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Fünf Jahre danach -Wieviel Einheit brauchen wir? | APuZ 38/1995 | bpb.de

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APuZ 38/1995 Fünf Jahre danach -Wieviel Einheit brauchen wir? Der Rechtsanwalt als „Justizkader“. Zur Rolle des Verteidigers im politischen Strafverfahren der DDR Die Ahndung des SED-Unrechts durch den Rechtsstaat Psychische Folgen politischer Inhaftierung in der DDR

Fünf Jahre danach -Wieviel Einheit brauchen wir?

Ilse Spittmann

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Fünf Jahre nach der deutschen Vereinigung weist das Meinungsspektrum über den Vereinigungsprozeß einen deutlichen Widerspruch auf: Die Zustimmung der Bevölkerung zur Vereinigung ist seit 1990 kontinuierlich gewachsen, von etwa drei Viertel auf gut vier Fünftel 1995. Sie war in den östlichen Bundesländern stets größer als im Westen. Andererseits ist die Kritik am Vereinigungsprozeß vor allem in Ostdeutschland ständig schärfer geworden, die Ost-West-Differenzen in Fragen des politischen Bewußtseins und der Werte-ordnung haben sich bedenklich vertieft. Diese Diskrepanz kann statt als Widerspruch auch als Differenzierungsfähigkeit gedeutet werden. Die Ostdeutschen klagen ihr demokratisches Recht auf Mitbestimmung und Mitgestaltung ein und die Akzeptanz ihrer andersartigen Sozialisationsgeschichte. Die Anstrengungen des Vereinigungsprozesses müssen sich auf die Beseitigung der sozialen Spaltung und die Herstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts richten. Landsmannschaftliche Vielfalt, gesellschaftspolitische, kulturelle und mentale Unterschiede bereichern die Nation.

„Es war wunderbar, diese fünfJahre Demokratie in Deutschland mitzuerleben, eine völlig unerwartete Wendung in der Geschichte (und in unserer Biographie) -mit allen Kämpfen, Enttäuschungen, Hoffnungen, Verwerfungen, Verwunderungen und Verwundungen.“ Der dieses fast enthusiastische Urteil im Herbst 1994 abgab, Friedrich Schorlemmer, ist als scharfer Kritiker der Praktiken des Einigungsprozesses bekannt. Auch in dem hier zitierten Beitrag aus einer Essay-Reihe im Deutschland-funk folgte die kritische Distanzierung auf dem Fuße: „Unglaublich viel ist in dieser Zeit im Osten anders, neu und schön geworden. Ein deprimierender Verfall wurde aufgehalten, gleichzeitig wurde nach marktwirtschaftlichen Gesetzen unter Vorgaben der Treuhand vieles dem Verfall preisgegeben. Der Westen konnte keine östliche Wirtschaftskraft brauchen, wohl aber Absatz, dem die Bundesrepublik einen Vereinigungsboom verdankte. Nun wird unsicher, wie-wir der riesigen Staatsverschuldung noch Herr werden können.“

Nur ein politisch sehr bewußter Mensch wird den Wert demokratischer Freiheiten, die Chancen einer offenen Entwicklung so hoch einstufen, daß die wirtschaftlichen und sozialen Defizite daneben verblassen. Trotzdem spiegelt sich in Schorlemmers Sätzen eine Grundbefindlichkeit der Nation: vielfältige, oft schärfste Kritik an der Vereinigung, aber zurück in die Nischen der Teilung will kaum jemand.

I. Widersprüchliches Meinungsbild

Meinungsumfragen bieten oft widerspruchsvolle Ergebnisse, abhängig von der Fragestellung, dem Frageumfeld, Begriffsbestimmungen, vor allem von der Professionalität der fragenden Institute und Personen, aber auch von der Disposition der Befragten. Verlaß ist am ehesten auf professionell angelegte Untersuchungen, die periodisch mit der gleichen Fragestellung wiederholt werden. Aus der zeitlichen Entwicklung und aus dem Vergleich verschiedener Befragungen lassen sich Größenordnungen und Trends einigermaßen zuverlässig erschließen. Im Fall der deutschen Vereinigung ist der Befund ziemlich eindeutig: Seit 1990 hat es eine satte Mehrheit für die Vereinigung gegeben, mit leichtem Ost-West-Gefälle, insgesamt aber steigender Tendenz. Im März 1992 sprachen sich 73 Prozent der Befragten im Osten und 66 Prozent im Westen gegen ein Zurück vor den Fall der Mauer aus. Im April 1995 antworteten auf die Frage, ob die Wiedervereinigung die richtige Entscheidung gewesen sei, im Osten 87 Prozent, im Westen 82 Prozent mit Ja

Eine erhebliche Ost-West-Differenz zeigen die Antworten auf die von Allensbach seit 1990 monatlich wiederholte Frage, ob die Wiedervereinigung Anlaß zu Freude oder Sorge gebe. Die Freude war im Osten immer erheblich größer als im Westen, bis Juni 1994 lagen die entsprechenden Werte weit über 50 Prozent, im letzten Jahr zwischen 60 und 68 Prozent

Das verblüfft, denn die Aussagen über das Zusammenwachsen von Ost-und Westdeutschen zeigen insbesondere im Osten eine entgegengesetzte Tendenz. Emnid ermittelte im Juni 1995 bei 83 Prozent der befragten Ostdeutschen Zustimmung zur Vereinigung, gleichzeitig meinten aber 67 Prozent, daß die Mauer in den Köpfen wachse

Bei Fragen zur nationalen Identität hat es regelrechte Einbrüche gegeben. „Wir sind ein Volk“ bestätigten im November 1990 noch 54 Prozent der Westdeutschen und 45 Prozent der Ostdeutschen. Im Juli 1994 war die Zustimmung im Westen auf 47 Prozent und im Osten drastisch auf 28 Prozent zurückgegangen Im März 1990 fühlten sich 61 Prozent der Befragten im Osten eher als Deutsche denn als Ostdeutsche, im Januar 1992 nur noch 35 Prozent. Die letzten Befragungen 1993 und 1994 ergaben unverändert ein Verhältnis von 60: 34/35 für die ostdeutsche Identität. Bei den Befragten in Westdeutschland war das Verhältnis von deutscher zu westdeutscher Identität 1993 und 1994 umgekehrt

Besonders gravierende Ost-West-Unterschiede fand Allensbach im Rechtsbewußtsein. „Kein Schutz, keine Gleichheit, keine Gerechtigkeit“ überschrieb Elisabeth Noelle-Neumann ihre Untersuchung zum gesamtdeutschen Rechtsbewußtsein Danach meinten 73 Prozent der befragten Ostdeutschen, es gebe in der Bundesrepublik keine Gleichheit vor dem Gesetz (im Westen immerhin auch 67 Prozent); 72 Prozent fühlten sich vom Gesetz, 76 Prozent von der Polizei nicht beschützt (Westen 33 bzw. 44); 60 Prozent waren mit Gesetzen und Rechtsprechung nicht zufrieden (Westen 36); 53 Prozent hielten das Gesellschaftssystem in der Bundesrepublik nicht für gerecht (Westen 28). In einer Emnid-Befragung erklärten im Osten 50 Prozent die Ordnung der DDR für gerecht, nur 38 Prozent die der Bundesrepublik

Dramatisch verschoben haben sich nach der gleichen Quelle die Ansichten der Ostdeutschen darüber, in welchen Bereichen die DDR der Bundesrepublik überlegen war. 1990 wurden nur drei von 16 Bereichen genannt. Bei diesen sind 1995 die Zustimmungswerte deutlich gestiegen: Gleichberechtigung der Frau von 67 auf 87, soziale Sicherheit von 65 auf 92 und Schutz vor Verbrechen von 62 auf 88 Prozent. Es sind aber 1995 auch vier Bereiche dazugekommen: Berufsausbildung kletterte von 33 auf 70 Prozent, Schulbildung von 28 auf 64 Prozent und Versorgung mit Wohnungen von 27 auf 53 Prozent. Hier spiegeln sich offensichtlich soziale Erfahrungen im vereinigten Deutschland wider. Sie beeinflussen anscheinend auch bestimmte politische Einschätzungen. 1990 sah eine große Mehrheit der von Emnid befragten Ostdeutschen die Ursache für das Scheitern des DDR-Sozialismus im System selbst, nur 36 Prozent in der Unfähigkeit der Politiker. Im Juli 1995 hatte sich der Anteil derer, die die Politiker, nicht das System für das Scheitern verantwortlich machten, mit 79 Prozent mehr als verdoppelt. Der Sympathiewert des Kommunismus als Idee stieg von 1990 bis 1995 von sieben auf 24 Prozent.

Solche Befunde lassen viele Westdeutsche sicherlich gruseln, sie passen nicht recht zusammen mit der überwältigenden Zustimmung zur deutschen Einheit und den immerhin fast zwei Dritteln in Ostdeutschland, die Vertrauen zur Demokratie im vereinigten Deutschland haben Droht die innere Einheit an den deutschen Widersprüchen zu scheitern? Oder lesen wir die Befunde falsch? Wie war das denn in der langen Zeit der Teilung mit der deutschen Einheit und den Bindungen an den jeweiligen Teilstaat?

II. Einheit und Freiheit

„Der Preis für die Freiheit in der Westbindung war die Einheit“, sagte Schorlemmer im Deutschland-funk zutreffend. Unter Wahrung der gesamtdeutschen Rechtspositionen und der Option auf die deutsche Einheit entschied die Bundesregierung 1952 gegen die Wiedervereinigung, solange sie nur zu sowjetischen Bedingungen zu haben gewesen wäre. „Freiheit vor Einheit“ war die ganz und gar nicht nationalistische Maxime der Adenauer-Ära. Adenauer selber hat Ende der fünfziger Jahre vergeblich versucht, ihr auch für die Menschen in der DDR Geltung zu verschaffen. In lange geheim gebliebenen Gesprächen mit dem damaligen sowjetischen Botschafter in Bonn, Smirnow, und dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister Mikojan sondierte er im Frühjahr 1958 und noch einmal im Juni 1962, ob die Sowjetunion zu einer „Österreich-Lösung“ für die DDR bereit wäre: militärische Neutralität gegen Wahlfreiheit für die politische Ordnung

Adenauer sagte am 9. Oktober 1962 im Deutschen Bundestag: „Ich erkläre erneut, daß die Bundesregierung bereit ist, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone ihr Leben so einrichten können, wie sie es wollen.“ Die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl in den siebziger und achtziger Jahren hatte angesichts der verfestigten Macht-blöcke bescheidenere Ziele: menschliche Erleichterungen gegen staatliche, nicht völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Peter Bender hat in der erwähnten Reihe des Deutschlandfunk der Bonner Republik dies als Verdienst angerechnet: „Es gereicht der alten Bundesrepublik zur Ehre und entsprach ihrer besten Tradition, daß sie der Demokratie den ersten Platz gegeben hat und der Nation erst den zweiten. Und daß sie den Menschen wichtiger nahm als den Staat.“

Das ist ein treffendes Urteil, aber es ist eine ausgesprochen westliche Sicht. Die Weichenstellung von 1952 spaltet noch heute die Nation. Im April 1995 fragte Allensbach, ob es richtig gewesen sei, Stalins Angebot eines vereinten, aber neutralen Deutschland abzulehnen und statt dessen die feste Bindung an den Westen zu wählen. Es antworteten doppelt so viele Westdeutsche mit Ja wie Ostdeutsche. Diese hielten die Entscheidung mit großer Mehrheit für falsch, während sich bei den westdeutschen Befragten Befürworter und Gegner die Waage hielten

Das ist nicht verwunderlich. So richtig es für die junge Bundesrepublik war, im Kalten Krieg Stalins zweifelhaften Versprechungen die feste Bindung an die westlichen Demokratien vorzuziehen -die unvermeidliche Kehrseite dieser Entscheidung war die Auseinanderentwicklung der deutschen Teilstaaten in zwei sehr unterschiedlich geprägte Gesellschaften mit einschneidenden Folgen für Wirtschaftskraft und Lebensstandard, noch nachhaltiger für Mentalität und politisches Bewußtsein.

Die Wiedervereinigung verblaßte nach Errichtung der Mauer 1961 auf beiden Seiten immer mehr zur rhetorischen Forderung, bis die DDR sich 1974 ganz davon verabschiedete. Angesichts des atomaren Patts zwischen den Großmächten, das eine Lösung der deutschen Frage nicht zuließ, mußten sich die Menschen in ihren jeweiligen Teilstaaten einrichten.

III. Lebenswelt DDR

Was das wirklich bedeutete für das Leben des einzelnen wie für die Gesellschaft, das lernen wir erst jetzt. Den Deutschen im Wirtschaftswunder-Westen fiel es vergleichsweise leicht, „Bundesrepublikaner“ zu werden, wenngleich der Weg zu Wohlstand und Demokratie reich an Mühen, Kämpfen und Verirrungen war. Die Last der Teilung wurde den Deutschen in der DDR aufgebürdet: Anpassung an ein mehrheitlich nicht gewolltes, fremd-bestimmtes System politischer Unterdrückung und Reglementierung, an von der SED-Ideologie vorgegebene Verhaltensnormen in Politik und Beruf -teilweise reichte die Indoktrinierung bis in die Privatsphäre; Hinnahme von Rechtswillkür und Spitzelsystem; Uniformität und Tristesse des öffentlichen Lebens; Verzicht auf die meisten Annehmlichkeiten der modernen Konsumgesellschaft, auf eine selbstbestimmte Lebensplanung, auf individuelle Mobilität und gesellschaftliche Liberalität.

Auf der Habenseite standen die Wohltaten des despotischen Versorgungsstaates -politisches Wohlverhalten vorausgesetzt: Sicherheit von Ausbildung, Arbeit, Wohnung; Schutz vor Kriminalität, „Schmutz und Schund“; kostenlose Gesundheitsfürsorge, billige Mieten, symbolische Preise für öffentliche Dienstleistungen, Grundnahrungsmittel, Kinderbetreuung, Kultur. Kurz gesagt, ein hoher Grad der sozialen Absicherung auf niedrigem materiellen Niveau.

Als Bedingungsgefüge der Lebenswirklichkeit in der DDR ist das alles im deutschen Westen durchaus wahrgenommen worden, auch das für Diktaturen allgemein typische Auseinanderfallen von öffentlichem und privatem Bewußtsein. Doch die Prägekraft lebenslanger, von Kind auf eingeübter Alltagsgewohnheiten wurde unterschätzt.

Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob es für die Regelung aller wesentlichen Lebensbereiche von der Kinderbetreuung über Moralerziehung, Karrierewege, Freizeitgestaltung und Altersvorsorge eine zentrale Anlaufstelle, den Betrieb und das Arbeitskollektiv, gibt, oder ob das der individuellen Gestaltung und damit auch Verantwortung anheimfällt. Es ist ein Unterschied, ob Lebensunterhalt und Wohnung Sache eigener Anstrengungen und Risiken sind oder Teil staatlicher Fürsorge, ob Geld oder Beziehungen zentrale Kategorien der Lebenssicherung sind, ob der Gebrauchswert oder der Marktwert eines Arbeitsproduktes seinen Wert bestimmt.

Was in der westdeutschen Wahrnehmung kaum eine Rolle gespielt hat und jetzt mühsam gelernt werden muß, ist auch die Tatsache, daß dieses Gesellschaftsmodell über die staatliche Grundsicherung des „warmen Sklavenstalls“ hinaus Loyalität stiftende ideelle Möglichkeiten enthielt, die auch nach heutigen Maßstäben nicht ehrenrührig sind. Die in der DDR aufgewachsenen und sozialisierten Generationen wurden weltanschaulich vom antifaschistischen Pathos der Nachkriegszeit (das es übrigens auch in Westdeutschland gegeben hat) und von in der Ideologie der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung wurzelnden Gleichheits-und Gerechtigkeitsidealen geprägt, die in den neuen Bildungs-und Aufstiegschancen für ehemals unterprivilegierte Schichten verwirklicht zu sein schienen. Die Verletzung dieser Ideale war der Hauptgrund für die späte Aufkündigung der Grundloyalität gegenüber dem SED-Regime. Die weltanschauliche Prägung hat den Bruch meist überdauert und begründet die heute festzustellende Ost-West-Distanz in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

IV. Der andere Blick

In der Zeit der Teilung ist die Wiedererlangung der deutschen Einheit als Wunschbild zwar immer lebendig geblieben, in der DDR wesentlich stärker als in der Bundesrepublik. Ein neues Indiz dafür bietet ein Befragungsergebnis vom April 1995. Eine fast gleich große Mehrheit in Ost und West meinte, das Festhalten am Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz sei richtig gewesen. Aber für die Beurteilung der praktischen Politik hatte dieses Verfassungsgebot seine Bedeutung bei den Ostdeutschen weitgehend verloren. In der gleichen Befragung erklärte eine große Mehrheit aus den östlichen Bundesländern, die Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft sei falsch gewesen In einem ganz praktischen Sinn war die DDR ihr politischer und sozialer Lebensraum geworden und damit auch ihr Staat.

Der Historiker Heinz Niemann, zu DDR-Zeiten Hochschullehrer in Leipzig und Berlin, Mitautor des Anfang 1978 im „Spiegel“ veröffentlichten Manifests oppositioneller SED-Mitglieder, leitet aus Befragungsergebnissen des von 1964 bis 1979 existierenden Instituts für Meinungsforschung beim SED-Politbüro ab, daß in den sechziger und siebziger Jahren eine Mehrheit der Bevölkerung die DDR „angenommen“ und die Führungsrolle der SED anerkannt habe. Das SED-System sei „qua Massenloyalität“ „mehrheitlich legitimiert“ gewesen Ob die nur in Teilstücken erhaltenen und von Niemann rekonstruierten, methodisch nicht nachprüfbaren Unterlagen des SED-Instituts, die nie veröffentlicht wurden, so weitgehende Schlüsse zulassen, wird man bezweifeln dürfen. Bestimmte Größenordnungen, Tendenzen sowie Identifikationsbereiche lassen sich aus den mitgeteilten Daten aber erkennen.

Zum Beispiel ergab 1969 eine Gewichtung typischer Merkmale der DDR und der Bundesrepublik für die DDR auf den ersten Plätzen gute Bildungsmöglichkeiten und soziale Sicherheit, auf den letzten Fürsorge im Alter und Demokratie. Umgekehrt weisen die beiden letzten Positionen mit großem Abstand die höchsten Anteile für die Bundesrepublik aus (16, 2 und 18, 3 Prozent, alle sonstigen Positivwerte für die Bundesrepublik lagen weit unter vier Prozent). Als Bereiche, in denen eine weitgehende Identifikation mit Normen und Verhältnissen der DDR abzulesen ist, erweisen sich die antifaschistische Ideologie, die zentrale Bedeutung der Erwerbsarbeit und der Arbeitswelt für die subjektive Lebensgestaltung, die stark egalitären Gesellschafts-und Gerechtigkeitsvorstellungen, ausgeprägte mitmenschliche Beziehungen (vornehmlich im Arbeitskollektiv), Berufstätigkeit der Frau als individuelles Bedürfnis. Ein spezifischer Befund ist die bei allen politischen Fragen festzustellende deutlich kritischere Einstellung von Arbeitern bei der Bewertung von DDR-Positionen. Die nach der Wende durchgeführten gesamtdeutschen Befragungen weisen auf die gleichen Felder hin, wenn es um signifikante Einstellungsunterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen geht.

Die hervorstechendsten Differenzen in der Werte-hierarchie, wie sie in zahlreichen westlichen Untersuchungen herausgearbeitet wurden, lassen sich auf die Formel bringen, daß im Westen die Freiheitsrechte an erster Stelle stehen, im Osten soziale Bedürfnisse als Menschenrechte reklamiert werden. Oder, wie Elisabeth Noelle-Neumann das unterschiedliche Staats-und Freiheitsverständnis formuliert, für die Ostdeutschen sichert der Staat die Freiheit von Not, für die Westdeutschen bedeutet Freiheit die Freiheit von Eingriffen des Staates in die Privatsphäre der Bürger. Man könnte auch sagen: im Osten Schutz durch den Staat, im Westen Schutz vor dem Staat.

Und dann kommt das Befragungsergebnis, das alle diese klugen Unterscheidungen über den Haufen wirft: Bei der Frage, wo ist bzw. war der Bürger besser vor Verbrechen geschützt, in der heutigen Bundesrepublik oder in der DDR, votierten 88 Prozent der Ostdeutschen für die DDR. Doch bei der Abwägung zwischen einem System, das die Menschenrechte schützt, aber hohe Kriminalität aufweist, und demjenigen, das keinen Schutz der Menschenrechte, aber durchgreifenden Schutz vor Kriminalität sichert, wählten die Ostdeutschen mit 54 Prozent (Westdeutsche 78) das System mit gesicherten Menschenrechten und hohem Kriminalitätsrisiko

V. Ankunft in einer neuen Republik

Die verwirrende Diskrepanz zwischen der grundsätzlichen Zustimmung zur Vereinigung und der Ablehnung vieler ihrer Folgen, die als Widerspruch erscheint, kann auch als Differenzierungsfähigkeit gedeutet werden. In ihrer Mehrheit sind die Ostdeutschen vielleicht schon viel sicherer in der neuen Republik angekommen, als den Beobachtern und ihnen selbst bewußt ist. Demokratie bedeutet ja nicht einfach Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit -dann wären die neuen Bundesbürger rein rechnerisch immerwährend eine beherrschte Minderheit. Demokratie heißt auch Mitgestalten und Mitverantworten. Wenn die Ostdeutschen gerade dies einklagen, wenn sie sich gegen Ausgrenzung und westliches Beharrungsvermögen zur Wehr setzen, dann haben sie recht und zeigen vielleicht mehr demokratisches Bewußtsein als ihre Kritiker. Warum muß ihnen alles gefallen, was unter ganz anderen Bedingungen in der alten Bundesrepublik gewachsen ist? Vieles davon ist inzwischen reformbedürftig. Das Recht zum Beispiel ist durch einen immer weiter ausgeuferten Paragraphendschungel schwerfällig und für den Bürger undurchschaubar geworden. Mit dem Bundespräsidenten und der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts beklagen das heute höchste Repräsentanten des Staates. Die Bürokratie der öffentlichen Verwaltungen ist schlimmer, als sie es in der DDR war. In der Allensbach-Umfrage zum gesamtdeutschen Rechtsbewußtsein vom März dieses Jahres glaubten zwei Drittel der westdeutschen Befragten nicht, daß vor dem Gesetz alle Bürger gleich sind, ein gutes Drittel war mit den Gesetzen und der Rechtsprechung nicht zufrieden, und fast ein Drittel hielt das Gesellschaftssystem für ungerecht.

Die strukturelle Krise der westlichen Industriegesellschaften ist in Deutschland durch den Bankrott der DDR-Wirtschaft und den anschließenden Konsumboom im Osten verdeckt und verzögert worden. Doch inzwischen ist es unbestritten, daß der Arbeitsmarkt vom Wirtschaftswachstum kaum noch profitiert. Eine Dauerarbeitslosigkeit von über drei Millionen mit einem besonders hohen Anteil junger Menschen und Frauen, als Folge davon wachsende Armut, Gewaltbereitschaft, Ausländerfeindlichkeit, im politischen Bereich Wahlenthaltung, Mitgliederschwund bei Parteien und Gewerkschaften, Vertrauensschwund in die demokratischen Institutionen und ihre Problemlösungskompetenz -dies, alles beschwert die westdeutsche Gesellschaft seit Anfang der achtziger Jahre und ist nun ein gesamtdeutsches Problem mit besonderem Schwerpunkt im Osten.

In diesen tiefgreifenden Umbruchsprozeß wollen die Ostdeutschen nicht nur ihre Interessen, sondern auch ihre Kompetenz einbringen, und das ist ihr gutes Recht. Die Wahlerfolge der PDS beruhen auch darauf, daß sie die einzige Partei ist, in der die Ostdeutschen nicht von Westdeutschen dominiert werden.

Während sich einerseits Ost-West-Unterschiede halten oder sogar vergrößern, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt und bei der privaten Vermögensbildung, gibt es auf der anderen Seite Angleichungsprozesse, die das herkömmliche Ost-West-Schema relativieren. Das Hamburger Welt-wirtschaftsarchiv sieht eine spürbare Verstärkung des Aufholprozesses der ostdeutschen Wirtschaft bei jährlichen Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsproduktes von neun Prozent, im Verarbeitenden Gewerbe gar 20 Prozent, was als ein Zeichen für beginnende Reindustrialisierung gewertet wird. Die heimische Produktion wachse deutlich schneller als die Binnennachfrage, die jedoch von der ostdeutschen Produktion erst zur Hälfte befriedigt werden könne

Die Einkommen aus Erwerbsarbeit und Renten sind stetig gestiegen und haben inzwischen im Schnitt bei Arbeitseinkommen etwa 85 Prozent und bei Renten 80 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht. Das wirkt sich positiv auf den Zufriedenheitsgrad aus. Der Anteil derer, die mit ihren Einkommen im großen und ganzen ihre Bedürfnisse befriedigen können, wenn auch mit Einschränkungen, stieg nach einer Umfrage aus Brandenburg von 65 Prozent 1990 kontinuierlich auf 84 Prozent 1994. Eine Gewinn-und Verlustbilanz aus der Vereinigung des gleichen Instituts ergab ein Drittel Verlierer, etwas weniger als ein Drittel Gewinner und zwei Fünftel, für die Gewinn und Verlust etwa gleich groß sind

Eine andere Angleichung wirkt auf ehemalige DDR-Bürger weniger positiv. Die Sozialstruktur verändert sich von einer weitgehend egalitären zu einer immer stärker differenzierten Gliederung. Deutlich wird das vor allem an der erheblich geschrumpften Frauenbeschäftigung und den großen Unterschieden zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Rentnern einerseits, dem guten Drittel Bezieher von staatlichen Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe andererseits. In der Marktwirtschaft ist soziale Ungleichheit allerdings auch ein Leistungsanreiz. Gesamtdeutsch deutet sich sehr zögernd ein Prozeß an, der soziale und politische Interessen quer zur Ost-West-Spaltung differenziert.

VI. Innere Einheit -was ist das?

Die „innere Einheit“ ist ein Schlagwort geworden mit recht diffusem Inhalt. Völlige Gleichheit der Deutschen ist nicht herstellbar, auch nicht wünschenswert. Die Ost-West-Spaltung war schon lange historisch angelegt, bevor sie sich in zwei Staaten materialisierte. Das Römische Reich deutscher Nation mit seiner römisch-katholischen Tradition hatte schon fast 1000 Jahre Geschichte hinter sich, als die ersten westdeutschen Kolonisatoren östlich der Elbe den Slawen das Land abjagten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Bundesrepublik eine konservative Gruppierung, die zur „Rettung des Abendlandes“ das Reich Karls des Großen wiederherstellen wollte. Westund Süddeutschland standen immer dem lateinischen Westen und Süden Europas näher, während „Osteibien“ eher zum einstigen Mitteleuropa, dem heutigen Osteuropa gehörte. Das Deutsche Kaiserreich war ein Vielvölkerstaat und hatte eine Verfassung mit entsprechenden Rechten. Das Reichs-und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 kannte bis zu Hitler keine Volkszugehörigkeit und setzte nicht einmal Deutschkenntnisse voraus

Die ostdeutsche Identität wird heute schon überlagert von landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten. In einer Umfrage der Sächsischen Zeitung, publiziert am 5. Mai 1995, definierte sich die Hälfte der Ostdeutschen landsmannschaftlich nach dem jeweiligen Bundesland. Nur ein knappes Drittel sah sich vorrangig als Deutsche, ein Fünftel als Ostdeutsche.

Günter Kunert hält die Forderung nach „Vollendung der Einheit“ für unsinnig und illusionär. Die Einheit könne bestenfalls eine soziale und ökonomische sein. „Eine andere ist nicht denkbar. Wie andere Völker werden auch wir mit Differenzen aller Art in unserem , uneinigen Vaterland“ zu leben haben. Es will auch mir nicht einleuchten, warum so etwas wie eine Ausschaltung von Gegensätzen und Widersprüchen wünschenswert sei, eine Harmonie, die ausschließlich durch Uniformität zu gewinnen wäre, eine mentale Gleichheit, wie sie nur für Zombies vorstellbar ist. Unsere Werturteile und Vorurteile werden wir ohnehin nicht los. Wir müßten nur mit ihnen gelassener umgehen.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. „Einheit nach-gefragt“ -Betrachtungen auf einem schwierigen Weg. Eine Essay-Reihe im Deutschlandfunk, Köln 1995.

  2. Vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, München 1993, S. 454; Allensbacher Umfrage zum Geschichtsbewußtsein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 3. Mai 1995.

  3. Vgl. Allensbach, Berichtigung vom 26. Juni 1995 zu einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung.

  4. Vgl. Die Welt vom 3. Juli 1995.

  5. Vgl. Allensbacher Monatsbericht Juli 1994, in: FAZ vom 10. August 1994.

  6. Vgl. Allensbacher Jahrbuch (Anm. 2), S. 486; Allensbacher Umfrage (Anm. 2).

  7. Vgl. Allensbacher Umfrage zum Rechtsbewußtsein, in: FAZ vom 8. März 1995.

  8. Vgl. Emnid Monatsbericht Juli 1995, in: Berliner Zeitung vom 1. August 1995.

  9. Vgl. infas Umfrage, in: Berliner Zeitung vom 22. /23. Juli 1995.

  10. Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959, Stuttgart 1967.

  11. Vgl. Allensbacher Umfrage (Anm. 2).

  12. Vgl. ebd.

  13. Vgl. Heinz Niemann, Hinterm Zaun. Politische Kultur und Meinungsforschung in der DDR -die geheimen Berichte an das Politbüro der SED, Berlin 1995; ders., Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED. Köln 1993.

  14. Vgl. Allensbacher Umfrage (Anm. 2).

  15. Vgl. FAZ vom 11. Mai 1995.

  16. Vgl. Ingrid Kurz-Scherf/Gunnar Winkler (Hrsg.), Sozialreport 1994. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, erhoben vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e. V. (sfz), Berlin 1994; Gunnar Winkler, Auf dem Weg zur Sozial-Union-kein Versuch einer Zwischenbilanz, in:. Neues Deutschland vom 30. Juni 1995.

  17. Vgl. Erich Röper, Minderheitenschutz im Vielvölkerstaat Deutschland, in: Deutschland Archiv, 28 (1995) 6, S. 625 ff.

  18. Vgl. „Einheit nach-gefragt“ (Anm. 1).

Weitere Inhalte

Ilse Spittmann, geb. 1930; politische Journalistin; bis Mai 1995 verantwortliche Redakteurin des Deutschland Archivs; Mitherausgeberin der Edition Deutschland Archiv (zus. mit Gisela Helwig). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Karl Wilhelm Fricke) 17 Juni 1953, Köln 1982; (Hrsg.) die SED in Geschichte und Gegenwart, Köln 1987; (Hrsg. zus. mit Gisela Helwig) DDR-Lesebuch, Bde. 1 und 2, Köln 1989 und 1991; Die DDR unter Honecker, Köln 1995; zahlreiche Aufsätze, Kommentare, Rundfunkbeiträge zur Deutschen Frage und zur Geschichte der DDR.