I. Der neue Rahmen der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989 und die deutsch-polnischen Verträge 1990/91
Die politischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland blieben unter den weltpolitischen Bedingungen der „bipolaren Welt“ belastet von ungelösten Problemen. Bis zum Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 sträubte sich die Bundesrepublik -im Gegensatz zur DDR -dagegen, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Erst der Warschauer Vertrag brachte eine gewisse Entspannung auf diesem Gebiet Beharrlich vertraten ihrerseits die kommunistischen Machthaber Polens die These, es gäbe in Polen keine deutsche Minderheit. Ebenso forderten sie von den Westdeutschen, daß sie -den DDR-Deutschen gleich -nur die polnischen Namen der nunmehr in Polen liegenden früheren deutschen Orte benutzen sollten.
An gutem Willen mangelte es vielen Polen und Deutschen, die aus der Geschichte lernen wollten, trotzdem nicht Daß es sich hier vor allem um Menschen aus der geistigen Elite der beiden Völker handelte -Vertreter der polnischen Inteligencja, der deutschen Intellektuellen, der Kirchen in den beiden Ländern -, war einerseits vielversprechend, offenbarte andererseits aber die Unmöglichkeit ungehinderter, spontaner Kontakte der beiden Völker.
Der polnische Umbruch der Jahre 1988/89 öffnete zwar den Weg für ein neues deutsch-polnisches Verhältnis. Polen befreite sich ja Schritt für Schritt aus dem Korsett des sowjetsozialistischen Systems. Doch erst die Wiedervereinigung Deutschlands und der fortschreitende Zerfall der Sowjetunion haben die weit-und systempolitischen Rahmenbedingungen des deutsch-polnischen Verhältnisses endgültig verändert. Dieses fand seinen Ausdruck in den historischen deutsch-polnischen Verträgen vom 14. November 1990 (über die Bestätigung der Grenze -der sog. Kleine Vertrag) , und vom 17. Juni 1991 (über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit -der sog. Große Vertrag) Wegen der grundlegend veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen kann man nur schwer behaupten, daß der Nachbarschaftsvertrag eine Art Fortsetzung des Warschauer Vertrages über die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 13. Dezember 1970 ist Vielmehr handelt es sich um einen gewaltigen qualitativen Sprung Zum ersten gibt es nicht mehr die Subjekte dieses Vertrages -selbst wenn man zur Kenntnis nimmt, daß die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung ebenso in die Rechtsnachfolge der „alten“ Bundesrepublik wie die Republik Polen in die der Volksrepublik Polen eingetreten ist. Zum zweiten regulierte der Warschauer Vertrag fast ausschließlich die Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze (Art. 1). Alles in allem besteht er aus lediglich fünf Artikeln. Der Vertrag vom 17. Juni 1991 enthält dagegen 38 Artikel und spricht nur in der Präambel die Frage der deutsch-polnischen Grenze an, indem er nämlich den „Kleinen Ver-trag“ würdigt. Berücksichtigt man schließlich die Tatsache, daß der Warschauer Vertrag sozusagen nur im Kielwasser des Moskauer Vertrages (zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion) vom August 1970 zustande kommen konnte, wird die neue Qualität des Nachbarschaftsvertrages offensichtlich.
Der Nachbarschaftsvertrag kann als eine Antwort auf eine historische Herausforderung betrachtet werden. Denn die außenpolitische Konjunktur für das gegenseitige Verhältnis zwischen Polen und Deutschland scheint die beste seit über 300 Jahren zu sein. Der Vertrag wird ihr gerecht, indem er sich der polnisch-deutschen Beziehungen zukunftsweisend annimmt. Sein zukunftsweisender Charakter kommt -zum ersten -in seinem recht umfassenden Regulierungsbereich zum Ausdruck. Er behandelt folglich die Probleme der bilateralen politischen und ökonomischen Beziehungen, der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, der direkten Kontakte zwischen den Bürgern beider Staaten (hier u. a.den Jugendaustausch) sowie die regionale und die kulturelle Zusammenarbeit. Zweitens betont der Vertrag die „größte Bedeutung“ der Europäischen Einigung, wobei sich die Bundesrepublik zur Hilfe bei der „Heranführung der Republik Polen an die Europäische Gemeinschaft“ verpflichtet (Art. 8). Die europäische Ausrichtung des Vertrags läßt hoffen, daß die strittigen Punkte der Nachbarschaft im sich einigenden Eur Die europäische Ausrichtung des Vertrags läßt hoffen, daß die strittigen Punkte der Nachbarschaft im sich einigenden Europa geklärt werden können. Insofern liegt es sowohl im polnischen als auch im deutschen Interesse, daß Polen möglichst schnell ein Mitglied des vereinten Europa wird.
Da dies noch nicht der Fall ist, wird im „Briefwechsel zum Vertrag“ 7 auf diese Streitpunkte aufmerksam gemacht. Beide Seiten sind sich darin einig, daß der Vertrag die Fragen der Staatsangehörigkeit und des Vermögens (vor allem der nach dem Zweiten Weltkrieg aus den polnisch gewordenen deutschen Ostgebieten zwangsweise umgesiedelten bzw. vertriebenen Deutschen und der polnischen Kriegsentschädigungsansprüche) nicht regelt. Die polnische Seite sieht sich zudem „derzeit“ nicht imstande, offizielle topographische Bezeichnungen in traditionellen Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit auch in deutscher Sprache zuzulassen. Polnische Kommentatoren behaupten übereinstimmend, daß der Vertrag nicht „ideal“, dafür aber „optimal“ sei 8.
Bezüglich der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schon oft von „Normalisierung“ und „Versöhnung“ gesprochen, die anzustreben seien Die beiden Begriffe sind mittlerweile leider relativ verbraucht, was um so trauriger stimmt, als es erst seit 1991 möglich geworden ist, diese Ziele mit Unterstützung des deutschen und des polnischen Staates tatsächlich mit Leben zu füllen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wie auch wegen der Auflösung der DDR ist das Aufkommen des Begriffs „Nachbarschaft“ zu sehen.
Polen und Deutsche sind Nachbarn seit nunmehr 1000 Jahren. Es handelt sich hier also um eine sehr alte Nachbarschaft, die infolge der weltpolitischen Wandlungen der achtziger Jahre wiederbelebt wird. Aus diesem Grund wird im Titel dieses Aufsatzes über eine „Normalisierung der neuen alten Nachbarschaft“ gesprochen. Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte Anfang Juni dieses Jahres vor dem Deutschen Bundestag, daß diese Nachbarschaft als Vorbild für das gespannte deutsch-tschechische Verhältnis dienen könne Der Juli-Besuch des deutschen Regierungschefs in Polen verlief in geradezu herzlicher Atmosphäre. Die insgesamt erstaunlich positive Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses darf freilich über die noch bestehenden Probleme nicht hinwegtäuschen.
II. Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen
Von der breiten Öffentlichkeit Deutschlands kaum bemerkt, ist Polen in den vergangenen Jahren unter den postkommunistischen Handelspartnern der Bundesrepublik zum wichtigsten Konkurrenten Rußlands geworden. Die polnischen Exporte nach Deutschland sind im vorigen Jahr um 18 Prozent gewachsen, die Importe aus Deutschland um Prozent 11. Das Gesamtvolumen des deutsch-polni-sehen Handels hat im gleichen Jahr 20 Mrd DM überschritten Die Tendenz ist weiter steigend, wobei bei polnischen Ausfuhren die Enderzeugnisse und nicht mehr die Rohstoffe bzw. Halbfabrikate einen immer größeren Anteil haben Was die deutschen Investitionen in Polen angeht, so steigen auch diese kontinuierlich. Zwar ist Deutschland in Polen nicht -wie etwa in der Tschechischen Republik, wo deutsche Investitionen ca. 40 Prozent aller Auslandsinvestitionen ausmachen -zum wichtigsten Investor geworden doch speziell in diesem und im vorangegangenen Jahr sind die deutschen Investitionen in Polen gestiegen.
Noch vor einigen Jahren sah die Lage recht düster aus. Die Entwicklungsunterschiede beider Volkswirtschaften hatten zur Folge, daß noch in den Jahren 1990/91 bei den polnischen Exporten die wenig verarbeiteten Produkte überwogen D Mrd DM überschritten 12. Die Tendenz ist weiter steigend, wobei bei polnischen Ausfuhren die Enderzeugnisse und nicht mehr die Rohstoffe bzw. Halbfabrikate einen immer größeren Anteil haben 13. Was die deutschen Investitionen in Polen angeht, so steigen auch diese kontinuierlich. Zwar ist Deutschland in Polen nicht -wie etwa in der Tschechischen Republik, wo deutsche Investitionen ca. 40 Prozent aller Auslandsinvestitionen ausmachen 14 -zum wichtigsten Investor geworden 15, doch speziell in diesem und im vorangegangenen Jahr sind die deutschen Investitionen in Polen gestiegen.
Noch vor einigen Jahren sah die Lage recht düster aus. Die Entwicklungsunterschiede beider Volkswirtschaften hatten zur Folge, daß noch in den Jahren 1990/91 bei den polnischen Exporten die wenig verarbeiteten Produkte überwogen 16. Die polnischen Experten schätzten, daß ihr Land durch den Abbruch der ökonomischen Beziehungen zur früheren DDR einen Verlust von etwa einer Mrd. DM erlitten hat 17. So betrug im Jahre 1992 der polnische Export in das Territorium der ehemaligen DDR lediglich knapp über 27 Prozent der polnischen Ausfuhren in die DDR im Jahre 1989. Die polnischen Importe sanken sogar auf das Niveau von 16, 8 Prozent der Einfuhren von 1989 ab 18. Zugleich aber wuchs das Handelsvolumen Polens mit der „alten Bundesrepublik“.
Obwohl mittlerweile in Polen die bekanntesten deutschen Unternehmen vertreten sind, bringen sie jedoch bisher sehr wenig Kapital mit 19. Insge samt beträgt der deutsche Anteil an ausländischen Investitionen in Polen (z. Z. insgesamt ungefähr fünf Mrd. US-Dollar) ca. zehn Prozent (der dritte Platz unter den ausländischen Investoren nach den Vereinigten Staaten und Italien) 20. Es wäre jedoch völlig verfehlt, angesichts dieser ernüchternden Zahlen über das deutsche Kapital in Polen in Pessimismus zu verfallen. Denn bereits im Dezember 1993 stellte der polnische Ökonom Jerzy Kleer völlig zu Recht fest, daß Deutschland zum wichtigsten Wirtschaftspartner Polens geworden ist Er betonte, daß vorwiegend die privaten polnischen Firmen mit Deutschland handeln (hieraus resultierten 70 Prozent der polnischen Importe und 50 Prozent der Exporte im Jahre 1993). Die meisten dieser Firmen existierten vor 1989 gar nicht, was auf außerordentlich hohe Zuwachsraten schließen läßt. Zu diesen Zahlen kommen noch 3-4 Mrd. DM hinzu, welche von den deutschen Besuchern (ca. 50 Mio. im Jahr 1994!) im kleinen Grenzverkehr auf der polnischen Seite Jahr für Jahr ausgegeben werden. 1990 betrug der polnische Anteil am deutschen Ost-Export 14, 4 Prozent, um zwei Jahre später bereits die Quote von Prozent zu erreichen. „Die Deutschen“ -resümierte Kleer -„sind für uns ein ungeheuer wichtiger Partner, doch auch wir sind für sie nicht ohne Bedeutung.“ 22
Der Nachbarschaftsvertrag (Art. 10, 3) hat ferner dazu beigetragen, daß die Bundesregierung konsequent die polnischen Bemühungen um Reduzierung der in der kommunistischen Zeit gemachten Auslandsschulden Polens unterstützte. Die Hermes-Kredite haben zusätzlich ihren Anteil an der im großen und ganzen doch beeindruckenden Entwicklung der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen.
III. Schwierigkeiten der regionalen Zusammenarbeit
Trotz aller Erfolge der ökonomischen Zusammenarbeit wird die Oder-Neiße-Grenze Schritt für Schritt zu einer Wohlstandsgrenze. In den neuen Bundesländern werden Jahr für Jahr Hunderte Milliarden DM investiert -Summen, mit denen man in polnischen Augen ganze Kontinente hätte sanieren können. Diese Ungleichheit der Entwicklungschancen bestimmt maßgeblich die Probleme der regionalen und grenznahen Zusammenarbeit In Artikel 12 des Nachbarschaftsvertrages unterstreichen beide Seiten deren Bedeutung. Bereits seit Juni 1990 gibt es deshalb eine deutsch-polnische Regierungskommission, in der die deutschen Länder und polnischen Wojewodschaften (Amtsbezirke) Zusammenarbeiten.
Symptomatisch für die Schwierigkeiten der beiderseits gewünschten regionalen Zusammenarbeit zwischen dem wohlhabend werdenden Europa (die neuen Bundesländer) und dem sich immer noch am Anfang des Weges zum Wohlstand befindenden Europa (Polen, Tschechien) sind die Probleme der Euroregion Neiße (Nysa, Nisa), die im Mai 1991 unter der Schirmherrschaft der Präsidenten Richard von Weizsäcker, Väclav Havel und Lech Walgsa ins Leben gerufen wurde. Entlang der deutsch-polnischen Grenze gibt es außerdem noch weitere Euroregionen: „Spree-Neiße-Bober“, „Pro Europa Viadrina“ und „Pomerania“ (in Ansätzen). In der Region „Neiße“, die zu den Gebieten mit der schlechtesten Infrastruktur in Europa gehört, wohnen über 1, 6 Mio. Menschen, wobei 713000 auf der deutschen und über 400000 auf der polnischen Seite leben. In der Region dominieren die veralteten Industrien, die für die ökologische Katastrophe verantwortlich sind. Man lebt dort im Durchschnitt fünf Jahre kürzer als woanders in Europa
In einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung erstellten Bericht wurde die Entwicklung der Neiße-Region durchweg positiv bewertet, allerdings nur im Sinn der „Schaffung notwendiger, organisatorischer und inhaltlicher Voraussetzungen für spätere Aktivitäten“ Noch sachlicher werden die Ergebnisse der regionalen Zusammenarbeit in diesem deutsch-tschechisch-polnischen Dreieck in Polen gesehen. Die Polen stellen zuallererst fest, daß sie an die unterentwickeltsten Gebiete Deutschlands grenzen, von welchen keine Impulse für die Wirtschaftsentwicklung in Polen zu erwarten sind.
Nicht ohne einen deutlichen Beigeschmack der Enttäuschung und Ironie zählt ein polnischer Autor auf, was als bisherige Erfolge der Euro-region verbucht werden könne. Demnach wurden 30 verschiedene gemeinsame Veranstaltungen organisiert (Handel, Kultur, Sport), man beschleunigte den Bau des Autobahnübergangs in der Nähe von Zgorzelec (Görlitz) sowie die Arbeiten an der Bahn zwischen Jelenia Göra (Hirschberg) und Liberec (Reichenberg) ebenso wie die Errichtung einer E-Mail-Verbindung zwischen Jelenia Göra, Zittau und Liberec. Es wurde ein Videofilm über die Euroregion gedreht, eine touristische Karte der Region und (aus Geldmangel) nur eine Nummer einer dreisprachigen Zeitschrift über die Region herausgegeben. In Zittau wurde schließlich ein Institut eröffnet, das die Kader für die Euro-region ausbilden soll
Auch in den sonstigen deutsch-polnischen Euro-regionen kann man nicht von spektakulären Erfolgen sprechen, obgleich durchaus guter Wille vorhanden ist Es ist offensichtlich, daß die regionale Zusammenarbeit an der Oder und Neiße ohne nennenswerte materielle Unterstützung seitens der jeweiligen Regierungen sowie aus Brüssel weiterhin nur bescheidene Ergebnisse liefern wird
IV. Die deutsche Minderheit in Polen und die Polonia in Deutschland
Einen historisch und auch gegenwärtig besonders belasteten Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen stellen die Probleme der deutschen Minderheit in Polen und -zunehmend -der „Polonia“ (so werden im Polnischen die im Ausland lebenden Polen genannt) in Deutschland dar. Die erste nichtkommunistische polnische Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg unter Tadeusz Mazowiecki widerrief die kommunistische Behauptung, es gäbe keine deutsche Minderheit in Polen. Somit konnte es zu einer Entspannung auf diesem Gebiet kommen, die u. a. an den rapide zurückgehenden Aussiedlerzahlen abzulesen ist Die Pflege der deutschen Kultur und Sprache in den Siedlungen der deutschen Minderheit (vor allem im Bezirk Oppeln und in der Stadt Kattowitz) ist möglich geworden. Im Nachbarschaftsvertrag sind Rechte und Möglichkeiten der Minderheit aufgezählt, wobei ausdrücklich betont wurde, daß deren Verwirklichung die internationalen Standards für Minderheiten erfülle (Art. 20, 2).
Sieht man von Störungsversuchen seitens der extremen Kräfte auf deutscher und polnischer Seite ab so ist das Problem der deutschen Minderheit in erster Linie und wahrscheinlich auf längere Sicht von der Staatsangehörigkeitsfrage überschattet. Der Ursprung dieser Probleme liegt im bundesdeutschen Verständnis der Staatsangehörigkeit (Art. 116 des Grundgesetzes). Im Gespräch mit einem polnischen Journalisten erklärte Günter Hübner vom Pressebüro der deutschen Botschaft in Warschau: „Es gilt bei uns das, Gesetz des Blutes'. Die Staatsbürgerschaft ist etwas nach Art der Gene. Es befindet sich im Menschen und ist untrennbar mit ihm verbunden, unabhängig vom Geburtsort. Deshalb geben wir keine Staatsbürgerschaft, erteilen wir diese auch nicht, sondern bestätigen sie mit dem entsprechenden Dokument.“
Die deutschen Konsulate in Polen „bestätigen“ dementsprechend die deutsche Staatsbürgerschaft deutschstämmiger polnischer Staatsbürger, indem sie ihnen deutsche Pässe ausstellen. 88000 Angehörige der deutschen Minderheit haben in den letzten Jahren diese Pässe entgegengenommen. Solch eine Praxis ruft in Polen Ärger und Befürchtungen hervor, zumal einige polnische Staatsbürger mit der deutschen Staatsbürgerschaft sich dem polni-sehen Wehrdienst entziehen Die offizielle polnische Seite zeigt freilich „stilles Verständnis“ für das deutsche Vorgehen, weil sie der inoffiziellen deutschen Begründung folgt, eine Anpassung des bundesdeutschen Staatsangehörigkeitsbegriffes an das „westliche“ Verständnis von der (sogenannten politischen) Nation würde eine Immigrationswelle von Aussiedlern provozieren
Das vom Grundgesetz vertretene Verständnis von der deutschen Nation macht es unmöglich, selbst die zahlenmäßige Stärke dieser Minderheit zu bestimmen. Obgleich alle emstzunehmenden, von der deutschen Minderheit gemachten Schätzungen besagen, daß sie nicht mehr als 500000-600000 Menschen zählt wird auf der deutschen Seite seit Jahren ab und zu sogar von 1, 5 Millionen gesprochen Aus den offiziellen deutschen Quellen geht gleichzeitig hervor, daß in den achtziger und neunziger Jahren ca. 800000 bis 900000 Deutschstämmige Polen verlassen haben
Die Vertreter der deutschen Polonia beklagen die auffallende Unterschiedlichkeit der Behandlung der Deutschen in Polen und der Polen in Deutschland. Im Nachbarschaftsvertrag wird zwar klar von der „deutschen Minderheit in der Republik Polen“, doch umgekehrt lediglich von „Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur und Tradition bekennen“ (Art. 20) gesprochen. So verfügen die Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen aufgrund von Bestimmungen des pol-nischen Wahlrechts, das die Vertretungen der nationalen Minderheiten von der Geltung der 5-Prozent-Sperrklausel ausnimmt, über eine De-facto-Garantie des Einzugs in das Parlament. Seit 1991 stellen sie demnach einige (zuletzt 4) Abgeordnete im Sejm und einen Senator (Prof. Gerhard Bartodziej); sie haben übrigens neben der polnischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die in Deutschland lebenden Polen haben dagegen keine entsprechende politische Vertretung. Sie kritisieren diesen Umstand heftig, ohne allerdings die Tatsache wahrzunehmen, daß in Deutschland alle Ausländer, die nicht aus den EU-Ländern kommen, nicht nur in der Frage ihrer politischen Vertretung rechtliche Benachteiligungen zu ertragen haben
Augenscheinlich ist die Benachteiligung der Polonia-Polen beim Einbürgerungsverfahren. Während ein in Polen lebender Deutschstämmiger den deutschen Paß erhalten darf, ohne die polnische Staatsbürgerschaft aufgeben zu müssen, wird ein in Deutschland lebender Pole von den deutschen Behörden gezwungen, auf seine polnische Staatsbürgerschaft zu verzichten, falls er den Weg der Einbürgerung gehen möchte. Sowohl für den Verzicht auf die polnische als auch für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft muß er sehr hohe Gebühren bezahlen. Anschließend kann er (gegen Gebühren) die polnische Staatsbürgerschaft sozusagen erneut beantragen, was weder die polnischen noch die deutschen Behörden stört, obgleich sowohl die Republik Polen als auch die Bundesrepublik Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft angeblich ablehnen.
Was den ungleichen rechtlichen Status der beiden Volksgruppen angeht, so hat die deutsche Seite bekräftigt („Briefwechsel“), daß sie sich bemühen werde, den „in der Bundesrepublik lebenden Personen, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen“, die gleichen Rechte und Möglichkeiten, wie sie die deutsche Minderheit in Polen besitzt, einzuräumen. Auch hier gibt es aber Probleme, selbst wenn es um die Bestimmung der zahlenmäßigen Stärke dieser „polnischen Minderheit“ geht. Da ein Pole seine nationale Zugehörigkeit in erster Linie aufgrund seines kulturellen Selbstverständnisses definiert wird in Polen von einer ca. 600000 Menschen zählenden deutschen Polonia gesprochen Die deutschen Statistiken sprechen dagegen von nur ca. 260000 in Deutschland lebenden Polen (polnischen Staatsbürgern).
Viele der „Kultur-Polen“ fühlen sich vom polnischen Staat im Stich gelassen, zumal die deutschen Politiker, vor allem auf der lokalen Ebene, von der Absichtserklärung des „Briefwechsels“ meist gar nichts wissen. Es scheint aber, daß die der deutschen Polonia zustehenden Rechte nicht nur aufgrund der hier genannten juristischen und kulturellen Umstände nicht wahrgenommen werden, sondern auch wegen ihres selbstverschuldeten niedrigen Organisationsgrades Es kommt erschwerend hinzu, daß im Gegensatz zur deutschen Regierung, die seit 1991 der deutschen Minderheit jährlich 20-30 Mio. DM zur Verfügung stellt Warschau die Polonia in Deutschland kaum unterstützt.
Einen Dissens im Nachbarschaftsvertrag gab es in der Frage der topographischen Namen der von der deutschen Minderheit bewohnten Ortschaften in Polen. Abgesehen von zweifellos vorhandenen, historisch bedingten polnischen Ressentiments, wird auf der polnischen Seite argumentiert, daß weder die Deutschen bezüglich der in der Bundesrepublik lebenden Minderheiten (etwa der dänischen) die zweisprachigen Ortsbezeichnungen dulden (mit Ausnahme der von Lausitzer Sorben bewohnten Gebiete, wobei es sich hier um eine Übernahme der in der DDR bereits funktionierenden Lösung handelt), noch die deutschen Minderheiten in Westeuropa (etwa im Elsaß oder in Dänemark) ein derartiges Recht genießen
V. Mentale Barrieren auf beiden Seiten
Die großen und unausweichlich schmerzhaften polnischen Anstrengungen, auch die offensichtlichen Erfolge der polnischen Wirtschaftstransformation sind nicht imstande, der Verfestigung des Wohlstandsgefälles zwischen Deutschland und Polen entgegenzuwirken. Trotz hoher Zuwachsraten ist Polen mit seinem Bruttosozialprodukt von weniger als 100 Mrd. US-Dollar und seinen 38 Millionen Einwohnern wirtschaftlich immer noch um einiges schwächer als Deutschland. Vor allem diese Unterschiedlichkeit in der wirtschaftlichen Entwicklung ruft Schwierigkeiten der Zusammenarbeit hervor, welche mentale Barrieren konservieren bzw. entstehen lassen. Viele Polen, die aus der wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes keinen Nutzen ziehen, wünschen keine ausländischen Profiteure -was nicht selten politischen Demagogen Argumente liefert. Der auf Drängen des Staats-präsidenten Walgsa im Februar 1995 abgewählte Premierminister Waldemar Pawlak warnte beispielsweise in seiner Abschiedsrede vor einer „Überschwemmung“ Polens durch das Auslandskapital.
Speziell die Deutschen beklagen, daß die Genehmigung zum Grundstückskauf für die in Polen investierenden Ausländer in jedem Einzelfall immer noch vom polnischen Innenministerium erteilt werden muß Diese Absurdität wird in Polen selbst einerseits verspottet andererseits gibt es mittlerweile politische Kräfte, die eine Änderung dieses Zustandes verhindern. Die polnischen Preise für Grundstücke sind nämlich für westliche Verhältnisse meist äußerst niedrig. Es sieht z. Z. nicht danach aus, daß der polnische Gesetzgeber eine marktgerechte Lösung für Auslandsinvestoren findet
Was wiederum die deutsche Kritik an der trägen polnischen Bürokratie und der schwachen Infrastruktur angeht, so ist hier allerdings für mehr Verständnis für polnische Belange zu plädieren. Einerseits könnten die Deutschen ein bißchen mehr aus ihrer eigenen Erfahrung mit dem Transformationsprozeß in den neuen Bundesländern lernen. Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich die Entwicklung dort ohne Hunderte von Milliarden „westdeutscher“ DM vorzustellen. Polen schneidet hier also trotz allem noch ganz gut ab. Andererseits scheinen die durchaus vergleichbaren bzw. noch weitaus größeren Schwierigkeiten die deutschen Unternehmen nicht von der Überzeugung abzubringen, daß es lohnt, sich in Rußland bzw. in Tschechien zu engagieren. Dies weist auf das beharrliche Weiterbestehen antipolnischer Ressentiments hin, die ja sowohl das Bismarcksche Reich als auch die Weimarer Republik als auch das Dritte Reich kennzeichneten.
Artur Hajnicz zufolge -einem der wichtigsten polnischen Autoren der deutsch-polnischen Verträge -können die im nationalen Bewußtsein der beiden Nationen bestehenden, historisch geformten Belastungen erst von den kommenden Generationen abgebaut werden Hat sich auf dieser Ebene nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages schon etwas getan?
Die deutliche Verbesserung der politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland hat leider keine differenziertere und sorgfältigere Wahrnehmung Polens in Deutschland mit sich gebracht. Nach wie vor befinden sich die Polen gartz unten auf der nationalen Sympathie-Skala der Deutschen. Wo nämlich die Kompetenz fehlt, greift man auf Vorurteile zurück Polen hat hier einen schweren Stand, weil einerseits der ökonomische Entwicklungsstand des Landes es für viele Deutsche uninteressant macht auf der anderen Seite ist die polnische Geschichte der letzten 200 Jahre (bis 1989) in vielerlei Hinsicht die Geschichte der Konspiration und des Widerstandes -von in Deutschland kaum bekannten Phänomenen. Von daher erschien und erscheint die individualistische, nicht staatsgläubige politische Kultur der Polen den meisten Deutschen schlicht unverständlich.
Umgekehrt ruft jedoch Deutschland als ein größerer und „westlicher“, hochentwickelter Nachbar in Polen ein sehr großes Interesse hervor. Deshalb kann das positive Bild von der Bundesrepublik sehr viele Risse vertragen. „Zwischen Angst und Bewunderung“ -so beschrieb ein bekannter polnischer Soziologe das Spektrum der polnischen Wahrnehmung Deutschlands und der Deutschen Die Bewunderung hängt mit der Anerkennung der wirtschaftlichen Leistungen sowie mit der Würdi-gung der westdeutschen Demokratie zusammen. Die Befürchtungen sind wiederum historisch begründet: Untersuchungen aus dem Jahre 1992 zeigen, daß die Deutschen am häufigsten als diejenigen betrachtet werden, von denen die Polen „mehr Schlechtes als Gutes“ erfahren haben. Ein deutlich unbefangeneres Verhältnis haben die Polen z. B. zu den Russen
Dennoch ist in den letzten Jahren eine spürbare Verbesserung des polnischen Deutschland-Bildes festzustellen. Die Hälfte der polnischen Bevölkerung baut ihr Stereotyp des Deutschen auf der Basis von positiven Eigenschaften auf, wobei nur zwölf Prozent der Polen das gleiche in bezug auf ihre eigenen Landsleute tun Dies geschieht unabhängig davon, daß im Deutschland der Wieder-Vereinigungsperiode, speziell in den neuen Bundesländern, zumindest in den Jahren 1992/93 der aggressive, oft gewalttätige Antipolonismus bedrohliche Ausmaße erreichte.
Während vor 1989 die deutsch-polnische Zusammenarbeit an den damaligen politischen Rahmenbedingungen scheiterte, scheint sie heute im mentalen Bereich auf die schwierigsten Hindernisse zu stoßen. Ob es angesichts der historischen Belastungen sowie der kulturellen und ökonomischen Unterschiede zwischen den beiden Partnern tatsächlich gelingen wird, eine freundschaftliche Nachbarschaft aufzubauen, hängt also nicht zuletzt von der Arbeit der politischen und kulturellen Eliten der beiden Länder ab