Haßlieben und Spannungsgemeinschaften Zum Verhältnis von Demokratien und Nationalismen im neuen Osteuropa
Magarditsch A. Hatschikjan
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Zusammenfassung
Welche Hinweise ergeben sich aus den osteuropäischen Entwicklungen und Erfahrungen der letzten fünf Jahre für das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus, für die Wechselwirkungen zwischen Transformationen und Nationalismen? Der Beitrag geht diesen Fragen hauptsächlich unter zwei Gesichtspunkten nach -Nationalstaat und Staatenlandschaft der eine, Demokratie und nationale/ethnische Belange der andere -und fügt einige Überlegungen zu einem dritten -Kultur und Ökonomie -hinzu. Auch im osteuropäischen Regelfall sind heute die Beziehungen zwischen Nation und Demokratie von gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet -ein Verhältnis, in dem die Interessen beider Seiten weder automatisch zusammenfallen noch sich zwangsläufig entgegenstehen, in dem also beide einander bedürfen und aufeinander angewiesen sind: deswegen Haßlieben und Spannungsgemeinschaften. Es ist ziemlich müßig und dazu noch schädlich, die Probleme, die dieses komplizierte Verhältnis bereitet, durch das Niederzwingen der einen Seite „lösen“ zu wollen -das wird in aller Regel beiden Seiten nicht guttun. Vielmehr kommt es darauf an, eine vernünftige Basis für beider Zusammenleben zu finden, die die Spannungen nicht leugnet und doch die Gemeinschaft hervorhebt.
Das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus gehört zu den „ewigen“ Themen der bisherigen neuzeitlichen europäischen Geschichte. Auch in Osteuropa war es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert ein Leitmotiv, das namentlich in Perioden großer Umbrüche immer wieder in den Vordergrund rückte -so auch am Anfang der neunziger Jahre, als die politischen und die national(staatlich) en Wenden ineinander übergingen. Der Kontrast zur westeuropäischen Entwicklung verleitete zu dem Vorwurf an die Adresse der Osteuropäer: „Wir vertiefen die Integration, und ihr reißt Staaten auseinander!“ Wieder einmal sah sich ein dichotomes Europa-Bild in seiner Quintessenz bestätigt: der Westen modernisiert, der Osten ethnisiert und nationalisiert.
Hier verknüpfen sich zwei verwandte Auffassungen, die jeweils von der Vorstellung eines strukturellen Antagonismus getragen werden: Sie betreffen das Verhältnis von Tradition und Rationalität (Moderne) und gewissermaßen analog das von Nationalismus und Demokratie. Gerade (aber nicht nur) im Hinblick auf Osteuropa gilt für diese Sicht als ausgemacht, daß der Nationalismus (analog die Tradition) dem Wesen nach irrational, destruktiv und antidemokratisch sei. Was Osteuropa anbelangt, so gaben einige der Realitäten aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre der Antagonismus-These Nahrung: die Kriege und Greueltaten in Ex-Jugoslawien, die mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte im ex-sowjetischen Raum, die Auflösung der Tschechoslowakei, Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten. Zumindest bestärkte diese Entwicklung ein Quasi-Axiom: Daß im neuzeitlichen Osteuropa die Sorge um die nationale Souveränität und Selbstbehauptung durchweg stärker gewesen sei als die um die bürgerliche und individuelle Freiheit.
Viele Historiker und manche Sozialwissenschaftler haben sich in verschiedenen Perioden solchen Verdikten entgegengestemmt und darauf hingewiesen, daß die dichotomische Perzeption zu simpel ist Wenngleich die unmittelbare Wirkung solcher Mahnungen auf die breitere Öffentlichkeit gerade in Krisenzeiten weiterhin zu wünschen übrigläßt, haben sie sich durchaus nicht als folgenlos erwiesen. Die jetzige Bandbreite an Positionen reicht im Hinblick auf das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus weit über die schlichte Bipolarität hinaus. Und gerade unter dem Eindruck der Realitäten zu Beginn der neunziger Jahre haben plumpe Elemente und Auslegungen der Modernisierungs-Theorie und vorzeitige Verkündigungen vom „Ende des Nationalstaates“ ebenso an Wirkungskraft verloren wie der Glaube an eine einfache Rekonstruktion, die das „gesunde“ nationale Erbe aus der vermeintlichen Tiefkühltruhe des Sozialismus unbeschadet wiederauferstehen läßt.
Gegenwärtig sind unter denjenigen, die sich im Westen mit Osteuropa beschäftigen, vier wichtige Strömungen auszumachen. Erstens eine national(istisch) -konservative alten Typs, für die Nation(alismus) und Demokratie organisch zusammengehören, alles Multikulturelle ein Greuel und die nationale Selbstbestimmung dagegen ein Heiligtum zu sein scheint. Allerdings legt sie eben aus nationalen und/oder ideologischen Motiven das Selbstbestimmungsrecht je nach Volksgruppe höchst unterschiedlich aus. Sie steht insgesamt für die nationalistisch^ Demokratie, also für Demo kratie mit Nationalismus, manchmal in der umgekehrten Reihenfolge. Am anderen Ende der Skala bewegt sich der „post-nationale Diskurs“; diese Strömung sieht den Nationalismus als Todfeind der Demokratie und verficht daher Demokratie ohne Nationalismus. Dazwischen haben sich die beiden Exponenten aus der Kommunitarismus-Debatte geschoben. Die Meinungsführer klassischer oder neuerer Ausprägungen des Liberalismus setzten Individuum und bürgerliche (bzw. offene) Gesellschaft in jedem Fall vor (und nur in Ausnahmefällen gegen) die Volksgruppe und nationale/ethnische Gemeinschaft; sie lehnen vor allem das ethnisch-kulturelle Konzept ab und befürworten demgegenüber (zumindest bis auf weiteres) den heterogenen und liberalen Nationalstaat -also die Demokratie um den Nationalismus. Auf der anderen Seite stehen die Kommunitaristen, für die Nation und ethnische Gruppe zu denjenigen Gemeinschaften gehören, die ein positives Gegengewicht gegen Fehlentwicklungen der demokratischen Gesellschaft bilden können, namentlich gegen den Prozeß extremer libertärer Entbindung aus sozialen und moralischen Kontexten; sie treten für eine Wiederverknüpfung von Nation und Demokratie, für einen demokratischen Patriotismus neuer Art ein
Welche Hinweise ergeben sich nun aus den osteuropäischen Entwicklungen und Erfahrungen der letzten fünf Jahre für das Verhältnis von Demokratie und Nationalismus, für die Wechselwirkungen zwischen Transformation und Nationalismen? Dem wollen wir im folgenden hauptsächlich unter zwei Gesichtspunkten -Nationalstaat und Staaten-landschaft der eine, Demokratie und nationale/ethnische Belange der andere -nachgehen und eine Anmerkung zu einem dritten Gesichtspunkt -Kultur und Ökonomie -anfügen. Der Raum, der hier zur Debatte steht, ist der zwischen Deutschland und der Ex-Sowjetunion; wenn also von Ost europa die Rede ist, sind die ostmittel-und die südosteuropäischen Staaten gemeint.
I. Nationalstaat, Nationalitäten und neue Staatenlandschaft
Die Veränderungen in der Staatenlandschaft Ost-europas haben allein in quantitativer Hinsicht deutliche Verschiebungen der Relationen herbeigeführt, die für die Nationalismus-Problematik von Belang sind. Da ist zum einen der schlichte Umstand, daß in diesem Raum nicht mehr wie von 1918 bis 1990 sieben, sondern nunmehr 13 Staaten existieren -wenn wir auch Bosnien und Hercegovina, Serbien und Montenegro als Einzelstaaten zählen und damit sowohl die Realität in Bosnien und Hercegovina als auch die Formalität der unter „Bundesrepublik Jugoslawien“ oder „Rest-Jugoslawien“ firmierenden Verbindung zwischen Serbien und Montenegro beiseite lassen. Zum anderen verschoben sich mit der Zersplitterung der Staatenwelt die Relationen zwischen Staatsnationalitäten und nationalen/ethnischen Minderheiten (siehe Tabelle 1).
Die Quote der nationalen/ethnischen Minderheiten, bezogen auf den gesamten Raum, ist also gegenüber der sozialistischen Periode um etwas mehr als die Hälfte gestiegen; indexieren wir sie für das Jahr 1975 bei 100, so steht sie zwanzig Jahre später bei 155. Das ist eine Veränderung von beachtenswertem Ausmaß, was aber mitnichten ausreicht, um daraus etwa eine Tendenz der „Rückkehr zur Zwischenkriegszeit“ zu konstruieren. Dagegen spricht schon die entsprechende Vergleichszahl: Sie stünde, wenn wir vom selben Index ausgehen, in dieser Periode bei 341.
Wichtiger noch als der quantitative Aspekt ist die strukturelle Richtung der Veränderungen. Für viele nationale/ethnische Gruppen zog die Wende zu Beginn der neunziger Jahre einen bedeutsamen Status-Wechsel nach sich. Infolge der staatlichen Neubildungen stellte logischerweise der formelle Aufstieg den Regelfall, der Abstieg die Ausnahme dar. Mindestens 11, 2 Millionen Menschen wurden so praktisch über Nacht zu „vollwertigen“ Staats-nationalitäten, nachdem sie zuvor bestenfalls als Juniorpartner in einer multinationalen Verbindung angesehen werden konnten; das betraf 4, 5 Mio. Slowaken, 3, 7 Mio. Kroaten, 1, 7 Mio. Slowenen und 1, 3 Mio. Mazedonen. Einen eindeutigen Status-Verlust erfuhren dagegen -wenn wir auch hier (Tabelle 1) Bosnien und Hercegovina nicht einbeziehen -„nur“ etwas mehr als 720000 Menschen: die ursprünglich insgesamt ca. 670000 Serben in Kroatien, Mazedonien und Slowenien sowie die etwa 53000 Tschechen in der Slowakei. Selbst wenn man hier auch die knapp über 300 000 Slowaken in der Tschechischen Republik hinzurechnet, macht die Summe der „Absteiger“ -etwas mehr als eine Million -nur ein Elftel derjenigen der „Aufsteiger“ aus. Was die Nationalitätenfragen in Osteuropa anbelangt, so hat sich nach 1989 also in erster Linie nicht die Minoritäten-, sondern die Majoritätenproblematik vergrößert.
Dies deutet auf eine spezifische Kontinuitätslinie in der neuzeitlichen Geschichte Osteuropas hin. Wenn wir die Staatsverbände nach ihrer jeweils realen ethnischen Struktur -und nicht nach dem Selbstverständnis der Staatsnationen -unterschei-den und sie dann über die verschiedenen Perioden seit Erlangung ihrer Unabhängigkeit begleiten, ergibt sich das in Tabelle 2 festgehaltene Bild.
Gewiß läßt sich daraus kein linearer Prozeß ableiten, doch sind die über längere Zeiträume wirkenden Tendenzen nicht zu übersehen: die Auflösung der multinationalen Gebilde, die Einschränkung der Multi-und damit auch der Interethnizität, die Neigung also zur ethnischen Verengung und nicht zuletzt die Durchsetzungskraft des Nationalstaats. Insofern reihten sich die Veränderungen zu Beginn der neunziger Jahre in die Kontinuität eines längeren historischen Prozesses ein -und verließen diesen nicht in einer Art Rückfall, wie es das Schlagwort von der „Wiederkehr der Zwischenkriegszeit“ suggeriert. Auffällig ist allerdings der große zeitliche Bogen, den dieser auch heute noch nicht vollendete Prozeß geschlagen hat. Osteuropa hat keineswegs nur verspätete Nationen; aber es hat, im europäischen Zusammenhang betrachtet, leicht verspätete, verspätete und stark verspätete Nationalstaaten. Und die Ungleichzeitigkeiten und die Ungleichmäßigkeiten (nicht nur) der staatlichen Entwicklungen haben sich in Dimensionen bewegt, die Gegengewichten in Gestalt nationalstaatsübergreifender Kräfte und Initiativen wenig Chancen ließen.
Wie wird nun die national(staatlich) e Frage im neuen konstitutionellen und politischen Kontext beantwortet Nicht einmal auf den ersten Blick scheinen die grundlegend (in Ungarn) oder weitge-hend (in Polen) revidierten Texte und die gänzlich neuen Verfassungen (in allen anderen Staaten) in dieser Hinsicht den verbreiteten Eindruck von der Versessenheit der osteuropäischen Staaten auf die ethnische, um nicht zu sagen völkische Bestimmung des Staatswesens zu erhärten. Polen etwa definiert sich über die Nation, die hier traditionell im politischen Sinne verstanden wird; auch die Tschechische Republik erklärt nicht eine Ethnie, sondern die Bürger zur Grundlage des Staates. Genau dasselbe tut zunächst auch die slowenische Verfassung, ehe sie dann doch wieder das Titularvolk ins Spiel bringt. So ist Slowenien per definitionem „der Staat seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, der auf dem bleibenden und unveräußerlichen Selbstbestimmungsrecht des slowenischen Volkes beruht“ -ein offensichtlicher innerer Widerspruch, der das Land sowohl zu einer ethnisch indifferenten Staatsnation als auch zu einem ethnisch bestimmten Nationalstaat deklariert.
Weit stärkere Belege für die fortlebende Ausstrahlungskraft der ethnischen Nationalstaatsidee lassen sich allerdings in den anderen Verfassungen finden. Die schärfsten Ausprägungen davon liefern* S.
Bulgarien und Rumänien. Die bulgarische Verfassung hebt in weit überdurchschnittlicher Intensität auf den homogenen („einheitlichen“) Charakter des Nationalstaats ab. Offensichtlich steht hier • schon der Begriff der „nationalen Minderheit“ auf dem nationalstaatlichen Index; jedenfalls wird er in amtlichen Texten tunlichst gemieden. Noch krasser geht es verfassungsrechtlich in Rumänien zu. Hier unterliegen alle -sehr häufig und sehr eindeutig vorgetragenen -Verfassungsbestimmungen über den „nationalen, unabhängigen, einheitlichen und unteilbaren Charakter des rumänischen Staates“ einem Aufhebungsverbot (Art. 148 Abs. 1).
Dennoch: Obwohl auch in den anderen Staaten unitaristische Wünsche ihren Weg in die Verfassungen gefunden haben, herrscht im Hinblick auf das grundsätzliche Verständnis vom Nationalstaat eine poröse und keineswegs ungebrochene Kontinuität vor. Denn es sind -auch in den Verfassungstexten -viele Widersprüchlichkeiten aufgetaucht, die auf Breschen der Unsicherheit hindeuten. Die Präambel der slowakischen Konstitution etwa beginnt jetzt zwar mit den Worten „Wir, das slowakische Volk“ (in der sozialistischen Version hatte es „Wir, die Bürger der Slowakischen Republik“ geheißen), doch folgt später wenigstens der Hinweis „gemeinsam mit den ... Angehörigen der nationalen Minderheiten und ethnischen Gruppen“. Und der Amtseid des slowakischen Präsidenten verpflichtet diesen ausdrücklich, auch für das Wohl der nationalen/ethnischen Minderheiten Sorge zu tragen. Ähnlich wie bei der slowenischen Verfassung geht es auch bei der kroatischen -allerdings auf anderer Ebene -begrifflich betrachtet kunterbunt zu. Kroatien ist demnach der „Nationalstaat des kroatischen Volkes und Staat der Angehörigen anderer Völker und Minderheiten“, worauf acht davon namentlich und danach „die anderen“ angeführt werden -mit anderen Worten: Kroatien ist sowohl ein ethnisch bestimmter Nationalstaat als auch ein multiethnischer Nationalitätenverband. Selbst in Rumänien finden sich ähnliche Kuriositäten. So erklärt eine Propagandabroschüre der Regierung kategorisch: „Rumänien ist ein einheitlicher Nationalstaat“ -und listet unmittelbar darunter die Nationalitäten-Statistik mit 17 namentlich genannten ethnischen Gruppen auf.
Das Problem erschöpft sich, wie die angeführten Beispiele belegen, nicht in der ethnischen Dimension. Vielmehr kommt darin die Besonderheit zum Ausdruck, daß die Nationalbewegungen in Osteuropa von der deutschen Tradition das ethnisch-kulturelle Verständnis vom Nationalstaat und von der französischen das zentralistische Struktur-modell übernahmen. Das hat Osteuropa grundsätzlich verwundbarer gemacht für die doppelte Versuchung von (ethnischer) Homogenisierung und (administrativer) Zentralisierung. Gerade in Osteuropa ist eine solche Verbindung konfliktträchtig, denn der Raum weist eine Fülle von ethnischen und regionalen Identitäten auf, die quer zu den Säulen des einheitlichen Nationalstaates verlaufen und von dessen Rastern nicht angemessen erfaßt werden können. Das betrifft eben nicht nur die ethnischen Minderheiten, sondern auch „historische Landschaftsindividualitäten“ (Theodor Schieder), Entitäten also wie Oberschlesien oder Siebenbürgen, Mähren oder das „tschechische“ Schlesien, Vojvodina oder Kosovo -um nur einige der bekanntesten von denjenigen anzuführen, die als solche noch bestehen. Bosnien und die Hercegovina gehörten dazu, ehe Ethnisierung und Krieg sie aushöhlten, Mazedonien ebenso, bevor sich dort unter dem Dach Jugoslawiens und zunächst in Form der Verwaltungsnation der Prozeß des nation building durchsetzte. Ethnische Gemenge-lagen und regionale Eigenheiten drängen hier geradezu nach spezifischen Mischformen von personaler und territorialer Autonomie.
Die Entwicklungen in den letzten Jahren geben allerdings kaum Anlaß zur Annahme, daß in dieser Frage rasch mit einer Trendwende zu rechnen ist. Unabhängig davon, ob sich die Nationalstaaten ethnisch-kulturell oder politisch-staatsbürgerlich definieren, ist ihre Abneigung gegen jedwede Art von territorialer Autonomie ziemlich gleichmäßig entwickelt: Prag tut sich mit Mähren schwer, Bukarest weiterhin mit Siebenbürgen, Sofia hat vorsorglich per Verfassung autonome Gebilde überhaupt verboten.
Solche Defizite gehen allerdings nicht ausschließlich und in einigen Fällen nicht einmal hauptsächlich auf das Konto der Tradition bzw. „des Nationalismus“. Gerade an diesem Moment wird deutlich, daß die Transformationen zuweilen höchst zwiespältige Wirkungen zeitigen. Auf der einen Seite drängen zahlreiche ihrer entscheidenden Erfordernisse -in rechtlicher, ökonomischer, sozialer, politischer, gesellschaftlicher und selbst in kultureller (Bildung und Ausbildung etwa) Hinsicht -nach Vereinheitlichung und Zentralisierung. Andererseits haben die neuen politischen und ökonomischen Freiheiten zusammen mit der Öffnung der Grenzen alte und neue Verbindungslinien zum Leben erweckt, die als naturwüchsige Folge der Systemwenden eine spontane Regionalisierung (häufig zuerst in den Grenzgebieten) nach sich gezogen haben. Hier tun sich gegenwärtig die besten Aussichten auf einen Wandel nicht „von oben“, sondern „von unten“ auf.
Im Hinblick auf das Verständnis vom Nationalstaat finden wir also im neuen Osteuropa weiterhin eine Reihe verengender, retardierender, hemmender Elemente, daneben aber auch sichtbare Hinweise für eine zeitgemäße Anpassung. Dieser stehen indes viele objektive Hindernisse entgegen, die die Möglichkeiten und Voraussetzungen für nationalstaatsübergreifende Initiativen stark einschränken. Die Krux für die Osteuropäer in der gegenwärtigen Periode hat mit den leidigen, aber eben unvermeidlichen Folgen der Ungleichzeitigkeiten zu tun: Für übernationale Verbände -gleich welcher Art -ist es zu spät, für dezentralisierte oder gar föderalisierte Staatswesen noch zu früh; eine osteuropäische Binnen-Integration steht derzeit nicht zur Debatte, die angestrebte Integration in die westlichen Institutionen aber nicht auf der Tagesordnung.
II. Neue politische Landschaften und Nationalismen
Abbildung 2
Tabelle 2: Staatsverbände in Osteuropa nach ethnischer Struktur, 1848-1995
Tabelle 2: Staatsverbände in Osteuropa nach ethnischer Struktur, 1848-1995
1989 war Osteuropa weithin -der allgemeinen Atmosphäre, den Prioritäten der Hauptakteure und der Perzeption der Zeitgenossen nach -ethnischindifferent und in national(staatlich) er Hinsicht neutral. Freiheit, Wohlstand und Öffnung hießen die Losungen des Jahres, nicht nationale Souveränität und Unabhängigkeit. Das bedeutete freilich nicht, daß die ethnischen und national(staatlich) en Komponenten völlig belanglos gewesen wären. Die organisatorische Formierung der ungarischen Opposition hatte sich ab 1987 über ein nationales Anliegen beschleunigt -die Behandlung der Magyaren in Rumänien. In Bulgarien zog der Versuch zur Zwangsassimilierung der ethnischen Türken nicht nur deren Massenexodus und andere Widerstandsaktionen, sondern auch Proteste und Solidarisierungseffekte bei den allerdings noch sehr schwachen oppositionellen Kräften der Titularnation nach sich. Den unmittelbaren Anstoß für den Aufruhr gegen die Clanokratie der Ceaugescus gaben Aktionen ethnischer Ungarn in Transsilvanien, die dann auch die Unterstützung ethnischer Rumänen bekamen.
Das sind bei weitem nicht alle Beispiele für eine verbreitete Erscheinung im unmittelbaren Vorfeld und während der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1989: Der Kampf um nationale/ethnische Belange und Rechte sowie der um die individuellen und politischen Freiheiten beflügelten sich gegenseitig. Das galt im übrigen auch für den zwar nicht ostentativ zur Schau getragenen, aber überall wirksamen antisowjetischen Faktor. Auch wenn Gorbatschow das seit 1945 herrschende Koordinatensystem durcheinandergebracht hatte und 1989 von Reformern und Systemgegnem als Verbündeter angesehen werden konnte -der Kampf gegen die KP-Regimes blieb stets untrennbar mit dem Bestreben zur Abschüttelung der sowjetischen Hegemonie verbunden.
Beförderten also die Nationalismen die System-wenden, so war es umgekehrt nicht nur unvermeidlich, sondern in vielerlei Hinsicht ausgesprochen wünschenswert, daß sie ihrerseits durch die politischen Transformationen Raum zur Entfaltung bekamen Dies gilt vor allem für die Rechtsstellung und die politische Repräsentation der ethnischen/nationalen Minderheiten; in diesen Fragen sind bislang auch die deutlichsten Fortschritte erzielt worden.
Zwar sorgen die hartnäckigen Traditionen der Doktrin vom Einheitsstaat immer wieder für restriktive Aus-und Rückfälle, doch sind -gemessen an den Verhältnissen der Zwischenkriegszeit und erst recht an denen der sozialistischen Periode -in den wichtigsten Teilbereichen Fortschritte zu registrieren. Das gilt für die allgemeinen Garantien und Schutzbestimmungen ebenso wie für Fragen der Meinungs-und der Vereinigungsfreiheit, der Repräsentation auf staatlicher und kommunaler Ebene, des Erziehungswesens und selbst, wenn auch nicht durchweg, im Hinblick auf den Status der Minderheitensprachen.
Ein Gefälle zwischen Ostmittel-und Südosteuropa ist dabei nicht zu übersehen Polen etwa hat -was die Verabschiedung vom Mythos der Homogenität anbelangt -den größten Sprung vollzogen; Ungarn hat -was das Minderheitenrecht angeht -die umfassendsten und großzügigsten Regelungen eingeführt. Demgegenüber sind im engeren Bereich Südosteuropas -von der bemerkenswerten Ausnahme Mazedonien abgesehen -deutliche Abfälle zu registrieren. Aber auch hier sind neben eindeutigen Restriktionen positive neue Momente zu verzeichnen. In Bulgarien etwa ist es mit dem Hinweis auf die Staatssprache nicht getan: Die Verfassung gebietet, daß die politischen Parteien ihre Geschäfte und namentlich den Wahlkampf in Bulgarisch zu führen haben. Zugleich aber wird den ethnischen Minderheiten der Schutz vor Assimilierung garantiert -eine Passage, von der Rumänien, von ungarischer Seite dazu aufgefordert, nichts wissen wollte. Bukarest wiederum verhält sich in Sprachenfragen toleranter als Sofia.
Von einer zufriedenstellenden Situation im gesamten Raum kann also noch lange nicht die Rede sein. Aber im gesamteuropäischen Maßstab schneiden die osteuropäischen Staaten, wenn man die Vergleiche jeweils regional ansetzt -also Bulgarien und Rumänien nicht an der Schweiz, sondern an Griechenland und der Türkei mißt -, nicht so schlecht ab, wie es zuweilen den Anschein erweckt. Ähnliches gilt im Hinblick auf die politischen Interessenvertretungen der nationalen/ethnischen Minderheiten und deren Repräsentation in den Parlamenten. In ausnahmslos allen Staaten haben sich neue Organisationen der nationalen/ethni-sehen Minderheiten konstituiert, und die schon vor 1989 bestehenden sind zu neuem Leben erwacht. Die zahlenmäßig größten Gruppen (einzige Ausnahme: die Roma) sind in den zentralen Parlamenten durch eine eigene politische Interessenvertretung zumeist in angemessener Relation repräsentiert. Für die kommunale Ebene gilt dies entsprechend, sofern kompakte Siedlungsräume gegeben sind -in den meisten Fällen selbst dort, wo Friktionen zwischen Majoritäten und Minoritäten gang und gäbe sind und zuweilen spektakuläre bis handfeste Formen annehmen.
So sind die Magyaren auf der Ebene der Parlamente, der Gemeinde-, Stadt-und Bezirksräte wie auch in der Zahl der Bürgermeister sowohl in der Slowakei als auch in Rumänien weitgehend proportional vertreten. Tirana etwa tut sich zwar weiterhin schwer mit einer entgegenkommenden Behandlung der griechischen Minderheit im Lande, die allerdings durch die permanenten Propaganda-salven aus Athen auch nicht unbedingt befördert wird. Dennoch konnte die griechische „Partei der Union zur Verteidigung der Menschenrechte“, die eine aggressive panhellenische Propaganda betreibt, bei den Kommunalwahlen im Juli 1992 antreten, und sie stellt seitdem rund fünf Prozent aller Bezirks-, Stadt-und Gemeinderäte. In Bulgarien sind nach der Verfassung Parteien „auf ethnischer Grundlage“ verboten, aber beim Verfassungsgericht kam eine sich darauf berufende Klage gegen die politische Interessenvertretung der Türken nicht durch. Dieser Entscheidung lagen offensichtlich eher politische Motive zugrunde, und so hat auch die im Grunde tatsächlich ethnische Partei ihren festen Platz im Parlament und in den Gemeinde-und Bezirksräten der Siedlungsgebiete der Türken. Kurzum: Auf diesem Feld hat bislang fast überall die Demokratie eindeutig Vorrang vor der Nation, im bulgarischen Fall die Politik Vorrang vor Verfassung und Nation.
Es ist indes offensichtlich, daß diese Relationen sich nicht in allen Teilen Osteuropas und schon gar nicht in gleichem Maße durchsetzen konnten. In mehreren Fällen und verschiedenen Perioden erlangten national(staatlich) er Aspekt und einseitig national(istisch) Kräfte ein solches Übergewicht, daß sie zumindest zeitweise den politischen und ökonomischen Transformationen ihren Stempel aufdrücken, sie lähmen oder gar buchstäblich überwältigen konnten. Ein noch relativ glimpflich ausgegangenes Beispiel ist der tschechisch-slowakische Scheidungsprozeß, der mehr als zwei Jahre lang die Handlungsspielräume beider Seiten bestimmte -und verengte. Wiewohl in der Slowakei auch nach der Trennung stärkere Residuen einer übermäßig nationalistisch) en Mobilisierung erhalten blieben, verschoben sich mit der staatlichen Souveränität die Prioritäten wieder zugunsten der sozialökonomischen Aufgaben und der politischen Institutionen.
Weitaus folgenschwerer, ja katastrophal fiel der Preis für die neue Freiheit in einigen Teilen Ex-Jugoslawiens aus. Vor dem Hintergrund der Erosion staatlicher Strukturen und der Fragmentierung des Gewaltmonopols sorgten zumeist bizarre Verbindungen von alt-neuen Eliten für eine ethnofundamentale Wendung der Veränderungen Unter der Nutzung und Mobilisierung feindseligen Sentiments, das auf die kulturellen, konfessionellen und ethnischen Unterschiede abhob, eroberten maximalistisch-ethnokratische Kräfte die politische Hegemonie innerhalb ihrer jeweiligen Volks-gruppen. Mit deren Unterstützung für unversöhnliche -da weder zum Kompromiß geschweige denn zum Konsens bereite -Positionen war in den ethnisch gemischten Gebieten die gewaltsame Entladung der Konflikte nicht mehr aufzuhalten.
War ein solcher Preis unvermeidlich, und ist er ausschließlich „dem Nationalismus“ anzulasten? Die Krise der multinationalen Verbände war Ende der achtziger Jahre eine allgemeine Erscheinung und sicher unausweichlich -denn wie sollte die politische Freiheit obsiegen, wenn sie den Nationen verwehrt wurde? Gewiß nicht unvermeidlich waren jedoch die Gewalt-und erst recht die Greueltaten. Natürlich tragen hierfür die Ethnokraten und ihre Anhänger und Erfüllungsgehilfen die entscheidende Verantwortung. Aber es sollte zu denken geben, wie ohnmächtig die in erster Linie an politischer Demokratie interessierten sowie die moderaten nationalen Kräfte der ethno-fundamentalen Flut gegenüberstanden. Man muß die Konflikte in den beiden Ex-Föderationen nicht ausschließlich auf diesen einen Blickwinkel beschränken, aber sie enthielten auch die Komponenten des Aufstands der Peripherie gegen die Metropole (was in der Slowakei vorherrschend war) und des Landes gegen die Stadt (was in Bosnien überwog).
Die Hauptprotagonisten der Systemwenden von 1989 waren aber fast durchweg säkulare (haupt-) städtische Intellektuelle, die weder der nationalen Frage noch den Anliegen des Landes und der Peripherie übermäßig großes Interesse entgegenbrachten -was unter säkularen (haupt-) städtischen Intellektuellen wahrlich keine osteuropäische Spezialität darstellt. Da sie die Bedeutung beider Fragen notorisch unterschätzten und vernachlässigten, fielen sie aus allen Wolken, als sie die nationale bzw. ethnische Formierung bemerkten. Das war in Prag so, als der Ruf nach slowakischer Souveränität sich verstärkte, und unter den Intellektuellen in Sarajevo nicht anders, als sie nach den Wahlen von November/Dezember 1990 konstatieren mußten, daß die ethnischen Parteien wider ihre Erwartungen einen überwältigenden Sieg davongetragen hatten
Nationale/ethnische Bestrebungen müssen nicht zwangsläufig in Haß, Gewalt und Krieg münden. Aber wie alle neuen Freiheiten haben auch die auf diesem Feld einen janusköpfigen Charakter, und sie verlangen einen (zuweilen sehr hohen) Preis. Selbst dort, wo offensichtlich Fortschritte erzielt worden sind, bleiben daher Schwachstellen, die meist in den Begleiterscheinungen sichtbar werden, nicht aus. Im Zusammenhang mit der politischen Repräsentation der nationalen/ethnischen Minderheiten -einer insgesamt betrachtet bislang durchaus erfreulich behandelten Frage -sind beispielsweise gewichtige Schwachpunkte auszumachen, die unter ungünstigen Bedingungen zu strukturellen Störungen führen können. Es sind zwar viele Arten namentlich von kulturellen Organisationen der nationalen/ethnischen Minderheiten gebildet worden, doch eine Diversifikation ihrer politischen Interessenvertretungen hat (noch?) nicht stattgefunden. Das hängt sicher zum einen damit zusammen, daß auch die soziale und ökonomische Schichtung unter den meisten Minderheitengruppen nicht stark entwickelt ist, zum anderen damit, daß zur Stabilisierung der Minderheitenpositionen gerade in der Anfangsperiode der neuen Zeit die organisatorische Einheit von Nutzen ist. Aber die damit verbundene Gefahr ist offensichtlich: Wenn sich diese Konstellation auf Dauer festsetzt, droht die ethnische Vergitterung der politischen Landschaften in Osteuropa.
Daß die Tendenz dazu bereits jetzt vorhanden ist, belegen nicht nur Parteienlandschaften, Wahlergebnisse und Abstimmungsverhalten. Nur in einem einzigen Land in Osteuropa -nämlich in Mazedonien -ist eine Minderheitenorganisation in der Regierung vertreten. Es fällt den Majoritäten nach wie vor schwer, einen Angehörigen einer nationalen/ethnischen Minderheit etwa als Minister zu akzeptieren. Und es fällt auch dem Beobachter nach wie vor schwer, sich als realisierbare Möglichkeit etwa einen ethnischen Deutschen als polnischen Kulturminister, einen ethnischen Türken als bulgarischen Verteidigungsminister oder einen ethnischen Ungarn als rumänischen Innenminister vorzustellen. Gewiß sind solche Hemmschwellen keine osteuropäische Spezialität. Aber sie wiegen in diesem Raum besonders schwer. Und in dieser Hinsicht hat sich auch nach 1990 wenig verändert. Während die Minderheiten in Parlamenten und Gemeinderäten einigermaßen zufriedenstellend vertreten sind, werden ihre Angehörigen fast überall aus der Administration ferngehalten -und dies trifft auf alle Ebenen zu. Ein vorzüglicher Kenner Osteuropas, Hugh Seton-Watson, machte als die beiden Grundursachen für die Leiden der Minderheiten während der Zwischenkriegszeit das schlechte Regierungssystem und die Identifikation von (Staats-) Nationalität und Staatsapparat aus. Was den zweiten Punkt anbelangt, so herrscht in Osteuropa noch allzuviel Kontinuität.
III. Kultur und Ökonomie
Für gewöhnlich wird als Seismograph für die Stellung und Behandlung der nationalen/ethnischen Minderheiten die Antwort auf die Frage herangezogen, wie es um die Möglichkeiten für die Bewahrung und Pflege ihrer Sprache und ihrer Kultur bestellt ist. Es lag daher auf der Hand, daß mit der Wende neben der Frage der politischen Repräsentation die für die kulturelle Identität bedeutsamen Bereiche in den Vordergrund rückten: Status der Minderheitensprachen, Erziehungswesen, Minoritätenpresse und Zugang zu den Medien. Die Entwicklungen in diesen Bereichen wurden zu Beginn der neunziger Jahre von einigen spektakulären Konflikten begleitet. In der Slowakei etwa kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, nachdem in einigen Gemeinden auf amtliche Anweisung hin die in ungarisch gehaltenen Orts-und Straßenschilder entfernt worden waren. Kurz darauf wurde entschieden, daß bei mehr als 20prozentigem Minoritätenanteil die Schilder zweisprachig sein sollten. In Bulgarien mobilisierten chauvinistische Kräfte in Zentren der gemischten Siedlungsgebiete -auch durchaus schlagkräftigen -Protest gegen die Absichtserklärung, an den Schulen fakultativen Türkisch-Unterricht einzuführen. Sie hatten insofern Erfolg, als bis zum heutigen Tage die Realisierung des Vorhabens eine höchst seltene Erscheinung geblieben ist.
Solche Konflikte haben zumindest zeitweise die -wenn auch in höchst unterschiedlichen Ausmaßen ausgefallenen -Fortschritte überdeckt. Gewiß, Osteuropa ist in der Frage der Amtssprachen nach wie vor weitgehend unitaristisch, Mehrsprachigkeit im Prinzip unerwünscht. Nichtsdestoweniger stellt heute etwa Bulgarien, das sich in der sprachlich-kulturellen Toleranz-Skala an der untersten Stufe bewegt, einen Ausnahmefall dar, wenn es einige Minimalnormen (Dolmetscher bei Gericht, fakultativer muttersprachlicher Unterricht) auf dem Papier anerkennt, aber in der Realität mehr oder weniger häufig mißachtet. In allen anderen Staaten mit größeren Minderheitengruppen sieht die Sachlage auf diesem Sektor deutlich besser aus. Das trifft auch auf Staaten zu, die üblicherweise in Minoritätenfragen eine schlechte Reputation genießen, etwa die Slowakei oder Rumänien. Und das betrifft erst recht Polen: Hier, wo bis 1989 nicht einmal die Existenz einer deutschen Minderheit anerkannt wurde, registrierte man am Ende des Schuljahres 1993/94, daß in Oppeln und Kattowitz die Hälfte aller Grundschulen Deutschunterricht (zumeist allerdings als Fremdsprache) anbot, an 24 Grundschulen muttersprachlicher Deutschunterricht stattfand und an einem (Oppelner) Gymnasium zweisprachiger Unterricht erteilt wurde. Sowohl von polnischer wie auch von deutscher Minoritätenseite wurde dazu angemerkt, daß diese Zahlen noch höher ausgefallen wären, wenn es nicht spürbare Defizite gäbe: an Lehrern, an Ausbildungsstätten für Lehrer und an Geld.
Dies ist eine durchaus verallgemeinerbare Aussage für Osteuropa: Oft setzt inzwischen nicht mehr der mangelnde Wille die Grenzen, sondern das mangelnde Geld. Es ist eine Binsenweisheit, aber in der gegenwärtigen Periode hat sie besonderes Gewicht: Minderheitenpolitik kostet Geld, und eine gute kostet noch mehr. Angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage und der finanziellen Ressourcen der osteuropäischen Staaten wäre es schlicht realitätsfremd, für die nächste Zukunft sprunghafte Verbesserungen etwa im Bereich des Schulwesens und damit auch des Unterrichts in den Minoritätensprachen zu erwarten.
Dies ist nicht der einzige und langfristig nicht der bedeutendste Aspekt der Ökonomisierung der ethnischen Beziehungen in Osteuropa Wichtiger noch erscheint ein anderer Umstand, der mittelbar oder unmittelbar aus der sozialökonomischen Transformation entspringt. Die Folgewirkungen der grundlegenden Änderungen der Eigentumsverhältnisse, der Restitutionen namentlich in den ländlichen Gebieten und der Einbrüche in der Industrie-und Agrarproduktion haben die Lebensbedingungen großer Teile verschiedener Minderheitengruppen in besonderem Maße und offensichtlich auf Dauer getroffen. Dies gilt dort, wo die Minderheiten auch früher keinen Grundbesitz hatten und von der Restitution zunächst nur die darauf folgende Arbeitslosigkeit zu spüren bekamen; wo sie kollektiv auf bestimmte Tätigkeiten oder auf die Nutzung ökonomischer Nischen spezialisiert waren, die inzwischen ganz oder teilweise der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung zum Opfer gefallen sind; und vor allem dort, wo zu alledem noch ein strukturschwaches Siedlungsgebiet hinzukommt -also insbesondere für die Roma überall, für die Türken in Bulgarien, für die Albaner in Kosovo, in Montenegro und Mazedonien. Wo die Ökonomisierung der ethnischen Beziehungen auf relativ gleichmäßige sozialökonomische Konstellationen trifft, kann sie gewiß zu einer Versachlichung im Verhältnis von Mehrheiten zu Minderheiten beitragen. Wo sie aber traditionell unterprivilegierte Minderheiten tangiert oder auch ökonomisch besonders agile noch scheinbar bevorzugt, besteht durchaus die Gefahr der Verschärfung, wenn aufeinanderprallende ökonomische Interessen ethnisch gelesen und entsprechende Disproportionen in Nationalitätenkonflikte übersetzt werden.
Hier liegt eines der sicher nicht intendierten, aber wohl unvermeidlichen Ergebnisse der doppelten Wende zu Beginn der neunziger Jahre. Osteuropa kennt aus der Zwischenkriegszeit die Ethnisierung ökonomischer Beziehungen, als -etwa bei der Landreform -ökonomische Maßnahmen systematisch auch zur Schwächung der Positionen der nationalen/ethnischen Minderheiten genutzt wurden. Nun erlebt es ungefähr das Gegenstück: Selbst dort, wo der Wille zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Nationalitäten vorhanden ist, stößt er an die sozialökonomisch und in gewissem Sinne auch kulturell bedingten Schranken. Je nachdem, wie geduldig oder zielbewußt die Antwort auf diese neue Herausforderung für den gesamten Raum ausfällt, wird sich die Waage zugunsten der radikalen oder aber der moderaten nationalistischen Kräfte neigen. Wenn die Antwort auf Dauer uneinheitlich bleibt, wird die Wende von 1989 auch den Keim für die Spaltung der Nationalismen in Osteuropa gelegt haben.
IV. Fazit
Das thematisch wie räumlich breite und vielfältige Spektrum der Erscheinungsformen und Auswirkungen nationaler/ethnischer Bestrebungen verweist darauf, daß es sich hier nicht um ein einheitliches Ganzes handelt. Wir haben es nicht mit dem Nationalismus zu tun, sondern mit Nationalismen, die in sich nicht einheitlich und nicht statisch sind, sondern diversifiziert, variabel, mobil -was auch heißt, von innen und von außen beeinflußbar. Ihre Wechselwirkungen mit den Transformationen reichen von der gegenseitigen Beflügelung bis zur Möglichkeit der gegenseitigen Erstickung. Gewiß können Demokratie und Nation/Ethnie in ein antagonistisches Verhältnis geraten, was in einzelnen Fällen während der vergangenen fünf Jahre in Osteuropa geschehen ist. Doch war dies weder die Regel noch erst recht das bestimmende bzw. unabänderliche Strukturelement der Entwicklungen in dieser Region.
Die vereinfachenden Gegenüberstellungen -Nation vs. Demokratie, Nationalstaat vs. Integration, Tradition vs. Moderne, Mythos vs. Realität -operieren mit schlichten Alternativen, die sauber nach .. Böse“ und „Gut“ trennen. Gewiß -was das Verhältnis von Demokratie und Nation/Ethnizität anbelangt, so stellen in Osteuropa Disproportionen zugunsten von Nation, Nationalstaat und Ethnizität eine große Gefahr dar, die in unterschiedlichen Ausmaßen und Regionen auch gegenwärtig zum Ausdruck kommt. Es existiert in diesem Raum unbestreitbar so etwas wie eine nationalistische oder ethnizistische Versuchung. Aber diese mit einer Art universalistischem Fundamentalismus bekämpfen oder gar austreiben zu wollen ist nach aller Erfahrung die zweitsicherste Möglichkeit zur Förderung intoleranter Ausprägungen von Nationalismen
Auch im osteuropäischen Regelfall sind heute die Beziehungen zwischen Nation und Demokratie von gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet -ein Verhältnis, in dem die Interessen beider Seiten weder automatisch zusammenfallen noch sich zwangsläufig entgegenstehen, in dem beide also einander bedürfen und aufeinander angewiesen sind: deswegen eben Haßliebe und Spannungsgemeinschaft Es ist ziemlich müßig und dazu noch schädlich, die Probleme, die dieses komplizierte Verhältnis bereitet, durch das Niederzwingen der einen Seite „lösen“ zu wollen -das wird in aller Regel beiden Seiten nicht guttun. Vielmehr kommt es darauf an, eine vernünftige Basis für beider Zusammenleben zu finden, die die Spannungen nicht leugnet und doch die Gemeinschaft hervorhebt. „Jedes Land muß den Raum der eigenen Freiheit, soweit wie möglich, entdecken und ausnutzen. Jedes sollte sich die Fähigkeit verschaffen zu Initiativen, die den eigenen sozialen Bedürfnissen entsprechen. Jedes sollte sich auch Rechenschaft geben über die wirklichen Bedürfnisse sowie über die Rechte und Pflichten, durch die es gehalten ist, solche Bedürfnisse zu befriedigen. Die Entwicklung der Völker setzt ein und verwirklicht sich am besten, indem sich jedes einzelne Volk um die eigene Entwicklung in Zusammenarbeit mit den anderen bemüht.“
Magarditsch A. Hatschikjan, Dr. phil., geb. 1951; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bereich Forschung und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin/Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Osteuropa -ein nationalistischer Hexenkessel?, in: Außenpolitik, 42 (1991) 3; (Hrsg. zus. mit Peter R. Weilemann) Parteienlandschaften in Osteuropa. Politik, Parteien und Transformation in Ungarn, Polen, der Tschecho-Slowakei und Bulgarien 1989-1992, Paderborn u. a. 1994; Minen, Enträumung, Modernisierung. Anmerkungen zu Transformation und Nationalismus in Südosteuropa, in: Südosteuropa, 43 (1994) 5; (Hrsg. zus. mit Peter R. Weilemann) Nationalismen im Umbruch. Ethnizität, Staat und Politik im neuen Osteuropa, Köln 1995.
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