verstärkt
Da ein internationaler Gesetzgeber nicht vorhanden ist, kann die Kodifikation des geltenden Völkerrechts nur durch multilaterale Verträge (Konventionen) erfolgen. Solche Konventionen wiederholen häufig vertragliches Völkerrecht, noch häufiger aber formulieren sie bereits vorher geltendes Völkergewohnheitsrecht. Mit Inkrafttreten der Konvention verlieren die betreffenden Rechtsnormen ihren Charakter als Völkergewohnheitsrecht und leiten ihre verbindliche Kraft aus der Konvention ab. Das hat den Vorteil, daß der schwierige Nachweis des Vorhandenseins einer Regel des Völkergewohnheitsrechts nicht mehr erforderlich ist. Allenfalls kann die Interpretation der Konventionsbestimmungen noch Probleme bieten. Davon abgesehen aber ist die Existenz der Rechtsnormen durch ihre Aufnahme in die Konvention, ihr Inhalt durch den Konventionstext dargelegt.
An der Kodifikation des Völkerrechts wird seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv gearbeitet. Einen ersten Erfolg stellt die Kodifikation des Kriegsrechts durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 dar. Schon zu Zeiten des Völkerbunds hatte die Völkerrechtslehre die Dringlichkeit dieser Aufgabe erkannt, aber im Gegensatz zur UNO-Charta enthielt die Völkerbundsatzung kei-S. nen konkreten an den Völkerbund oder eines seiner Organe gerichteten Auftrag zur Kodifikation des Völkerrechts. Angesichts dieses Defizits ist es erstaunlich, wie rasch das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Kodifikation in die Völkerbundsgremien gelangte. Bereits 1920 wies die Expertenkommission, die das Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs ausarbeitete, in einer Resolution auf die enge Verbindung zwischen der internationalen Gerichtsbarkeit und der Kodifikation des Völkerrechts hin. Aber es vergingen weitere zehn Jahre bis zum Zusammentritt der großen Haager Kodifikationskonferenz im März/April 1930. Eine Vorbereitungskommission hatte drei Themenbereiche für kodifikationsreif befunden: Staatsangehörigkeit, Küstenmeer und Staatenverantwortlichkeit. Eine Konvention kam nur bezüglich der erstgenannten Frage zustande Sie gilt nach einhelliger Meinung heute als Völkergewohnheitsrecht*. Die Haager Konferenz von 1930 war als Auftakt für eine Reihe von Kodifikationskonferenzen des Völkerbunds gedacht. Aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Der Grund für das Scheitern der Kodifikationspläne des Völkerbunds lag zum Teil in dem mäßigen Erfolg der Konferenz von 1930, zum (sicherlich größeren) Teil aber in den weltpolitischen Entwicklungen der darauffolgenden Jahre.
Die Vereinten Nationen zogen eine Lehre aus den Erfahrungen des Völkerbunds. In Erfüllung der ihr in Art. 13 der UNO-Charta übertragenen Aufgabe setzte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Völkerrechtskommission (International Law Commission) ein, deren Statut in Art. 15 eine klare Unterscheidung zwischen der Feststellung schon bestehenden Rechts und seiner Fortbildung macht. Die Kommission begann ihre Tätigkeit am 12. April 1949. In bewundernswert sorgfältiger Arbeit stellte sie unverzüglich eine Liste der kodifikationsreifen Themen auf. Hierzu gehörten vor allem die folgenden Rechtsgebiete: Anerkennung von Staaten und Regierungen, Staatensukzession, Staatsimmunitäten, exterritoriale Strafgerichtsbarkeit, hohes Meer, Küstengewässer, Staatsangehörigkeit, Fremdenrecht, Asylrecht, Vertragsrecht, Recht der Diplomatie und Konsularrecht, Staatshaftung, Schiedsverfahren.
Es wäre leicht, aus dieser Liste die noch nicht erledigten Aufgaben herauszugreifen und daraus den Vorwurf des Versagens nicht nur der Völkerrechtskommission, sondern der gesamten Vereinten Nationen zu konstruieren. Als gescheitert kann der Versuch angesehen werden, das Asylrecht zu kodifizieren. Da das Asylrecht -als subjektives Recht des einzelnen politisch Verfolgten -schon aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und dann wieder aus dem Menschenrechtspakt von 1966 mit der Begründung herausgenommen wurde, es sei eine viel zu komplexe Materie, um in einem einzigen Artikel einer allgemeinen Konvention geregelt zu werden, und verlange daher eine eigene Spezialkonvention, ist der Nichtabschluß einer solchen besonders bedauerlich. Die „Deklaration über territoriales Asyl“, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1967 verkündet wurde ist kein Ersatz für die fehlende Konvention; denn sie bestätigt nur den schon im klassischen Völkerrecht erreichten Rechtszustand, wonach die Asylgewährung ein Recht der Staaten ist. 2. Staatensukzession Als besonders schwierig erwiesen sich die Probleme der internationalen Staatenverantwortlichkeit, um deren Lösung seit Jahrzehnten gerungen wird. Gerade in den letzten Jahren zeigen sich aber Erfolge. Die Völkerrechtskommission behandelt die Einzelfragen nacheinander und legt jeweils nach Abschluß ihrer Arbeiten den Entwurf eines Konventionsartikels vor. Dasselbe gilt für die Staatensukzession. Hier konnte zwar nach jahrelangem Ringen die Wiener Konvention über die Staaten-nachfolge in Verträge am 23. August 1978 zur Unterzeichnung vorgelegt werden. Aber bisher ist die für das Inkrafttreten erforderliche Mindestzahl von Ratifikationen nicht erreicht worden. Darüber hinaus stießen die in der Konvention aufgestellten Regeln in Lehre und Praxis auf Widerspruch, so daß „das Übereinkommen auch keinen nachhaltigen Einfluß auf das Gewohnheitsrecht ausgeübt“ hat
Schon 1967 hatte die Völkerrechtskommission beschlossen, den ganzen Komplex der Staatensukzession in drei Teile zu zerlegen, und zwar in bezug auf 1. Verträge; 2. andere Gegenstände; 3. die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen. Unter den „anderen Gegenständen“ nahm sie sich zunächst die Frage der Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden vor und konnte nach jahrelanger Arbeit einen Konventionsentwurf vorlegen. Über ihn beriet eine von den Vereinten Nationen nach Wien einberufene Konferenz im Frühjahr 1983, an der 90 Staaten teilnahmen. Die Mehrheit von ihnen stimmte schließlich für den Konventionsentwurf, doch waren es -mit Ausnahme der Türkei'-ausschließlich Staaten der Dritten Welt und des Ostblocks. Unterzeichnet wurde diese „Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Staatsvermögen, -archive und -schulden“ vom 8. April 1983 nur von sechs Staaten. Mangels Ratifikation konnte sie bisher nicht in Kraft treten. Man wird sich daher dem Urteil anschließen müssen, daß „die Bemühungen um eine Kodifizierung des Rechts der Staatensukzession als gescheitert“ anzusehen sind 3. Das Recht der Verträge Schon lange vor den Konferenzen zu den schwierigen Problemen der Staatensukzession war Wien zum beliebten Tagungsort der Vereinten Nationen geworden. Vor allen Dingen verbindet sich der Name dieser Stadt mit dem größten Kodifikationserfolg in der gesamten Geschichte der Vereinten Nationen. Gemeint ist die Wiener Vertragsrechtskonferenz, die nach jahrelanger Vorbereitung durch die Völkerrechtskommission in den Jahren 1968/69 dort tagte und das „Übereinkommen über das Recht der Verträge“ vom 23. Mai 1969 hervorbrachte. In der Literatur wie in der Praxis trägt dieses Kodifikationswerk die Bezeichnung „Wiener Vertragsrechtskonvention“ (WVK).
Die in dieser Bezeichnung verwendete Terminologie muß vorsichtig gehandhabt werden. Ein Teil der Literatur besteht auf der Unterscheidung zwischen dem völkerrechtlichen Vertragsrecht als Gesamtheit der zwischen den Staaten abgeschlossenen Verträge und dem Recht der völkerrechtlichen Verträge, das die Fragen des Zustandekommens, der Auslegung, Erfüllung und Beendigung der zwischen den Staaten ausgehandelten Verträge regelt. Es ist selbstverständlich, daß die WVK nur dieses „Recht der Verträge“ regelt. Sie beschränkt sich außerdem nach ihrem Wortlaut ausdrücklich aufVerträge zwischen Staaten in Schriftform Für die Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen sowie für Verträge, die internationale Organisationen untereinander schließen, ist 17 Jahre später eine eigene Konvention entworfen worden, die von 27 Staaten und zehn internationalen Organisationen unterzeichnet, aber bisher nur von drei Staaten ratifiziert worden ist, so daß sie noch nicht in Kraft treten konnte
Die WVK gibt im wesentlichen das zum Zeitpunkt ihres Zustandekommens bereits gewohnheitsrechtlich geltende völkerrechtliche Recht der Verträge wieder. Insofern ist sie eine echte Kodifikation. Allein als solche wäre sie von unschätzbarem Wert, weil sie die zahlreichen einschlägigen Völkerrechtsnormen aus alter und neuer Zeit präzise formuliert und systematisch ordnet. Darüber hinaus aber hat sie manche Unklarheiten beseitigt und zur Fortentwicklung des Völkerrechts beigetragen. Von herausragender Bedeutung sind ihre Vorschriften über die Ungültigkeit von Verträgen. Der diesbezügliche Abschnitt der WVK beginnt mit dem Grundsatz, daß ein Staat sich nicht darauf berufen kann, daß seine Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, gegen innerstaatliches Recht verstößt. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Verletzung offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf (Art. 46 Abs. 1 WVK). Das letztere ist dann der Fall, wenn die Verletzung „für jeden Staat, der sich hierbei im Einklang mit der allgemeinen Übung und nach Treu und Glauben verhält, objektiv erkennbar ist“ (Art. 46 Abs. 2 WVK). Weitere Ungültigkeitsgründe sind Willens-mängel (z. B. Irrtum), Betrug, Bestechung eines Staatenvertreters, Zwang gegen einen Staatenvertreter und Zwang gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt. Hier ist unmißverständlich die Konsequenz aus dem seit Inkrafttreten der UNO-Charta geltenden allgemeinen Gewaltverbot auf einem wichtigen Teilgebiet des Völkerrechts, eben dem Recht der Verträge, gezogen worden. Diese Bestimmung wird unterstützt durch Art. 53 WVK, der alle Verträge, die im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts stehen, für nichtig erklärt (Art. 53 WVK).
Der Begriff der zwingenden Norm (ius cogens), den die Völkerrechtslehre entwickelt hatte, war vorher noch nie in einem völkerrechtlichen Ver trag verwendet worden. Die wichtigste Ius-cogens-Norm ist im geltenden Völkerrecht das allgemeine Gewaltverbot. Jeder Vertrag, der in irgendeiner Weise dagegen verstößt, ist nichtig. Diese klare Regel hatte es im klassischen Völkerrecht nicht gegeben. Dort war nur klar, daß die Ausübung von Zwangsgewalt gegen die Unterhändler der Vertrags-Gegenpartei die Nichtigkeit des Vertrages zur Folge hatte. Wenn man bedenkt, daß diese Beschränkung bis zum Inkrafttreten der UNO-Charta, also bis 1945, galt, erkennt man, daß sich die Argumentation in bezug auf die Frage der sog. Ex-tunc-Nichtigkeit von Verträgen, d. h.der Nichtigkeit von Anfang an, erst 1945 grundlegend gewandelt hat. Die WVK hat diesem Wandel, auf den die Völkerrechtslehre schon vorher hingewiesen hatte, konsequent festgeschrieben. Darin liegt ihre epochale Bedeutung
Die WVK ist nach der Ratifikation durch 35 Staaten am 27. Januar 1980 in Kraft getreten (für die Bundesrepublik Deutschland nach der Ratifikation durch sie am 20. August 1987). Da die WVK nach herrschender Meinung nur das geltende Gewohnheitsrecht wiedergibt, wird sie in Lehre und Praxis auch dann herangezogen, wenn ein Staat sie noch nicht ratifiziert hat. Jedoch muß in einem solchen Fall bei einem Rechtsstreit die gewohnheitsrechtliche Geltung der betreffenden Völkerrechtsnorm nachgewiesen werden. Bis zum 1. Juli 1995 haben 78 Staaten die WVK ratifiziert. Es ist durchaus angemessen, hier von einem großen Erfolg der Vereinten Nationen zu sprechen. 4. Das Diplomatenrecht Ebenso spektakulär war der Erfolg der Vereinten Nationen bei der Kodifikation eines anderen wichtigen Teils des Völkerrechts. Hier ging es nicht so sehr um den epochalen Wandel des Völkerrechts im 20. Jahrhundert, als vielmehr um die Neuformulierung und Fortentwicklung von gewohnheitsrechtlich geltenden Völkerrechtsregeln, die zum Teil aus den Anfängen dieser Rechtsordnung stammten und sich bisher jedem Kodifikationsversuch entzogen hatten. Gemeint ist das Diplomatenrecht, das rechtstechnisch in das Recht der diplomatischen und das Recht der konsularischen Beziehungen zerfällt. Vier Jahre lang (von 1954 bis 1958) arbeitete die Völkerrechtskommission an zwei Konventionsentwürfen für diese beiden Bereiche. Nur wenige Wochen (vom 2. März bis 14. April 1961) tagte dann eine große Konferenz der Vereinten Nationen in Wien, als deren Ergeb-nis das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 unterzeichnet wurde. Innerhalb kurzer Zeit traten ihr praktisch alle Staaten der Erde bei. Jeder neue Staat beeilt sich, die Konvention zu ratifizieren. Am 24. April 1963 folgte das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen, das bald eine ähnliche Universalität erreichte
Der Diplomatenberuf ist im Zeitalter des Terrorismus gefährlicher geworden. Auch dieser neuen Herausforderung stellten sich die Vereinten Nationen und brachten am 14. Dezember 1973 das in New York Unterzeichnete Übereinkommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten (sogenannte Diplomatenschutzkonvention) zustande Aber auch andere faktische Entwicklungen verlangten nach völkerrechtlicher Regelung. So ist neben die soge-nannte Ständige Diplomatie -d. h. die Pflege der diplomatischen Beziehungen durch ständig im Gastland anwesende diplomatische Missionen -eine umfangreiche Tätigkeit von „Sondermissionen“ getreten, die gelegentlich auch als „Ad-hocDiplomatie“ bezeichnet wird. Für sie haben die Vereinten Nationen eine eigene Konvention ausgearbeitet, die von der Generalversammlung am 8. Dezember 1969 angenommen worden ist Sie ist am 21. Juni 1995 in Kraft getreten.
Weniger erfolgreich waren die Bemühungen der Vereinten Nationen auf einem Teilgebiet des Diplomatenrechts, das mit dem Anwachsen der Zahl der internationalen Organisationen an Bedeutung gewinnt, nämlich hinsichtlich der Rechtsstellung der Staatenvertreter bei internationalen Organisationen. Sie wird in der Praxis jeweils durch ein so-genanntes Sitzabkommen (d. h. einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen einer internationalen Organisation und dem Staat, in dem sie ihren Sitz hat) geregelt. Die Vereinten Nationen versuchten, die in den einzelnen Sitzabkommen enthaltenen Regeln zusammenzufassen und zu vereinheitlichen. Schon seit 1963 beschäftigte sich die Völkerrechtskommission mit dieser Aufgabe. 1971 konnte sie einen Konventionsentwurf vorlegen, über den auf der Wiener Staatenkonferenz vom 4. Februar bis 14. März 1975 diskutiert wurde. Das Ergebnis war die Wiener Konvention über die Vertretung von Staaten bei weltweiten internationalen Organisationen, die am 14. März 1975 von der Konferenz verabschiedet wurde. Bei der Schlußabstimmung enthielten sich jedoch 15 Staaten, darunter alle Sitzstaaten der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen der Stimme. Entsprechend niedrig ist bisher die Zahl der Ratifikationen, was ein Inkrafttreten der Konvention verhindert hat
Diese Niederlage der Vereinten Nationen in einer weitgehend sie selbst betreffenden Angelegenheit schmälert jedoch nicht das Verdienst, das sich die Vereinten Nationen durch die Kodifikation und Fortentwicklung des Diplomatenrechts in seiner ganzen Breite erworben haben. 5. Das Seerecht Zu den größten Leistungen der Vereinten Nationen gehört die Kodifizierung und Fortentwicklung des internationalen Seerechts. Schon der Völkerbund hatte Teile desselben (vor allem den Rechts-status des Küstenmeeres) für kodifikationsreif gehalten und daher auf die Tagesordnung der Haager Kodifikationskonferenz von 1930 gesetzt. Gerade über die seerechtlichen Fragen konnte aber keine Einigung erzielt werden. Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen nahm den Rechts-status der hohen See und des Küstenmeeres in ihre 1949 aufgestellte Prioritätenliste auf. Aber erst 1956 berichtete sie der Generalversammlung und schlug die Abhaltung einer Staatenkonferenz vor. Diese fand 1958 in Genf statt und ging als „Erste Genfer Seerechtskonferenz“ in die Geschichte ein. Sie brachte vier Konventionsentwürfe zustande, nämlich 1. über das Küstenmeer und die Anschlußzone, 2. über die hohe See, 3. über die Fischerei und den Schutz der Fischbestände und 4. über den Festlandsockel.
Die Bundesrepublik Deutschland Unterzeichnete nur die Zweite und Vierte Konvention. Alle vier Konventionen beschränkten sich nicht auf die Kodifizierung von geltendem Gewohnheitsrecht, sondern versuchten -wenn auch in sehr geringem Umfang -eine Fortentwicklung des internationalen Seerechts. Die Breite des Küstenmeeres wurde allerdings in der Küstenmeer-Konvention von 1958 nicht allgemein festgelegt. Deshalb forderte die Generalversammlung eine weitere Seerechtskonferenz. Sie tagte vom 17. März bis 26. April 1960 wieder in Genf und brachte lediglich einen Kompromißvorschlag hervor, der nicht angenommen wurde. Der einzige von dieser Zweiten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen verabschiedete Text war eine im Schlußprotokoll vom 26. April 1960 enthaltene Empfehlung zur Förderung der Fischereiwirtschaft unterentwickelter Staaten.
Aber nun begann ein Wettlauf um die Sicherung von ausschließlichen Rechten für den Fischfang und die Nutzung der am Meeresboden und im so-genannten Meeresuntergrund (unterhalb des Meeresbodens) gelegenen Bodenschätze. Da der Grundsatz der Meeresfreiheit traditionell in erster Linie die freie Benutzung des hohen Meeres für die Schiffahrt (im Frieden wie im Krieg) und den Fischfang betraf, war das Recht auf die Gewinnung und Verwertung dieser Bodenschätze, soweit sie außerhalb der zum Staatsgebiet der Küstenstaaten gehörenden Teile des Festlandsockels liegen, keineswegs klar. Solange die Technik noch keine Möglichkeiten für den Tiefseebergbau bot, kümmerte sich kaum jemand um diese Rechtsfrage. Aber technische Fortschritte und die Suche nach neuen Rohstoffen (nicht nur Erdöl und Erdgas, sondern auch wertvolle Metalle wie z. B. Mangan, das in großen Knollen an gewissen Stellen des Meeresbodens in einer Tiefe von 3000 bis 4000 Meter liegt) ließen die Aufstellung von bindenden Rechtsnormen für alle damit zusammenhängenden Tätigkeiten immer dringlicher erscheinen. Experten warnten vor einer unkontrollierten „Plünderung der Meere“
Es war der Inselstaat Malta, der im Jahre 1967 diesen Fragenkomplex erneut vor das Forum der Vereinten Nationen brachte. Aufgrund dieser Initiative wurde in jahrelanger Arbeit die bis dahin größte diplomatische Konferenz der Weltgeschichte, die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, vorbereitet. Nach der Abkürzung ihrer englischen Bezeichnung (United Nations Conference on the Law of the Sea) hieß sie bald in der Fachliteratur und in der Weltpresse „UNCLOS III“. Es war eine Mammutkonferenz, die an verschiedenen Orten (herausragend waren New York und Caracas) in zwölf Sitzungsperioden tagte. Rund siebenhundert Delegierte der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nahmen daran teil. Die erste Session der Konferenz fand in der Zeit vom 3. bis 15. Dezember 1973 statt, die letzte endete am 10. Dezember 1982 mit der Unterzeichnung einer umfassenden Seerechtskonvention. Die Generalversammlung hatte der Konferenz ausdrücklich das Mandat erteilt, sich „mit allen Gegenständen zu beschäftigen, die mit dem Seerecht Zusammenhängen“, wobei berücksichtigt werden sollte, „daß die Probleme der Weltmeere eng miteinander Zusammenhängen und als eine Ganzheit betrachtet werden müssen“. In diesen Worten klingt die Besorgnis um den Umweltschutz mit, der ja nur auf der Grundlage einer ganzheitlichen Vorstellung von der Natur erfolgreich betrieben werden kann.
Ohne Übertreibung kann die Seerechtskonvention von 1982 als das imposanteste Vertragswerk nicht nur in der Geschichte der Vereinten Nationen, sondern wohl in der gesamten Geschichte des Völkerrechts bezeichnet werden. Sie besteht aus nicht weniger als 320 Artikeln, von denen viele sich jeweils über mehrere Seiten erstrecken, sowie neun ebenfalls umfänglichen Anlagen, in denen Einzelheiten geregelt werden, deren Aufnahme in die einschlägigen Artikel allzu unhandlich gewesen wäre. So bilden einzelne Artikel zusammen mit der dazugehörigen Anlage für sich ein Vertragswerk, das umfangreicher ist, als manche der großen Konventionen aus früheren Zeiten. Die allgemeine Zielsetzung der Seerechtskonvention ist es -mit den Worten der Präambel -, „eine Rechtsordnung für die Meere und Ozeane zu schaffen, die den internationalen Verkehr erleichtern, sowie die Nutzung der Meere und Ozeane zu friedlichen Zwecken, die ausgewogene und wirkungsvolle Nutzung ihrer Ressourcen, die Erhaltung ihrer lebenden Ressourcen und die Untersuchung, den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt fördern wird“.
Als besonders heikles Thema erwies sich bei UNCLOS III -wie erwartet -der Tiefseebergbau. Der XL Teil der Seerechtskonvention, der die Tätigkeiten auf und unter dem Meeresboden regelt, ist mit 58 Artikeln der weitaus umfangreichste Teil der gesamten Konvention. Sehr bald stellte sich heraus, daß der vor allem in den Industriestaaten gegen ihn bestehende Widerstand das Inkrafttreten des ganzen Vertragswerks hinauszögern oder sogar unmöglich machen würde. Nach einer längeren Periode der Stagnation begann UN-Generalsekretär Perez de Cuällar im Jahre 1990 mit „informellen Konsultationen“, um die Diskussion wieder in Gang zu bringen. Eine Gruppe von Delegierten aus je vier Industriestaaten und Entwicklungsländern legte 1993 ein Arbeitspapier vor, das als Grundlage für ein Durchführungsübereinkommen zum XI. Teil der Seerechtskonvention diente. In der Zwischenzeit waren die Bemühungen des Generalsekretärs um die Ratifizierung der Konvention weitergegangen und hatten dazu geführt, daß am 16. November 1993 Guyana als 60. Staat seine Ratifikationsurkunde hinterlegte und damit die Voraussetzung für das Inkrafttreten der Seerechts-konvention am 16. November 1994 schuf. Unter den Signatarstaaten befanden sich bis dahin aber nur ein westlicher Staat, nämlich Island, und ein osteuropäischer (Jugoslawien).
Andererseits waren bereits 1990 und 1991 Anträge auf die Registrierung von Tiefseebergbaufeldern im Pazifik gemäß der Seerechtskonvention gestellt worden, denen die Vorbereitungskommission für die Internationale Meeresbodenbehörde jeweils ein Jahr später stattgab. Unter dem Zwang dieser Verhältnisse kam schließlich das Durchführungsübereinkommen zum XI. Teil der Seerechtskonvention zustande, das die Generalversammlung am 28. Juli 1994 verabschiedete. Das Durchführungsübereinkommen, das auch die Bundesrepublik Deutschland am 29. Juli 1994 Unterzeichnete und am 4. Oktober 1994 ratifizierte modifiziert und ergänzt den XI. Teil der Seerechtskonvention, mit dem es eine Einheit darstellt. Damit war endlich auch für die Industriestaaten der Weg zur Ratifizierung der Seerechtskonvention geöffnet. Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte am 2. September 1994 Wie vorgesehen, trat die Seerechtskonvention am 16. November 1994 weltweit in Kraft.
Die Bundesrepublik Deutschland hat an diesem jahrzehntelangen Ringen um das große Kodifikationswerk der Vereinten Nationen aktiv teilgenommen. Sie wurde dafür durch eine Entscheidung belohnt, die in der Anlage VI zur Seerechts-konvention, d. h.dem Statut des in der Seerechts-konvention vorgesehenen Internationalen See-gerichtshofs, festgehalten wird. Art. 1 Abs. 2 der Anlage VI lautet: „Der Gerichtshof hat seinen Sitz in der Freien und Hansestadt Hamburg in der Bundesrepublik Deutschland.“ Der Internationale Seegerichtshof steht allen Vertragsstaaten der Seerechtskonvention, und unter bestimmten Voraussetzungen auch Nichtvertragsstaaten, offen. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf alle ihm in Über einstimmung mit der Seerechtskonvention unterbreiteten Streitigkeiten und Anträge sowie auf alle in einer sonstigen Übereinkunft, die dem Gerichtshof die Zuständigkeit überträgt, besonders vorgesehenen Angelegenheiten.
Der Internationale Seegerichtshof ist zwar als solcher ein Novum im Völkerrecht. Als Streitschlichtungsorgan im Rahmen eines multilateralen Vertrags hat er allerdings zahlreiche Vorbilder. Völlig neu ist dagegen der Aufbau einer internationalen Behörde auf der Grundlage des XI. Teils der Seerechtskonvention. Gemeint ist die Internationale Meeresbodenbehörde. Ihre organisatorische Struktur wird in 36 besonders umfangreichen Artikeln in der Seerechtskonvention festgelegt. Neben einer „Versammlung“, die aus je einem Vertreter aller Vertragsstaaten besteht, gibt es als ausführendes Organ einen „Rat“, bestehend aus 36 Mitgliedern, die von der Versammlung in einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge gewählt werden, sowie ein Sekretariat mit internationalem Charakter. Unversehens sind die Vereinten Nationen mit diesen Bestimmungen der Seerechtskonvention aus dem Bereich der Kodifikation und Fortentwicklung des Völkerrechts in einen ganz anderen Bereich geraten, nämlich in denjenigen der Organisation. Der komplizierte Behördenaufbau, den die Seerechtskonvention vorschreibt, ist ein Musterfall der internationalen Bürokratie. Sie wird den Tiefseebergbau, der nach Meinung der Experten nicht vor dem Jahr 2000 beginnen kann, noch erheblich verteuern
IV. Die Menschenrechte
Nicht alle Konventionen, die unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zustande gekommen sind, lassen sich unter den Begriff der Kodifikation einordnen. Immer häufiger gehen Staatenkonferenzen ganz allgemein dazu über, die von ihnen ausgearbeiteten Entwürfe als „Neubestätigung und Fortentwicklung“ eines bestimmten Normenbereichs zu bezeichnen. In der gesamten Arbeit der Vereinten Nationen verdient der große Komplex der Menschenrechte am ehesten diese Bezeichnung, wobei das Wort „Fortentwicklung“ eher noch zu bescheiden wirkt. Freilich entfaltet sich jedes Bemühen um neue Völkerrechtsnormen auf einem historischen Fundament. Aber im Bereich der Menschenrechte haben die Vereinten Nationen tatsächlich Pionierarbeit geleistet. Der Völkerbund hatte nur auf Teilgebieten des Menschenrechtsschutzes, wie z. B. bezüglich der Flüchtlinge und der Minderheiten sowie der Bekämpfung des Frauen-und Kinderhandels, einige Aktivitäten entfaltet. Die Schöpfer der UNO-Charta machten es sich zum Ziel, nicht nur diese Bemühungen fortzusetzen und zusammenzufassen, sondern den gesamten internationalen Menschenrechtsschutz auf eine einheitliche Basis zu stellen und den Erfordernissen der Zeit entsprechend weiterzuentwickeln.
Ein Markstein in dieser Entwicklung ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündet wurde. Wie alle Resolutionen der Generalversammlung hat sie nur empfehlenden Charakter und erzeugt keine Rechtsbindungen. Ihre politisch-moralische Wirkung jedoch war inmitten der Schrecknisse, die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen Ländern der Erde großes Leid über Millionen von Menschen brachten, so nachhaltig, daß in der Völkerrechtslehre überwiegend die Meinung vertreten wird, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sei als Völkergewohnheitsrecht verbindlich geworden Diese Meinung kann sich nicht zuletzt auf die Schlußakte der Menschenrechtskonferenz von Teheran (1968) stützen, die durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen bestätigt worden ist
Die UNO-Charta selbst spricht nur an wenigen Stellen von den Menschenrechten. In der Präambel bekräftigen die Mitgliedstaaten ihren „Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“. Art. 1 Abs. 3 erklärt die internationale Zusammenarbeit zum Zwecke der Förderung und Festigung der „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ zu einem der Ziele der Vereinten Nationen. Art. 13, der sich mit Einzelmaßnahmen zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit befaßt, verpflichtet die Generalversammlung unter anderem, Untersuchungen zu veranlassen und Empfehlungen abzugeben, um „zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion beizutragen“. Dieselbe Formulierung findet sich wieder in Art. 55c bei der Aufzählung der wirtschaftlichen und sozialen Ziele der Vereinten Nationen. Ausdrücklich spricht dort die Satzung von der „allgemeinen Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte“. In Art. 56 verpflichten sich die Mitgliedstaaten, „gemeinsam und jeder für sich mit der Organisation zusammenzuarbeiten, um die in Art. 55 dargelegten Ziele zu erreichen“.
Trotz dieser deutlichen Worte vertraten viele Völkerrechtler noch lange Zeit die Auffassung, die UNO-Charta verpflichte die Mitgliedstaaten nicht auf die Menschenrechte, sondern enthalte nur Grundsatzerklärungen, die rechtlich unverbindlich seien. Sie verwiesen darauf, daß sämtliche Formulierungen der UNO-Charta in bezug auf die Menschenrechte vage sind und die Mitgliedstaaten nur verpflichten, etwas zu unternehmen, um die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte zu sichern, ohne im einzelnen darzulegen, was zu tun ist und um welche Menschenrechte es sich handelt.
Um klare Rechtsbindungen zu erzeugen, strebten die Vereinten Nationen deshalb den Abschluß einer verbindlichen Menschenrechtskonvention an. Die Vorarbeiten hierfür begannen bereits im Jahre 1946. Da es sich als unmöglich erwies, die gesamte Materie in einer einzigen Konvention unterzubringen, entstanden zwei Verträge, nämlich der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Beide wurden am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und am 19. Dezember 1966 zur Unterzeichnung aufgelegt. Drei Monate nach der Hinterlegung der 35. Ratifikationsurkunde konnten sie in Kraft treten. Diese Voraussetzung war für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erst am 3. Januar 1976, für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte erst am 23. März 1976 gegeben. Nach dem Stand vom 31. Dezember 1994 haben den erstgenannten Pakt 131 Staaten und den zweit-genannten 128 Staaten ratifiziert. Das sind mehr als zwei Drittel der gegenwärtig 185 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen.
Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte wiederholt im wesentlichen die bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthaltenen Rechte. Es sind die Freiheitsund Gleichheitsrechte, wie sie sich auch im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes finden, allerdings ohne den Schutz des Eigentums und ohne das Asylrecht. Insgesamt bleiben die beiden Menschenrechtspakte hinter dem zurück, was die Verfassungen freiheitlicher, demokratischer Rechts-staaten an Grundrechten nicht nur für ihre Bürger, sondern für alle in ihrem Geltensbereich lebenden Menschen verbürgen. Für jeden Signatarstaat, dessen Rechtsordnung dem Standard der Menschenrechtspakte nicht entspricht, begründet Art. 2 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte die Pflicht, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, „um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen“. Eine etwas schwächere Verpflichtung ist in dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthalten.
Bereits seit Januar 1947 ist eine Menschenrechts-kommission der Vereinten Nationen tätig, die durch einen Beschluß des Wirtschafts-und Sozial-rats vom 16. Dezember 1946 auf der Grundlage von Art. 61 der UNO-Charta ins, Leben gerufen worden ist. Diese Kommission sammelt seither Informationen und Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen aus aller Welt. Sie verfügt jedoch über keinerlei Befugnisse zum Eingreifen. Die Menschenrechtskommission kann auch Adhoc-Ausschüsse ernennen, deren Befugnisse jedoch nicht über die der Kommission hinausreichen. In vielen Fällen setzte die Menschenrechts-kommission auch Sonderberichterstatter und Arbeitsgruppen ein, wie z. B. im Jahre 1980 die Arbeitsgruppe über das erzwungene und unfreiwillige Verschwinden mißliebiger Personen, 1982 den Sonderberichterstatter über summarische und willkürliche Hinrichtungen, 1985 den Sonderberichterstatter über Folter und 1986 den Sonderberichterstatter über religiöse Intoleranz. Die Sonderberichterstatter prüfen Beschwerden und Hinweise, setzen sich mit dem beschuldigten Staat in Verbindung, werden in Einzelfällen vorstellig und berichten alljährlich über ihre Tätigkeit.
Die beiden Menschenrechtspakte stellen den Kern der dem Schutz der Menschenrechte gewidmeten Aktivitäten der Vereinten Nationen dar. Um ihn herum gruppieren sich rund zwei Dutzend Konventionen, die ebenfalls auf die Initiative der Vereinten Nationen zurückgehen und ganz überwiegend Neuerungen darstellen. Die meisten von ihnen sind von vielen Staaten ratifiziert worden, was als Erfolg der Vereinten Nationen verbucht werden kann. Bis zum Anfang des Jahres 1995 hatte die Konvention über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 die höchste Zahl von Vertrags-staaten (174) erreicht. An zweiter Stelle stand die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 (141), gefolgt von der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (135). Die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 hatte es bis dahin auf 122 Vertragsstaaten gebracht, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1988 auf 115.
Weitere Vertragswerke dieser Art sind die Konvention zur Unterdrückung des Menschenhandels und sklavereiähnlicher Praktiken vom 7. September 1956, die Konvention über die politischen Rechte der Frau vom 31. März 1953, die Anti-Apartheid-Konvention vom 30. November 1973 und die Konvention über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 23. September 1954. Aber es geht den Vereinten Nationen nicht nur um das Sammeln von Ratifikationsurkunden. Auch wird es längst nicht mehr als vordringlich angesehen, • neue Menschenrechtskonventionen zu entwerfen und zur Unterschrift aufzulegen, vielmehr geht es darum, die Basis für ein allgemeines Menschenrechtsverständnis zu schaffen und die Respektierung der Menschenrechte in allen Staaten der Erde durchzusetzen.
Das Engagement der Vereinten Nationen für die Menschenrechte hatte bereits im Jahre 1968 in einer ersten Weltkonferenz der Vereinten Nationen über Menschenrechte (Teheran) Ausdruck gefunden. Im September 1990 beschloß die Generalversammlung die Einberufung einer zweiten derartigen Konferenz, die vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien stattfand. Mehr als zweitausend Regierungsvertreter aus 171 Staaten nahmen an ihr teil; rund dreitausend Beobachter von mehr als 800 Nichtstaatlichen Internationalen Organisationen waren als Beobachter zugelassen. Die mehr als zweijährigen Beratungen des Vorbereitungskomitees in Genf hatten sich als so schwierig erwiesen, daß die Hoffnungen auf einen Erfolg der Wiener Menschenrechtskonferenz schon bei der Eröffnung fast auf den Nullpunkt gesunken waren. Die Hauptsorge galt der Gefahr der Relativierung der universellen Menschenrechte. Auf drei •• Regionaltreffen (in Tunis für Afrika, in Bangkok für Asien und in San Jose für Lateinamerika) war nämlich der Gedanke aufgetaucht, unter Verweis auf kulturelle Traditionen, geschichtliche Besonderheiten und religiöse Rahmenbedingungen jeweils regional unterschiedliche Menschenrechts-verständnisse gelten zu lassen. Die Diskussion über diese Problematik beherrschte die gesamte Konferenz, als deren Ergebnis schließlich am 25. Juni 1993 die „Wiener Deklaration“ zustandekam In ihrer Präambel wird die Universalität und wechselseitige Verbundenheit aller Menschenrechte bekräftigt.
V. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Die Schlußakte der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 besteht -neben der Präambel -aus einem Prinzipienkatalog und einem Aktionsprogramm. Der Prinzipienkatalog erklärt in seinem ersten Satz die Menschenrechte zum „Geburtsrecht aller Menschen“. Gleich an zweiter Stelle folgt die Aussage: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.“ Dieselbe Formulierung findet sich übereinstimmend in Art. 1 Satz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966. Die UNO-Charta erwähnt die Selbstbestimmung der Völker an zwei Stellen, nämlich in Art. 1 Ziffer 2 und in Art. 55. In den ersten Jahren nach Inkrafttreten der UNO-Charta hatte es unter Völkerrechtlern noch eine Meinungsverschiedenheit darüber gegeben, ob die Selbstbestimmung ein echtes Recht der Völker und Volksgruppen oder nur ein Grundsatz sei. Anlaß für die Unsicherheit waren die amtlichen Texte der UNO-Charta selbst. Im englischen Text heißt es „principle“, im französischen dagegen „droit“. Heute gehört dieser Streit der Vergangenheit an. Die Praxis der Vereinten Nationen -nicht nur in der Entkolonisierungsdekade der sechziger Jahre, in der Dutzende von Staaten der Dritten Welt ihre Unabhängigkeit unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker erlangten -hat bewiesen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein echtes völkerrechtliches Recht ist Ein im Aufträge des Generalsekretärs der Vereinten Nationen erstelltes Gutachten kam sogar zu dem Ergebnis, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens) gehört
Eine zwingende Völkerrechtsnorm ist aber auch, wie oben erwähnt, das Gewaltverbot. Wie soll das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen einen Staat durchgesetzt werden, der nicht bereit ist, die Verwirklichung dieses Rechts auf friedlichem Wege zu gestatten? Lange Zeit wurde in der Völkerrechtslehre darüber diskutiert, wie diese Konkurrenz zwischen zwei zwingenden Völker-rechtsnormen aufzulösen sei Erst die sogenannte Prinzipienerklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970 zeigte einen Ausweg aus dem Dilemma. Diese Resolution ist aus der Geschichte des Völkerrechts der Nachkriegszeit nicht mehr hinwegzudenken. Zwar hat auch sie -wie alle Resolutionen der General-versammlung -keine bindende Wirkung, aber sie gibt nach durchaus einhelliger Meinung diejenigen Grundsätze wieder, die im Völkerrecht der UNOÄra als allgemein akzeptiert gelten können. Ihr etwas umständlicher offizieller Titel ist daher durchaus angemessen: „Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen.“ Nicht zufällig entstand sie aus Überlegungen darüber, wie dem allgemeinen Gewaltverbot in der neuen Völkerrechtsordnung Rechnung getragen werden sollte *Fast 6 Jahre lang arbeitete ein Expertenausschuß an den Formulierungen der Prinzipiendeklaration. Der letzte der von ihr beschriebenen Grundsätze trägt die Überschrift „Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“.
Nach einer sorgfältigen Umschreibung des Inhalts des Selbstbestimmungsrechts und der mit ihm zusammenhängenden Rechte und Pflichten folgt der Satz: „Jeder Staat hat die Pflicht, jede Gewaltmaßnahme zu unterlassen, die den in der Erläuterung dieses Grundsatzes erwähnten Völkern ihr Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit entzieht. Bei ihren Maßnahmen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmaßnahmen im Bemühen um die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts sind diese Völker berechtigt, im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der ChartaUnterstützung zu erbitten und zu erhalten.“ Wer daraus schließen wollte, daß damit das allgemeine Gewaltverbot zugunsten der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts relativiert wird, befände sich im Irrtum. Die Hilfeleistung darf nur im Einklang mit den Grundsätzen der Charta erfolgen. Zu diesen Grundsätzen gehört das Gewaltverbot. Doch damit hat keineswegs jedes Gewaltregime eines Vielvölkerstaats einen Freibrief für die Unterdrückung von Völkern und Volksgruppen erhalten; denn die Prinzipienerklärung schützt ausdrücklich nur die territoriale Unversehrtheit solcher Staaten, „die sich in ihrem Verhalten von dem oben erwähnten Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker leiten lassen“. In letzter Konsequenz bedeutet das, daß die gewaltsame Verhinderung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eine Rechtssituation entstehen läßt, die derjenigen des Selbstverteidigungsrechts gemäß Art 51 der UNO-Charta -das an sich nur auf der zwischenstaatlichen Ebene gilt -ähnelt
VI. Eine neue Weltordnung?
Wie man sieht, hat das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur Politikern, sondern auch Völkerrechtlern Kopfzerbrechen bereitet. Rechtsdogmatisch sprengt es den Rahmen des klassischen Völkerrechts vollends. Es paßt nicht zur Definition des Völkerrechts als Recht der Staaten; denn es steht ja gerade nicht Staaten, sondern eben Völkern und Volksgruppen zu. Mit dieser rechts-dogmatischen Verortung fügt sich jedoch das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den großen Wandlungsprozeß ein, den das Völkerrecht im 20. Jahrhundert erlebt. Hier ist zu berücksichtigen, daß das Selbstbestimmungsrecht -wie seine Behandlung in den Menschenrechtspakten zeigt -ein Menschenrecht ist, allerdings ein Menschenrecht besonderer Art, nämlich ein sogenanntes Kollektivrecht. Es ist nicht das einzige Menschenrecht dieser Art; denn auch andere Menschenrechte wie die Religionsfreiheit weisen kollektive Aspekte auf. Mehrere große Wandlungstendenzen fließen daher zusammen, um das Völkerrecht von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Menschheit zu machen
Innerhalb des Bereichs der Menschenrechte ist die Entwicklung allerdings nicht geradlinig verlaufen. Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhren zunächst die Kollektivrechte starke Beachtung. Die Minderheitenschutzbestimmungen in den Friedensverträgen und einer relativ großen Zahl von Spezialvereinbarungen, insbesondere mit den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns, ließen ein rechtliches Regime entstehen, das die Völkerrechtler offenbar faszinierte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Lage völlig anders. Das Minderheitenrecht war infolge des Versagens des Völkerbunds, der das Minderheitenschutz-„System“ in seine Obhut genommen hatte, und infolge des Mißbrauchs, den totalitäre Regime mit ihm trieben, in Verruf geraten. Das Interesse wandte sich den individuellen Menschenrechten zu, wie dies dem Ursprung der Menschenrechtsidee in der westlichen Welt entspricht. Noch in der Mitte der fünfziger Jahre spöttelte ein amerikanischer Völkerrechtler: „Am Ende des Ersten Weltkriegs war der internationale Minderheitenschutz die große Mode. Heute trägt der modische Völkerrechtler Menschenrechte.“
Dieses Denken herrschte natürlich auch in den Gremien der Vereinten Nationen. Aber gerade die Vereinten Nationen waren es, die den Gruppen-schutz wieder ins Blickfeld rückten. Die UN-Menschenrechtskommission bildete eine Unterkommission zur Verhinderung der Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten. Im Aufträge der Generalversammlung erstellte sie nach jahrzehntelanger Vorbereitung einen umfangreichen Bericht, der nach seinem Autor „Capotorti-Bericht“ genannt wird Seine Veröffentlichung im Jahre 1979 war eine Sensation und führte zu einer echten Tendenzwende in der Völkerrechtsliteratur. Das Interesse wendete sich jetzt wieder den Kollektivrechten zu, und zwar auf einer völlig anderen Grundlage als in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, nämlich auf der Grundlage des universalen Menschenrechtsschutzes. Artikel 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte enthält einen ersten Ansatz für diesen neuartigen völkerrechtlichen Gruppenschutz. Es war und ist nicht leicht, diesen Ansatz zu vertiefen; denn das traditionelle Souveränitätsdenken in denMitgliedstaaten der Vereinten Nationen und die noch immer vorhandene Grundstruktur des Völkerrechts als Recht des Verkehrs der souveränen Staaten erzeugt Widerstände, die nur mit großer Behutsamkeit überwunden werden können. Immerhin aber verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 18. Dezember 1992 eine Resolution „Über die Rechte von Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten gehören.“
Noch in anderer Weise hat die Arbeit der Vereinten Nationen dazu beigetragen, das aus dem klassischen Völkerrecht überkommene Grund-muster der internationalen Beziehungen zu verändern. Hier ist in erster Linie an die sehr facettenreiche Tätigkeit ihrer zahlreichen Spezialorganisationen zu denken, die jeweils auf ihren satzungsmäßig begrenzten Arbeitsgebieten nicht nur die Entwicklung des Völkerrechts beeinflussen, sondern auch dazu beigetragen haben, daß die souveränen Staaten nicht mehr die alleinigen Akteure auf der Bühne der Weltpolitik sind.
Darüber hinaus haben sie aber durch ihre Praxis auch inhaltliche Veränderungen des Völkerrechts bewirkt, die den Prozeß der Umwandlung des Völkerrechts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußt haben. Ein Beispiel hierfür ist das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR). Seit 1951 übt es einen internationalen Schutz für eine in der Flüchtlings-konvention vom 28. Juli 1951 definierte Personengruppe aus, die rechtlich gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß ihre einzelnen Angehörigen keine juristische Bindung mehr zu einem souveränen Staat haben. Hier wird also tatsächlich ein internationaler Schutz über Einzelmenschen ausgeübt. Die These von der Mediatisierung des einzelnen durch „seinen“ Staat auf völkerrechtlicher Ebene ist dadurch praktisch widerlegt. Bei einer Gesamt zahl von gegenwärtig 17 Millionen in dieser Weise geschützten Einzelpersonen -die Gesamtzahl der in den 44 Jahren der Tätigkeit des UNHCR geschützten Personen liegt um ein Vielfaches höher -kann dieser internationale Schutz des einzelnen rechtsdogmatisch nicht mehr als bedeutungslose Ausnahme-oder Randerscheinung gedeutet werden
So spiegelt die Arbeit der Vereinten Nationen nicht nur den Wandel des Völkerrechts wider, sondern fördert ihn bewußt, lenkt und kanalisiert ihn. Die große Aufgabe ist und bleibt dabei die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in den unsicheren und gefährlichen Zeiten dieses Wandels. Welche Gratwanderungen die Vereinten Nationen dabei unternehmen müssen, zeigen die oben wiedergegebenen Formulierungen der Prinzipienerklärung von 1970. Die Brisanz der einzelnen Situationen in der Umbruchphase, in der sich das Völkerrecht seit Jahrzehnten befindet, wird dem Fernsehzuschauer fast täglich vor Augen geführt. Die schrecklichen Bilder vermitteln oft den Eindruck der Hilflosigkeit und Schwäche der Weltorganisation und reizen zu negativen Urteilen über sie. Die „juristischen Erfolge“ der Vereinten Nationen können über die politische, militärische und wirtschaftliche (finanzielle) Schwäche der Vereinten Nationen nicht hinwegtäuschen. Der Hinweis auf sie soll auch keinen billigen Zweckoptimismus erzeugen. Aber es wäre ungerecht und unrealistisch, wollte man sie verschweigen. Das Ausmaß an juristischer Kleinarbeit, die im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Spezial-organisationen in den vergangenen 50 Jahren geleistet worden ist, verlangt Anerkennung und verpflichtet zu Dank. Die Vereinten Nationen haben ihre Aufgabe, das Völkerrecht im Geiste der UNO-Charta -d. h. im Geiste des Friedens und der Menschlichkeit -fortzuentwickeln, ernstgenommen. Freilich bleibt es eine permanente Aufgabe. Niemals wird man sie als erfüllt betrachten können. Aber das, was die Vereinten Nationen auf dem Gebiete des Völkerrechts in der welthistorisch relativ kurzen Zeit von 50 Jahren geleistet haben, ist eindrucksvoll.