I. Einführung
Seit Anfang 1994 beschäftigt sich eine Forschungsgruppe an der Fachrichtung Psychologie der Technischen Universität Dresden mit den psychischen Folgen politischer Inhaftierung in der DDR Insbesondere wird die Frage untersucht, ob und in welchem Ausmaß bei den ehemals Inhaftierten psychische Spätfolgen in Form der sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) vorliegen. Dieses Krankheitsbild ist international bei vielen Opfern von Gewaltherrschaft, Kriegen, Folter, aber auch von Naturkatastrophen und krimineller Gewalt beschrieben worden und ist psychotherapeutisch behandlungsbedürftig 2. Die Betroffenen leiden stark an den sich immer wieder aufdrängenden schmerzlichen Erinnerungen. Sie versuchen dabei oft massiv, diesen Erinnerungsdruck zu vermeiden, was ihnen aber nicht gelingt. Da das Dresdener Forschungsprojekt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist, werden im folgenden Bericht neben ersten Ergebnissen zur Häufigkeit psychischer Folgestörungen einige der möglicherweise relevanten psychologischen Faktoren der Verstärkung von bzw.des Schutzes vor diesen Störungen vorgestellt 3.
II. Der historische Hintergrund
Das Ausmaß der politischen Verfolgung und Inhaftierung in der DDR zwischen 1949 und 1989 läßt sich bisher nicht genau bestimmen und soll hier auch nur kurz skizziert werden. In vorliegenden Schätzungen wird von 150000 bis 200000 politischen Haftstrafen durch die DDR-Justiz gesprochen 4. Hier ist auch fünf Jahre nach der Wende noch viel aufzuarbeiten. Bekannt ist, daß im Jahre 1950 zirka 5000 ehemalige SPD-Mitglieder verhaftet wurden und daß von Mai bis Juni 1956 -nach Stalins Tod und dem 20. Parteitag der KPdSU -zirka 21000 Personen in der DDR amnestiert wurden. Ebenso ist aktenkundig, daß von 1963 bis 1989 zirka 34000 politische Häftlinge von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Hier ist auch fünf Jahre nach der Wende noch viel aufzuarbeiten. Bekannt ist, daß im Jahre 1950 zirka 5000 ehemalige SPD-Mitglieder verhaftet wurden und daß von Mai bis Juni 1956 -nach Stalins Tod und dem 20. Parteitag der KPdSU -zirka 21000 Personen in der DDR amnestiert wurden. Ebenso ist aktenkundig, daß von 1963 bis 1989 zirka 34000 politische Häftlinge von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Addiert man zu den in die Bundesrepublik abgeschobenen Häftlingen noch die bisher unbekannte Zahl der in die DDR Entlassenen, so ist die Summe der politischen Häftlinge auch im Zeitraum von 1960 bis 1980 noch außerordentlich hoch.
In den vierzig DDR-Jahren haben sich die juristischen Gründe für Verfolgung und Verurteilung sowie die Bedingungen der Inhaftierung geändert. Verfügbare Angaben beschränken sich bisher allerdings meist auf die Berichte Betroffener und Sammelbände erster Tagungen zu diesem Thema (z. B. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1990-1995). Eine Ad-hoc-Umfrage bei einigen Historikern und mit der Materie vertrauten Journalisten ergab, daß es sinnvoll ist, drei Phasen innerhalb der vierzig DDR-Jahre in bezug auf die Haftbedingungen zu unterscheiden: 1. Phase: 1949-1953: Extreme Haftbedingungen (mit der Folge von Unterernährung und erhöhter Sterblichkeit). 2. Phase: 1954-1970: Starke Überbelegung, Einführung von Gefangenenarbeit als Pflicht. 3. Phase: 1971-1989: Umbau von Haftanstalten, neue Strafvollzugsgesetze und -anweisungen.
Die erste Phase der Haftbedingungen nach der Gründung der DDR war durch hohe Todesraten der Inhaftierten gekennzeichnet. Hoffnungslosigkeit, schlechte und mangelnde Ernährung, Beschäftigungslosigkeit und das im allgemeinen recht hohe Alter der Gefangenen führten immer wieder zu Todesfällen, wenn auch die Todesrate nicht mehr ganz so hoch war wie in den Lagern der sowjetischen Militärbesatzung in den Jahren ab 1945.
In der zweiten Phase ab Mitte der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre waren die Häftlinge in der Regel nicht mehr unterernährt, zumal sie sich nach Einführung der Arbeitspflicht Anfang der fünfziger Jahre bei Erfüllung der Normen in kleinerem Umfang Geld für Lebensmittel hinzuverdienen wie auch Pakete empfangen konnten. Zu den negativen Seiten der an sich positiven Arbeitsmöglichkeiten gehörten allerdings die hohen Normen, die dazu führten, daß die Häftlinge nicht den Arbeitsschutzrichtlinien unterlagen und es sehr viele Arbeitsunfälle gab. Wenn man die Zustände in den Gefängnissen mit denen in Westdeutschland vergleicht, so waren die Häftlinge in der DDR um vieles schlechter untergebracht.
Für die dritte Phase ab Beginn der siebziger Jahre ist eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse festzustellen. So wurden z. B. Toiletten in die Zellen gebaut, wo vorher nur der obligatorische Kübel Verwendung fand. Die Strafvollzugsbeamten wurden offiziell zu „Erziehern“ umbenannt, denen der Einsatz physischer Gewalt per Dienstanweisung untersagt war. In einigen DDR-Gefängnissen wurde in größeren Zeitabständen die Abhaltung von Gottesdiensten erlaubt. Die Arbeitspflicht war weiterhin gegeben, wobei die Vergütung dieser meist sehr schweren körperlichen Arbeit nur auf ein geringes Taschengeld für die Häftlinge hinauslief.
Grundsätzlich muß man für alle genannten Phasen zwei Formen von Haftinstitutionen unterscheiden, und zwar die Untersuchungshaft vor und den Regelvollzug nach der Verurteilung. Die Untersuchungshaft war -soweit es die politischen Delikte betraf (auch wenn die Staatssicherheit bei einigen politischen Häftlingen entschied, diese in den regulären Untersuchungshaftanstalten zu verwahren) -vollständig in der Kompetenz des Ministeriums für Staatssicherheit. In der Stasihaft herrschten andere Bedingungen als in der Untersuchungshaft des Justizministeriums. Die in den fünfziger Jahren weit verbreiteten Verhörmethoden mit Schlägen, Folter und anderen Mißhandlungen wurden zwar in späteren Zeiten abgeschafft, dafür blieben tage-bis monatelange Einzelhaft und stundenlange Nachtverhöre bis zum Ende der DDR durchaus üblich.
Die Paragraphen seit den siebziger Jahren, die am häufigsten zu einer strafrechtlichen Verurteilung und Inhaftierung benutzt wurden, waren § 106 StGB („Staatsfeindliche Hetze“), § 213 („Ungesetzlicher Grenzübertritt“, sog. Republikflucht), § 214 („Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“) und § 220 („Öffentliche Herabwürdigung“). Eine Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe in Anwendung eines dieser Paragraphen gab es praktisch nicht. Das Dresdener Untersuchungsprojekt kann über die Häufigkeit der Anwendung der verschiedenen Paragraphen selbst keine Aussagen machen, da die Untersuchung nicht für die Gesamtheit aller in der DDR-Zeit Inhaftierten repräsentativ ist
In den Interviews mit Betroffenen läßt sich immer wieder feststellen, daß ein großer Teil der Inhaftierten sehr willkürlich verhaftet worden war. Personen, die einen offiziellen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik gestellt hatten, wurden beispielsweise völlig überraschend festgenommen und anhand des § 214 „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ zu Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren (in Einzelfällen auch länger) verurteilt. Bei vielen Inhaftierten -insbesondere der letzten DDR-Jahrzehnte -hat sich der Eindruck festgesetzt, sie seien verhaftet worden, damit die DDR von der Frei-kaufsumme, die sie von der Bundesregierung pro Häftling erhielt, ihre Staatsfinanzen sanieren konnte.
Bei Opfern, die von ihrer Inhaftierung völlig überrascht wurden, läßt sich allgemein eine Tendenz zu besonders intensiv ausgeprägten psychischen Folgen feststellen. Ganz generell spielt die unerwartete und plötzliche Traumatisierung bei der Herausbildung der Posttraumatischen Belastungsstörungen eine Rolle, was für andere Traumata wie das Erleiden krimineller Gewalt oder von Naturkatastrophen bereits gezeigt wurde.
III. Die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung
Seit 1980 gibt es im wissenschaftlich weitverbreiteten amerikanischen Klassifikationssystem psychischer Störungen (DSM) die Störungskategorie „Posttraumatische Belastungsstörungen“. Seit 1994 wird diese Störungskategorie auch in dem von der WHO herausgegebenen Internationalen Klas-sifikationssystem der Krankheiten (ICD 10) verwendet. Frühere Bezeichnungen für ähnlich beschriebene psychische Folgen waren Begriffe wie traumatische Neurose, Unfall-oder Gefechtsneurose sowie das Überlebenden-Syndrom (bei KZ-Häftlingen) Mit der Aufnahme der Posttraumatischen Belastungsstörung in die medizinischen und psychologischen Referenzwerke wurde erstmals wissenschaftlich ein psychisches Störungsbild anerkannt, das nicht durch innere Konflikte -wie die von Sigmund Freud beschriebenen -oder biologische Faktoren, sondern durch erlebte äußere Katastrophen oder Extrembelastungen bedingt ist.
Die Einführung der PTSD-Störungskategorie läßt sich durchaus als ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel bezeichnen, mit allen Konsequenzen, die mit einem solchen Wechsel in der Wissenschaft üblicherweise verbunden sind. So ist in Deutschland die Unkenntnis der Fachwelt über das Störungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörungen noch sehr groß, wie jüngst eine Umfrage der Sozialpsychiatrischen Abteilung der Freien Universität Berlin ergeben hat. In den USA waren es dagegen gerade die langjährigen Erfahrungen von Praktikern, die zeigten, daß Extrembelastungen (z. B. Gewalterlebnisse, Naturkatastrophen und Unfälle) sehr ähnliche psychopathologische Muster bedingen konnten, und von daher die Einführung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung herbeiführten.
Die Posttraumatischen Belastungsstörungen sind durch folgende fünf Kriterien definiert: -Belastung durch ein außerhalb des normalen menschlichen Erfahrungsbereiches liegendes traumatisches Ereignis, das in den meisten Fällen ein tiefes Erschrecken, Grauen oder Leiden hervorruft;
-Vorliegen eines Erinnerungsdrucks durch ungewollte, belastende Wiedererinnerungen (Intrusionen);
-Existenz von Vermeidungs-und Rückzugsverhalten, die im Zusammenhang mit dem trauma-tischen Ereignis stehen;
-anhaltend erhöhtes inneres Erregungsniveau (Hyperarousal);
-Vorhandensein der Symptome länger als einen Monat nach dem Erlebnis (sonst wird eine akute Belastungsreaktion diagnostiziert).
Das erste Kriterium ist bei den ehemals politisch Inhaftierten dadurch erfüllt, daß sie in repressiven Zwangsinstitutionen verwahrt wurden, in denen physische und psychische Mißhandlungen an der Tagesordnung waren. Die Betroffenen sahen sich selbst als Opfer des politischen Systems und hatten daher nach allgemein menschlichen Maßstäben keinerlei Anlaß für ein Unrechtsbewußtsein. Dieses Kriterium erfaßt darüber hinaus aber auch die einzeln abgrenzbaren Extremerfahrungen, denen die Betroffenen unterlagen, z. B. die reale Todesangst bei Verhaftungen, die physischen Bedingungen (z. B. Hunger, mangelhafte medizinische Versorgung, Gewalt durch kriminelle Mitgefangene) und die psychischen Traumata (z. B. Verhöre, Erniedrigungen, das Zeugewerden von Todesfällen bei Mitgefangenen). Durch die Multiplizität dieser vielfältigen Extrembelastungen kann man bei den politisch Inhaftierten auch von einer kumulativen Traumatisierung sprechen.
Das zweite Kriterium umfaßt die Symptome des unwillkürlichen und schmerzlichen Erinnerungsdrucks. Vielen Traumatisierten geht das Erlebte täglich mehrfach ungewollt durch den Kopf. Sie können den spontanen Erinnerungen, Gedanken, aber auch Vorwürfen gegenüber anderen und Selbstvorwürfen nicht aus dem Wege gehen. Die Erinnerungen drängen sich ihnen immer wieder auf. Oft ist dieses Wiedererinnern mit überscharfen Vorstellungsbildern und mit starken Gefühlen verbunden, so daß die Betroffenen wiederholt in seelische Erschütterungen versetzt werden. Die oft sehr plastischen Erinnerungen neigen auch dazu, besonders vor dem Einschlafen -oder bei der Befragung durch Interviewer -mit besonders qualvoller Gedächtnis-und Bildschärfe zurückzukehren (z. B. die Todesgefahr, in der manche bei der Verhaftung standen), was äußerst belastend und beeinträchtigend wirkt. Ein Teilnehmer unserer Untersuchung drückte dies so aus: „Ich selber hab’ auch manchmal so das Empfinden , ich dreh’ durch 4. Nachts kommen die unheimlichen Gedanken, dann kann ich nicht einschlafen und wälz’ mich im Bett. Nicht wahr, dann tauchen wieder die Bilder auf, das Schreckliche, was man erlebt hat, und das sind so Dinge, die eigentlich im normalen Leben ja gar nicht mehr in Erscheinung mehr treten dürften.“
Das dritte Kriterium umfaßt Vermeidungs-und Rückzugssymptome. Um sich vor der Erinnerung und der von ihr ausgelösten Gefühlsflut zu schützen, schotten sich die Betroffenen von Gedanken und Situationen ab, die sie an das Erlebte erinnern. Das kann dazu führen, daß bestimmte Orte oder Situationen nicht mehr äufgesucht werden; im Extremfall führt es zur totalen Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit. Darüber hinaus kann verlorengegangenes Vertrauen zur Umwelt verhindern, daß menschliche Beziehungen eingegangen werden. Häufig sind auch die Fähigkeiten stark eingeschränkt, Freude zu empfinden oder liebesfähig zu sein sowie Pläne für die Zukunft zu machen. Ein anderer Teilnehmer beschrieb sein Vermeidungs-und Rückzugsverhalten mit folgenden Worten: „Die Einsamkeit, die hat mich förmlich angezogen. Ich habe es nicht geschafft, dort irgendwie drüber hinwegzukommen. Habe keinen Ausweg gesehen. Versucht schon, aber es hat nicht geklappt, daß ich mich jetzt innerlich wieder geöffnet hätte. Und ich wußte aber auch niemanden, den ich fragen konnte: »Kannst Du mir helfen oder , Kannst Du mir helfen. Wie sollte ich denn das machen? Da hätte es ja sofort geheißen, , Was ist denn mit Dir los? Ach, Du warst im Knast, oder so, und dann hätte ich den Leuten schon wieder sagen müssen, , Ich bin aber kein Krimineller, ich bin politisch, ich habe keinem etwas getan und so weiter. Und da war schon wieder die Sperre dann für mich da. Und dort bin ich dann geflüchtet praktisch, raus in die Natur, in die Einsamkeit. Dort wußte ich, dort kann keiner kommen und kann keiner lachen und es kann niemand sich vielleicht über dich lustig machen.“
Das vierte Kriterium beschreibt das permanent erhöhte körperliche und psychische Erregungsniveau. Die Übererregung zeigt sich vor allem in Schlafstörungen, die bei den meisten Traumatisierten vorhanden sind. Ebenso sind spontanes Erschrecken bei kleinsten Anlässen, erhöhte Wachsamkeit und körperliche Reaktionen wie ständiges Fingerzittern ausgebildet. Außer den Einschlafund Durchschlafstörungen haben auch die Alpträume mit der Übererregung und zusätzlich dem Erinnerungsdruck zu tun. Die gesteigerte innere Erregung läßt nicht nur das Einschlafen schwerer werden, sondern verursacht auch Gedankenbilder im Schlaf, die die Betroffenen als Alpträume erleben. Die anhaltende Übererregung führt nicht selten dazu, daß viele der Traumatisierten im persönlichen Umgang schwierig werden. Sie sind oft kurz angebunden und zornig, sie neigen zu Wutausbrüchen und sind bisweilen aggressiv. Teile dieser Symptomatik beschreibt ein Studienteilnehmer folgendermaßen: „Es ist vollkommen idiotisch, sag’ ich Ihnen. Wenn ich irgendwo bin, bei Bekannten, und das Telefon klingelt, da zucke ich zusammen. Das ist da. Man kann’s nicht abstellen. Das ist geblieben. Im Alltag ist das geblieben ... Man muß es sich mal so vorstellen: das ist wie ein elektrischer Schlag. Und der geht sofort nach oben und löst bei mir, bei anderen vielleicht etwas anderes, und löst bei mir einen Schweißausbruch aus, der von unterschiedlicher Stärke sein kann.“
Das fünfte, das Zeitkriterium ist im Falle der ehemals politisch Inhaftierten fast durchweg gegeben, da nach der mindestens monatelangen, meist jahre-bis jahrzehntelangen Haft die psychischen Folgen in aller Regel länger als einen Monat bestehenbleiben. Nach Extrembelastungen sind in den meisten Fällen zumindest einzelne der aufgezählten Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung anzutreffen. Die Anzahl der Symptome, die Häufigkeit ihres Auftretens und der Belastungsgrad differieren allerdings bei den Betroffenen.
Von internationalen Wissenschaftlergremien wurden für das PTSD-Störungsbild sogenannte Schwellenwerte festgelegt, deren Überschreiten die stark beeinträchtigten von den weniger stark beeinträchtigten Personen unterscheiden sollen. Für die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung ist ein gleichzeitiges Vorhandensein aller fünf Kriterien notwendig, wobei bei den Kriterien zwei bis vier jeweils eine Mindestanzahl von Einzelsymptomen vorhanden sein muß. Es gibt jedoch eine wissenschaftliche Kontroverse darüber, wie viele Symptome im einzelnen voll ausgebildet sein müssen, um die PTSD-Diagnose stellen zu können Auch die bisherigen Untersuchungen bei ehemals politisch Inhaftierten zeigen, daß es neben Personen mit der vollständigen Diagnose einer posttraumatischen Belastungsreaktion auch andere Personen gibt, die stark an Einzelsymptomen leiden (z. B.der erhöhten inneren Erregung). Die Dresdener Untersuchung wird daher sowohl die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung als auch das Ausmaß der Einzelsymptome der ehemaligen politischen Häftlinge berücksichtigen.
Neben den Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung leiden viele Betroffene auch an weiteren psychischen Folgeerscheinungen. Von vielen Personen werden Ängste und Depressionen als Folge ihrer Hafterlebnisse angegeben. Die Ängste bei ehemals Inhaftierten können ganz charakteristische Formen annehmen. Beispielsweise kann die quälende Empfindung eines ständigen Sich-fürchten-Müssens ausgebildet werden. Daneben können sich körperliche Angstreaktionen entwickeln (Herzklopfen, Atemnot, Händezittern, Schwäche) sowie ausgesprochen phobische Erscheinungen auftreten, wie die Angst, sich in engen Räumen aufzuhalten. Andere oft anzutreffende Ängste von ehemaligen politischen Häftlingen können die Furcht vor der Weiterexistenz der Stasi und einer weiterbestehenden persönlichen Bedrohung sein. Oft beherrschen Mißtrauen, Furcht und Argwohn die Gefühls-und Gedankenwelt der Geschädigten. Aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen nimmt man übrigens an, daß diese Ängste ebenso wie mögliche tiefe Depressionen eine Folge der beschriebenen posttraumatischen Belastungssymptome sind
Was zeigen nun die Ergebnisse der Dresdener Untersuchung in bezug auf die genannten Symptome? Wenn auch die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, so lassen sich doch erste Aussagen machen. Vorab soll berichtet werden, welche Personen sich an unserer Untersuchung bisher beteiligt haben. Von den 61 untersuchten ehemaligen politischen Häftlingen haben sich 38 über die politischen Verbände der Betroffenen (z. B. Bautzen-Komitee, Verband der Opfer des Stalinismus/VOS) und 23 Personen über kurze Zeitungsberichte und Inserate in der Lokalpresse bei uns gemeldet Insgesamt bestand die Gruppe der ehemals Inhaftierten bisher zum großen Teil aus Männern (88 Prozent) und nur zum geringeren Teil aus Frauen (12 Prozent). 21 Prozent der Studienteilnehmer waren in der Zeitphase von 1949 bis 1953 inhaftiert, 51 Prozent in der Phase von 1954 bis 1970 und 28 Prozent in der Phase von 1971 bis 1989. Das durchschnittliche Lebensalter betrug zum Zeitpunkt unserer Untersuchung 55, zum Zeitpunkt der Verhaftung 26 Jahre; unser Interview fand also zirka 30 Jahre nach der Inhaftierung statt. Die Inhaftierungszeit reichte von vier Monaten bis zu 18 Jahren (durchschnittliche Inhaftierungszeit: 46 Monate).
Die soziale Zusammensetzung der Inhaftierten-gruppe läßt sich durch den jeweils erreichten höchsten Bildungsabschluß charakterisieren: 17 Prozent der Untersuchungsteilnehmer haben Hauptschulabschluß, 52 Prozent Mittlere Reife oder den Polytechnischen Oberschulabschluß der DDR, 11 Prozent Fachschulabschluß, 4 Prozent Abitur und 15 Prozent Hochschulabschluß. Damit stellt die Inhaftiertengruppe einen repräsentativen sozialen Querschnitt dar, und es werden beispielsweise nicht nur Personen niedriger bzw. gehobener Bildungsschichten untersucht.
In wie vielen Fällen mußte die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung gestellt werden? Hierbei muß man zwei Zeitpunkte unterscheiden: Zum jetzigen Zeitpunkt (d. h. zum Untersuchungszeitpunkt) liegt eine vollständige PTSD-Diagnose bei 20 Prozent vor, zu früheren Zeitpunkten zwischen der Freilassung und dem Untersuchungszeitpunkt erfüllten dagegen 57 Prozent der Untersuchten alle Kriterien einer vollständigen PTSD-Störung. Die aktuell bei einem Fünftel der Betroffenen liegende Störungsrate (nach durchschnittlich 30 Jahre zurückliegender Verhaftung!) muß als erstaunlich hoch gelten. Die Beeinträchtigung dieser Personen ist sehr stark, sie haben einen hohen Leidensdruck, und ihnen sollten eigentlich ausreichende therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um wieder eine normale Lebensqualität zu erreichen. Zum Vergleich sei erwähnt, daß bei der Kontrollgruppe der Kriminalitätsopfer ein PTSD-Vollbild in 50 Prozent der Fälle vorlag, wobei in dieser Gruppe die Traumatisierung durchschnittlich nur zwei Jahre zurücklag.
Neben der hohen Rate an PTSD-Diagnosen bei den politischen Häftlingen gibt es ein zweites Ergebnis, das Beachtung verdient. Betrachtet man die einzelnen Symptombereiche, so zeigen die ehemaligen politischen Häftlinge ein für andere Opfergruppen vergleichsweise ungewöhnliches Symptommuster: Sie haben nur in einem relativ geringen Ausmaß Vermeidungs-und Rückzugs-symptome (27 Prozent der Untersuchten), hingegen liegen der ungewollte Erinnerungsdruck (81 Prozent der Untersuchten) und die Übererregungszeichen (59 Prozent der Untersuchten) in einem höheren Ausmaß vor. Bei anderen in der Literatur berichteten Opfergruppen sind dagegen die Verhältnisse zwischen den drei Symptomgruppen annähernd ausgeglichen Das geringe Ausmaß an Vermeidungs-und Rückzugssymptomen senkt insgesamt die Rate der vollständigen PTSD-Diagnose in unserer Untersuchungsgruppe. Dieses Ergebnis läßt sich noch nicht endgültig interpretieren. Zum einen könnte es auf eine besondere Charakteristik der ehemals Inhaftierten hindeuten, die -nicht zuletzt nach der Wende -versucht haben, sich aktiv in politische und soziale Belange einzuschalten. Eine zweite Interpretationsmöglichkeit liegt allerdings ebenso nahe: Es kann sein, daß wir durch unsere Methode der Suche nach freiwilli-gen Studienteilnehmern nur vergleichsweise aktive Personen zur Mitarbeit veranlaßt haben, während es durchaus auch solche ehemals Inhaftierte geben könnte, die bis heute sehr zurückgezogen leben. Für diese Interpretation spricht, daß durch Studienteilnehmer von anderen ehemaligen Mithäftlingen berichtet wurde, die sozial sehr isoliert leben und die nichts von einer Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen wissen wollen, obwohl sie darunter zu leiden scheinen.
Abschließend noch ein Blick auf die anderen Symptome wie Schlafstörungen, Alpträume und Ängstlichkeit. Wenn wir die ehemals Inhaftierten mit den altersentsprechenden Personen der nichttraumatisierten Kontrollgruppe vergleichen, fallen insbesondere eine hohe Rate an Ein-und Durch-schlafstörungen, anhaltenden Alpträumen und Ängstlichkeit auf. Das Ausmaß an Depressivität bei den ehemals Inhaftierten und der Kontrollgruppe unterscheidet sich demgegenüber nicht statistisch signifikant.
IV. Faktoren der Verursachung und Aufrechterhaltung der psychischen Folgesymptomatik
Die bisherige Forschung zu Posttraumatischen Belastungsstörungen hat eine Vielzahl möglicher Faktoren beschrieben, die bei der Verursachung und Aufrechterhaltung der psychischen Folgesymptomatik eine Rolle spielen Diese Studien haben sich mit vor dem Extremereignis gegebenen Variablen wie dem Familienhintergrund und psychischen Auffälligkeiten, mit der Art des Traumas selbst (Schweregrad und Dauer des traumatischen Ereignisses) sowie mit der unmittelbaren Reaktion der Betroffenen auf das Erlebnis befaßt. Daneben wurden bereits intensiv sogenannte Bewältigungsstile und die Auswirkungen sozialer Unterstützung untersucht.
Im Dresdener Projekt werden außer den Haft-bedingungen auch eine Reihe von Personen-und psychologischen Umweltmerkmalen erfaßt, die eine Rolle für das Ausmaß der psychischen Spät-folgen spielen können. Solche Personenmerkmale sind das Alter zum Zeitpunkt der Inhaftierung, frühere belastende Erfahrungen (z. B. ungünstige Kindheit, Kriegserlebnisse), individuelle Bewältigungsformen sowie das Ausmaß des persönlichen Engagements. Als Umweltmerkmale im psychologischen Sinne werden die Intensität und Intaktheit der persönlichen Beziehungen, die Einbindung in soziale Beziehungen u. a. m. untersucht. Ein besonderer Schwerpunkt der Dresdener Untersuchung ist, daß hier nicht nur Störungen als Folgen der Inhaftierung interessieren. Es wird auch davon ausgegangen, daß viele Betroffene es geschafft haben, sich selber psychisch zu stabilisieren, und eventuell trotz aller Schwere des Erlittenen sogar einen Zugewinn an Lebenserfahrung und persönlicher Reife verzeichnen können.
Ein derart weitgefaßter Forschungsrahmen erlaubt es beispielsweise, Aussagen darüber zu machen, welche Faktoren die psychischen Störungen verstärken bzw. verschlimmern (Vulnerabilitätsfaktoren) und welche anderen Faktoren eine schützende bzw. heilende Wirkung haben (Protektions-bzw. Resilienzfaktoren). Bei den nachträglichen Befragungen zu früher bestehenden Überzeugungen und Einsichten gibt es natürlich methodische Probleme. Diesen Problemen stellt sich der Untersuchungsansatz einerseits durch eine bewußte Begrenzung der Verallgemeinerbarkeit gewonnener Aussagen und andererseits durch den Einsatz moderner Datenanalyseverfahren (z. B. sogenannte Pfadanalysen).
Im folgenden sollen zuerst die Vulnerabilitätsfaktoren genauer beschrieben werden. Hier sind insbesondere Indikatoren der Haftumstände wie die Inhaftierungslänge und der Grad von physischen und psychischen Mißhandlungen von Interesse. Der Dresdener Projektmitarbeiter M. Schützwohl hat einen „Fragebogen zu den Haftbedingungen“ entwickelt, der die verschärfenden Umstände der Haftzeit erfaßt. Dazu zählen Arrest, 'Isolationsoder Einzelhaft, Gewalt durch Vernehmer oder auch durch Mithäftlinge. Der Fragebogen unterscheidet zwischen Untersuchungs-und Strafhaft. Es zeigt sich, daß die Anzahl erschwerender Bedingungen in der Untersuchungshaft in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit den posttraumatischen Belastungsfolgen steht, d. h., Personen, die über mehr erschwerende Bedingungen schon für die Untersuchungshaftzeit berichten, haben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch an Posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden. Für die Strafhaftzeit war dieser Zusammenhang demgegenüber nicht festzustellen. Es läßt sich vermuten, daß es also insbesondere die Ereignisse in der Untersuchungshaft waren, die ursächlich zu Posttraumatischen Belastungsstörungen führten. Diese Interpretation deckt sich weit-35 gehend mit dem, was die Studienteilnehmer spontan berichteten.
Wie eingangs beschrieben, waren die meisten unserer Studienteilnehmer als Untersuchungshäftlinge in U-Haftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit untergebracht. Dort waren nach besonders erniedrigenden und extremen Bedingungen in den fünfziger und sechziger Jahren zwar in den darauffolgenden Jahren die hygienischen und Verpflegungsbedingungen oft besser als in den zum Justizministerium gehörenden U-Haftanstalten. Allerdings waren in den Stasi-U-Haftanstalten die Isolierung meist extremer (z. B. wochenlange Einzelhaft) und die Verhöre der Stasi-Vernehmer näher am Psychoterror (z. B. 24-Stunden-Verhöre). Viele Inhaftierte erlebten nach ihrer Verurteilung den Wechsel in eine dem Innenministerium unterstellte „normale“ Strafvollzugsanstalt zunächst als Erleichterung, obwohl in diesen Einrichtungen oft die Gewalt zwischen Häftlingen an der Tagesordnung war. Zeuge von Gewaltanwendung zwischen (meist kriminellen) Mithäftlingen gewesen zu sein bezeichneten einige unserer Untersuchungsteilnehmer als ihr schrecklichstes Haft-erlebnis aus dieser Zeit.
Das Ausmaß an Posttraumatischen Störungen steht mit der Gesamtlänge der Inhaftierung wiederum in einem -wenn auch nicht sehr hohen -signifikanten statistischen Zusammenhang, d. h., man kann davon ausgehen, daß die Personen, die sehr lange inhaftiert waren, ein erhöhtes Risiko für die beschriebenen Posttraumatischen Störungen besitzen. Untersucht man die möglichen Auswirkungen der anfangs genannten Haftphasen, so zeigt sich erstaunlicherweise auf den ersten Blick kein Zusammenhang der historischen Phasen mit der Intensität der Symptomatik. Dieses Bild ändert sich, wenn man zwei verschiedene Altersgruppen zum Inhaftierungszeitpunkt betrachtet. In der Personengruppe, die zum Inhaftierungszeitpunkt älter als 21 Jahre war, zeigt sich nun die vermutete sinkende Tendenz der Haftfolgeschäden im Laufe der genannten Phasen. Demgegenüber blieben die jüngeren Personen, die zum Verhaftungszeitpunkt 16 bis 21 Jahre waren, in allen Phasen gleichbleibend vulnerabel in bezug auf das Risiko von psychischen Folgesymptomen.
Welche Ergebnisse erbrachte im Gegensatz dazu die Untersuchung protektiver Faktoren? In der Dresdener Untersuchung steht die psychologische Variable des Kohätenzsinns im Mittelpunkt der protektiven Faktoren. Das wissenschaftliche Konzept des Kohärenzsinns stammt von dem israelischen Medizinsoziologen A. Antonovsky. Unter Kohärenzsinn wird die Fähigkeit verstanden, das Geschehen, an dem man beteiligt bzw.dessen Zeuge man ist, geistig einzuordnen, verstehen und ihm Sinn geben zu können. Personen mit einem gut ausgebildeten Kohärenzsinn haben aufgrund ihres Weltverständnisses gute Fähigkeiten zur Vorhersage von Ereignissen, und sie versuchen, für sich zu unterscheiden, was von ihnen selbst zu beeinflussen ist und was nicht. Eine Hypothese der Dresdener Untersuchung war, daß die Studienteilnehmer mit einem ausgeprägten Kohärenzsinn vergleichsweise weniger Symptome aufweisen. Diese Hypothese deckt sich auch mit den Berichten einiger Betroffener der politischen und rassischen Verfolgung unter ganz verschiedenen totalitären Regimen.
So hat der Psychotherapeut Viktor Frankl, der selbst im Konzentrationslager war, mehrfach darüber berichtet, daß die Fähigkeit zur persönlichen Sinnfindung selbst unter schwersten KZ-Bedingungen das entscheidende Merkmal der Über-lebensfähigkeit war Die Dresdener Untersuchung belegt nun mit empirischen Daten die Vermutung, daß ein gut ausgebildeter persönlicher Kohärenzsinn mit weniger posttraumatischen Belastungssymptomen einhergeht.
In der Forschungsliteratur ist immer wieder beschrieben worden, daß das Vorhandensein sozialer Unterstützung durch die Umwelt des Betroffenen protektiv gegenüber der Ausbildung von PTSD wirkt. Im Kontext der Untersuchung ehemaliger politischer Häftlinge ist der Begriff der sozialen Unterstützung vielleicht unglücklich gewählt. In der DDR konnten politische Häftlinge nicht mit einer sozialen Unterstützung im sozial-gesellschaftlichen Sinne rechnen. Sie waren -im Gegenteil -als Systemfeinde ganz besonders der angeordneten sozialen Ächtung anheimgegeben. In der Forschungsliteratur wird der Begriff soziale Unterstützung demgegenüber mehr im Sinne von zwischenmenschlicher, gegenseitiger Unterstützung verwendet. Die Dresdener Untersuchung setzte ein Meßverfahren ein, daß drei Arten sozialer Unterstützung unterscheidet: emotionale Hilfe durch Einzelpersonen, praktische Unterstützung (z. B. gegenseitig Einkäufe erledigen) sowie soziale Integration in eine Gruppe Gleichgesinnter.
Als ein Nebenbefund ergab sich, daß sowohl die ehemals Inhaftierten als auch die Vergleichsgruppen auf diesen in den alten Bundesländern entwikkelten Skalen überdurchschnittlich sehr hohe Werte aufwiesen (im Vergleich zu früher untersuchten Personengruppen in den Altbundesländern). Hier zeigte sich das oftmals beschworene relativ hohe Ausmaß der zwischenmenschlichen Kontakte in der DDR. Es kann sein, daß dieses hohe Ausgangsniveau der Werte auch die Ergebnisse beeinflußt. Ein Zusammenhang mit dem Ausmaß an PTSD-Symptomen fand sich jedenfalls nur für den Aspekt der sozialen Integration. Das heißt, die Personen, die sich als gut sozial integriert beschreiben und sich von einem Kreis von Gleichgesinnten getragen fühlen, haben weniger PTSD-Symptome.
Zuletzt sei noch von einer Analyse berichtet, in der Personen, die nach der Haft in die damalige Bundesrepublik gingen, mit solchen, die aus unterschiedlichen Gründen in der DDR blieben, verglichen wurden. In bezug auf das Ausmaß der Symptomatik fand sich zwischen beiden Gruppen kein statistisch bedeutsamer Unterschied. Was die psychischen Spätfolgen betrifft, scheint es also keinen Unterschied zu machen, ob man nach der Haft in die Altbundesrepublik gezogen oder in der DDR geblieben ist. Dieses vielleicht unerwartete Ergebnis wird durch viele Berichte von ehemaligen Inhaftierten belegt, die sich nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik über Jahre hinweg schlecht behandelt fühlten. Manche dieser Personen berichten sogar von einem völligen Unverständnis ihrer Problematik und Leidensgeschichte gegenüber.
V. Perspektiven und Schlußfolgerungen
Die Untersuchung der psychischen Folgen der Inhaftierung aus politischen Gründen hat mehrere Implikationen. Zum einen geht es darum, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf ein bisher weitgehend vernachlässigtes Gebiet psychologisch-medizinischer Ansätze zu richten. Wissenschaftliche Erwähnungen oder Untersuchungen dieser Problematik gibt es in Deutschland bisher nur ganz vereinzelt Zum anderen geht es darum, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Problematik der ehemaligen politischen Häftlinge der DDR zu richten, die in einer nicht kleinen Anzahl bis heute schwer an ihrem Schicksal zu tragen haben. Die Schrecken der DDR-Staatsgewalt waren in den schlimmsten Zeiten -insbesondere den fünfziger Jahren -leider in manchem denen sehr ähnlich, welche Naziopfer im Dritten Reich erleben mußten Diese Aussage soll nicht auf eine allgemeine Diskussion der möglichen Parallelen zwischen dem Dritten Reich und der DDR-Zeit hinauslaufen, denn in der Dresdener Untersuchung geht es allein um das Ausmaß individuellen Leids und der fortdauernden psychischen Beeinträchtigung einzelner Menschen. Dabei ist auch darauf hinzuweisen, daß sogar noch die in den achtziger Jahren ausgeübten Methoden der Einzelhaft, Verhöre und Erniedrigungen politischer Gefangener bei zumindest einem Teil dieses Personenkreises zu psychischen Folgestörungen geführt haben.
Heute stehen die Opfer dieser Zeit in vielen Fällen vor den zuständigen Instanzen des Sozialstaates, um aus gesundheitlichen Gründen eine Entschädigung bzw. Frühberentung zu beantragen. In der überwiegenden Zahl aller Fälle werden die Anträge auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden bisher abgelehnt oder in ihren Ansprüchen reduziert Dies bleibt den meisten Betroffenen unverständlich und läßt ihren oft schon störungsbedingt vorhandenen Ärger und Zorn weiter ansteigen. Die Berentungsverfahren für Opfer der DDR-Gewalt werden anhand des „Bundesversorgungsgesetzes“ geregelt, im Gegensatz zum nach 1945 eingeführten „Bundesentschädigungsgesetz“, das die Entschädigung und Berentung für Naziopfer regelt. Das Bundesversorgungsgesetz wird auch von Fachleuten als juristisch ungünstig für die Regelung der Entschädigung von DDR-Opfern angesehen, da es ursprünglich mit der ganz anderen Zielrichtung der Regelung von Kriegsfolgeproblemen geschaffen wurde. Hiermit waren die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrten Soldaten gemeint.
Hinzu kommt ein weiteres Problem, das vor den Gutachtern steht. Dabei geht es um die Einschätzung der Frage, ob Gesundheitsschäden der jeweiligen Person schon vor dem belastenden Ereignis vorhanden waren. Im Bereich psychischer Symptome ist dieser Begutachtungsgrundsatz in den meisten Fällen sehr restriktiv gegenüber den An-tragstellern gehandhabt worden. In bezug auf die Naziopfer beklagte schon William Niederland diese restriktive Einstellung vieler Psychiater. Diese argumentierten in ihren Gutachten, daß man den psychischen Zustand vor der Extrembelastung nicht mehr erfassen und von daher auch nicht nachträglich das Ausmaß der inzwischen eingetretenen Schädigung abschätzen könne. Diese Ansicht hat natürlich eine gewisse nicht von der Hand zu weisende Logik, da schwer nachzuweisen ist, daß z. B. Depressivität, Angststörungen oder eine Persönlichkeitsstörung nicht schon vor dem traumatischen Erlebnis vorhanden waren., Die auf neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörungen steht allerdings gar nicht vor dieser rückwirkenden Nachweispflicht, da es hier um das Ausmaß gegenwärtiger Beeinträchtigungen durch den Erinnerungsdruck, Vermeidung und Rückzug sowie die Übererregtheit geht. In der Gutachterpraxis zeigt sich übrigens für die Betroffenen inzwischen ein kleiner Silberstreif am Horizont: Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörungen ist durch einen entsprechenden Anhang kürzlich in die „Anhaltspunkte der ärztlichen Gutachtertätigkeit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung aufgenommen worden.