I. Vorbemerkungen
In der Öffentlichkeit werden die Vertreter der ostdeutschen Bürgerbewegungen nicht selten als Verlierer der Wende dargestellt, die sich angesichts des dramatischen Niedergangs ihrer Bewegung resigniert in die Schmollecke zurückgezogen haben und bis heute ihren illusionären Vorstellungen von einem dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus anhängen. In den Jahren seit der Wiedervereinigung vollzogen sich innerhalb der Bürger-bewegungen und alternativen Gruppierungen Ostdeutschlands jedoch gravierende Wandlungsprozesse, in deren Ergebnis es zu einer starken Differenzierung in den politischen Haltungen ihrer Vertreterinnen und Vertreter gekommen ist. Natürlich halten manche von ihnen nach wie vor an alten Idealen -an den Ideen von einer gerechten, solidarischen und egalitären Gesellschaft -fest und haben, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten -und sie treten oft auf -, nichts anderes zu tun, als uns ihre Unzufriedenheit mit dem Rechtsstaat, der parlamentarischen Demokratie oder der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mitzuteilen. Die Mehrheit der Bürgerrechtler -und ihre Vertreter kommen in der Öffentlichkeit nicht so oft zu Wort -bejaht aber längst die parlamentarische Demokratie, auch wenn sie ihre Ideale nicht vergessen hat und manches an dieser Demokratie für verbesserungswürdig hält. Andere kritisieren inzwischen sogar das moralisierende Politikverständnis von einigen ihrer einstigen Mitstreiter und sind mittlerweile zu kämpferischen Verfechtern der Parteien-demokratie geworden.
Freilich fiel den Vertretern der Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen die Umstellung auf die neuen Gesellschaftsverhältnisse so schwer wie wohl kaum einer zweiten Gruppe von DDR-Bürgern, ausgenommen vielleicht die regimetreuen Aktivisten. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens: Mit der Vereinigung ist den Bürgerrechtlern der Gegenstand ihrer politischen Aktivitäten abhanden gekommen: die DDR. Sie wollten die DDR ja nicht abschaffen, sondern reformieren.
Genauso wie die Funktionsträger des Systems hatten sie die DDR zu ihrem Lebensthema gemacht und mußten nach deren Untergang wie diese mit ihrem Verlust fertigwerden. Politische Ziele, für deren Realisierung sie sich jahrelang eingesetzt hatten, waren mit einem Schlage erfüllt. Damit verloren sie nicht nur ihre politische Funktion, sondern auch ihre politische Ausnahmestellung. Zweitens: Die Öffnung der Berliner Mauer und der einsetzende Vereinigungsprozeß bedeuteten für alle ostdeutschen Akteure eine Einschränkung ihrer zuvor gewonnenen Handlungsmöglichkeiten. Angesichts ihres seit Jahren gegen die Bevormundungsversuche des DDR-Systems behaupteten Selbstbestimmungsanspruches waren die Bürger-bewegungen von der im Vereinigungsprozeß einsetzenden Eigendynamik besonders stark betroffen. Viele von ihnen rieben sich daran, daß dieser Prozeß über ihre Köpfe hinwegging und eine andere als die von ihnen intendierte Richtung nahm.
Trotz dieser Umstellungsprobleme ist es in den Bürgerbewegungen und Bürgerinitiativen inzwischen jedoch zu solch gravierenden Veränderungen gekommen, daß das in den Medien kolportierte Bild von der kleinen verzweifelten Schar der Wendeverlierer nicht länger aufrechterhalten werden kann. Diese Veränderungen will ich im folgenden darstellen. In einem ersten Abschnitt werde ich die , objektiven Wandlungen der Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen behandeln: die Veränderungen ihrer Organisationsstruktur, ihrer Pro-grammatik und Mobilisierungsfähigkeit. Bei der Beschreibung der Wandlungsprozesse scheint es sinnvoll, eine Phasenaufteilung vorzunehmen In einem zweiten Abschnitt will ich mich mit den , subjektiven'Wandlungen, den Einstellungsveränderungen der Mitglieder der Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen, beschäftigen. Als empirisches Material dienen mir die Ergebnisse einer Befra-gung, die ich Anfang 1990 mit einigen Studenten bei 31 einstmals führenden Vertretern der politisch alternativen Gruppen in Ostberlin und Leipzig durchführte und nach zwei und fünf Jahren bei denselben Interviewpartnern wiederholte. Bei den beiden ersten Befragungen handelt es sich um Leitfadeninterviews von einer Dauer zwischen 45 und 90 Minuten, bei der letzten um Befragungen von 10 bis 20 Minuten. Außerdem stütze ich mich auf einige Interviews mit Experten aus dem Verwaltungsbereich, die Ende 1993 und Mitte 1995 in Leipzig stattfanden
II. , Objektive 4 Veränderungen
1. Die Phase der Informalität
Bis zum Sommer 1989 bewegten sich die politisch alternativen Friedens-, Umwelt-und Menschenrechtsgruppen in der DDR in einem Raum außerhalb des offiziellen Systems: im informellen Bereich. Da sie als sozialismusfeindliche Kräfte politisch stigmatisiert waren, war Unterstrukturierung eine wichtige Bedingung für ihr politisches Überleben. Die andere bestand darin, daß ihnen die evangelische Kirche rechtlichen Schutz und gesicherte Artikulationsmöglichkeiten bot. Auch wenn die Gruppierungen nur schwach strukturiert waren, fehlten Funktionsaufteilungen, Hierarchien, Vernetzungen indes nicht vollständig. Es gab Sprecher und Führungspersonen, auch Füh rungsgruppen, etwa die Umwelt-Bibliothek oder die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Manche Gruppen waren regional (wie in Leipzig im K? rchenbezirkssynodalausschuß), manche nach thematischen Gesichtspunkten überregional zusammengefaßt (arche, INKOTA). In den achtziger Jahren trafen sich die Delegierten der Gruppen aus dem ganzen Land jährlich zum Seminar „Frieden konkret“. Als im Februar 1989 bei einer dieser Zusammenkünfte die Schaffung einer DDR-weiten Sammlungsbewegung vorgeschlagen wurde, lehnten die Delegierten freilich ab. Sie wollten nicht nur unterhalb der Konfrontationsschwelle mit dem Staat bleiben, sondern auch ihre Autonomie gegenüber den jeweils anderen Gruppierungen bewahren. Ihnen ging es darum, in ihrer Gruppenpraxis jetzt bereits vorwegzunehmen, was sie für die Gesellschaft als Ganzes anstrebten: ein autonomes, solidarisches, egalitäres, auf Verständigung angelegtes Leben. Insofern kann man sagen, daß sich ihr politisches Engagement aus einer vorpolitischen, stark gemeinschaftlich geprägten Einstellung speiste.
Obwohl sich die Gruppen immer wieder um Herstellung von Öffentlichkeit bemühten, war ihre Mobilisierungsfähigkeit äußerst gering. Kontakte zu ihnen bedeuteten das sichere gesellschaftliche , Aus‘. Das Verhältnis der Bevölkerung zu den Gruppen war daher durch Abwehr, Angst und Unsicherheit charakterisiert. Die Gründe für diese Distanz lagen aber nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der soziokulturellen Ebene: In einer Bevölkerung, deren Verhalten auf Unauffälligkeit und auf die Einhaltung kleinbürgerlicher Normalitätsstandards gestimmt war, stießen die Gruppen auch wegen ihres exzentrischen Selbstdarstellungsstiles auf Ablehnung. Allerdings vermochten sie gerade durch ihre spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit zu erzielen. Aufgrund der Homogenität der offiziellen politischen Kultur fiel ihnen die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit sogar besonders leicht. Es genügte, sich mit Kerzen vor eine Kirche zu stellen oder ein Plakat zu entrollen, um zu erreichen, daß die Polizei eingriff und die Westmedien darüber berichteten.
2. Formierungsphase
Mit der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze Anfang September 1989 und der damit gegebenen Abwanderungsmöglichkeit kam es zur Abwanderung der Gruppen aus der Kirche und zur Entstehung von Bürgerbewegungen (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch usw.). Spontan schlossen sich Hunderte und Tausende dem Neuen Forum als der zuerst gegrün deten Oppositionsgruppierung an. Wie Lothar Probst für Rostock und Peter Unterberg für Leipzig anschaulich gezeigt haben waren die Initiatoren des Neuen Forums durch den Massenzulauf von Anfang an organisatorisch überfordert. Sie riefen zur Bildung von Stadtteil-, Betriebs-und Themengruppen auf, konnten die Arbeit dieser Gruppen aber nicht koordinieren. Vielmehr mußten sie die verschiedenen Initiativen weitgehend sich selbst überlassen.
Worauf es den Bürgerbewegungen im Herbst 1989 ankam, das war die Herstellung von Öffentlichkeit, Demokratie und Pluralismus. Sie definierten ihr Programm als demokratisch, ökologisch und sozial. Ökonomische Überlegungen spielten bei der Mehrheit der Bürgerbewegungen kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildete lediglich die SDP, die von Anfang an eine soziale Marktwirtschaft anstrebte. Mit dieser Unterbewertung ökonomischer Aspekte im Prozeß des Umbaus der Gesellschaft war ein Konflikt vorgezeichnet, der in der Folgezeit das Schicksal der Bürgerbewegungen nachhaltig beeinflussen sollte: der Konflikt mit den ökonomischen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung.
Im Herbst 1989 indes war die Kluft zwischen Bürgerrechtlem und Bevölkerung öffentlich noch nicht erkennbar. Die Bürgerrechtler galten als die Führer der Massenbewegung. Dabei ist freilich zu beachten, daß die politisch alternativen Gruppen und die aus ihnen entstandenen Bürgerbewegungen die Massendemonstrationen weder vorbereitet noch organisiert, noch zu ihnen aufgerufen haben. Teilweise lehnten sie die Verantwortung für die Massenproteste sogar ausdrücklich ab Nicht die Bürgerbewegungen waren die Initiatoren der Massenbewegung, sondern umgekehrt: Die Bürgerbewegungen, voran das Neue Forum, wurden von den Massen an die Spitze der Bewegung geschoben und zum Symbol des Widerstandes erhoben. Die Massenbewegung dagegen bildete sich spontan Der entscheidende Grund für ihr Aufkommen lag darin, daß aufgrund der im Sommer 1989 einsetzenden Abwanderungsflut über Ungarn die Krise des Systems für jeden offenbar wurde und angesichts der Einseitigkeit der politischen Machtverteilung niemand anders für diese Krise verantwortlich gemacht werden konnte als die Spitze des Sy stems. Diese klare Zurechnungsmöglichkeit hatte einen zusammenschließenden Effekt von Massen-bewegung und Bürgerbewegung. Die Massenbewegung lagerte sich an die Oppositionsgruppierungen an, da diese als Kritiker des Systems bekannt waren. Diese, so notwendig sie als Kristallisationskerne des Protestes waren, brachten jene aber nicht hervor. Deshalb ist die Frage von Karl-Werner Brand, wie „aus den dünnen Rinnsalen einer bespitzelten, drangsalierten, in Nischen abgedrängten oppositionellen Szene in kürzester Zeit ein reißender Strom demokratischer Massenbewegungen werden“ konnte, falsch gestellt. Es wurde nicht aus einem dünnen Rinnsal ein reißender Strom, sondern der reißende Strom, der aufgrund des Überdrucks im System und der plötzlich gegebenen „exit-Option“ den durch Partei, Staatssicherheit und Polizei aufgerichteten Damm zum Bersten brachte, riß das dünne Rinnsal mit sich mit und trennte sich von ihm wieder, als offensichtlich wurde, daß die Ströme in verschiedene Richtungen flössen
3. Die Phase der Differenzierung und Marginalisierung
Diese Phase setzte nach dem Fall der Berliner Mauer ein und reichte bis zu den Volkskammer-wahlen im März 1990. Unter dem Eindruck der offenen Grenzen zwischen Ost und West und der damit in greifbare Nähe gerückten Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands begannen sich die Bürgerbewegungen ab November 1989 organisationsstrukturell und programmatisch zu differenzieren. Einige Unterschiede sowohl in programmatischer als auch in personeller Hinsicht bestanden freilich auch schon vorher. Der Demokratische Aufbruch, die SDP, die Grüne Partei und die Forumpartei erlangten Parteienstatus; große Teile des Neuen Forums, die Initiative Frieden und Menschenrechte, Demokratie Jetzt und andere vermieden die Parteiwerdung. Mit diesen organisationsstrukturellen Differenzierungsprozessen gingen enorme Mitgliederverluste und Wanderungsbewegungen einher. Gewinner waren vor allem die SDP, die CDU und die F D P.; insbesondere das Neue Forum mußte dagegen herbe Verluste hinnehmen. Trotz der Mitgliederverluste und des schon wenige Wochen nach der Maueröffnung einsetzenden Verfalls der Sympathie für die Bürgerbewegungen konnten diese mit der Installierung des Runden Tisches Anfang Dezember 1989 ihren bedeutsamsten politischen Erfolg gegenüber der SED erringen. Der Zentrale Runde Tisch entwickelte sich bald zu einer Kontrollinstanz gegenüber der noch bestehenden SED-Regierung. Zur Übernahme der Regierungsverantwortung waren die Bürgerbewegungen jedoch nicht bereit. Daran hinderte sie, ganz gleich, ob diese Übernahme überhaupt möglich gewesen wäre oder nicht, ihr gestörtes Verhältnis zur politischen Macht.
Die Diskussionen in den Bürgerbewegungen befaßten sich in der Zeit von November 1989 bis März 1990 vor allem mit zwei Problemkreisen: einmal mit der organisationsstrukturellen Frage nach ihrer Parteiwerdung, zum andern mit der Frage der deutschen Einheit. Vielen Anhängern des Neuen Forums schwebte eine Politik unter direkter Beteiligung der Betroffenen vor. Die Anhänger einer solchen Politik von unten vertraten ein harmonistisches Politikkonzept und verstanden Politik vor allem als eine Form der Diskussion zur Erreichung eines breiten Konsenses. In diesem auf intermediäre Organisationen und Funktionsaufteilung verzichtenden Politikverständnis sahen sie sich durch die unmittelbar zuvor gemachten Wende-Erfahrungen bestärkt So wie damals sollte Politik von den engagierten Bürgern selbst gestaltet werden, nicht von den -wie sie meinten -vor allem auf die Durchsetzung ihrer Eigeninteressen bedachten Parteien. Andere hielten dieses Politikverständnis für unrealistisch, wandten sich gegen Experimente und plädierten für die Übernahme der parlamentarischen Demokratie, die sich im Westen Deutschlands bewährt habe.
In der nationalen Frage entstand aufgrund der Äußerungen einiger Prominenter, allen voran Bärbel Bohley, das Bild, als seien die Bürgerbewegungen mehrheitlich für die Bewahrung der Zweistaatlichkeit Deutschlands. Die Vereinigungsgegner kriti-sierten vor allem die Marktwirtschaft, die sie als Ellenbogengesellschaft bezeichneten, und den Konsumismus der Bevölkerung. Was sie befürchteten, war eine ausschließliche Orientierung auf Lebensstandardverbesserung und eine Zurückdrängung der Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Problemen. Nach und nach setzten sich in den Bürgerbewegungen jedoch die Befürworter der Einheit durch Man dürfe nicht den Willen des Volkes diskreditieren und sich über das Volk stellen. Einig waren sich die Bürgerbewegungen in dem Ziel, die immer wieder neu formulierten Machtansprüche der SED-PDS zurückzudrängen. Die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber dieser neu gewandeten Partei einte die Bürgerbewegungen, wie ihr Zusammenschluß zum „Wahlbündnis 90“ am 3. Januar 1990 zeigte, das sie eingingen, um die bisher regierenden politischen Kräfte abzulösen.
Trotz des Mitgliederschwundes und des Sympathie-verlustes vermochten die Bürgerbewegungen bis ins Frühjahr 1990 hinein, Massen zu mobilisieren. Das Neue Forum lud zu Bürgerversammlungen, Dialog-Veranstaltungen, thematischen Foren ein, und die Bürger kamen zu Tausenden. Auf Druck der Bürgerinitiativen wurde in Leipzig Anfang 1990 ein Abrißstop in den Altbau-und ein Baustop in den innerstädtischen Neubaugebieten erreicht. Im März 1990 trat der Oberbürgermeister von Rostock nach einer Demonstration von 10 000 Bürgern, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte, zurück. Demonstrationen, Runde Tische und andere Formen direkter Demokratie erwiesen sich in dieser Zeit noch als wirkungsvolle Instrumente der Politikgestaltung. Tatsächlich aber war die Marginalisierung der Bürgerbewegungen bereits zu diesem Zeitpunkt weit vorangeschritten. Die Gründe dafür lagen in der Zurückhaltung der Bürgerbewegungen gegenüber einer schnellen Vereinigung Deutschlands und in ihrer Geringschätzung ökonomischer Interessen. Eine Rolle spielten aber auch ihre Zerstrittenheit und ihr moralisierender Politikstil. Nach 40 Jahren SED-Herrschaft wollten die Bürger offenbar nicht schon wieder eine ideologisch aufgeladene Politik unterstützen. Schließlich waren die auf die Reformierung des DDR-Sozialismus zielenden Programme der Bürgerbewegungen aufgrund der Maueröffnung schlichtweg obsolet geworden. Nach dem Fall der Mauer liefen die Bürger-bewegungen, wie die Interviewpartner zu Protokoll gaben, den Ereignissen nur noch hinterher. 4. Die Phase der Institutionalisierung, Spezialisierung und Demobilisierung
Mit diesen drei Stichworten lassen sich die Entwicklungstendenzen seit den Volkskammerwahlen vom März 1990 bis heute zusammenfassen. Durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Oktober 1990 erhielt diese Phase eine weitere deutliche Zäsur; und seit 1993 vollziehen sich noch einmal beachtliche Umstrukturierungsprozesse. Über beide Zäsuren hinweg setzten sich die benannten Entwicklungstendenzen jedoch fort.
Nach der ersten demokratischen Wahl in Ostdeutschland im März 1990 verstärkte sich die schon vorher einsetzende Tendenz zur Institutionalisierung der Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen. Das Modell der direkten Politikgestaltung durch Runde Tische und Demonstrationen lief aus. Mit ihnen war auf die politische Willensbildung immer weniger Einfluß zu nehmen. Nun gab es demokratisch gewählte Institutionen, die die unterschiedlichen politischen Optionen durch den Anteil ihrer Wählerschaft repräsentierten. Bündnis 90 war in der Volkskammer vertreten und zog später aufgrund des Ausnahmegesetzes auch in den Bundestag ein. Es hatte bis 1994 Vertreter in allen ostdeutschen Landtagen, außer dem Mecklenburg-Vorpommerns, in dem das Wahlbündnis zwischen Neuem Forum, Bündnis 90 und den Grünen nicht zustande kam. Darüber hinaus war es auf kommunalpolitischer Ebene vertreten, so zum Beispiel in den Stadtparlamenten von Rostock, Potsdam und Leipzig In Leipzig ist bis heute ein beachtlicher Teil der Ämter in der Stadtverwaltung mit Leuten besetzt, die aus der Bürger-bewegung kommen. Aufgrund des anhaltenden Mitgliederverlustes im Jahr 1990 hatte die Parlamentarisierung der Bürgerbewegungen eine Ausdünnung an der Basis zur Folge. Während die Massenbasis der Bürgerbewegungen zerfiel, setzte jedoch eine Gründungswelle von kleinen Projekt-gruppen und Bürgerinitiativen ein, die sich mit den unterschiedlichsten Themen beschäftigten.
Aufgrund der Einführung bundesdeutschen Rechts im Herbst 1990 wurden aus diesen Projekt-gruppen bald Vereine, denn das bundesdeutsche Recht erlaubte diesen Gruppen, sofern sie sich als Vereine konstituierten, die Einrichtung von Stellen im Rahmen des Arbeitsbeschaffungspro-11 grammes der Bundesanstalt für Arbeit. Da an ABM-Stellen infolge der steigenden Arbeitslosigkeit ein großer Bedarf bestand und die Vergabe großzügig gewährt wurde, schnellte die Zahl der Vereinsgründungen 1990/91 in die Höhe. Das bedeutete, daß nicht mehr nur politisch hoch-motivierte Vertreter der Bürgerbewegung in den Initiativen und Vereinen arbeiteten, sondern auch Angestellte, die vorher mit den Themen der Bürgerbewegung relativ wenig zu tun hatten. Weiterhin war mit der massenhaften Einrichtung von ABM-Stellen eine Verschiebung des Schwerpunktes von der ehrenamtlichen zur hauptamtlichen Tätigkeit verbunden. Die Bewilligung staatlicher Gelder ist daran gebunden, daß sich die Vereine ein Statut geben, daß sie ihre Gemeinnützigkeit nachweisen. Außerdem sind die Vereine nur über-lebensfähig, wenn ihre Vertreter die Förderstrukturen kennen und zu einer wirtschaftlichen Rechnungsführung in der Lage sind. Insofern förderte die Einführung des bundesdeutschen Rechts die Institutionalisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung der Vereinsarbeit in Ostdeutschland. Mit der Institutionalisierung der Bürgerinitiativen und Vereine vollzog sich eine deutlich wahrnehmbare Spezifikation der von ihnen behandelten Themen. Dominierten im Frühjahr 1990 noch Themen wie Reform des Bildungswesens, Entmilitarisierung der Gesellschaft oder Entwurf einer neuen Verfassung, so ging es bald nur noch um die Realisierung konkreter Projekte. Inzwischen wird ein weites Themenspektrum in den Gruppen behandelt. Es gibt Umweltvereine, Frauengruppen, Stadtteilinitiativen, Vereine für Sozialarbeit, Bildungsvereine, kulturelle Projekte, Arbeitslosen-initiativen usw. So gut wie alle sozialen Problem-felder sind erfaßt. Die Bürgerinitiativen nehmen insofern kompensatorische Funktionen wahr und bearbeiten Defizite in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Bis auf Ausnahmen sind sie nicht damit beschäftigt, eine lokale Gegenpolitik zu betreiben. Schon gar nicht verfolgen sie Konzeptionen des Systemwechsels. Vielmehr verstehen die meisten ihre Arbeit als komplementär zu den von Staat und Wirtschaft erbrachten Leistungen.
Die Übertragung des westlichen Rechtssystems auf Ostdeutschland hatte auch Auswirkungen auf die Parteiwerdung von Bündnis 90. Sie wurde dadurch beschleunigt, daß die gesetzlichen Bestimmungen die Freigabe finanzieller Fördermittel an den Parteienstatus binden. Die Gründung der Partei Bündnis 90 erfolgte im September 1991. Die Fusionierung mit den Grünen im Westen war ebenfalls vor allem durch äußere Umstände bedingt. Hinter der Vereinigung standen in erster Linie wahltaktische Überlegungen, erst in zweiter Linie Überein-stimmungen im Programm. Die Vertreter von Bündnis 90 und von den Grünen meinten, daß sie nur gemeinsam eine Chance hätten, die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen. „Das wahlarithmetische Motiv ist das vordergründigste, aber auch das zwingendste.“
Am Ende dieses Institutionalisierungsprozesses der ostdeutschen Bürgerbewegungen stehen sich mehrere Organisationsformen gegenüber: zunächst die Partei Bündnis 90/Die Grünen und eine Vielzahl von lokalen Projektgruppen, Initiativen und Vereinen. Daneben gibt es noch Reste des Neuen Forums, der Initiative Frieden und Menschenrechte und der Vereinigten Linken, die politisch den Anschluß verloren haben und gesellschaftlich kaum ins Gewicht fallen. Von ihnen zu unterscheiden sind als vierte Organisationsform einige überregionale Gruppierungen wie die Grüne Liga oder der Unabhängige Frauenverband, die als Verbände deutschlandweit anerkannt sind und professionell arbeiten. Schließlich existieren auch noch einige kirchliche Basisgruppen. Die meisten Alternativgruppen der Vorwendezeit haben sich inzwischen freilich aufgelöst. Diejenigen, die noch existieren, bestehen zum Teil nur noch aus wenigen Mitgliedern und arbeiten großenteils diskontinuierlich. Auch noch in den letzten drei Jahren mußten, wie die Interviewten berichteten, einige von ihnen die Arbeit einstellen. Viele ehemalige Mitglieder der kirchlichen Basisgruppen betätigen sich politisch jetzt in anderen Vereinigungen, vor allem in Parteien und Vereinen, einige haben sich ganz aus der politischen Arbeit zurückgezogen und konzentrieren sich nur noch auf ihre berufliche Tätigkeit
Religion und Politik sind in der modernen Gesellschaft funktional differenziert. Ihre Verbindung im Realsozialismus war ein Reflex auf die Überpolitisierung der Gesellschaft. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß sich mit der Entflechtung von Religion und Politik das Phänomen der kirchlich engagierten, politisch alternativen Basisgruppen umgeformt und teilweise sogar aufgelöst hat. Allerdings treffen sich, wie unsere Befragungen ergaben, nicht wenige der ehemaligen Gruppen-mitglieder hin und wieder privat. Politisch und beruflich sind sie zumeist in andere Zusammenhänge eingebunden, auf einer informellen Ebene scheint das alte subkulturell-alternative Milieu in lockerer Form aber partiell erhalten geblieben zu sein.
Seit 1993 läßt sich im Bereich der Bürgerinitiativen und Vereine ein Prozeß der quantitativen Reduktion und -damit verbunden -der Stabilisierung beobachten. Die Zahl der Neugründungen ist rückläufig. Vereine mit einem aufgeblähten Bestand an hauptamtlichen Mitarbeitern konnten sich teilweise nicht halten, andere haben ihren Personalbestand verschlankt, nicht selten fand eine Rückverlagerung der Aktivitäten auf das ehrenamtliche Engagement statt. Der Grund für diese Umstrukturierungsprozesse liegt darin, daß die ABM-Stellen, sofern nicht für eine Festanstellung gesorgt werden kann, nach zwei Jahren auslaufen und zudem die Finanzierungsleistungen der Bundesanstalt für Arbeit gesunken sind. Die Mobilisierungsfähigkeit der Bürgerbewegungen und -initiativen nahm seit 1990 rapide ab. Nur noch mit vergangenheitsbezogenen Themen, insbesondere bei Fragen des Umgangs mit der Stasi-Vergangenheit, vermochten sie gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Hinsichtlich anderer Themen -Demokratisierung, Menschenrechte, Umwelt -ist ihnen das Deutungsmonopol genommen. Als im Frühjahr 1991 die Leipziger Montags-demonstrationen wieder aufflackerten, war für alle Beteiligten schon nach kurzer Zeit klar, daß sich auf diese Weise politischer Einfluß nicht mehr ausüben ließ. Schon nach drei Wochen brach der Protestzyklus zusammen. Der Montagsdemonstration im Frühjahr 1993, zu der das Bündnis 90 unter dem Motto „Uns reichts“ aufgerufen hatte, war ebenfalls kein Erfolg beschieden. Am ehesten sind die neuen Bundesbürger zu gewinnen, wenn es um ihre unmittelbaren Belange geht: um Straßen-sanierung, um die Grünfläche vor der Haustür oder die Infrastruktur des Stadtteils. Die Mehrheit der Ostdeutschen ist um die Sicherung ihrer privaten Existenz besorgt; überindividuelle Ziele stehen nicht im Zentrum ihres Interesses. 5. Zusammenfassung
Alle Einschnitte in der Entwicklung der Bürgerbewegungen und -initiativen waren durch äußere Einflüsse bedingt. Ob man an die Massenmobilisierung im Herbst 1989, die ohne die „exit“ -Möglichkeit nicht zustande gekommen wäre, an die Differenzierungs-und Marginalisierungsprozesse seit November 1989, die unmittelbar durch die Öffnung der Grenze ausgelöst wurden, oder an die Institutionalisierungsprozesse nach dem März 1990 im Gefolge der Parlamentarisierung der Bürgerbewegungen denkt, immer waren es Außenfaktoren, die eine neue Phase in der Entwicklung des „Bewegungssektors“ einleiteten. Die Umbildung der Initiativen zu Vereinen war ebenso rechtlich bedingt wie die Konstitution von Bündnis 90 zur Partei. Die Massenmobilisierung kam im Oktober 1989 zustande, ohne daß sie von den Basisgruppen initiiert worden wäre, und sie ging nach der Maueröffnung wieder zurück, ohne daß die Bürgerbewegungen diesen Prozeß hätten aufhalten können. Offenbar sind die Bewegungen des „Bewegungssektors“ in hohem Maße von den rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontextbedingungen abhängig.
III. Einstellungswandlungen
Die Frage nach den Einstellungswandlungen bei den Vertretern der politisch alternativen Gruppen untersuche ich an Hand eines Vergleichs charakteristischer politischer Haltungen vor der Wende mit solchen nach der Wende. Dabei lege ich die Vergleichsuntersuchungen von 1990, 1992 und 1995 zugrunde, in denen unter anderem auch nach Motiven, Zielen und Formen des politischen Engagements in der DDR gefragt wurde.
1. Der Wandel der Handlungsziele: kollektive oder private Orientierung
Vor der Wende waren die Handlungsziele der Gruppenmitglieder eindeutig kollektiv verfaßt. Allen von uns Befragten ging es um die Veränderung der Gesellschaft. Kollektive Ziele und individuelle Ziele bildeten keinen Gegensatz. Charakteristisch war vielmehr, daß die Gruppenmitglieder ihre individuellen Handlungsvollzüge stark an ihren politischen Zielen ausrichteten. Manche gingen in ihrem politischen Engagement so weit, daß sie ihr ganzes privates Leben in den Dienst der angestrebten gesellschaftlichen Veränderung stellten. So sagte K. W., vor der Wende Mitglied des Arbeitskreises Gerechtigkeit in Leipzig, über ihre politische Arbeit in der Gruppe: „Damals habe ich dafür gelebt, letzten Endes.“ Damals habe sie diese Arbeit „völlig ausgefüllt“.
Nach der Wende traten private und kollektive Orientierung auseinander. Die meisten gesellschaftlichen Probleme, die früher zum politischen Engagement gedrängt hatten, bestanden nicht mehr. Viele Gruppenmitglieder konzentrierten sich daher schon bald nach der Wende vorrangig auf den privaten Bereich, ohne allerdings ihre kollektiven Wertorientierungen und die Aussicht auf eine zukünftige politische Betätigung völlig aufzugeben. Auf die Frage, was gegenwärtig im Zentrum seiner Aktivitäten stehe, antwortete 1992 E. D., einer der Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig: „Ich habe mich jetzt konkret, jetzt erstmal auf meinen beruflichen und familiären Bereich zurückgezogen. Ich schreib’ jetzt meine Doktorarbeit und versuche, dort für mich auch anhand des Themas, was also ein DDR-Geschichtsthema ist, Aufarbeitung zu betreiben.“ Nach Abschluß seiner Dissertation wolle er wieder in einer Bürgerbewegung politisch aktiv werden. J. F., ehemals Mitglied in der Arbeitsgruppe Menschenrechte, Leipzig, antwortete 1992 auf dieselbe Frage: „Im Moment bin ich irgendwie ziemlich sehr mit mir beschäftigt, was ich mal in Zukunft mache, ob ich weiter als Krankenpfleger arbeite oder ob ich mal anfange zu studieren oder wie auch immer.“ Politisch aktiv sei er nicht mehr. Er möchte eine Sache, die er anfängt, „gerne richtig machen“. „Mich so halb reinstürzen, das mag ich einfach nicht noch mal.“
Damit ist deutlich benannt, worin das Problem besteht: Die Politik ist ein ernsthaftes Geschäft, das Zeit kostet und Einarbeitung erfordert. Wer es betreiben will, muß es zu seinem Beruf machen. Einige sind diesen Weg in die Politik gegangen. Sie können ihre berufliche und ihre politische Orientierung miteinander verbinden und gewinnen daraus große innere Befriedigung. Für diejenigen, die die Politik nicht zu ihrem Beruf gemacht haben, stellt die Verbindung ihrer individuellen und ihrer gesellschaftlichen Interessen nicht selten jedoch ein Problem dar. K. W. leidet darunter, daß sie nicht mehr wie früher Politik und Leben miteinander verbinden kann. Sie sagte, sie sei enttäuscht, weil sie in ihrer jetzigen sozialen Position die großen politischen Schritte nicht gehen könne. Früher hätte jede Handlung eine politische Bedeutung gehabt, jetzt sei das, was man persönlich tun könne, gesellschaftlich irrelevant. H. W., einst führendes Mitglied des Arbeitskreises Solidarische Kirche, später in „Demokratie Jetzt“, hat ein schlechtes Gewissen, weil er politisch so wenig aktiv ist. Er weiß, daß er die Emotionen aus der Politik nicht heraushalten kann, und ist deshalb froh, daß er nicht in die Politik gegangen ist. Aber er fügt sofort hinzu: „Also, ich bin nicht glücklich darüber, muß ich sagen. Wenn du jetzt mein politisches Gefühl hören willst, ich fühle mich keineswegs glücklich, was hier abläuft und auch meine Position dabei, weil ich weiß, ich müßte viel mehr machen.“ Dann aber bezeichnet er seine berufliche Arbeit als Pfarrer selber als politisch. Das heißt, er löst das Problem, indem er seine Berufs-arbeit umdefiniert. Auf die Frage, welchen Stellenwert sein politisches Engagement für ihn augenblicklich habe, gibt er zur Antwort: „Da ich mich in jeder Beziehung als politisches Wesen fühle, würde ich das jetzt nicht herauslösen. Ich weiß, also alles, was ich mache, ist irgendwo politisch.“
Eine ähnliche Umdefinitionsstrategie finden wir bei einem früheren Mitarbeiter der Umweltbibliothek Berlin, bei M. S., der 1992 als Verkäufer in einem Computerladen arbeitete, gleichzeitig politische Zeitschriften auslegte und dies bereits als „Politik“ bezeichnete. E. D. löste das Problem, wie wir sahen, indem er es in die zeitliche Ebene verschob: Wenn er sich auch jetzt politisch nicht engagiere, werde er sich an der Arbeit der Bürger-bewegungen wieder beteiligen, sobald er seine Dissertation beendet habe. Die Abstinenz von der Politik löst offenbar einen inneren Konflikt aus, der irgendwie verarbeitet werden muß. W. F., ein Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte, erkennt, wie er in seinem Interview von 1992 sagte, sehr genau die „phantastischen Möglichkeiten“, die man hat, wenn man ein politisches Amt bekleidet. Er sieht auch „mit Bewunderung, wie sich sehr viele Leute, die damals schon gut waren, eingebunden haben als Abgeordnete, als Minister vom Bündnis 90.“ Er selbst aber ist noch nicht einmal Mitglied von Bündnis 90. „Ich habe es noch nicht geschafft, den Zettel abzuschicken.“
Man müßte sich entscheiden, ob man ganz in die Politik geht oder sich auf anderes konzentriert. Der Dilettantismus von früher, als es reichte, alternative Positionen zu vertreten und mit einem hohen moralischen Anspruch aufzutreten, um politische Wirkung zu erzielen, ist vorbei. „Wir sind nicht mehr in der Zeit, wo man Politik macht mit bestimmten moralischen Haltungen“ (L. M., Initiativkreis , Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung’, Berlin). Von der modernen Gesellschaft, in der die Stellung auf dem Arbeitsmarkt über die individuelle Lebenslage entscheidet, geht ein Zwang zur Professionalisierung aus. Einen Platz für politisches Prophetentum sieht die moderne Gesellschaft nicht vor, auch wenn sie diejenigen, die diesen Aufenthaltsort wählen, gelegentlich mit hochdotierten Preisen ehrt.
Fünf Jahre nach der Vereinigung, 1995, ist die Entscheidung bei den meisten gefallen. Die Politik übt noch immer eine beachtliche Faszination aus. Die meisten aber haben sich gegen die Politik und für ihren privaten Beruf entschieden. Nachdem sie in nicht wenigen Fällen eine Weiterbildung oder ein Studium durchlaufen haben, sind sie in der Regel nun beruflich so engagiert, daß für die politische Arbeit kaum noch Zeit bleibt. Freilich definieren sie sich nach wie vor als politisch. Ob man nun als Professor oder als Pfarrer, als Studienreferent oder als Sozialarbeiter sein Geld verdient, in allen Fällen versteht man seine berufliche Tätigkeit als politisches Engagement, wobei erstaunlich viele der ehemaligen Bürgerrechtler in Berufen arbeiten, die eine solche Bewertung erlauben: im Sozialwesen, im Raum der evangelischen Kirche oder in der Bildungsarbeit. Nur ganz wenige wollen von der politischen Arbeit nichts mehr wissen. Es scheint, daß bei ihnen dahinter Erfahrungen politischer Ohnmacht stehen. Freilich, ganz gleich, ob man politisch aktiv ist oder nicht und was man von Politik überhaupt hält, alle Befragten beklagten -übrigens unaufgefordert -das politische Desinteresse der Bevölkerung. Wenn sich in den Reihen der Bürgerrechtler auch beachtliche Differenzierungsprozesse vollzogen haben, in der Selbstunterscheidung von der indifferenten Masse der Bevölkerung sind sie sich nach wie vor einig.
2. Der Wandel der Handlungsmotive: optimistische oder pessimistische Handlungsperspektive
Die Handlungsmöglichkeiten politisch alternativer Gruppen waren in der DDR äußerst beschränkt. Gewiß konnten sie den Raum der Kirche zur Propagierung ihrer Anliegen nutzen, durch provokante Aktionen die öffentliche Aufmerksamkeit erregen und der Öffentlichkeit ihre kollektive Unzufriedenheit vorführen. Die Gesellschaft zu verändern war indes so gut wie ausgeschlossen. Bei manchen Gruppenmitgliedern führte diese Erfahrung zu einer tiefen Resignation, zum Rückzug ins Private oder auch zur Abwanderung in den Westen, bei vielen zu einer Attitüde der trotzigen Selbstbehauptung und zu einem Gefühl der sozialen Überlegenheit, das durch die sicherheitsdienstliche Aufmerksamkeit und die entsprechende Resonanz in den westlichen Medien, die alle ihre Aktivitäten auslösten, noch bestärkt wurde. Auch wenn die alternativen Gruppen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR kaum Einfluß ausüben konnten, gaben die Aufmerksamkeitseffekte, die sie mit ihren Aktivitäten erzielten, ihrem politischen Engagement einen rationalen Handlungssinn.
Nach der Wende änderte sich die Handlungsperspektive der Gruppenvertreter gravierend. Die meisten sahen durchaus die neuen Handlungs-und Verwirklichungsmöglichkeiten, die die neue Gesellschaft ihnen bot, auch wenn für viele von ihnen der Untergang der DDR ein Heimatverlust bedeutete. K. W. berichtete: „Ich hab jetzt einfach ein viel besseres Lebensgefühl als damals.... Ich kann mir jetzt einfach überlegen, was ich mache. So komisch, wie das klingt, diese Wörter Freiheit oder so, die ich damals idiotisch gefunden habe: Was soll das? ... Ich fühl mich irgendwo freier. Ich denke, es liegt auch daran, daß ich jetzt tausend Wege und Bahnen hab, die ich gehen kann, und früher waren die schon ziemlich beengt.“
Mit der Erhöhung der Handlungsmöglichkeiten muß aber nicht unbedingt eine Ausweitung der Wirkungsmöglichkeiten einhergehen. „Jetzt ist es“, sagte G. H., die vor der Wende Mitglied der Gruppe Frauen für den Frieden in Leipzig war, „natürlich so, daß unheimlich viele Angebote, viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, da sind. ... Natürlich ist das günstiger, aber ich denke, jetzt muß man sich beweisen mit seinem Engagement, ob man es auf die Reihe kriegt, sozusagen.“ Der Leistungszwang, der von der modernen Gesellschaft ausgeht, wird von ihr stark empfunden: „Ich denke ja auch, es ist schwer, sich dem zu entziehen, daß ich erfolgreich sein muß. In der westlichen Gesellschaft muß ich immer erfolgreich sein. In der DDR war es eigentlich wichtig, daß man litt, daß man aufmerksam war, aber ob man erfolgreich war, das war egal. Erfolgreich war sowieso niemand.“
Ob die politisch alternativen Gruppen unter diesen modernen, effizienzorientierten Gesellschaftsverhältnissen noch Wirkungsmöglichkeiten besitzen, beurteilen die Interviewten eher skeptisch. Das politische und wirtschaftliche System der westlichen Gesellschaft wird als derart stabil angesehen, daß es als nahezu aussichtslos oder zumindest als sehr schwer erscheint, in es hineinzuwirken. Um Veränderungen, wie sie den Bürgerbewegungen vorschweben, erreichen zu können, wäre die Unterstützung wenigstens eines Teils der Bevölkerung erforderlich. Angesichts des wirtschaftlichen Wohlstandes und der allgemeinen Zufriedenheit in der Bevölkerung scheint den Gruppenmitgliedern eine Massenmobilisierung aber kaum möglich zu sein. Weiterhin führen die Gruppenvertreter die Grenzen ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit auf den Pluralismus der politischen Kultur in der westlichen Gesellschaft zurück. Unter Bedingungen der Konkurrenz sei es weitaus schwieriger, sich Gehör zu verschaffen, als in einer kulturell und politisch weitgehend homogenisierten Gesellschaft, wo Aufmerksamkeit allein schon durch Differenz gesichert ist. Schließlich sehen viele Bürgerrechtler in der vorpolitischen, gemeinschaftlich geprägten Grundhaltung, die sie aus der DDR-Zeit mitbringen, einen weiteren wichtigen Grund für ihren relativ geringen Einfluß auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die DDR-typische Aufwertung aller außerinstitutionellen Kommunikationen und die Skepsis gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen erklären sich aus der Begrenzung der politischen Partizipationsmöglichkeiten in der DDR. In einem System, in dem die wichtigste Aufgabe der Institutionen darin bestand, gesellschaftlichen Wandel zu verhindern und die entstandenen Machtverhältnisse zu konsolidieren, hatte die antiinstitutionelle Einstellung der auf Wandel drängenden Gruppen ihren Sinn. Versuchen die Gruppenmitglieder jedoch heute, diese Haltung aufrechtzuerhalten und Aufmerksamkeit durch alternatives Verhalten zu erzielen, befinden sie sich plötzlich in einem Bereich außerhalb des Politischen. Jetzt gibt es zu den politisch alternativen Gruppen selber Alternativen, so daß sie zu politischen Gruppierungen unter anderen werden. Die Konfliktlinien verlaufen innerhalb des politischen Systems. In ihm muß man sich bewähren. Das heißt, die Gesetze und die Logik der Politik gelten nun auch für die Bürgerbewegungen und Gruppen. Gegen die Anerkennung dieser Gesetze und Mechanismen der Politik lief von Anfang an die Kritik in den Bürgerbewegungen. B. B., Gründungsmitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte und Mitbegründerin des Neuen Forums, Berlin: „Bürgerbewegung hat ja, ist etwas ganz anderes als Partei. Das hat etwas mit , von innen heraus zu tun. Sagen wir einmal, das, was ich als Inhalt und Ziel der Bürgerbewegung sehe, das kann man nicht planmäßig sozusagen erreichen, das muß sich innen entwickeln. Und zwar, indem jeder einzelne dgs eigentlich will, und wenn das nicht jeder einzelne will, dann wird es auch keine Bürgerbewegung geben.“ G. H.: „Die Gesellschaft gibt ja vor, wie der Weg zur Macht erfolgt. Und ich glaube nicht, daß eine Bürgerbewegung, die Bürgerbewegung ist, diesen Weg gehen kann.“ Eine Bürgerbewegung ist eine „Graswurzelbewe gung“ ohne „machtvolle Wirkung“. Das Menschliche, das Wahre, Gute und Schöne wächst von unten. Was dagegen von oben kommt, ist korrumpiert und böse.
Schon bald nach Gründung der Bürgerbewegungen regte sich in den eigenen Reihen auch Widerspruch gegen dieses Pathos der Gemeinschaftlichkeit. Nachdem erste Erfahrungen Vorlagen, meinte W. F. im Jahr 1992, die Bürgerbewegungen und Gruppen sollten sich auf die Gesetze der Öffentlichkeit einstellen und sich den gesellschaftlichen „Bedingungen, die diese Bundesrepublik Deutschland schafft, anpassen bzw. damit umgehen lernen“ Dazu gehöre auch, daß sie stärker auf Effektivität achten müßten. Früher, berichtet er weiter, habe er stärker fundamentalistische Positionen bezogen. Heute aber sehe er aufgrund seiner Erfahrungen mit der Regierungsbeteiligung von Bündnis 90 in Brandenburg, „man kann dort etwas machen. Natürlich muß man in irgendeiner Weise umdenken und sagen, das ist nun mal Realpolitik. Das heißt, ich muß auch bereit sein zu Kompromissen. Ich kann nicht den Durchreißer spielen und meine fundamentalistische Haltung (durchziehen). Da weiß ich von vornherein, es klappt nicht. Wenn man sich aber darauf einläßt, dann -und das läßt sich nachweisen gerade an den beiden Ministerposten, die wir in Brandenburg haben: Umwelt und Bildung -läßt sich Phantastisches erreichen.“
Die Frage lautet also, ob die Gruppen in die Gesellschaft hineinwirken wollen oder nicht. Wenn sie es wollen, dann müssen sie mit den neuen institutionalisierten Interessenvertretungs-und Konfliktregulationsmechanismen umgehen lernen und sich auf sie einlassen. Die meisten der Gruppen-vertreter öffnen sich daher der Arbeit in den Insti tutionen und beurteilen das als eine gute Möglichkeit, ihre politischen Anliegen zu vertreten. J. L., früher in der Initiativgruppe Leben in Leipzig, inzwischen Mitglied im Leipziger Stadtparlament, geht dabei sogar so weit, die Parteiendemokratie gegen ihr schlechtes Image zu verteidigen. „Es ist ja die Ansicht entstanden, daß Parteien etwas Schmutziges sind, wo Leute ihre egoistischen Bedürfnisse befriedigen. -Ein völlig irriges Bild. Aber das hat sich durchgesetzt, und es hat dazu geführt, daß ganz viele Menschen, die das also nicht wollen, die etwas Gutes tun wollen, sich nicht in Parteien engagieren. Das ist eine verheerende Situation. Diesen Teufelskreislauf gilt es zu durchbrechen. ... Ich denke schon, daß das demokratische System, selbst mit einer CDU-Regierung, immer noch weit überlegen ist einem nichtdemokratischen System.“ Die Arbeit in Basisgruppen dagegen hält er für „völlig fruchtlos“.
Andere sind enttäuscht von dem Gezänk der Parteien in der parlamentarischen Demokratie. Sie verstehen nicht, daß sich selbst im Neuen Forum, bei Bündnis 90/Die Grünen oder an den zahlreich eingerichteten Runden Tischen Machtkämpfe abspielen und sich die machtpolitischen Taktiker gegenüber den ehrlich Engagierten durchzusetzen vermögen. Fünf Jahre nach Einführung des westlichen demokratischen Systems haben sie das Vertrauen in die Politik verloren und vertreten die Auffassung, daß die „eigentlichen Veränderungen“ auf der unteren Ebene passieren, wenn man sich „zu kleinen Gruppen zusammenschließt ... und sich engagiert“. Auf der gemeinschaftlichen Ebene könne man sich selbst verwirklichen, in der Politik aber werde man von den Strukturen beherrscht und durch das System korrumpiert. Es ist bezeichnend, daß sich diese Auffassung vor allem bei denjenigen findet, die außerhalb der politischen Institutionen stehen, während die, die sich in sie hineinbegeben haben, betonen, daß sie Verfahren und Geschäftsgänge schätzen gelernt hätten.
Es läßt sich also feststellen, daß in den letzten Jahren bei den Gruppenvertretern ein bedeutender Umdenkungsprozeß stattgefunden hat. Aus Institutionenkritikern und Verächtern der Politik als bloßer Machtpolitik sind vielfach Kritiker des basisdemokratischen, auf Diskurs und Konsens, Spontaneität und Selbstbestimmung setzenden Ansatzes und teilweise Berufspolitiker geworden. Freilich halten die meisten basisdemokratische Elemente, einen Ausbau direkter politischer Partizipationsmöglichkeiten oder auch das Wirken von Basisgruppen als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie nach wie vor für wichtig und räumen der Arbeit von Bürgerinitiativen, insbe-sondere in der Zukunft, auch wieder vermehrte Chancen ein. Aber der Schwerpunkt der politischen Arbeit wird -das ist ihnen klar, auch wenn ihr Herz nach wie vor den Bürgerbewegungen und Gruppen gehört -zukünftig in der parlamentarischen Arbeit liegen. Nur eine Minderheit steht den Wirkungsmöglichkeiten der politischen Institutionen noch immer ablehnend gegenüber.
3. Der Wandel des Anspruchsniveaus: rationaler oder expressiver Handlungstyp
In der DDR-Zeit verarbeiteten die alternativen Gruppen die ständig wiederkehrende Erfahrung der staatlichen Restriktionen und Handlungsbegrenzungen, indem sie sich eine über ihre tatsächliche Wirkung hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung zuschrieben. Sie sahen sich im „Brennpunkt der DDR-Geschichte“ als Avantgarde der Gesellschaft, als ein „Flämmchen in der Dunkelheit“ (B. B.) und machten es sich zur Aufgabe, diese Dunkelheit zu erhellen, d. h. die Bevölkerung aufzuklären, zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Die über die Absetzung von der Gesellschaft erreichte Aufwertung des Gruppenhandelns war eine Möglichkeit, den unlösbaren Widerspruch zwischen Handlungsanspruch und Ohnmacht, zwischen Ideal und Wirklichkeit emotional zu bewältigen und auf die Ausgrenzung durch das offizielle System zu reagieren. In den Gruppen, so wurde argumentiert, zeige sich jetzt schon ein Vorschein der zu errichtenden künftigen Gesellschaft. Für die gesellschaftliche Entwicklung seien sie „so etwas wie Vorformen politischer Selbstorganisation“ Damit begingen die Gruppen zugleich eine Tabuverletzung. Sie überschritten die markierten und allseits akzeptierten Grenzen und betraten den Bereich der Politik, den das System für sich reserviert hatte. Mit ihren Aktivitäten verletzten sie die eingespielten Regeln des Wohlverhaltens, transzendierten sie die durch Anpassung, Zwang, Phantasielosigkeit und Gewöhnung zusammengehaltene DDR-Wirklichkeit und leisteten sich den Traum von einer gerechten, solidarischen, demokratischen Gesellschaft.
Nach der Wende ließ sich eine derartige emotionale Hochspannung nicht mehr aufrechterhalten. Man mußte die Gruppenarbeit moralisch entladen, ihre Bedeutung relativieren und Ziele zurücknehmen. Die Demokratie -bislang ein unerreichbar hoher Wert -wurde zur Gestaltungsaufgabe. Sie hörte auf, als Gegenbild zu einer totalitär verfaßten Gesellschaft zu fungieren, und verwandelte sich in ein technisches Problem: Wie mit ihr umgehen? Das Politische verlor seinen Zauber und wurde zu einem Feld der Bewährung -wie der Beruf oder die Familie auch. Eine Analyse der Interviews ergibt, daß genau dieser Prozeß der Normalisierung des Politischen in der Mehrzahl der Fälle abgelaufen ist. Am besten gelang er denen, die ihre politischen Anliegen -wenigstens partiell -in ihrer Berufsarbeit verwirklichen können und sich zur Mitarbeit in den politischen Institutionen entschlossen haben. Sehr anschaulich wird dieser Zusammenhang an der Entwicklung U. P. s, die schon 1990 durch ihre Mitarbeit am Zentralen Runden Tisch in Berlin zu einer Korrektur ihrer politischen Vorstellungen veranlaßt wurde und sich auch jetzt in ihrer Arbeit als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Berlin-Brandenburg zu einer ständigen Weiterentwicklung ihrer politischen Ideen anregen läßt. Anfang 1990 sagte sie, daß vieles, was „Demokratie Jetzt“ als Thesen formuliert hatte, bereits zu diesem Zeitpunkt überholt war und „verändert werden mußte, weil auch wir natürlich uns umstellen mußten, eben von dieser bisherigen Position, wo wir rein eine Vision formuliert haben, zu unserer heutigen, wo wir doch sehr viel pragmatischer und realistischer gezwungen sind, einfach die Lage zu beurteilen und die weitere Entwicklung zu beschreiben, weil wir jetzt tatsächlich -nicht zuletzt durch die Runden Tische -auch in die Verantwortung eingebunden sind und das, was wir uns vorstellen an gesellschaftlicher Veränderung, immer mit an der Realisierbarkeit messen müssen. Bisher konnten wir uns einen Traum leisten, weil der niemals mit der Praxis in Berührung kam. Nun aber stehen ganz andre Anforderungen, nämlich die, möglichst praktikable Schritte zu formulieren.“ Ähnlich beschrieb U. P. zwei Jahre später ihre Arbeit in der Evangelischen Akademie, wo sie „ganz praktische Möglichkeiten“ hat, zur politischen Bewußtseinsbildung beizutragen, wo sie aber auch selber „viel lernen kann und viel von dem verwirklichen kann, was mal mein Anliegen war“. „Im Gegensatz zur Vorwendezeit hab ich jetzt das erste Mal in meinem Leben die Möglichkeit, in meiner Berufstätigkeit das zu machen, was eigentlich mein Anliegen ist. Was ich sonst nur nebenbei machen konnte, das kann ich jetzt hauptberuflich machen und werde sogar noch dafür bezahlt. Ich genieße das sehr.“
Interessant sind die Fälle, in denen diese Transformation nicht gelingt oder noch nicht gelungen ist. Als Beispiel sei hier die Haltung von K. W. ange führt. Auf der einen Seite fühlt sich K. W. befreit und begreift die neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten als individuelle Verwirklichungschancen, die sie gern nutzen möchte. Auf der anderen Seite ist sie hoffnungslos und enttäuscht. Auch wenn heute unzählige Handlungsmöglichkeiten bereitstehen, fühlt sie sich jetzt kleiner als früher. „Die Relationen haben sich einfach total verändert. Ich mache nicht mehr die großen Sachen und hab irgendwie nicht mehr das Gefühl, die Welt verändern zu können.“ Die Welt -das war früher die DDR. In der DDR, die nur wenige Verwirklichungsmöglichkeiten bot, konnte man sich der Gesellschaft gerade wegen ihrer Ineffektivität und Immobilität überlegen fühlen. Damals hatte ihre politische Arbeit, die sie „völlig ausgefüllt“ hatte, unmittelbare gesellschaftliche Relevanz. Die moderne Gesellschaft dagegen ist hochkomplex, dynamisch und effektiv. Daß dadurch ein Unterlegenheitsgefühl ausgelöst wird, geben manche der Befragten ausdrücklich zu Protokoll Dementsprechend gehen die Erwartungen an die eigenen Einflußmöglichkeiten zurück. „Ich denke, die große Veränderung, die erreichen wir eh‘ nicht mehr. Jedenfalls habe ich das für mich aufgegeben. Ich weiß nicht, das ist für mich ganz schwer zu sagen, weil ich da selber so frustriert bin, daß ich da auch nichts mehr mache. Ich selber bin ja nicht mehr engagiert in irgendwelchen Gruppen.“ Worin die Aufgaben der Gruppen heute noch bestehen könnten? „Eine neue Revolution gut vorbereiten und durchführen. Das ist es ja für mich letzten Endes. Alles andere hier, diese ständigen kleinen Schrittchen, das ist ganz nett. Aber das erreicht ja auch nicht die große Veränderung.“
Was bei K. W. auffällt, das ist die Vermittlung zwischen ihren Idealen und dem Machbaren. Von der Begeisterung für die große Veränderung fällt sie angesichts ihrer Unrealisierbarkeit sofort in ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Während in der DDR-Zeit dieses Auseinanderfallen von politischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit durch expressives politisches Verhalten überbrückt werden konnte, durch einen Lebensentwurf, der der Totalität des Staates die Ganzheit der eigenen Existenz entgegenstellte, müßte jetzt die Umstellung auf ein stärker rational kalkuliertes Verhalten erfolgen, das die gesellschaftlich institutionalisierten Mitwirkungsmöglichkeiten nutzt. Den Institutionen nämlich kommt die Aufgabe der Vermittlung von Bürger und Staat, von Individuum und Gesellschaft zu. Wird dieser Weg nicht gesucht, dann liegt es nahe, daß man die gesamte Gesellschaft revolutionieren will und unbeirrt an seinen Ganzheitsidealen festhält. Die Bedingung der Möglichkeit des Handelns liegt in der Beschränkung. Wenn man zu ihr fähig ist, wird es am ehesten gelingen, die über das Machbare hinausgehenden Ideale und Ziele im Auge zu behalten.
Fazit: Seit 1989 vollzog sich in den politischen Einstellungen der Vertreter der alternativen Gruppen der DDR ein tiefgreifender Wandlungsprozeß. Dieser Prozeß war mit starken inneren Auseinandersetzungen verbunden, in denen sich der Konflikt zwischen erlernten Verhaltensdispositionen und neuen Anforderungen ausdrückt. Einige Gruppenvertreter verweigerten sich gegenüber den neuen Anforderungen und hielten an ihren alten Verhaltensweisen und Überzeugungen fest. Die meisten aber stellten sich, auch wenn ihre Haltung nicht selten durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist, auf die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein und haben in ihnen politisch und beruflich ihren Platz gefunden. Offenbar besitzt die moderne funktional differenzierte Gesellschaft eine solche Durchsetzungsfähigkeit, daß sie auch emanzipativ-kritische Tendenzen aufzunehmen und in das breite Spektrum ihrer Anpassungsund Opportunitätsstrukturen zu integrieren vermag.