Im fünften Jahr der deutschen Einheit ist eines offenkundig: Die anfängliche Euphorie ist einer Nüchternheit gewichen. Wir erkennen: Die Gestaltung der inneren und sozialen Einheit Deutschlands ist ein steiniger, mühsamer Weg. Die alte Bundesrepublik war auf die deutsche Einheit nicht vorbereitet. Diese war und ist ein Geschenk der Geschichte, das unter anderem dadurch ermöglicht wurde, daß im Herbst 1989 Tausende von Menschen in der DDR auf die Straße gingen, um für die deutsche Einheit zu demonstrieren. Sie war und ist aber auch ein Erfolg deutscher Regierungspolitik. Bundeskanzler Helmut Kohl hat in einer relativ kurzen Phase, die uns in der Geschichte eingeräumt wurde, die deutsche Einheit wiederzuerlangen, nicht gezögert, sondern beherzt gehandelt. Ohne dieses Handeln hätten wir heute kaum die Gelegenheit, über Probleme und sicher auch Fehlentwicklungen zur inneren und sozialen Einheit zu diskutieren; das jedoch wäre der größte historische Fehler in der deutschen und europäischen Nach-kriegsgeschichte gewesen.
Im Rausch der weltgeschichtlichen Ereignisse in Mittel-und Osteuropa wurden die enormen Probleme der Vereinigung unterschätzt, während die Kräfte des Westens und auch der Bundesrepublik Deutschland überschätzt wurden. Das, was in 12 Jahren Nationalsozialismus und 40 Jahren DDR-Sozialismus im Osten Deutschlands zerstört wurde, kann nicht in fünf Jahren Demokratie und sozialer Marktwirtschaft repariert werden. Die neuen Bundesländer befinden sich in einem Systemumbruch, der durch die Entwicklung von einer Kommandowirtschaft zu einem marktwirtschaftlichen System und die Abkehr von einem bürokratischen Staatssozialismus hin zu einem differenzierten und daher komplizierten Regelwerk sozialer Sicherungssysteme gekennzeichnet ist.
Die an den Realitäten, die ihre Machthaber so oft beschworen hatten, gescheiterte DDR, war alles andere als offen. Sie war eine ideologisch beschränkte und geschlossene Gesellschaft, deren Macht in den Gewehrläufen und einem ausgeklügelten Spitzelsystem lag. Der Wechsel eines gelernten DDR-Bürgers aus dieser geschlossenen Gesellschaft in eine offene, sich im permanenten Wettbewerb befindliche Demokratie war ein Sprung ins kalte Wasser. Klar ist: Nur wer kräftig mitschwimmt, geht nicht unter. In Bewegung bleiben, sich orientieren und das Wissen, wie mit welchen Strukturen an politischen Themen gearbeitet wird, gehört zu den notwendigen Voraussetzungen, um im größer gewordenen Deutschland den härter gewordenen Wettbewerb bestehen zu können. Nicht ein mehr oder weniger sozialer Obrigkeitsstaat, der seine Bürger im wahrsten Sinne des Wortes „aushält“ und damit auch gefügig macht, sondern Eigeninitiative und Risikofreude gehören zur Lebensmaxime unserer pluralistischen Wettbewerbsgesellschaft.
Das Leitbild der 89er Massenbewegung gegen das SED-Regime unter Erich Honecker war nicht die Klassengesellschaft nach britischem Muster, sondern die soziale Marktwirtschaft mit ihrem Güte-siegel: der „DM“. Ähnlich reagieren heute die Polen und Ungarn. Immer wieder wird mir von polnischen, tschechischen und ungarischen Freunden gesagt: So, wie der Dollar weltweit als Leitwährung gilt, so orientieren sich viele europäische Staaten bei der Festlegung sozialer Standards an der Bundesrepublik Deutschland. Würden wir die Arbeitszeit verlängern und die Löhne massiv senken, hätte dies einen Domino-Effekt zur Folge, der von Polen, Tschechien, Ungarn, den baltischen Ländern bis zu den GUS-Staaten reichen würde. Um sich wirtschaftlich entwickeln zu können, müßten diese Länder ihre derzeitigen sozialen Standards einfrieren, vielleicht sogar weiter absenken, damit der Abstand als Investitionsvorteil zum Westen erhalten bleibt. Die Chance für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufbau Mittel-und Ost-europas und damit die Perspektive für eine demokratische Entwicklung nach westeuropäischem Muster wäre vertan.
Die ostdeutsche Bevölkerung hat nach der Wende gehofft, möglichst schnell den Wohlstand ihrer westdeutschen Landsleute erreichen zu können. Von Fachleuten der Wirtschaft und der Wissenschaft wird kritisiert, daß die D-Mark in den neuen Bundesländern zu früh eingeführt wurde. Tatsache jedoch ist, daß eine zentrale Losung der Menschen in der DDR lautete: „Kommt die DM, bleiben wirhier -kommt sie nicht, gehn wir zu ihr!“ Ohne die Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion am 1. Juli 1990 wären in noch stärkerem Maße als in den letzten fünf Jahren geschehen qualifizierte Fachkräfte aus Thüringen, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern nach Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Baden-Württemberg umgesiedelt. Das Zweiklassensystem zwischen den Deutschen, die mit einer harten, soliden und weltweit anerkannten Währung bezahlen konnten und der Alu-Chip-Republik mit einer Kunstwährung, die nur noch in einem durch Mauer, Selbstschußanlagen und Minenfeldern von der übrigen Welt abgegrenzten Kerker galt, mußte zügig überwunden werden.
Absehbar war jedoch nicht, daß wenige Monate nach den Verhandlungen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem obersten Repräsentanten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, diese Sowjetunion nicht mehr existierte und die KPDSU, der Michail Gorbatschow als Generalsekretär Vorstand, nicht nur ihren politischen Einfluß verlor, sondern sich im neuen Rußland zunächst auflösen mußte. Der Handel mit Rußland bzw.den GUS-Staaten wurde zu einer Restgröße. Der andere Vertragspartner verschwand zeitweilig und überraschend schnell von der Bühne des Welthandels.
Neben den wirtschaftlichen und sozialen Fragen stehen auch solche der inneren Einheit auf der Agenda: Die deutsche Einheit ist vor allem eine Herausforderung an die Fähigkeit des einzelnen zum menschlichen Miteinander. Schätzungsweise 64 Millionen Westdeutsche und knapp 16 Millionen Ostdeutsche, die über vierzig Jahre brutal voneinander getrennt waren, in völlig entgegengesetzten Systemen sozialisiert, d. h. erzogen und gebildet wurden, müssen von heute auf morgen wieder zueinander finden. Vier Jahrzehnte Leben in einem totalitären System hinterlassen Spuren. Weil ihre Lebensverhältnisse und ihre Lebensbedingungen anders gewesen sind, anders als die ihrer Landsleute in der alten Bundesrepublik, unterscheiden sich die Menschen in den neuen Bundesländern von diesen auch in Lebensstil und Lebens-haltung. Der ehemalige DDR-Bürger lebt heute in einem anderen „Haus“, mit einer ihm fremden Wohnungseinrichtung, mit organisatorischen und technischen Abläufen, die kaum noch an sein altes Lebensumfeld erinnern.
Wir Ostdeutschen sind im Oktober 1990 in das gemeinsame Haus eingezogen; die meisten Bundesbürger sind in ihm groß geworden. Sie kennen die Aufteilung und Einrichtung des Hauses. Während der neue Mieter noch den Weg zur Küche sucht, sich zurechtfinden muß, um beispielsweise eine Kanne Kaffee aufzusetzen -er schaut in den Schränken nach, sucht die Filtertüten und das Kaffeepulver -, hat sich der Westdeutsche bereits den ersten Kaffee eingegossen und genießt das wunderbare Aroma. Wir müssen uns neu orientieren, und dazu ist vor allem die Solidarität derjenigen notwendig, die aufgrund ihrer zufälligen Geburt im Westen einen wesentlichen Zeitvorsprung haben. Für Westdeutsche ist es nichts besonderes, ein Wochenende in Amsterdam, Paris oder London zu verbringen. Trotz Rezession hat die Touristikbranche im letzten Jahr weitere Umsatzrekorde erlebt. Freies Reisen ist eine Selbstverständlichkeit, und daß dies so ist, zeigt den Wert einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft. Praktizieren wir diese Offenheit jedoch auch im Umgang miteinander? -Sind wir offen, auf den und die anderen zu hören, ihre Befindlichkeiten und ihre Erfahrungen anzunehmen?
Statt Ost und West gegeneinander aufzuhetzen, wie Vertreter mancher Parteien dies tun, brauchen wir -gerade im Sinne der Ostdeutschen -Brücken des Miteinanders gegen die Agitation des Gegeneinanders: des Gegeneinanders zwischen Ost und West, des Gegeneinanders zwischen Kapital und Arbeit, des Gegeneinanders zwischen links und rechts, Mann und Frau, Alt und Jung ... Wer Brücken einreißt und Gräben weiter vertieft, wer isoliert und polarisiert, marschiert in die entsolidarisierte Gesellschaft. Er wird dadurch zum Vorboten einer sozialen Eiszeit, womöglich zum Handlanger der Vernichtung der -wenn auch verbesserungswürdigen -„guten Bundesrepublik Deutschland“.
Das Kontrastprogramm? -Bereits im Dezember 1990 forderte die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) im Rahmen einer Bonner Pressekonferenz einen Solidarpakt für die deutsche Einheit. Diese Solidarpaktgespräche zwischen Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft und den Gewerkschaften wurden 1992 und 1993 geführt und zu einem Ergebnis gebracht. Vor allem konnten die aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau gesichert und die Finanzverhältnisse zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu geordnet werden. Die Bundesregierung sorgte in Zusammenarbeit mit den Sozialversicherungen dafür, daß jährlich ca. 140 Milliarden DM Transferleistungen von West nach Ost getätigt wurden, um die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur der neuen Bundesländer in einem gewaltigen Kraftakt zu modernisieren.Wie gewaltig dieser Kraftakt sein mußte, zeigt der großenteils sehr marode Maschinenpark der früheren DDR-Kombinate, der 1989 etwa (im Durchschnitt) den technischen Stand vergleichbarer Ausrüstungen in der Bundesrepublik Deutschland von 1969 aufwies. Während im Westen Deutschlands die Produktivität über zwei Jahrzehnte hinweg durchschnittlich Jahr für Jahr um drei Prozent stieg, war der Strukturbruch in den neuen Bundesländern durch das Austauschen der alten Maschinen zugunsten der Technik des Jahres 1995 mit einem plötzlichen, gewaltigen Produktivitätssprung verbunden, der massiv zu Lasten der Arbeitsplätze gehen mußte. Hinzu kommt, daß jeder dritte Arbeitsplatz in der ehemaligen DDR schwer gesundheitsschädlich war und daß auch aus ökologischen, sogar aus humanen Gründen Betriebe, beispielsweise in Bitterfeld, stillgelegt werden mußten. Die Menschen dieser Region haben für die „sicheren Arbeitsplätze“ über Jahrzehnte hinweg mit Hautkrebs und Keuchhusten, auch bei Kleinkindern, bitter bezahlt.
Entscheidend war und ist, daß ein starker und engagierter Staat den politischen und sozialen Rahmen für die Modernisierung der Wirtschaft und den sozialen Umbau vorantreibt. Dabei ist von zentraler Bedeutung: Wie werden die privaten Eigentumsrechte geordnet? Heute wissen wir, daß eine Regelung bei der Privatisierung von Gewerbebetrieben nach dem Muster „Entschädigung vor Rückgabe“ der leichtere und schnellere Weg gewesen wäre. Dies gilt wohl auch vor dem Hintergrund, daß von den wenigen Juristen, die es in der DDR gab -das waren gerade so viele, wie 1990 in der Stadt Bremen arbeiteten -, ein Drittel den Beruf aufgab, da sie spürten, daß sie ihre Legitimität mit dem Zusammenbruch des Sozialismus verloren hatten. Ein weiteres Drittel war durch das totalitäre System der DDR so stark in Mißkredit geraten, daß es einer Überprüfung der Gauck-Behörde nicht mehr standhielt. Es verblieb also ein Drittel, um in allen fünf neuen Bundesländern Rechtsaufbau und Rechtssicherheit zu schaffen. Auch darin lag eines der zentralen Probleme bei den vielfältigen Rechtsfragen, die im Rahmen der Privatisierungen geklärt werden mußten.
Wie schwierig manche Entscheidungen zu treffen waren, zeigt ein Beispiel: Bei einer Privatisierung mußte sich der TreuhandVertreter mit dem Alteigentümer, der vor 1945 Eigentumsrechte, beispielsweise an einem Grundstück, hatte, zusammensetzen. Hinzu kamen der Besitzer, der während der DDR-Zeit auf diesem Grundstück das Haus nutzte, und ein Neu-Investor, der zukünftig auf diesem Grund und Boden etwas aufbauen will.
Jeder von ihnen brachte einen Rechtsanwalt mit, so daß der Treuhandangestellte im Angesicht von drei Parteien die möglichst gerechte und für das Gemeinwohl richtige Entscheidung treffen mußte. Es war klar: Egal, wie er entschied, zwei würden gegen ihn prozessieren! -Kein Wunder, daß die Treuhandanstalt, die in fünf Jahren über 16000 Privatisierungen organisieren mußte, permanent in der öffentlichen Kritik stand. Die großen Leistungen, die von der Treuhandanstalt unter Leitung von Detlev K. Rohwedder und Birgit Breuel erbracht wurden, werden erst spätere Generationen erfassen können. Die Fehlerquote ist vor dem Hintergrund der enormen Aufgabe nachvollziehbar -die Waage neigt sich, und dies ist heute bereits absehbar, eindeutig zugunsten einer positiven Bewertung.
Heute sind die neuen Bundesländer die stärkste Wachstumsregion Europas. Und das, obwohl durch die Auflösung der Sowjetunion der gesamte Osthandel, der 1989 noch 36 Milliarden DM betrug, in den darauffolgenden Jahren auf knappe vier Milliarden DM zusammenschmolz. Wer die Erblast des Honecker-Regimes an maroder Bausubstanz, an schlechter Kanalisation, ungenügender Infrastrukturausstattung und enormen Umweltschäden addiert, kommt auf einen stattlichen Betrag: 2, 2 Billionen DM sind notwendig, um in Ostdeutschland annähernd gleiche Lebensverhältnisse wie in Westdeutschland zu schaffen!
Bei immer mehr Menschen ist die Diskussion über die innere Einheit Deutschlands durch einen gesunden Realismus geprägt, der durch Klarheit und Wahrheit die Solidarität aller Deutschen auf ein festes Fundament stellt. Sowohl Euphorie, die mit-Tränen der Freude ein eher verschwommenes Bild vermittelt, als auch Trauer und Zorn darüber, daß heute Entbehrungen notwendig sind, um Zukunftsinvestitionen zu finanzieren, trüben den Blick.
Mit'Vierjahresplänen und protzigen Sprüchen hatte das SED-Regime sich und der Welt 40 Jahre lang Sand in die Augen gestreut. Wohin dies führte, wissen wir inzwischen alle: in den Zusammenbruch und die Verdummung. Das darf sich nicht wiederholen! Darum brauchen wir Augenmaß für das Machbare und dringend Erforderliche.
Das Bild von den „blühenden Landschaften“ in den neuen Bundesländern gewinnt Konturen -etwa wenn wir sehen, daß in den letzten vier Jahren mehr Telefonleitungen gelegt wurden als in 40 Jahren existierender DDR. Renovierte Häuser, neue Straßen und Abwässerkanäle, die Beseitigung von giftigen Altlasten und die Ausweisung von Gewerbe-und Industriegebieten -das alles sind Erfolge, die uns andere mittel-und westeuropäische Länder kaum in so kurzer Zeit zugetraut hätten. Es sind Kommentare aus dem Ausland, aus Österreich, Frankreich und Finnland, die uns zeigen, wie gewaltig der Strukturwandel in den neuen Bundesländern, wie intensiv die Modernisierung der Wirtschaft und wie effektiv der Aufbau sozialer Sicherungssysteme in den neuen Bundesländern vorangeschritten sind. Nicht, wer die heutige Situation an den Träumen des Jahres 1990 mißt, sondern deijenige, der zurückblickt und die hinter sich gelegte Wegstrecke sieht, kann diese gewaltige Leistung des deutschen Volkes ermessen.
Tatsache ist, selbst dort, wo wirtschaftlich bisher noch keine „blühenden Landschaften“ zu sehen sind, entdecken wir bei näherem Hinsehen doch „Knospen“, die der Blüte entgegenreifen. Das war und ist nur möglich, weil die soziale Marktwirtschaft mit einem starken, engagierten Staat im Bereich der Strukturentwicklung, der Wirtschaftsförderung, des Erhalts von Industriekernen, der aktiven Arbeitsmarktpolitik und des sozialen Aufbaus für alle Menschen möglichst segensreich gewirkt hat. „Für alle Menschen“ -das bedeutet, auch für die Westdeutschen. Fast eine Million Menschen wanderten aus den neuen in die alten Bundesländer. Dort, wo keine neuen Arbeitsplätze entstehen und Betriebe in manchen Regionen „flächendeckend dichtmachen“, fehlt die Aussicht auf eine sichere Zukunft. Perspektivlosigkeit führt dazu, daß Menschen ihre Heimat verlassen und dorthin gehen, wo es Arbeitsplätze gibt. Die große Herausforderung der deutschen Einheit lag und liegt darin, das „moralische Recht auf Arbeit“ mit dem „Recht auf Heimat“ zu verbinden. Noch heute gibt es Regionen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, in denen die Arbeitslosenquote bei 40 Prozent liegt. Es ist eine der kaum zu überschätzenden Leistungen der ostdeutschen Bürger, den Systemumbruch -mit den damit einhergehenden sozialen Problemen -im Sinne der neuen demokratischen Ordnung „staatstragend“ verarbeitet zu haben. Zur „Einheit in Gerechtigkeit“ gehört aber auch, daß die materiellen Gewinner der deutschen Einheit -die westdeutschen Unternehmen -ihren Aufgaben im marktwirtschaftlichen System gerecht werden: Um den Standort Deutschland durch neue marktfähige Produkte dauerhaft zu sichern, sind Investitionen -sowohl in Maschinen und Anlagen als auch in Ausbildung und Weiterbildung -notwendig. Nach Berichten der Deutschen Bundesbank stiegen die liquiden Mittel der westdeutschen Betriebe von Dezember 1990 bis Dezember 1992 von 671 Milliarden DM auf ca. 820 Milliarden DM. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen blieb jedoch erheblich dahinter zurück. Den Löwenanteil an Infrastrukturausgaben leisteten der Bund und die öffentlichen Unternehmen; die westdeutsche Privatwirtschaft hielt sich weitgehend zurück. Daher ist für mich eines unverzichtbar: Im Laufe der nächsten Monate muß der Gesetzgeber den Rahmen für eine investive Einkommenspolitik der Tarifpartner schaffen. Investivlohnvereinbarungen können dazu führen, daß nicht nur die kleine Zahl der Unternehmer, sondern die große Zahl der Arbeitnehmer an dem Produktivkapital und der daraus resultierenden Wertschöpfung beteiligt werden. Das geeinte Deutschland erhielte eine gerechtere Vermögensverteilung.
Was heute von West in Ost investiert wird, erweist sich morgen als Konjunkturlokomotive für ganz Deutschland. Die ostdeutschen Bundesländer sind im Besitz des Schlüssels, um den mittel-und osteuropäischen Markt für deutsche Güter und Dienstleistungen zu öffnen. Noch kaum zu ermessen ist der Schatz an Patenten und Neuentwicklungen, die in den ostdeutschen Betrieben ruhten, um endlich von Westinvestoren und den marktwirtschaftlichen Unternehmen aufgegriffen zu werden. Der ökologische Kühlschrank, aber auch medizinische Entwicklungen in der Berliner Charitä sind einige Früchte der kreativen und innovativen Arbeit der Menschen, die jedoch durch das innovationsfeindliche sozialistische System über Jahrzehnte hinweg nicht reifen konnten und nun endlich zu ihrer vollen Entfaltung gelangen.
Nach dem Vorbild des Solidarpaktes für die innere Einheit Deutschlands wurde im Januar 1995 -ebenfalls auf Vorschlag der CDA -die Kanzler-initiative für mehr Beschäftigung gestartet. Die Politik und die Tarifpartner entwickeln in einer konzertierten Aktion Wege zur Vollbeschäftigung in ganz Deutschland. Neben dem neu aufgelegten Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, das Betrieben und Verwaltungen Lohn-zuschüsse bei Einstellung eines Langzeitarbeitslosen über ein Jahr zusichert und bereits in diesem Jahr dafür gesorgt hat, daß fast 100000 Langzeit-arbeitslose eine neue Erwerbsarbeit fanden, ist auch die Zusage der Wirtschaft und der öffentlichen Arbeitgeber für ein bedarfsgerechtes Ausbildungsangebot von entscheidender Bedeutung. Die Wirtschaft und die Manager müssen erkennen: Gleichermaßen, wie sie in eine neue Technik investieren, müssen sie in die Qualifizierung von Mensehen investieren. Das duale Ausbildungssystem ist einer der zentralen Standortvorteile Deutschlands im wirtschaftlichen Wettbewerb. In Großbritannien wird seit über einem Jahrzehnt versucht, eine stärker betrieblich orientierte berufliche Bildung nach dem deutschen Vorbild durchzusetzen. Da sich die britischen Unternehmen jedoch daran gewöhnt haben, daß der Staat diese Aufgabe erfüllt, ist ihre Motivation dazu sehr gering. Selbst Ausbildungszuschüsse haben in der Vergangenheit nicht dazu geführt, daß die Ausbildungssituation der Betriebe in Großbritannien wesentlich verbessert wurde.
Als Hochlohnland haben wir nur dann eine Chance, unsere wirtschaftliche Position zu halten oder zu verbessern, wenn wir die Kreativität der Menschen möglichst optimal und flächendeckend nutzen. Dazu ist unser Bildungssystem von herausragender Bedeutung, sind wir doch als rohstoff-armes Land von unserem hohen Qualifikationsniveau und unserer Innovation abhängig. Nur wenn wir bereit sind, zu forschen und diese Forschung auch marktfähig zu betreiben, werden wir neue, weltweite Märkte erschließen. Kurzfristiges unternehmerisches Denken, das dazu führt, daß in einer rezessiven Phase der Wirtschaft vorrangig von Großbetrieben qualifizierte Facharbeitnehmer entlassen werden, um anschließend bei den Forschungsausgaben zu kürzen, hätte fatale Folgen. Eine solche Betriebspolitik erinnert an Schiffbrüchige, die auf einem Rettungsfloß das Holz anzünden, um sich die Hände zu wärmen ...
Die wichtigsten Standortvorteile der Bundesrepublik Deutschland waren nach einer Untemehmerbefragung von 1989: -qualifizierte Arbeitnehmer, -gut ausgebaute Infrastruktur, -sozialer Friede und -politische Stabilität.
Diese Vorteile müssen wir hegen und pflegen, damit sie auch weiterhin für das geeinte Deutschland zu einem Gütesiegel „Made in Germany“ führen. Entscheidend wird sein, daß wir bei den zentralen wirtschaftlichen und sozialen Fragen unserer geeinten Republik den parteiübergreifenden Konsens immer wieder neu anstreben.
Wer heute 50 Jahre alt ist und fast sein ganzes Leben in einem totalitären System verbringen mußte, will keine eingefahrenen Rituale: Rituale zwischen Bund und Ländern, Rituale zwischen Regierung und Opposition, Rituale zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden... Er will, daß die großen gesellschaftlichen Kräfte bei den zentralen Problemen über ihren Schatten springen, um an dem Gesamtwerk „deutsche Einheit“ zu arbeiten. Wer einem fünfzigjährigen Ostdeutschen sagt: „Nun warte noch 20 Jahre, bis wir die Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht haben“, der zeigt mangelnde Sensibilität. Andererseits müssen wir Ostdeutschen dafür Verständnis für die Westdeutschen entwickeln, deren Leistungsfähigkeit auch Grenzen gesetzt sind. Verständnis auf der einen und Geduld auf der anderen Seite -das geht nur mit einer neu entdeckten Solidarität. Freiheit ohne Solidarität führt zum Gesetz des Dschungels nach dem Motto „Selber fressen macht fett“. Solidarität ohne Freiheit führt ebenso in die Unmenschlichkeit, weil die Menschen den Zweck immer nur als Zwang erfahren.
Nach fünf Jahren deutscher Einheit ist Deutschland auf gutem Wege, in dem sich stärker zusammenschließenden Europa zum Hoffnungsträger für die Überwindung der Spaltung zwischen Mittel-und Osteuropa zu werden. Auch Polen, die Tschechische Republik und Ungarn gehören in die Europäische Union, wenn sie dies wünschen. Das Gelingen der deutschen Einheit kann uns Mut machen, daß auch der soziale Ausgleich zwischen Mittel-und Osteuropa möglich ist.