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Fünf Jahre deutsche Vereinigung: Wirtschaft -Gesellschaft -Mentalität | APuZ 40-41/1995 | bpb.de

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APuZ 40-41/1995 Fünf Jahre deutsche Vereinigung: Wirtschaft -Gesellschaft -Mentalität Zur inneren Einheit Deutschlands im fünften Jahr nach der Vereinigung Deutsche Befindlichkeiten im Ost-West-Vergleich. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung Aufholtendenzen und Systemeffekte Eine Übersicht über Wertunterschiede zwischen West-und Ostdeutschland Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden?

Fünf Jahre deutsche Vereinigung: Wirtschaft -Gesellschaft -Mentalität

Wolfgang Thierse

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wie sich in fünf Jahren deutscher Einheit Begriffe verschoben haben, wie unterschiedliche Erfahrungen und materielle Verhältnisse nach wie vor zu verschiedenen Ansichten und Lösungen in Ost-und Westdeutschland führen, wird am Beispiel der Erwartungen Ostdeutscher hinsichtlich sozialer Sicherheit, bürokratischer Gängelei und der Bedeutung von Arbeit im vereinigten Deutschland gezeigt. Der Einigungsvertrag wird kritisch gewürdigt, der Aufbau Ostdeutschlands mit Hilfe von Transferleistungen verteidigt und auf die Frage, ob man von Ostdeutschland lernen könne, eine positive Antwort gegeben. Im Rückblick auf die ersten fünf Jahre deutscher Einheit wird sowohl den Westdeutschen -weil sie weitgehend klaglos die notwendigen Leistungen erbracht haben -als auch den Ostdeutschen -weil sie rasch gelernt haben, mit dem Neuen umzugehen und es schließlich selbst mitzugestalten -Respekt gezollt.

Fünf Jahre nach der Vereinigung am 3. Oktober 1990 scheint es notwendig, sich des Begriffs der „inneren Einheit“ neu zu vergewissern. Die Erinnerung an damit verbundene Hoffnungen und Vorstellungen ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn. Euphorie machte großer Niedergeschlagenheit Platz, Aufbruchstimmung schlug um in aggressive Resignation, Selbstbewußtsein verwandelte sich in nagende Zweifel; auch die offenen Arme der Westdeutschen verschränkten sich wieder vor der Brust, zähneknirschendes Zahlen für die Einheit trat an die Stelle der Freude über die Vereinigung. Trotzdem: die Entwicklung ist in vollem Gange: Es muß, es wird gutgehen -ein paar Gedanken von „unterwegs“:

Im Laufe der achtziger Jahre wurde immer klarer, daß die DDR abwirtschaftete, wir längst von der wirtschaftlichen Substanz zehrten. Durch fleißige Arbeit konnten die Männer und Frauen zwar noch das Schlimmste verhüten, aber nicht mehr Fortschritte schaffen. Die Unzufriedenheit, die Unsicherheit wuchs. Vor diesem Hintergrund wurde die systemimmanente politische Repression einerseits ins Unerträgliche und andererseits ins Absurde verstärkt. Die Einheit Deutschlands, das Zusammengehen mit der BRD, erschien denn auch im Spätherbst 1989 als Ausweg aus der ökonomischen Misere, aus der politischen Stagnation, aus unerträglicher Bevormundung und Gängelei. Einheit bedeutete eine Perspektive, die die DDR nicht mehr bieten konnte. Nur noch wenige klammerten sich an die Chancen dieses Systems, die doch alle schon lange vertan waren. Mit dem Aufruf „Für unser Land“ gaben Stefan Heym und andere den Hoffnungen dieser Minderheit Ausdruck, unter dem Umstand gänzlicher Erneuerung der DDR endlich doch noch die edle Idee des Sozialismus verwirklichen zu können. Die Mehrheit aber meinte, daß sie sich lange genug für ideologische Ziele und gesellschaftspolitische Versuche in den Dienst hatte nehmen lassen. Die Menschen wollten die Einheit, weil sie schließlich auch Sicherheit versprach: Was sich im Westen bewährt hatte, erschien besser und sicherer als ein weiteres real-sozialistisches Experiment. Ökonomen und (meist) ostdeutsche Politiker sprachen zwar von den Gefahren einer zu schnellen Vereinigung, rieten, den Prozeß zu verlangsamen, aber Rückhalt fanden sie kaum. Mancher wird sich an die öffentlich geäußerten Zweifel des damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl ebenso erinnern wie an die Debatte zu Beginn des Jahres 1990, ob man nach Artikel 23 oder nach Artikel 146 Grundgesetz die Vereinigung vollziehen sollte. Die beiden Artikel wurden schnell zu Synonymen für „schnelle“ oder „langsame“ Vereinigung; und wer, wie die SPD, eine Weile mit dem Gedanken der „langsamen“, aber sanfteren und demokratischeren Vereinigung gespielt hatte, verlor in schmerzlichem Umfang Wählerinnen und Wähler in Ostdeutschland. Zwischen denen, die die DDR gar nicht aufgeben wollten, und denen, die sich -wie realistisch auch immer -für einen schonenden, gleichberechtigten Übergang einsetzten, wurde kaum noch unterschieden.

Nach dem 3. Oktober bedeutete Einheit „Angleichung der Lebensverhältnisse“. Dieser Begriff aus dem Grundgesetz war ein scheinbar selbstverständliches Ziel; er entsprach dem Bedürfnis, dem zunehmend brutalen Transformationsprozeß eine Richtung zu geben, er war aber auch so etwas wie ein Vorwurf an die wirtschaftspolitisch zunächst konzeptionslos-untätige Bundesregierung und die von ihr geweckten Vorstellungen, daß die Einheit aus der Portokasse zu finanzieren sei. Mit den „blühenden Landschaften“ innerhalb von etwa drei Jahren waren die falschen Versprechen auf die Spitze getrieben. Sie konnten nicht eingelöst werden. Aber sie bildeten den Hintergrund, vor dem die Tarifparteien geradezu genötigt waren, in großen Schritten die Löhne anzugleichen. Ökonomisch war das möglicherweise nicht sinnvoll, politisch war es unabdingbar, weil -abgesehen von den bis in dieses Jahr hinein staatlich vorgeschriebenen Mieten -die marktwirtschaftlichen Preise fast ungebremst über uns Ostdeutsche kamen. Das aber war spätestens seit der Währungsunion nicht mehr politisch zu beeinflussen gewesen.

Ich war unbedingt für die Einheit und zugleich sicher, daß Innehalten, Überprüfen notwendig sei:das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, etwas aus dem Leben in der DDR mitnehmen. Dieser Impuls unterlag dem geforderten Tempo. Heute bin ich sicher, daß wir aus den ostdeutschen Erfahrungen lernen können. Wir können viel lernen über das Leben im „vormundschaftlichen Staat“, in einer Diktatur. Wir könnten daraus lernen, daß man die Diktatur bekämpfen muß, bevor sie sich etablieren kann, sonst hat Widerstand nur noch Erfolgsaussicht, nachdem die Diktatoren sich selbst geschwächt haben werden, und das kann über 40 Jahre dauern. Wir können auch von einzelnen Einrichtungen und Versuchen zur Lösung gesellschaftlicher Aufgaben in der DDR lernen. Aber bis heute werden solche Chancen geflissentlich übersehen.

Statt dessen wurde Ostdeutschland zunächst einmal mißbraucht für eine Debatte mit dem Ziel der allgemeinen Lohnsenkung. Die politisch induzierte tarifvertragliche Festlegung ostdeutscher Löhne und Gehälter einschließlich entsprechender Steigerungsraten, mit denen sie an ein westdeutsches Durchschnittsniveau herangeführt werden sollen, wurde verantwortlich gemacht für das massenhafte Sterben von Betrieben. Schon die Analyse war falsch -und interessengeleitet. Wer nichts oder wenig absetzt, nichts oder wenig einnimmt, der kann auch nur nichts oder wenig ausgeben, also überhaupt keine Löhne zahlen. Das Problem der ostdeutschen Betriebe war der Absatz und die Produktqualität. Aber das sollte nicht in den Vordergrund gerückt werden, man sollte doch von Ostdeutschland lernen, daß die Löhne in ganz Deutschland zu hoch seien. Deswegen mußten wir über den offensichtlichen Unsinn, niedrigere Löhne bedeuteten automatisch mehr Arbeitsplätze, diskutieren: ein untauglicher Versuch, den schwarzen Peter der Verantwortung von Regierung und Treuhand an die Tarifpartner, namentlich natürlich an die Gewerkschaften, weiterzureichen. Die IG Metall machte dem ein Ende, indem sie sich bereit erklärte, bei Betrieben in Notlagen auf das tarifvertraglich schnelle Wachstum der Löhne zu verzichten. Erstaunlich war dann, daß kaum ein Betrieb von dieser Möglichkeit Gebrauch machte. Von denjenigen aber, die glaubten, durch Lohnsenkung ihr Überleben sichern zu können, waren die meisten bereits in so hoffnungsloser Lage, daß der Ausweg versperrt blieb. Mit diesem Tarifvertrag hat eine Falsifizierung der Lohndumpingstrategien stattgefunden, für die wir Ostdeutsche als Vorwand herhalten mußten.

Auch die Beschleunigung von Planungsentscheidungen auf Kosten der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger ist ein relativer Rückschritt, den die Konservativen über ganz Deutschland ausbreiten wollen. Ostdeutsches Einverständnis mit Erfahrungen, die man parteiübergreifend dem „Beschleunigungsgesetz“ zugute hält, soll dafür als schlagkräftiges Argument dienen. Aber hier gilt: Was im Osten des Landes sinnvoll erscheint, ist es nicht überall. Und der Grund für diese These liegt in den Unterschieden zwischen den noch immer geteilten zwei deutschen Gesellschaften: Der Westen ist eine reiche Gesellschaft, die sich mit den Defiziten auseinandersetzt, die auf dem Weg zum Reichtum entstanden sind; der Osten Deutschlands will erst noch reich werden, will die versprochene Angleichung der Lebensverhältnisse.

Daß wir in Ostdeutschland doppelt soviel konsumieren, wie derzeit zu erarbeiten möglich ist, macht die Menschen nicht zufrieden. Wer die Ohren aufsperrt, weiß, daß die Ostdeutschen keinen geborgten Wohlstand wollen. Die berühmt-berüchtigten Transferzahlungen -bei weitem nicht alle aus dem Bundeshaushalt: die 270 Mrd. DM Treuhandschulden zum Beispiel werden künftige Generationen abzuzahlen haben -sind unvermeidliche Konsequenzen nicht rückholbarer politischer Entscheidungen. Zum einen -das betrifft Rechts-ansprüche auf soziale Leistungen -hat sie nicht zuletzt die SPD zu verantworten, weil sie durchsetzte, daß zugleich mit der Währung und mit den wirtschaftlichen auch die sozialen Regeln der westdeutschen sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland gültig wurden. Schon vor der staatlichen Vereinigung, die letzte rechtliche Unterschiede abglich, hatten Ostdeutsche dadurch dieselben Ansprüche auf Sozialhilfe, wenn sie unter die Armutsgrenze fielen. Wer arbeitslos wird, erhält seither Arbeitslosengeld und -hilfe, wem eine zu hohe Miete auferlegt wurde, der bekommt Wohngeld. Auch die Mitbestimmungsrechte von Betriebs-und Personalräten gelten seither in Ostdeutschland. Zum anderen sind die Transfers ein folgerichtiger Versuch, den Zerstörungen des Transformationsprozesses etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Es ist unwahrscheinlich, daß ohne diese im wesentlichen im Westen erarbeiteten Sozialleistungen, ohne die Heranführung der Löhne an westliches Niveau, ohne die angepaßten Renten, ohne die Investitionen in die ostdeutsche Infrastruktur und ohne die Bemühungen, wenigstens einen Teil der Industrie zu erhalten und fortzuentwickeln, der Transformationsprozeß bis heute so ruhig verlaufen wäre. Die finanzielle Unterstützung jetzt rapide zu verkleinern, würde das Aufgebaute wieder gefährden. Es gibt nur die Wahl, Ostdeutschland mit Transferzahlungen auf­zubauen oder an den sozialpolitischen Tropf zu hängen. Das eine kostet heute und noch Jahre sehr viel Geld, das andere kostet auf Dauer, ohne Ende.

Wo stehen wir heute? Die ökonomische Lage in Ostdeutschland war zwischenzeitlich so niederschmetternd schlecht, daß eine langsame Besserung geradezu unvermeidbar wurde. Es konnte eigentlich nur noch aufwärts gehen. Entgegen regierungsamtlichen Erfolgsmeldungen kann man konstatieren, daß es in Ostdeutschland heute ökonomisch zwar besser wird, es aber noch lange nicht gut geht. Nimmt man den Durchschnitt der soge-nannten neuen Bundesländer, bedeuten die so hochgelobten heutigen Wachstumsraten doch nur, daß es noch immer mehr als 10 Jahre dauern wird, bis in Ostdeutschland von einer Angleichung an die durchschnittlichen wirtschaftlichen Standards im Westen die Rede sein kann.

Deshalb empört mich die undifferenzierte Forderung nach Abschmelzen der Fördermittel, empört der quasi-amtliche Vorwurf der Bundesbank an Ostdeutschland, dort entwickle sich eine „Subventionsmentalität“, deshalb empört, daß im Schatten einer Verschwendungskampagne, die von der bayerischen Landesregierung und einem Wochen-magazin eingeleitet worden war, und beruhigender Widerlegungen entsprechender Vorwürfe durch den Wirtschaftsminister tatsächlich bereits erhebliche Kürzungen der Förderung für die ostdeutsche Wirtschaft vorgenommen werden. Es bilden sich zwar -und glücklicherweise -ostdeutsche Inseln der Produktivität heraus, die der besonderen Förderung kaum noch bedürfen. Das sind aber nur ganz wenige und sie sind sehr klein. Schon deshalb dürfen sie nicht zum Vorwand für einen Rückzug staatlicher Wirtschaftspolitik werden. Man zahlt dort übrigens keine Westlöhne, obwohl -etwa im Opelwerk Eisenach -die Produktivität längst höher ist als in Rüsselsheim.

Was die unmittelbare Förderpolitik betrifft, werden wir sicher stärker differenzieren müssen. Die entscheidende Frage ist, wofür der Bund Mittel in die Wirtschaft gibt. Aber solange wir in Ostdeutschland unser Brot nicht selbst erarbeiten können, weil weder Wirtschaft noch Politik die Rahmenbedingungen dafür geschaffen haben, brauchen wir Transfers im bisherigen Umfang, um diese Möglichkeiten zu schaffen. Die Menschen in Ostdeutschland wollen nicht durch Subventionen alimentiert werden, sie wollen Arbeit. Der Gedanke, in Ostdeutschland nur bestimmte Branchen oder Produktionen zu fördern und anzusiedeln, gehört aber heute noch ins Reich der Visionen. Das ist vielleicht eine Idee für reiche Gesellschaften, nicht für solche, in denen es an Arbeit überhaupt mangelt. Weil es diesen Mangel aber nahezu flächendeckend gibt, die Menschen immer noch Arbeit suchen, gibt es keine Wahl: Investoren -gleich welcher Branche -, die Arbeitsplätze mitbringen, können praktisch nicht abgewiesen werden.

Im Westen bilden sich, bei sich schon wieder abschwächender Konjunktur, in manchen Regionen neue Problemzonen heraus, deren vergleichsweise katastrophal hohe Arbeitslosigkeit an ostdeutsche Größenordnungen heranreicht. In einer weiteren zeitlichen Perspektive darf es also keine Rolle mehr spielen, ob ein Problemgebiet im Osten oder im Westen Deutschlands liegt. Die Kriterien für den Einsatz staatlicher Wirtschaftsförderung müssen für alle Teile des Landes gleich sein und sich nach der jeweiligen ökonomischen und der Arbeitsmarktsituation richten. Ökonomisch kann die innere Einheit immer noch gelingen, wenn der mithelfende Staat sich nicht zu früh zurückzieht. Daß er sich (nahezu ganz) zurückziehen möge, ist ohnehin nur der Wunsch wirklichkeitsfremder, ordoliberaler Ideologen. Wieso soll er sich aus Ostdeutschland zurückziehen und im Ruhrgebiet weiter wirken? War die langfristige und teure staatliche Aktivität an der Ruhr etwa ein Mißerfolg? Bestimmt nicht. Und warum soll es ein solches langfristiges Engagement im Osten nicht geben?

Mit diesen Fragen sind wir in der Sphäre des Gesellschaftlichen und des Mentalen. Und da hat sich seit 1990 manches ganz unerwartet verändert. Daß im Westen das Interesse abflauen würde, gehört noch nicht zu den Überraschungen. Daß sich aber im Osten gegen westliche Gleichgültigkeit ebenso wie gegen westliche Dominanz und Belehrungen ein neues Selbstbewußtsein herauszubilden beginnt, hat westlich der Elbe kaum jemand erwartet. Einigende Bänder gibt es heute viele, sie haben vor allem mit der Mobilität der Menschen zu tun. Daß aber im Herbst 1989 Sicherheit und Abwehr von bürokratischer Gängelei Vorstellungen waren, die sich mit dem Ziel der Einheit verbanden, klingt heute fast komisch. Sicher waren die Wohnung und der Arbeitsplatz oder die Lehrstelle in der DDR -sie sind es heute nicht. Daß die preußisch-russische Gängelei der Bürokraten vom Westen übertroffen werden könnte, hätte niemand geglaubt; daß sie erstere mit der Einheit bloß eingetauscht hat gegen eine zu mannigfachen Laufereien zwingende neue Bürokratie, prägt die aktuelle ostdeutsche Sicht.Dem Wunsch zum Innehalten, zum Abschied nehmen, zur Bilanz -was haben wir gewonnen, was haben wir verloren, was kann man noch „einbringen“ in den gemeinsamen Staat -kann jetzt erst nachgegeben werden. Und es sind nicht wenige Themen, bei denen Ostdeutsche zu anderen Ergebnissen kommen als Westdeutsche.

Die Arbeit ist ein solches „trennendes“ Thema. Während in Westdeutschland mit großer Plausibilität darüber diskutiert wird, vorhandene Arbeit zu teilen, wird in Ostdeutschland geradezu händeringend nach Arbeit gesucht. Es gibt so wenig, daß von Teilen nicht die Rede sein kann. Natürlich wird der solidarische Teil der Argumente -wenn nicht genug Arbeit für alle da ist, müssen wir sie uns eben teilen -in Ostdeutschland verstanden. Demgegenüber herrscht über den hedonistischen Aspekt der Debatte Kopfschütteln vor, scheint es doch so zu sein, als ob manche im Westen der vielen Arbeit überdrüssig seien, während alle im Osten über den Mangel an bezahlter Arbeit klagen. Nun ist diese Art von Hedonismus Sache einer nur ganz kleinen Minderheit. Tatsächlich besteht Einigkeit in Deutschland darüber, daß Arbeit ein hohes Gut ist und es besser ist, Arbeit zu haben, als arbeitslos zu sein. In ganz Deutschland sind wir eine Arbeitsgesellschaft. Aber unterhalb dieser Übereinstimmung ist vieles anders. Die Diskussion in Politik und Gewerkschaften geht zum Beispiel davon aus, daß es einen sehr viel höheren Bedarf an Teilzeitarbeitsplätzen gäbe, wenn einige ihrer Nachteile beseitigt würden. Teilzeitarbeit ist in diesem westlichen Verständnis nicht nur eine Notlösung für Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, sondern ein Angebot, das vielen Menschen in ihfe persönliche Lebensplanung passen würde. Die ostdeutsche Zurückhaltung -es gibt trotz allgegenwärtiger Arbeitslosigkeit eine deutlich geringere Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen -erklärt sich dagegen daraus, daß sie nicht als „richtige“ Arbeit, sondern als bloße Notlösung verstanden wird. Arbeit wird in Ostdeutschland zunächst assoziiert mit Bildern aus der Produktion, Industriearbeit. Die DDR war keine Dienstleistungsgesellschaft; man machte sich regelmäßig bei der Arbeit schmutzig und erwarb sich gerade dadurch Ansehen. Diese Zeit ist im Westen längst vorüber gewesen, als die Einheit gelang, Kumpel und Stahl-arbeiter sind heute selbst im Ruhrgebiet in der Minderheit. Es ist geradezu tragisch, daß die seit fünf Jahren erstmals und immer noch von dramatischer Arbeitslosigkeit betroffenen Ostdeutschen eine „ausgeprägtere Arbeitsorientierung haben“ als Westdeutsche, die Familie und Freizeit größere Bedeutung zumessen. In der DDR gab es eine spezifische „proletarische“ Kultur, besonders in den Betrieben, die mit der Vereinigung und der De-industrialisierung zwangsläufig erlosch. In Westdeutschland war längst in der Minderheit, wer sich dem Arbeitermilieu zugehörig fühlte. In Ostdeutschland zählen sich dagegen 61 Prozent zur Arbeiterschicht.

Der Betrieb war in der DDR ein kultureller Ort; es ist nicht übertrieben, ihn sogar als Mittelpunkt des sozialen Lebens zu bezeichnen, die Brigade mindestens als zweite „Familie“. Auch diser Teil der Arbeit ist mit der Entindustrialisierung Ostdeutschlands verschwunden. Strenge betriebswirtschaftliche Funktionalität, professionelle Perfektion lassen es gar nicht zu, den Betrieb und die Arbeit zu einem Lebensmittelpunkt oder gar zu einem kulturellen Ort zu machen -trotz der vielen Stunden, die die Beschäftigten dort verbringen. Eine strengere Trennung von Privatsphäre und Arbeitswelt wird dadurch erzwungen. Jetzt läßt man pünktlich „den Griffel fallen“, man flieht den Betrieb -gerade bei Dienstleistungseinrichtungen in Westdeutschland kann man das oft beobachten -, weil man den Feierabend ersehnt hat, weil man hofft, noch eine Menge Energie erübrigen zu können für die Gestaltung der Freizeit. Für diese Menschen ist der Arbeitsplatz offenbar ein eher unwirtlicher Ort. Das „eigentliche Leben“ beginnt nach der Arbeit, sie gehört nicht dazu, ist bloß notwendiges Übel. Erst im Falle von Arbeitslosigkeit erkennt man die andere Bedeutung der Arbeit wieder: wenn und weil es daran dann mangelt. Aber dieser Weg zur inneren Einheit -über allseitige noch höhere Massenarbeitslosigkeit als heute -scheidet ja wohl aus.

Verstörend ist auch das Schicksal der Frauen im Berufsleben. Daß die hochgelobte Gleichberechtigung der Frauen in der DDR doch mehr Wunsch als Wirklichkeit war, weil sie sich vor allem auf Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit beschränkte, der 94 Prozent der Frauen entsprechenden Alters nachgingen, konnte man wissen. Daß daraus so schnell der Umkehrschluß gezogen würde, daß die Frauen nun in so geringer Zahl wie im Westen berufstätig sein sollen, ist zumindest von den Betroffenen kaum erwartet worden. Tatsächlich aber kann heute ein ostdeutscher Ministerpräsident hohe Arbeitslosigkeit damit beschönigen, daß sie mit 8, 3 Prozent in Sachsen genauso hoch wie in Niedersachsen sei, wenn man bloß die Frauen aus der Quote herausrechne. Der Sturm der weiblichen Entrüstung darüber bleibt jedenfalls aus. Wohin werden dann die ostdeutschen Frauen hinausgerechnet? Der entsprechende Fachbegriff heißt „Stille Reserve“.

Das kontrastiert mit einer -wie ich finde -folgerichtigen Haltung der Ostdeutschen, mit der sie den als deklassierend empfundenen Auswirkungen westlicher Dominanz begegnen: Man läßt sich seine Lebensleistungen nicht mehr von Westdeutschen oder überschlauen Medien wegreden. Die Zeit des Sich-Duckens ist vorbei. Der Spruch, an der DDR sei nicht alles schlecht gewesen, kann kaum noch zurückgewiesen werden, wenn er auf die soziale Sicherheit anspielt, die dieses System zweifellos bot. Und er duldet auch insoweit keinen Widerspruch, als es keine Schande sein darf, ein Leben -wie anständig und in Würde auch immer -in der DDR verbracht zu haben. Es kann nicht alles falsch und schlecht gewesen sein. Daß diese emotionale Haltung am Anfang unter Ideologie-verdacht stand, so, als ob man die DDR als System verteidigen wolle, wird nun nicht mehr akzeptiert. Nein, die jeweils eigene Biographie zu verteidigen ist eine Notwendigkeit, die fast alle Westdeutschen, deren Lebenslauf nicht öffentlich in Frage gestellt wird, unterschätzen.

Immer wieder taucht die Frage auf, ob nicht ein paar Strukturen oder Einrichtungen aus der DDR in das vereinigte Deutschland hätten eingebracht werden können. Die Polikliniken zum Beispiel, in denen die Fachärzte unter einem Dach versammelt waren und man ohne bürokratischen Aufwand und Zeitverlust von einem zum anderen fachlich geeigneten Arzt gehen konnte. Mit diesen Einrichtungen könnten Ausgaben begrenzt werden.

Die Debatte des Jahres 1990 über den § 218 war so ein Versuch, wenigstens noch eine DDR-Regelung auf ganz Deutschland auszudehnen. Aus verschiedenen Gründen war den Frauen in der DDR zugestanden worden, was die deutsche und westdeutsche Frauenbewegung seit einem Jahrhundert vergeblich anstrebte. Der Versuch, dieses zu bewahren, endete in Halbheiten; es sollte noch fast fünf Jahre dauern, bis eine ganz andere Regelung für das Problem von Schwangerschaftskonflikten gefunden wurde.

Man muß auch den Einigungsvertrag selbst noch einmal bedenken, über den wahrlich nicht nur lobende Worte gefunden werden können. Schon der Name ist ein Euphemismus, der suggeriert, es habe eine Einigung verschiedener Standpunkte gegeben. Tatsächlich bestand die Einigung im wesentlichen darin, daß die ostdeutsche Regierung zu akzeptieren hatte, was die westdeutsche vorschlug. So ist der Vertrag vor allem eine penible Fleißarbeit kenntnisreicher westdeutscher Beamter. Politisch ist er unverzichtbares Instrument zur Herstellung der staatlichen Einheit, die ohne den Vertrag sicher weitaus chaotischer verlaufen wäre. Inhaltlich finde ich ihn zwar immer noch viel zu fehlerhaft, was mich aber 1990 nicht davon abgehalten hat, dem Vertrag zuzustimmen. Auch heute noch ist mir die Einheit selbst wichtiger als die einzelnen Fehler des Vertrages. Trotzdem gehören sie in eine Bilanz nach fünf Jahren: Eigentumsregelung und die Art und Weise der Privatisierung der Betriebe durch die Treuhandanstalt offenbaren den ideologischen Charakter des Vertrages. Sie sind Ursache für den vielfachen und langanhaltenden Streit zwischen Menschen, die in Ostdeutschland Häuser und Grundstücke bewohnen, und jenen, die alte Besitztitel daran haben; sie sind Hauptursache für langsame oder ausbleibende Investitionen und damit auch für die Massenarbeitslosigkeit, und sie spielen auch eine Rolle bei der inzwischen sichtbaren Verödung ostdeutscher Innenstädte. Man darf nicht übersehen, wie insbesondere die Schulden, die uns die Treuhand hinterlassen hat und die sogenannten Altschulden aus der DDR dazu beitragen, private Unternehmer und Unternehmen reicher, die öffentlichen Hände aber ärmer zu machen.

Und trotzdem: Das gigantische Projekt der deutschen Einheit kann, es muß gelingen. Im Rückblick auf die ersten fünf Jahre deutscher Einheit hat vor allem den Menschen im vereinten Deutschland Respekt zu zollen: den Westdeutschen, weil sie weitgehend klaglos die notwendigen Leistungen erbracht haben -durch Konsumverzicht oder durch zusätzliche Wertschöpfung den Ostdeutschen, weil sie dieses rasante Tempo einer wirklich radikalen Veränderung aller Lebensbereiche und Gewohnheiten nicht nur durchgestanden haben: Sie haben mit dem Neuen umzugehen gelernt, es schließlich mitgestaltet. Sie waren und sind nicht nur geduldig, sondern auch beharrlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans J. Veen/Carsten Zelle, Zusammenwachsen oder Auseinanderdriften, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin 199512, S. 21.

Weitere Inhalte

Wolfgang Thierse, geh. 1943; Studium der Kulturwissenschaften und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1975-1976 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR; danach wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, im Zentralinstitut für Literaturgeschichte; Anfang Oktober 1989 Unterschrift beim Neuen Forum; Januar 1990 Eintritt in die SPD; Vorsitzender des Bezirksparteirates der SPD/Berlin (Ost), Juni bis September 1990 Vorsitzender der SPD; Mitglied der Volkskammer vom 18. März bis 2. Oktober 1990; Mitglied des Bundestages seit 3. Oktober 1990; stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und der SPD. Veröffentlichungen u. a.: Mit eigener Stimme sprechen, München 1992; (Hrsg. zus. mit Michael Müller) Deutsche Ansichten. Die Republik im Übergang, Bonn 1992; Von den Ursachen rechtsextremer Jugendgewalt in Ostdeutschland, in: Hubertus Heil/Muzaffer Perik/Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.), Jugend und Gewalt, Marburg 1993; Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31/93; Wahl '94: Was tun?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/94.