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Frauen im Umbruch der Gesellschaft. Die zweifache Transformation in Deutschland und ihre ambivalenten Folgen | APuZ 36-37/1995 | bpb.de

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APuZ 36-37/1995 Arm ohne Ehemann? Sozialpolitische Regulierung von Lebenschancen für Frauen im internationalen Vergleich Klasse und Geschlecht. Anerkennungschancen von Frauen im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung Frauen im Umbruch der Gesellschaft. Die zweifache Transformation in Deutschland und ihre ambivalenten Folgen Aufgeholt, aber nicht gleichgezogen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur beruflichen Situation und Existenzsicherung von Frauen in Nordrhein-Westfalen

Frauen im Umbruch der Gesellschaft. Die zweifache Transformation in Deutschland und ihre ambivalenten Folgen

Hildegard Maria Nickel

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Unter den Bedingungen der zweifachen Transformation -die zum einen darin besteht, daß sich ein Wandlungs- und Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern vollzieht, zum anderen darin, daß lange vor der deutschen Vereinigung in den alten Bundesländern ein gesellschaftlicher Umbau in Gang gekommen ist -gerät weibliche Erwerbsarbeit unter Legitimationsdruck. Für die Bewältigung des Transformationsprozesses stellt Frauenerwerbsarbeit eine strategische Ressource dar, und sie ist der Kern von Gleichberechtigung. Am Beispiel des Finanzdienstleistungssektors werden die objektiven und subjektiven Mechanismen des sich anzeigenden und tendenziell vollziehenden Geschlechterwechsels in der Branche untersucht. Es wird gezeigt, wie sich einesteils die Erwerbsstrukturen für Frauen wandeln, andernteils wird den subjektiv vorgenommenen Typisierungen im Geschlechterverhältnis nachgegangen. Fazit des Beitrages ist, daß weibliche Erwerbsarbeit sich in Krisenzeiten nur behaupten kann, wenn entsprechende regulierende Rahmenbedingungen geschaffen werden und Erwerbsarbeit im Sinne der Geschlechtersolidarität umverteilt wird.

I. Vorbemerkungen

Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat in Deutschland seit der dritten Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi einen deutlichen Schritt nach vorn getan, heißt es im Bericht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland für die 4. Weltfrauenkonferenz 1995. Was ist zu dieser Bilanz aus ostdeutscher und feministischer Sicht zu sagen? Kann sie so umstandslos bestätigt werden, oder war diese Dekade nicht auch durch Stagnation oder gar Gegentendenzen gekennzeichnet? So hat zum Beispiel die Arbeitslosenquote der Frauen in den alten Bundesländern seither keineswegs spürbar abgenommen und in den neuen Bundesländern steigt sie immer noch deutlich an. Betroffen davon sind insbesondere alleinerziehende Frauen in den neuen Bundesländern, die als „Problemgruppe“ des Arbeitsmarktes gelten und -infolge-dessen von „Unterversorgung“ und „Einkommensarmut“ besonders tangiert - Weltfrauenkonferenz 1995. Was ist zu dieser Bilanz aus ostdeutscher und feministischer Sicht zu sagen? Kann sie so umstandslos bestätigt werden, oder war diese Dekade nicht auch durch Stagnation oder gar Gegentendenzen gekennzeichnet? So hat zum Beispiel die Arbeitslosenquote der Frauen in den alten Bundesländern seither keineswegs spürbar abgenommen 1 und in den neuen Bundesländern steigt sie immer noch deutlich an. Betroffen davon sind insbesondere alleinerziehende Frauen in den neuen Bundesländern, die als „Problemgruppe“ des Arbeitsmarktes gelten und -infolge-dessen von „Unterversorgung“ und „Einkommensarmut“ besonders tangiert -momentan eine der Hauptgruppen der Armutsbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sind 2. Auch in den Arbeitseinkommen sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht sichtbar beseitigt worden 3. Zwar hat sich der Anteil von Frauen in politischen Gremien (z. B. Parlamenten) 4 in diesem Zeitraum erhöht, aber ein Zugang zu Führungspositionen in Politik und Wirtschaft gelingt Frauen nach wie vor selten. Und schließlich ist die Versorgung mit Kinderbetreuungsmöglichkeiten immer noch bzw. in den neuen Bundesländern neuerdings unbefriedigend.

Was also ist überhaupt der Maßslab für das Entwicklungsniveau der Gleichberechtigung von Frauen und Männern? Und was läßt sich über die gesellschaftliche Situation von Frauen sagen, wenn nicht zugleich auch die Männer in die Betrachtung einbezogen werden, d. h., wenn nicht das Geschlechterverhältnis in den Blick genommen wird? Gleichberechtigung als gleichrangige Mitbestimmung von Frauen gibt es nicht, so bilanzierte Helge Pross im Jahre 1978 für die Bundesrepublik, denn nach wie vor würden Entscheidungspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen fast ausnahmslos von Männern besetzt. Neu sei lediglich die Übung, ein oder zwei Frauen in Spitzengre-mien zu berufen. Das Grundmuster der Herrschaftsverteilung zwischen den Geschlechtern bleibe davon jedoch unberührt

Hat sich dieses Grundmuster seither qualitativ verändert, und zwar zugunsten von Frauen? Und, wenn ja, profitieren alle Frauen gleichermaßen davon? Und -auf die Jahre seit der Vereinigung zugespitzt -hat der gesellschaftliche Umbruch in Deutschland den Frauen Emanzipationsfortschritte gebracht?

II. Zwei ineinander verschlungene Transformationsprozesse

Der Umbruch der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist zweifacher Art: Einesteils bezieht er sich auf die mit der politischen Vereinigung verbundenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozesse und wird vornehmlich im Osten, in den neuen Bundesländern, lokalisiert; anderenteils -und das gerät oft aus dem Blick -ist dieser ostdeutsche Umbruch in einem lange vor der deutschen Vereinigung einsetzenden gesellschaftlichen Transformationsprozeß der alten Bundesrepublik eingelagert. Dieser übergreifende Prozeß, der sich auf die Wachstumskonstellation der Nachkriegszeit bezieht, ist offenbar in einer Krise; jedenfalls kommt er nicht friktionslos voran und ist noch nicht in eine neue Prosperitätsphase mit der Folge eines spürbaren. Abbaus der hohen Sockel-arbeitslosigkeit umgeschlagen.

Die Nachkriegsprosperität der Bundesrepublik Deutschland war von Anbeginn an Reformschritte geknüpft, die in harten Verteilungskonflikten erkämpft worden waren. Deren Resultat waren hohe Erwerbsbeteiligung, ein langanhaltendes Wirtschaftswachstum, die Abfederung von sozialer Ungleichheit, die enorme Ausweitung und zugleich Individualisierung von Bildungs-und Berufschancen, die Ausfächerung von selbstbestimmten Lebensformen und eine breite Demokratisierung

Der gesellschaftliche Grundkonsens der Nachkriegszeit beruhte bis zum Ende der siebziger Jahre auf einem zwar nicht gesetzlich fixierten, aber gelebten Gesellschaftsvertrag, der durch die Suche nach Kompromissen in den Verteilungsverhältnissen gekennzeichnet war, und dem die Idee zugrunde lag, alle Gesellschaftsmitglieder weitgehend gleichberechtigt und „sozialpartnerschaftlich“ am wirtschaftlichen Wachstum teilhaben zu lassen. Die Politik, insbesondere die Sozialpolitik der Bundesregierung, folgte in diesen Jahren also nicht nur linear der (steigenden) Entwicklung des Sozialprodukts -die Sozialausgaben stiegen wie in allen westeuropäischen Ländern schneller als das Sozialprodukt sondern sie griff auch angleichend und regulierend in die Sozialstruktur der Gesellschaft ein, wobei emanzipatorische Interessen der Individuen in bestimmtem Maße Spielraum gewannen Die Rechte (Renten, Arbeitslosengeld und -hilfe, Ausbildungsbeihilfe, medizinische Versorgung, BAföG etc.), die mit dieser Intention verbunden waren, waren einklagbar. Dies war die schmale materielle Grundlage für eine Vielzahl emanzipatorischer Schritte von Frauen in der Bundesrepublik seit Mitte/Ende der sechziger Jahre

Im Gefolge der Strukturkrise Mitte der siebziger Jahre wurde diese gesellschaftliche Gesamtkonstruktion instabil; die Massenarbeitslosigkeit unterhöhlte schleichend die finanzielle Basis der sozialstaatlichen Sekundärverteilung. Die seit 1982 de facto in Gang gekommene Politik einer schrittweisen Veränderung der überlieferten Verteilungsverhältnisse unter den Stichworten Deregulierung, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und „Umbau“ des Sozialstaats zielt auf eine Aufkündigung des bisher geltenden Sozialkompromisses -offenbar nicht ganz ohne Erfolg Art und Umfang der sozialstaatlichen Redimensionierung gefährden jedoch die bisher wirksamen Steuerungs-potentiale der Kapitalakkumulation: Die durch die staatliche Spar-und Konsolidierungspolitik herbeigeführten realen Einkommensverluste und die geringere öffentliche Leistung für große Bevölkerungsteile beschädigen durch gesamtgesellschaftlich fallende Kaufkraft die Binnennachfrage, was durch Terraingewinn im Export nicht wettgemacht werden kann. Dies hat zur Folge, daß die Erfüllung individueller sozialer und kultureller Bedürfnisse immer mehr auf die Meßlatte der primären Einkommensverteilung zurückgeführt wird. Soziale Ungleichheiten, die sich über Herkunft, Klasse, Geschlecht, Alter und Ethnizität vermitteln gewinnen wieder an Durchschlagskraft. Das Bild von der Zwei-Drittel-Gesellschaft ist schwach, angesichts der Dynamik der Prozesse, und die Gefahr nimmt zu, daß langfristig der gesellschaftliche Konsens untergraben wird.

Der zweifache Transformationsprozeß erfaßt also nicht alle Bundesbürger und Bundesbürgerinnen gleichzeitig und auf dieselbe Art und Weise, sondern er ist mit enormen Differenzierungsprozessen zwischen den Geschlechtern, aber auph unter Frauen verbunden. Er verschärft die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen, vor allem den Kampf um Erwerbsarbeit. Im selben Zuge verschwindet nämlich auch die alte bürgerliche Geschlechterordnung -die für die DDR ohnehin längst nicht mehr galt -in der Bundesrepublik endgültig bzw.der Geschlechtervertrag wird obsolet und beidseitig -von Frauen und Männern -mehr und mehr aufgekündigt. Die alte Geschlechterordnung war um die „Normalfamilie“, um das Ideal des „Familieneinkommens“ zentriert und beruhte auf der Trennung und der bipolaren geschlechtlichen Zuweisung von Erwerbs-und Familienarbeit: „Diese Welt war von der Vorstellung geprägt, daß die Menschen in einer heterosexuellen Kernfamilie mit einem männlichen Oberhaupt organisiert sein sollten, die hauptsächlich von dem Arbeitseinkommen des Mannes lebte. Das männliche Familienoberhaupt bezog ein »Familieneinkommen, das ausreichend war, um die Kinder und eine Frau -und Mutter -zu ernähren, die die unbezahlte Hausarbeit verrichtete.“ Auch wenn das Modell der Versorgerehe in der alten Bundesrepu-blik spätestens seit Ende der sechziger Jahre zunehmend erodiert, liegt es letztlich dem bundes-republikanischen Sozialstaatsmodell bis heute zugrunde. Die Integration der Frauen in das Erwerbsleben stößt nicht zuletzt deshalb auf strukturelle Grenzen. Das bekommen ostdeutsche Frauen derzeit besonders hart zu spüren. Sie könnten aber auch zugleich diejenigen sein, die den Verteilungskonflikt um Arbeit -den Kern der Gleichberechtigung -zuspitzen und den beschäftigungspolitischen und sozialstaatlichen Erneuerungsbedarf mit aller Deutlichkeit sichtbar machen. Jedenfalls läßt sich an ihnen zeigen, was Frauen in der Bundesrepublik Deutschland generell betrifft.

III. Ostdeutsche Frauen: „Doppelter Salto“

Ursula Schröter -und sie ist nicht die einzige -behauptet, man könne die soziale Gruppe der ostdeutschen Frauen deutlich zweiteilen im Mai 1993 seien ihrer repräsentativen Stichprobe zufolge immerhin 35 Prozent aller ostdeutschen Frauen der „Verliererinnengruppe“ zuzurechnen gewesen Ich habe meine Zweifel, daß dies in seiner Pauschalisierung stimmt. Was ist die Meßlatte? Ist es die soziale Lage von Frauen in der DDR? Ist es der Vergleich zu ostdeutschen Männern? Sind es die westdeutschen Frauen oder die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer und Ausländerinnen? Oder ist -wie ich befürchte -ganz schlicht gemeint, daß es manchen ostdeutschen Frauen schlechter geht als anderen? Die Dichotomisierung und Zweiteilung verbaut den Blick auf die vielschichtige Wirklichkeit. Darüber hinaus unterstellt das Festhalten an der „Verliererinnen-Gewinnerinnen-These“, Frauen seien glücklose oder glück-hafte Opfer eines jenseits ihres Zutuns ablaufenden Strukturprozesses. Das Gegenteil ist der Fall: Frauen wie Männer waren Akteure der „Wende“ in der DDR. Frauen wie Männer haben im Rahmen der ersten freien Wahlen in der DDR, im März 1990, mehrheitlich für eine schnelle Wirtschafts-und Währungsunion votiert. Jetzt zeigt sich jedoch mit aller Deutlichkeit, was viele zum damaligen Zeitpunkt nicht wahrhaben wollten: Die mit dem noch nicht vollzogenen Übergang in seine nachfordistische Phase zusammenhängende Transformationskrise des Westens trifft (Ost-) Frauen stärker als (Ost-) Männer Das Bejubeln von „Gewinnerinnen“, denen es gelungen ist, trotz massenhaften Arbeitskräfteabbaus in Industrie und Landwirtschaft, trotz der Erosion vormals verläßlicher sozialpolitischer Leistungen (z. B. Kinderbetreuung) und vielfältiger politischer Ausgrenzungen, Boden unter den Füßen zu behalten, wie auch das Beklagen von „Verliererinnen“, die bis heute nicht -oder heute weniger denn je -wissen, wie sie und ihre Kinder dem Strudel von Existenzangst und Zukunftsungewißheit entkommen sollen, ist müßig. Wichtiger ist es, die Transformationskrise in der Bundesrepublik in Augenschein zu nehmen und nach ihren vielschichtigen Effekten für Frauen zu fragen, wie auch an soziale Regulierungsmöglichkeiten zu erinnern und sie einzuklagen. Denn die Antwort auf die gravierenden sozialen Probleme am Ende des 20. Jahrhunderts darf nicht jener Fatalismus sein, der sich als neuer Zeitgeist über die Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik zu legen scheint.

Blickt man auf die „Wende- Jahrhunderts darf nicht jener Fatalismus sein, der sich als neuer Zeitgeist über die Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik zu legen scheint.

Blickt man auf die „Wende-Ereignisse“ zurück, dann zeigt sich -auch wenn mancher Mythos es heute anders deuten will: Mit „Exit and Voice“ (Wolfgang Zapf) und dem Beitritt zur Bundesrepublik haben DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihr System zur Disposition gestellt, den „Gleichstellungsvorsprung“ 19 der Frauen eingeschlossen. Arbeitsplatzsicherheit, selbstverständliche volle Berufstätigkeit von Frauen und Müttern, Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Mutterschaft, staatliche Frauenförderpolitik, Fristenlösung und (im Falle eines Schwangerschaftsabbruches) Kostenübemahme durch die Sozialversicherung, flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen -diese bis heute ihresgleichen suchenden Markenzeichen des „DDR-Gleichstellungsvorsprungs“ -bremsten möglicherweise mehr Frauen als Männer in ihrem 1990 demokratisch gewählten freien Fall in eine andere Gesellschaftlichkeit, in ihrem „Absturz in die Moderne“ (Helmut Wiesenthal). Letzten Endes hielten diese vertrauten, patemalistischen Formen von Sozialstaatlich-keit den Lauf der Geschichte aber nicht auf. DDR-Bürgerinnen und -Bürger waren aus der vormundschaftlichen Versorgungsgesellschaft ausgebrochen, um an einer Moderne zu partizipieren, deren Legitimationsmechanismen Massenkonsum, parlamentarische Demokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit hießen und die in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten allgemeine Verfügbarkeit über eine hochentwickelte Massenkultur hervorgebracht hatte. Soziale Polarisierungen schienen nivelliert und der Sozialstaatskompromiß eine verläßliche Größe. Wie sich nach Ankunft der DDR-Bürgerinnen und -Bürger in der bundesrepublikanischen Moderne allerdings zeigte, war diese Art von Gesellschaftlichkeit aber bereits am „Verdampfen“ 20.

Die von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern aus der Außenperspektive vordergründig wahrgenommene stabile Entwicklung der Bundesrepublik beruhte auf der Regulierung -nicht Aufhebung -der sozialen Ungleichheit durch hohe Löhne, Vollbeschäftigung (zunehmend auch von Frauen) und auf der sozialstaatlichen Umverteilung von Transferleistungen, die auf „sozial Schwache“ und damit auf die relative Angleichung von Lebensverhältnissen ausgerichtet war. Risse, die seit Mitte der siebziger Jahre begannen, die Wohlstandsgesellschaft zu durchziehen, waren aus dieser Perspektive weniger erkennbar bzw. schienen temporär und -wenn alle die Ärmel aufkrempeln würden -reparabel. DDR-Bürgerinnen und -Bürger sind mit der Wiedervereinigung also nicht schlechthin in einer anderen, für sie nicht klar kalkulierbaren gesellschaftlichen Moderne angekommen, deren fremden Herausforderungen sie sich stellen wollten, sondern die von ihnen erwartete bundesrepublikanische Gesellschaftlichkeit war zum Zeitpunkt der Vereinigung selbst bereits in Erosion begriffen oder zumindest doch an ihre eigenen Grenzen gestoßen. Gleichwohl war mit der „Wende 89“ eine unumkehrbare gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt worden, die den Gleichstellungsvorsprung in jenen zwiespältigen Modernisierungsstrudel riß, der im Westen längst tobte. In seinem Sog definiert sich auch das Geschlechterverhältnis neu bzw. verliert der bisher von Ostdeutschen selbstverständlich praktizierte Geschlechtervertrag seine strukturelle Basis. Frauenerwerbsarbeit wird plötzlich legitimierungsbedürftig und zu einer hart umkämpften „strategischen Ressource“

IV. (Frauen-) Erwerbsarbeit in der Krise

Während Feministinnen in den USA von einer „Vision der postindustriellen Gesellschaft“ ausgehen, wonach „das Zeitalter des Familieneinkommens vom Zeitalter der allgemeinen Erwerbstätigkeit abgelöst wird“ und eine gestaltbare Sozialpolitik „die volle, gleichberechtigte Teilnahme der Frauen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens -im Arbeitsleben, in der Politik, im Gemeinschaftsleben der Zivilgesellschaft“ -fördern soll, ist es für einige Sozialwissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland schon gar keine Frage mehr, daß „wir uns auf den Zustand dauerhaft einrichten müssen, daß ein großer Teil der erwachsenen Bürger beiderlei Geschlechts in , normalen 6 Arbeitsverhältnissen kein Unter-und Einkommen findet“ Massenarbeitslosigkeit im Westen und „Volksarbeitslosigkeit“ im Osten sollen -nach dem von Claus Offe propagierten Modell -ihre Befriedung in einem „Bürgergeld“ finden, und der anscheinend große Besorgnis erregende „, Appetit der Ostdeutschen auf Arbeitsplätze in Gestalt ihrer sehr viel stärker ausgeprägten , Erwerbsneigung wäre damit möglicherweise auch zu bremsen

Es kann an dieser Stelle nicht auf die einzelnen Facetten einer solchen Argumentation eingegangen werden; statt dessen soll ein Aspekt, der von besonderer sozialer Brisanz ist, herausgegriffen werden: Schleichend scheint nämlich in den Sozial-wissenschaften ein argumentativer Angriff auf die im Westen zunehmende und im Osten nicht abnehmende Erwerbsbereitschaft von Frauen Platz zu greifen, der bis vor kurzem noch undenkbar schien. Denn so geschlechtsblind ist heute wohl kein Sozialwissenschaftler mehr, daß er nicht wüßte, wer vermittels „Bürgergeld“ verstärkt vom Arbeitsmarkt femgehalten würde -Frauen. Die Strukturdaten zur Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern sprechen eine deutliche Sprache: Die Arbeitslosigkeit ist nach dem rapiden Anstieg 1990/91 seit 1992 zwar zahlenmäßig leicht rückläufig, hat sich jedoch eindeutig zuungunsten der Frauen verändert. Ihr Anteil an der Arbeitslosigkeit ist von 64, 7 Prozent im Jahr 1992 auf 66, 9 Prozent im Jahr 1994 gestiegen Die Arbeitslosigkeit ist durch zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit geprägt, die ebenfalls in besonderem Maße Frauen betrifft. Liegt der Anteil der männlichen Langzeit-arbeitslosen an den Arbeitslosen ingesamt 1994 bei 24 Prozent, so der der Frauen bei 40 Prozent; er ist damit fast doppelt so hoch In den Zahlen der Arbeitsmarktstatistik, die an anderer Stelle ausführlicher diskutiert worden sind spiegeln sich zwei konkurrierende Tendenzen wider: Zum einen belegen sie die strukturelle Diskriminierung von Frauen auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt, vor allem bei der beruflichen Wiedereingliederung; Frauen haben im Falle des meist unverschuldeten Arbeitsplatzverlustes die deutlich schlechte-ren Karten für einen Neueinstieg. Das von Offe und anderen empfohlene „Bürgergeld“ würde diese strukturelle Diskriminierung von Frauen nur noch verstärken. Zum anderen legen die Statistiken aber auch den „Eigensinn“ der ostdeutschen Frauen offen: ihre trotz aller Widrigkeiten anhaltend starke Erwerbsorientierung. Sie wehren sich hartnäckig gegen ihre arbeitsmarktvermittelte soziale Ausgrenzung. Das Gefühl, ohne eigene Erwerbsarbeit auf ein wie auch immer geartetes Gnadenverhältnis oder Versorgungsarrangement angewiesen zu sein, ist ihnen anscheinend so fremd, daß sie versuchen, mit aller Macht auf dem enger werdenden Arbeitsmarkt präsent zu bleiben. Das gelingt ihnen freilich nur mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Es greifen soziale Differenzierungsprozesse, die deutlich gegen eine Pauschalisierung, wie sie in „Verlierinnen-Gewinnerinnen-Thesen“ zum Ausdruck kommen, sprechen. Der Zugriff auf und Erfolg im Rahmen von Erwerbsarbeit strukturiert sich -neben dem Geschlecht -entlang der klassischen Merkmale von Alter und Qualifikation, aber auch die vormalige Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sektor der Volkswirtschaft oder einer Branche kann heute einen gravierenden Heimvorteil oder -angesichts der flächendeckenden Deindustrialisierung in den neuen Bundeslän» dem -einen nicht wettzumachenden Standort-nachteil darstellen.

V. Frauen im Finanzdienstleistungssektor der neuen Bundesländer: eine paradigmatische Gratwanderung

In der DDR waren Frauen zwar beinahe vollständig in das Erwerbssystem integriert, aber die Geschlechter waren auf polarisierte, stark segregierte Arbeitsfelder verwiesen. Im Vereinigungsprozeß begrenzte die relativ durchgängige Trennung von Frauen-und Männerberufen sowie -Sektoren zunächst die direkte Geschlechterkonkurrenz um Erwerbsarbeit. Die im Finanzdienstleistungssektor (Sparkassen, Banken, Versicherungen) beschäftigten Frauen hatten einen gewissen Heimvorteil, weil sie als Beschäftigte schon präsent waren und von West-Unternehmen weitgehend „übernommen“ wurden. Zu DDR-Zeiten war diese Branche -ihrer damaligen minderen Bedeutung entsprechend -frauendominiert. Waren damals rund 90 Prozent der in diesem Bereich Beschäftigten Frauen und konnten sie auch bis Ende 1993 ihre inzwischen auf etwa 70 Prozent abgesenkten Beschäftigungsanteile einigermaßen verteidigen (im Westen beträgt der Frauenanteil hier derzeit ca. 55 Prozent), so wurde mit der Marktöffnung dieses Berufsfeld nach westdeutschem Muster rasch auch für Männer attraktiv: Einesteils sinkt der Frauenanteil in diesem Bereich aufgrund der Freisetzung von älteren Frauen und der Delegierung westdeutschen männlichen Leitungspersonals in die neuen Bundesländer; andernteils -und hier kündigen sich drastische Zukunftseffekte an -geht er aufgrund der betrieblichen Nachwuchsrekrutierung zurück. Der Anteil der Männer, die sich als Lehrlinge im monetären Dienstleistungssektor der neuen Bundesländer bewerben, stagniert zwar derzeit bei ca. 25 Prozent, gleichwohl werden männliche Lehrstellenanwärter bevorzugt und machen trotz durchschnittlich schlechterer Schulnoten etwa die Hälfte der Auszubildenden aus Nur in wenigen Unternehmen, und zwar betrifft das vor allem Versicherungsunternehmen, die derzeit Rekrutierungsprobleme in ihrem Außendienst zu haben scheinen, heißt die Devise: „Wir müssen uns attraktiver machen für Frauen. “

VI. Suchprozesse und Selbstvergewisserungen

Im Rahmen der von der KSPW geförderten Projekte ist versucht worden, die objektiven und subjektiven Mechanismen des sich anzeigenden und tendenziell vollziehenden Geschlechterwechsels in der Branche aufzuspüren, denn die strukturellen Prozesse korrespondieren mit ideologischen, bewußtseinsmäßigen Konstruktionen im alltagskulturellen Handeln der Betroffenen Sie sind mit Typisierungen verbunden, die -wie sich in den Untersuchungen zeigte -auf subtile Art normative Geltung bei der Gestaltung von arbeitsteiligen Prozessen in betrieblichen Institutionen beanspruchen. Die Typisierungen kodifizieren die (Betriebs-) Strukturen immer auch entlang der Orientierung an sogenannten „normalen“ Geschlechterrollen und -Verhältnisse. Sie übernehmen so implizit Platzanweiserfunktion bei der Verteilung von Zuständigkeiten und Anforderungen an Frauen und Männer im Arbeitsprozeß. Typisierungen sind Handlungsregulative im „Doing-Gender“, die den Neustrukturierungsprozeß des Geschlechterverhältnisses auf sehr widersprüchliche Weise beeinflussen.

Vor dem Hintergrund des in den doppelten Transformationsprozeß eingelagerten strukturellen Geschlechterwechsels innerhalb der Finanzdienstleistungsbranche ist dieser kultursoziologische Gesichtspunkt insofern von Bedeutung, als Frauen-Bilder „zweier Kulturen“ aufeinandergetroffen und zugleich auch in Bewegung geraten sind: Westliche männliche Führungskräfte sind mit weiblichen Beschäftigten aus der DDR konfrontiert, die ein abweichendes Frauenbild repräsentieren; weibliche westliche Beschäftigte treffen auf und konkurrieren mit Kolleginnen aus dem Osten. Gehört zum Selbstbild und Selbstverständnis ostdeutscher Frauen die Erfahrung eng gekoppelter Lebenswelten (Beruf und Familie), so ist dies den in der alten Bundesrepublik sozialisierten Frauen eher fremd; in der DDR aufgewachsene Frauen finden sich in geschlechts-codierten (Betriebs-) Strukturen westlichen Musters wieder, die einesteils zwar eine Radikalisierung von Geschlechtshierarchien und -asymmetrien zu ihren Ungunsten bedeuten, andernteils aber auch eine „moderne“ Alternative zu vormaligen (Betriebs-) Strukturen darstellen und mit einer Aufwertung ihrer beruflichen Position einhergehen können.

Schienen 1991/92 ostdeutsche Frauen noch vergleichsweise wenig sensibilisiert für die Geschlechterproblematik im Erwerbsprozeß zu sein, so muß diese Einschätzung heute präzisiert werden: Sie ist nur für einen Teil der Frauen zutreffend: Das sind vor allem die jüngeren, unter 30jährigen, die im Rahmen der Untersuchung befragt wurden. Von diesen im Finanzdienstleistungssektor tätigen Frauen wird ein „tolles Mischungsverhältnis“ erwünscht, wobei sie offenbar nicht an den damit verbundenen Verdrängungskampf zu ihren Ungunsten denken. Sie würden sich, wie eine der Befragten sagt, „wohlfühlen in so einer reinen Männertruppe, vielleicht noch mit ein, zwei Frauen“, und sie hätten auch „persönlich lieber einen Chef gehabt“. Geschlechtliche „Durchmischung“ ist als Personalkonzept offenbar positiv besetzt.

Insgesamt aber scheint Gleichberechtigung heute -im Unterschied zu früheren Befunden -längst wieder ein Thema für Ost-Frauen zu sein. Daß „eine Frau mehr leisten (muß), um die gleiche Anerkennung zu haben“, „bei zwei Bewerbungen... immer der Mann das Rennen macht“, weil die „jungen Männer... von den Leitern anders eingesetzt (werden) als die Frauen“ und „man ... als Mann ... mehr Aufstiegschancen“ hat, wußten inzwischen fast alle interviewten Frauen zu berichten. Das vormals eher unreflektierte Stereotyp in der Selbstwahrnehmung von DDR-Frauen „Wir sind gleichberechtigt“ ist anscheinend, wenn auch zögerlich, ins Wanken geraten und die „Geschlechts-blindheit“ von DDR-Frauen einer Sensibilisierung gewichen, die freilich ungleich verteilt ist und sich nicht kämpferisch äußert. Und das zu DDR-Zeiten vergleichsweise wenig profilierte Frauenbewußtsein scheint von einigen Frauen heute zunehmend selbst als Defizit erkannt zu werden: „Der Kampf wird härter, die Plätze werden weniger, die Luft wird dünner, die Ellenbogen spitzer... Und ich bin manchmal erschrocken darüber, wie wenig die Frauen sich darüber Gedanken machen und noch immer denken, es ist warm und kuschlig im Nest und es wird schon werden.“ Dieselbe Interviewpartnerin beklagt angesichts des zunehmenden Konkurrenzdruckes auch eine mangelnde „Solidarität unter den Ostfrauen“.

Die von den meisten Frauen individuell sehr schmerzhaft erfahrene Entwertung ihrer zu DDR-Zeiten erworbenen Qualifikationen und beruflichen Positionen hat -auch wenn die fachliche Nachqualifizierung mittlerweile erfolgreich abgeschlossen und die Position gut dotiert und relativ sicher ist -das Selbstbewußtsein der befragten Frauen und ihr Bild gelebter Gleichberechtigung erschüttert: „Man kommt da an wie ein kleiner Azubi, der sechzehn ist und nicht schon 10 Jahre bei der Sparkasse ist. Und das war mein totaler Zusammenbruch irgendwie. Dazu noch das Kind. Und dann bin ich manchmal nach Hause gekommen und habe geheult. “ Diese Verunsicherungen sind offenbar noch längst nicht von allen überwunden. Sie schlagen sich im Selbstbild der Frauen nieder, und zwar einesteils in manchmal nostalgischen Bruchreflektionen (früher -heute), was vornehmlich ältere Kolleginnen betrifft; andernteils und mehrheitlich zeigt sich die Verunsicherung in Suchbewegungen und neuen Selbstvergewisserungen, seltener in Resignation. Die gemeinsame Erfahrung, den Umbruch -wenn auch mit großer persönlicher Kraftanstrengung -bewältigt zu haben, führt anscheinend zu einer neuen Konsolidierung von Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein: die haben sich alle qualifiziert. Das ist schon sehr schön. “ Sie meinen nicht nur die Kolleginnen, sondern auch sich selbst, wenn sie sagen: „... da ziehe ich manchmal den Hut, wie sie sich qualifizieren mit Kind und Kegel und das eben alles packen. “

Neues Selbstbewußtsein beziehen die befragten Frauen nicht unmaßgeblich aus der Tatsache, daß sie durch ihre Stellung im Unternehmen im Vergleich zu ihren häuslichen Partnern „das bessere Geld“ und die geringeren „Ungewißtheiten“ haben, was die Arbeitsplatzsicherheit betrifft. Zugleich fühlen sie sich dadurch aber auch enorm belastet und zu voller beruflicher Arbeit verpflichtet: die Männer sind ja im Osten noch gar nicht in der Lage ... eine Familie zu ernähren, allein, weil halt das Einkommen noch nicht entsprechend ist. Und darum ist es für die Frauen teilweise ein Muß jetzt, und sindfroh, wenn sie jetzt noch arbeiten können. “

Zum Selbstbild der meisten befragten Ost-Frauen gehört, daß in der Gewichtung von Beruf und Familie „die Familie immer noch an erster Stelle steht“. Zwar machen die Frauen derzeit deshalb keine Abstriche an ihrer vollen Erwerbstätigkeit, aber manche -vor allem höher qualifizierte -ärgert auch, daß trotz vorhandener Kompetenz „die Frauen gern in die zweite Reihe möchten“. In ihren Suchbewegungen und Selbstvergewisserungen im Rahmen einer sich verändernden Geschlechterrolle greifen die interviewten Frauen -teils Bezug nehmend, teils distanzierend -auf ein imaginiertes West-Frauen-Bild oder auf einen kontrastierenden Vergleich von „West-Frau“ und „Ost-Frau“ zurück. Dabei zeigen sie, wie fremd ihnen noch immer das im Westen vermeintlich typische Geschlechterarrangement ist. Sie versuchen, habituelle Sicherheit aus eigenen gelebten Erfahrungen und vertrauten Stereotypen zu beziehen, was zumeist zugleich eine Abwertung der „Anderen“ beinhaltet. Westfrauen erscheinen ihnen einerseits teils als „die Frau eben am Kochtopf und der Mann eben, er muß halt verdienen“, teils -vor allem die jüngeren -als „karriereorientierter, ja weil sie die Familie ... dann halt in den Hintergrund rücken und dann wirklich eben auf sich bedacht sind, ranzukommen“. Dabei werde „oftmals der Punkt erreicht, wo sie sich dann eben vielleicht gegen's Kind entscheiden “ oder das Geschlechterverhältnis auf den Kopf stellen: „Da denke ich, der arme Kerl, der steht ja so unterm Pantoffel, der hat ja gar nichts zu sagen. “ Westdeutsche Frauen scheinen aber andererseits nach den Vorstellungen von Ostfrauen das zu haben, was „uns“ teilweise fehlt, nämlich ein „hohes Selbstbewußtsein, da steckt manchmal gar nicht so viel dahinter... reden viel und erzählen wenig, aber ... verkaufen sich besser“.

Dem steht der ähnlich überzeichnete Kontrast der Westfrauen gegenüber. Sie verorten das „traditionelle Rollenverständnis“ eher im Osten. Die im kapitalistischen Westen sozialisierten Frauen spüren „Verständigungsschwierigkeiten“ in ihren Beziehungen zu ostdeutschen Kolleginnen und halten den Umgang mit ihresgleichen für sachlicher. Es ist bemerkenswert, daß sich hier zu wiederholen scheint, was sonst als Typisierung der weiblichen Differenz im Männer-Frauen-Diskurs steht: Von Ostfrauen werde „das ... erst mal immer alles sehr persönlich genommen “.

Bedeutungsvoll im Sinne von impliziten Handlungsregulativen der Neu-bzw. Restrukturierung des Geschlechterverhältnisses im betrieblichen Transformationsprozeß dürfte das erwerbsbezogene Männerbild der befragten Frauen sein, ist doch davon auszugehen, daß Frauen sich, um sich selbst zu definieren, zu diesem ins Verhältnis setzen. Männer sind -auch in den Augen der befragten Frauen (und damit in der Verdopplung im Sinne einer normativen Handlungsorientierung) -das höher stehende Geschlecht. (West-) Männer -mit denen sie vor allem als Vorgesetzte zu tun haben -erscheinen vielfach als die kompetenteren: „Die haben ein Fachwissen, das ist sagenhaft. Das erwartet natürlich auch der Kunde.“ Sie haben -und das bezieht sich auf männliche Kollegen gene­rell -„ein besseres Durchsetzungsvermögen“ und werden „besser akzeptiert“, vor allem auch von den Kunden: „‘ Gerade wenn sie z. B. irgendeine Reklamation haben oder irgend so was, dann ist das ganz anders, ob da ein Mann steht oder eine Frau. Ich kann z. B. einen (männlichen) Azubi nehmen, der ist fünf Tage da, wenn ich mit dem Kunden nicht klarkomme und er sagt zu dem, das ist so und so, dann glauben die dem das ... Der hat eine andere Ausstrahlung, ist eben ein Herr... “

Die bewußtseinsmäßige Verdoppelung vorfindbarer Geschlechtermuster findet sich bei Ost-wie West-Frauen: Männer sind ihrer Meinung nach „stärker aufgabenorientiert“, Frauen „sensibler“. Das scheint nicht nur ein Naturgesetz zu sein, sondern -und darin liegt sein Verdopplungseffekt -auch „normales“ Handlungsregulativ. Männer werden bewundert, weil sie weniger „gefühlsmäßig belastet und verhaftet“ sind, sich „hauen“ und „dann ein Bier trinken“ gehen, der „Löwe“ sind, dem Frauen bloß ins Gesicht sehen müssen, um zu wissen, „hat der eine Laune“. Das wird zwar einesteils indirekt auch kritisiert, andemteils aber akzeptiert. Frauen scheinen sich selbstverständlich zuständig zu fühlen für das Soziale: „Der Leiter ist ein Mann, der Stellvertreter ist eine Frau, so das Soziale, das macht die Stellvertreterin, das ordentlich Kernige, das macht der Chef selber. “ Das schließt ein, daß sie sich auch für das Wohlbefinden ihrer männlichen Vorgesetzten und Kollegen verantwortlich fühlen. Das geht soweit, daß manche gar die Arbeit von Männern in Frauenteams für eine Zumutung für „ihn“ halten: „Obwohl er es bestimmt nicht schlecht hat, er ist Hahn im Korbe“, ist er schließlich doch zu bedauern, denn „mit wem soll er sich da gut unterhalten“?

Allerdings ist die Bewunderung durchaus zwiespältig: „Dieser Job, den die männlichen Mitarbeiter ausführen, ist so hart ... und davor schrecken wahrscheinlich viele Frauen zurück.“ Männliche Rationalität kann -wie viele Frauen zu wissen glauben -auch zur Falle werden, wenn sie nicht mehr zuläßt, auch „gefühlsmäßig ... an viele Entscheidungen“ heranzugehen. Und Männer können -im Unterschied zu Frauen -nicht auf gesellschaftlich legitimierte Weise manchmal die „Flucht“ in die Familie und zu den Kindern antreten. Die befragten Frauen -Ost wie West -setzen sich jedoch nicht etwa forciert auseinander, sondern sie hoffen auf die allmähliche, durch weibliche Überzeugungskraft in Gang kommende Sensibilisierung der männlichen Führungskräfte: „Daß wir die nicht von innen nach außen wenden können, das ist klar... und dann denke ich, können wir nur selber überzeugen. “

Das ist genau das, was die männlichen Führungskräfte von den weiblichen Beschäftigten auch erwarten. Insgesamt zeigten sich die befragten männlichen Führungskräfte durchgängig als „geschlechtssensibilisiert“, zumindest rhetorisch. Einhellig sind sie, wie einer der Interviewten sagte, „ein Freund der Gleichberechtigung“ und haben „keine Probleme damit“. Überwiegend sind sie aber auch der Meinung, daß es an den Frauen selbst liegt, wenn sie -obwohl Frauen im Unternehmen doch „kräftig im Vormarsch“ sind -nicht bis in die obersten Führungsetagen vorstoßen. Zum Frauenbild von männlichen Führungskräften gehört, daß Frauen selbst angeblich massiv an traditionellen Geschlechtermustern festhalten. Der Mann „macht einen Otto, während eine Frau, die macht das Mäuschen“ und sorgt für „die traute Familie“. Die männlichen Führungskräfte glauben auch zu wissen, daß Frauenfördermaßnahmen und Alibi-oder Vorzeigefrauen „Frauen keinen Gefallen“ tun. Mehr noch, sie können sich -wie die Untersuchungen zeigen -darauf berufen, daß das auch von den weiblichen Beschäftigten nicht gewollt ist, sondern Frauen „ihre Stärken verstärken und aufdiesem Klavier spielen“ müssen, „Sensibilität und Feingefühl“ kultivieren sollten, dann werde sich das Erwerbsfeld bis in die Führungsspitzen hinein „zwangsläufig durchmischen“. Da Frauen zahlenmäßig im Unternehmen (hier: Finanzdienstleistungssektor) überlegen seien, „ergibt sich einfach eine Zwangslogik ..., im Laufe der Zeit, und zwar ganz normal und ganz natürlich“ würden Frauen angemessen vertreten sein. Alle Führungskräfte scheinen aber davon auszugehen, daß das erst passiert, „wenn ich mal ausscheide, daß meine Nachfolge eine Frau antritt“.

VII. Uneindeutigkeiten

Ist das Geschlechterverhältnis nun also -wie vielfach behauptet in Bewegung und -wenn ja -mit welchem Tempo und in welche Richtung bewegt es sich? Bezogen auf den Finanzdienstleistungssektor, der hier im Mittelpunkt stand, ist die Antwort uneindeutig: Es besteht zwar im fünften Jahr der Vereinigung kein Anlaß anzunehmen, der Transformationsprozeß sei beendigt, Ruhe und Normalisierung seien an der Tagesordnung. Auch wäre es unangemessen, von Stillstand, Verharren und einfacher Wiederholung des im Westen immer schon Vorfindlichen zu reden; aber es sind, jedenfalls bezogen auf das Geschlechterverhältnis, auch keine dramatischen Beschleunigungseffekte -in welche Richtung auch immer -erkennbar. In der Finanzdienstleistungsbranche findet ein eher schleichender, gebremster und subtiler Geschlechterwechsel statt; zwar gibt es noch Optionen für Frauen, aber Männer werden deutlich bevorzugt.

Im Rahmen des betrieblichen Transformationsprozesses haben die in dieser Branche beschäftigten ostdeutschen Frauen ganz enorme Qualifizierungsund Anpassungsleistungen erbracht. Dabei sind sie in der Regel von ihren männlichen Lebenspartnern, die in dieser Zeit oft den „Familienpart“ übernehmen mußten, unterstützt worden. Die Frauen im Finanzdienstleistungssektor agieren auf einem Feld, das ihnen -im Unterschied zu vielen anderen Erwerbsfeldern -eine Umorientierung dadurch erlaubte, daß einige Unternehmen gezielt Qualifizierungsofferten machten und weibliche Kompetenz in die Betriebe erfolgreich zu integrieren suchten. Vor allem wurde den Frauen ein relativ sicherer Arbeitsplatz geboten, der zudem noch mit einer materiellen und ideellen Aufwertung verbunden ist. Diese Angebote sind von den meisten Frauen offensiv aufgegriffen worden; sie nutzten bzw. nutzen die Chance zur Neugestaltung ihrer Lebensverhältnisse unter den völlig neuen gesellschaftlichen Bedingungen.

Nach Wolfgang Zapf entsteht „Kreativität in Milieus stimulierender Unsicherheit“, in Milieus, in denen der „einzelne Anreize für Neuerungen erhält, ohne dadurch existentiell bedroht zu sein“ Angst, überwältigende Unsicherheit jedoch „paralysieren und zersetzen“ die Handlungsfähigkeit der Individuen Insofern sind die im Finanzdienstleistungssektor der neuen Bundesländer beschäftigten Frauen (momentan noch) in einer privilegierten Situation. Aber angesichts des heute schon antizipierbaren Personalabbaus, der diese Branche in den nächsten Jahren treffen wird und angesichts des Personaldrucks, der aufgrund des absehbaren Freisetzungseffektes in anderen Beschäftigungsberei-eben (Industrie, öffentlicher Dienst etc.) auf diesen Sektor erfolgen wird, ist dieser Heimvorteil labil. Daß die Frauen weiterhin widerständig und eigensinnig auf Strukturveränderungen zu antworten vermögen, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber mit welchem Erfolg, ist ungewiß. Es ist klar erkennbar, daß die Erwerbsarbeit von Frauen in Krisenzeiten ohne politische Intervention und soziale Regulierung auch in diesem Bereich nicht so ohne weiteres zu verstetigen sein wird, weder für Ost-noch für West-Frauen.

VIII. Ausbau und Umverteilung von Erwerbsarbeit statt „Bürgergeld“

Der Appell an die „Solidarität der Geschlechter“ ist angesichts der zu erwartenden Entwicklung zweifellos wichtig, denn „was wird aus einem Staat, wenn sie keinen Platz“ hat? Aber wer glaubt schon ernsthaft an die Macht der Aufklärung, wenn es um die Verteilung „strategischer Ressourcen“ geht?

Die Bundesrepublik hat dem OECD-Bericht Deutschland zufolge einen weit überdurchschnittlichen Anteil industrieller Wertschöpfung und einen vergleichsweise unterentwickelten Dienstleistungssektor Eingebettet in den langfristigen Struktur-wandel sinkt die Wertschöpfung in den industriellen Kemsektoren beständig. Der Arbeitsplatzabbau in diesen Sektoren wird nicht automatisch im tertiären Bereich kompensiert. Dieser fehllaufende Strukturwandel verstärkt die Schieflage in den Verteilungsverhältnissen zuungunsten der abhängig Beschäftigten und forciert innerhalb dieser Gruppe Ausgrenzungs-und Marginalisierungstendenzen *G*esellschaftliche Reformprojekte hätten sich in dieser Situation der Aufgabe zu stellen, eine Verknüpfung von arbeitsgesellschaftlichem Kern und jenen -ständig wachsenden -Bevölkerungsteilen, die nur noch sehr vermittelt bzw. temporär mit Erwerbsstrukturen in Beziehung stehen -Arbeitslose, ABM-Kräfte, Mitarbeiter von Beschäftigungs-und Qualifizierungsgesellschaften zu finden.

Eine Neuauflage des bekannten Musters, das beim Übergang in die Nachkriegskonstellation so erfolgreich war, kann angesichts der entwickelten und ausdifferenzierten Sozialstruktur, die die fordistische Epoche hervorgebracht hat, nicht funktionieren. Es geht erstens -gemäß dem Bedeutungsrückgang der industriellen Beschäftigten -um die Herausbildung einer modernen, veränderten sozialen Proportionierung der Gesellschaft, die allerdings heute eine entsprechende Gewichtung des Anteils von Frauen im ökonomisch-sozialen Reproduktionsprozeß berücksichtigen muß. Dies schließt eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse zugunsten von Frauen ein. Die zweite Bedingung für den Übergang in eine neue Entwicklungsphase ist die bewußte Gestaltung des tertiären Sektors. Beide Prozesse der Neustrukturierung setzen voraus, daß sich die Gesellschaft auf einen neuen „Gesellschaftsvertrag“ -eine andere Verteilung des durch die Produktivitätssteigerung enorm gewachsenen Nettoprodukts -verständigt eine Verteilung, die nicht, durch die unregulierten Kräfte des Marktes beherrscht, wachsende soziale Gruppen ausgrenzt und marginalisiert, sondern die die innovativen Potenzen der Gesellschaft -z. B. die Intellektualisierung und Feminisierung der Arbeit -nutzt.

Leitbild für Zukunftsinvestitionen und für eine Politik der tendenziellen Herstellung von Vollbeschäftigung für Frauen und Männer können nach Lage der Dinge demnach nur die Umverteilung und Umstrukturierung von Erwerbsarbeit sein weniger -auch wochen-und lebenszeitlich -, aber hochqualifizierte, humanere Industriearbeit und mehr intelligente sozial-kulturelle Dienstleistungsarbeit. Hochrechnungen zum Arbeitskräftebedarf bis zum Jahre 2010 gehen davon aus, daß der Anteil der produktionsorientierten Tätigkeit von 34, 9 auf 28, 3 Prozent schrumpfen und der Anteil der primären Dienstleistungen (Allgemeine Dienste, Bürotätigkeit, Handelstätigkeit) von 42, 4 auf 36, 2 Prozent zurückgehen wird. Lediglich bei den sekundären Dienstleistungen (Betreuen, Beraten, Lehren, Organisation und Management, Forschung und Entwicklung) werden Steigerungsraten erwartet, und zwar von 22, 8 auf 35, 4 Prozent Ob Frauen von diesen Entwicklungen profitieren können, hängt nicht nur von ihrem „Eigensinn“, sondern ganz maßgeblich von äußeren, regulierten und regulierenden Rahmenbedingungen ab, denn hinsichtlich der bildungsmäßigen und qualifikatorischen Voraussetzungen stehen sie Männern nicht nach. Allerdings hieße das, Frauen gleichberechtigt in die Erwerbsstrukturen zu integrieren, statt ihnen nur phasenweise und peripher Zutritt zum Arbeitsmarkt zu gewähren.

Bedarfsorientierte Mindestsicherung als Übergangslösung aus der Krise wie auch ein für „bescheidene Lebensführung“ hinreichendes „Bürgergeld“ setzen -wie sollte es anders funktionieren-in jedem Falle ein stabiles Erwerbssystem voraus. Die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit bleibt also -so oder so -die Schlüsselfrage Es existieren konkrete Vorschläge zur Stärkung von öffentlichen und privaten Investitionen, zu einer regionalen Struktur-und aktiven Beschäftigungspolitik, zum Ausbau eines dem Ersten Arbeitsmarkt adäquaten, öffentlich geförderten kommunalen Beschäftigungssektors für soziale und kulturelle Dienstleistungen, zur Verkürzung der Arbeitszeit und zur Neubewertung der Reproduktionsarbeit in der Familie, die diskutiert, ausgebaut und umgesetzt werden müssen.

Der Vorteil solcher Lösungen liegt auf der Hand: Ein Angebot von hochqualifizierten Diensten in den Bereichen von Gesundheit, Bildung und Kultur wirkt auf die Produktivität der Gesellschaft positiv zurück. Davon würden nicht nur die in den Arbeitsmarkt drängenden Frauen profitieren, sondern der Ausbau der Dienste könnte u. a. helfen, aus dem sozialkulturellen und -pflegerischen Notstand, in den die Bundesrepublik zunehmend gerät, herauszufinden. Der sozial-kulturelle Dienstleistungssektor könnte zum Ansatzpunkt einer auf die (langfristige) Krisenbewältigung ausgerichteten öffentlichen Intervention werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Diskussion, Anregung, Kritik und Zusammenarbeit danke ich Hasko Hüning, FU Berlin. Die empirischen Befunde, die in diesem Beitrag referiert werden, entstammen weitgehend dem Projekt der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e. V. (KSPW) „Finanzdienstleistungsbeschäftigung im Umbruch“. An ihm haben unter der Leitung von Hasko Hüning und Hildegard Maria Nickel außerdem Michael Frey, Iris Peinl, Catrin Stock und Olaf Struck-Möbbeck mitgearbeitet. Ihnen gilt ebenfalls mein ausdrücklicher Dank. Hier wird durchaus positiv vermerkt, daß in den achtziger Jahren die Frauenerwerbsquote in allen OECD-Ländem mit Ausnahme Finnlands stark gestiegen ist, und zwar von 52, 1 Prozent 1982 auf 59, 7 Prozent 1992. Vgl. OECD in Figures, Supplement to the OECD Observer, (1994) 18, S. 8f. Gleichzeitig sollte aber auch beachtet werden, daß Teilzeitarbeit vor allem von Frauen geleistet wird, in den OECD-Ländem mit einer Quote von über 60 Prozent. Vgl. zur bundesdeutschen Situation: Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung, Teilzeitarbeit -eine Frauensache, in: WZB Mitteilungen, Heft 64, Juni 1994, S. 41-43. Die Arbeitslosenquote von Frauen in den alten Bundesländern lag 1985 bei 9, 3 Prozent. Sie ist bis 1991 kontinuierlich zurückgegangen, und zwar auf 6, 6 Prozent; seither steigt sie aber wieder an und lag 1993 bei 8, 2 Prozent. Vgl. Bericht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland für die 4. Weltfrauenkonferenz 1995, Hrsg. Bundesministerium für Frauen und Jugend, Bonn 1994, Tab. 15.

  2. Vgl. Bericht der Bundesregierung (Anm. 1), Statistiken, Tab. 2.

  3. Vgl. Antje Hadler/Michael E. Domsch, Frauen auf dem Weg in Spitzenpositionen der Wirtschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/94; Christiane Schiersmann, Führungspositionen -vom männlichen Privileg zur weiblichen Domäne?, in: Petra Beckmann/Gerhard Engelbrech (Hrsg ), Arbeitsmarkt für Frauen 2000 -Ein Schritt vor oder ein Schritt zurück?, Beiträge zur Arbeitsmarkt-und Berufsforschung 179, Nürnberg 1994.

  4. Vgl. Helge Pross, Die Männer, Hamburg 1978.

  5. Vgl. Holle Grünert/Burghart Lutz, Strukturwandel, Arbeitsmarktstruktur und Arbeitnehmerrechte, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, (1994) 11, S. 738.

  6. Die Stichworte sind in diesem Zusammenhang: Auf-und Ausbau eines Systems Sozialer Sicherheit (Sekundärverteilung), öffentliche Regulierung von Einkommensumverteilung (Steuerpolitik), Aufbau und gesellschaftliche Regulierung eines Netzes industrieller Beziehungen und Aufbau eines Systems intermediärer Institutionen zur Vertretung partikularer Interessen und zur Übernahme öffentlicher, nichtstaatlicher Funktionen (Verbände, Vereine etc.).

  7. Peter v. Oertzen bezeichnete Mitte der achtziger Jahre diesen Grundkonsens als „asymmetrischen Klassenkompromiß“.

  8. So zeigt eine Analyse der Phasen von Frauenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise, daß von 1966 bis Anfang der achtziger Jahre das Konzept der „Wahl-freiheit“ (Beruf oder Familie) an Bedeutung gewann; allerdings setzte schon Ende der siebziger Jahre allmählich eine Diskussion um die „neue Mütterlichkeit“ ein, in der Frauen wieder stärker an ihr vermeintliches „Wesen“ gemahnt wurden. Vgl. dazu: Frauen im mittleren Alter, Lebenslagen der Geburtskohorten von 1935 bis 1950 in den alten und neuen Bundesländern, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, Bd. 13, Stuttgart -Berlin -Köln 1993.

  9. Die Sozialquote ist 1991 auf 29, 3 Prozent abgesunken. Vgl. Johannes Berger, Wirtschaftliche Entwicklung und wohlfahrtstaatliche Institutionen, in: Erwin Dicht! (Hrsg.), Standort Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1994, S. 280.

  10. Vgl. Nancy Fraser, Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, S. 255.

  11. Anmerkung der Redaktion: Vgl. dazu auch den Beitrag von Petra Frerichs/Margareta Steinrücke in diesem Heft.

  12. Vgl. Nancy Fraser, Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Axel Honeth (Hrsg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgabe der Sozialphilosophie, Frankfurt am Main 1994, S. 360.

  13. Ebd., S. 351.

  14. Vgl. Ursula Schröter, Ostdeutsche Frauen im Transformationsprozeß, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/95, S. 40.

  15. Vgl. ebd., S. 41

  16. Vgl. dazu auch: Aspekte der Arbeitsmarktentwicklung in Ostdeutschland, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 23 vom 8. Juni 1995, Berlin. Kennzeichen einer „postfordistischen Konstellation“ (M. Baethge) sind: flexible Massenproduktion, Anwendung von betriebsübergreifender Systemtechnik, Bruch mit der hierarchischen Fabrikorganisation zugunsten einer stärkeren Entscheidungskompetenz von kompetenten Mitarbeitern etc.

  17. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies., Riskante Freiheiten, Frankfurt am Main 1994, S. 35.

  18. Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt-New York 1992.

  19. N. Fraser (Anm. 14), S. 360.

  20. Ebd., S. 358.

  21. Claus Offe, Vollbeschäftigung? Zur Kritik einer falsch gestellten Frage, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, (1994) 12, S. 796.

  22. Reinhard Kreckel, Makrosoziologische Überlegungen zum Kampf um Normal-und Teilzeitarbeit im Geschlechter-verhältnis, Beitrag zum Forum 6 „Transformation am Beispiel der Geschlechterverhältnisse“, 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Halle, 6. April 1995, erscheint in: Berliner Journal für Soziologie, (1995) 4. Kreckel entwirft hier zwei Arbeitsmarktszenarien, die er beide für „deprimierend“ hält: Dem einen Szenario zufolge setzt sich die momentan nur für Ostdeutschland typische hohe „Erwerbsneigung“ der Frauen in Gesamtdeutschland durch, und der „Appetit“ der Frauen auf Arbeitsplätze in Ost und West führt zu einem „Arbeitslosenheer“ von ca. 10 Millionen. Dem zweiten Szenario zufolge verhalten sich die ostdeutschen Frauen dem gängigen West-Modell entsprechend und entlasten den Arbeitsmarkt wegen fehlender „Erwerbsneigung“. In diesem Falle -der aufgrund des „Eigensinns“ der ostdeutschen Frauen nicht zu erwarten ist -wären gegenwärtig nicht 1, 4 Millionen ostdeutsche Frauen von Unterbeschäftigung betroffen, sondern lediglich 300000. Nicht die forcierte Schaffung von Arbeitsplätzen sei die Lösung, denn der Bedarf sei im Osten wie im Westen „gesättigt“, sondern der Kompromiß liege in Teilzeitarbeitsplätzen, auf die ostdeutsche Frauen sich allerdings einlassen müßten.

  23. So gibt auch das neueste Gutachten des Instituts der Wirtschaft Halle (IWH) offenbar zu verstehen, die Arbeitsplatzlücke sei nur „durch Rückzug vom Arbeitsmarkt“ zu schließen. Vgl. Tagesspiegel vom 24. 6. 1995, S. 13. Beim Modell des Bürgergeldes „... wird zum einen das Ziel verfolgt, ein möglichst einfaches transparentes System von Steuern und Transferleistungen herzustellen; zugleich soll das Bürgergeld bei Arbeitslosen, die bisher auf Sozialhilfe angewiesen sind, die Bereitschaft stärken, eine Erwerbs-arbeit aufzunehmen“ (Walter Hanesch, Sozialpolitik und armutsbedingte Armut. Strukturmängel und Reformbedarf in der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/95, S. 21).

  24. Vgl. Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e. V., Sozialreport Neue Bundesländer, II. Quartal 1995, Berlin 1995, S. 18.

  25. Vgl. ebd. Während die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit bei Frauen 49 Wochen beträgt, liegt sie bei Männern nur bei 27 Wochen. Vgl. Sabine Schenk, Neu-oder Restrukturierung des Geschlechterverhältnisses in Ostdeutschland? Referat im Rahmen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, erscheint in: Berliner Journal für Soziologie, (1995) 4.

  26. Vgl. Hildegard Maria Nickel/Jürgen Kühl/Sabine Schenk (Hrsg.), Erwerbsarbeit und Beschäftigung im Umbruch, Berlin 1994; Sabine Schenk, Erwerbsverläufe im Transformationsprozeß, in: Hans Bertram (Hrsg.), Ostdeutschland im Wandel, Berlin 1995.

  27. R. Kreckel (Anm. 25), S. 7.

  28. Dabei ist es nicht nur ein Problem, „zu alt“, sondern unter Umständen auch eines, zu jung zu sein. Vgl. dazu S. Schenk (Anm. 29), S. 77.

  29. Hier kann nur schlaglichtartig auf einige Befunde zurückgegriffen werden, die im Rahmen der durch die KSPW geförderten Projekte „Finanzdienstleistungsbeschäftigung im Umbruch“ und „Personalrekrutierung im Finanzdienstleistungssektor in Sachsen-Anhalt“ gewonnen wurden. An den Projekten arbeiten unter der Leitung von Hasko Hüning (FU Berlin) und Hildegard Maria Nickel (HUB) Michael Frey, Iris Peinl, Catrin Stock und Olaf Struck-Möbbeck.

  30. Vgl. Hasko Hüning/Hildegard Maria Nickel/Olaf Struck-Möbbeck, Aufbau und Konsolidierung im Finanz-dienstleistungssektor in Sachsen-Anhalt, Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung Nr. 96, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin, Berlin 1995. Der Endbericht wird im Herbst 1995 vorliegen. Zwischenergebnisse sind veröffentlicht in: Hasko Hüning/Hildegard Maria Nickel u. a., Gestaltungschancen und Handlungsgrenzen. Zur Transformation des Finanzdienstleistungssektors in Ostdeutschland, KSPW Graue Reihe 95-01.

  31. Vgl. die Anmerkungen 32 und 33.

  32. Vgl. Hildegard Maria Nickel/Hasko Hüning, Geschlechterverhältnis im Umbruch: Am Ende der Eindeutigkeiten auf dem Weg zu alten Gewißheiten?, Referat zum 27. Kongreß der DGS in Halle 1995, Forum 6: Transformation am Beispiel der Geschlechterverhältnisse (Ms.) Diese Konstruktionen werden im folgenden rekonstruiert. Die Interviews sind im Rahmen der in Anm. 32 und 33 genannten Projekte gemacht worden, und zwar mit Beschäftigten und Führungskräften.

  33. Vgl. Hasko Hüning/Friederike Maier/Hildegard Maria Nickel u. a., Berliner Sparkasse: Unternehmen in der Vereinigung, Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung 79, Berlin 1993.

  34. Die Geschlechterrolle verändert sich auch strukturell infolge einer nun auch für Ost-Frauen geltenden Sozialpolitik und Rekrutierungspraxis, die weibliche Erwerbsarbeit zunehmend in prekäre Situationen bringt.

  35. Vgl. Brigitte Aulenbacher/Monika Goldmarin (Hrsg.), Transformationen im Geschlechterverhältnis, Frankfurt am Main-New York 1993.

  36. Wolfgang Zapf, Staat, Sicherheit und Individualisierung, in: U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Anm. 20), S. 302.

  37. Ebd.

  38. Vgl. die Berichterstattung über den International Monetary Conference (IMC) -Gipfel in Seattle Anfang Juni 1995, die von einem drastischen Stellenabbau und einer rigorosen ertragsorientierten Neuausrichtung der Geschäftspolitik der 100 größten Banken sprach. In: Handelsblatt vom 6. Juni 1995.

  39. Elke Holst/Jürgen Schupp, Erwerbsbeteiligung und Erwerbsorientierung von Frauen in West-und Ostdeutschland 1990 bis 1993, DIW Diskussionspapier Nr. 90, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin 1994, S. 25.

  40. Wamfried Dettling, Jenseits von Sozialismus, Kapitalismus und Nihilismus. Wieviel Moral braucht eine Gesellschaft?, in: ders. (Hrsg.), Perspektiven für Ostdeutschland, München 1994, S. 366.

  41. Vgl. OECD-Bericht Deutschland, Paris 1994, S. 83.

  42. Sabine Schenk/Uta Schlegel halten folgendes Szenario für denkbar in bezug auf Ostdeutschland: Ehemalige Frauen-branchen (Dienstleistungssektor, Pflegebereich etc.) werden zu Mischbranchen; Mischbranchen verschließen sich zunehmend gegen Frauen; Männerbranchen bleiben Frauen verschlossen. Vgl. Sabine Schenk/Uta Schlegel, Frauen in den neuen Bundesländern. Zurück in eine andere Moderne?, in: Berliner Journal für Soziologie, (1993) 3.

  43. Wir halten dies nicht für eine einfache Aufgabe: Die mit einer solchen Orientierung notwendig verbundenen Einkommensumverteilungen von den hochproduktiven zu den weniger produktiven (Dienstleistungs-) Bereichen verlangt einen weitgehenden sozialen Konsens wie auch die Praktizierung neuer Formen zivilgesellschaftlicher Kompromißsuche.

  44. Ob dazu auch der Vorschlag zu rechnen ist, „private Haushalte zu Arbeitgebern zu machen“, sollte unbefangen mitdiskutiert werden. Vgl. Wolfgang Schäuble, Und der Zukunft zugewandt, Berlin 1994, S. 141 f.

  45. Vgl. E. Holst/J. Schupp (Anm. 42), S. 42.

  46. C. Offe(Anm. 24), S. 806.

  47. Das Bemühen um neue Arbeitsplätze von vornherein für aussichtslos zu erklären verweist auf mangelnde politische Phantasie. Das ist ohnehin keine Debatte nur für Experten.

  48. Zum Beispiel der Vorschlag eines „Modemisierungsund Beschäftigungsprogramms“ (MOB): vgl. WSI-Mitteilungen, 47 (1994) 6.

Weitere Inhalte

Hildegard Maria Nickel, Dr. phil., geb. 1948; Studium im Fach Kulturwissenschaften und Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB); 1977-1987 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Soziologie des Bildungswesens an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR; seit 1987 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der HUB; 1990-1993 Dekanin des Fachbereichs Sozialwissenschaften an der HUB; seit 1992 Professorin für das Lehrgebiet Soziologie von Familie, Jugend und Geschlechterverhältnissen; wissenschaftliche Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung an der HUB, Helge-Pross-Preisträgerin 1994.