Das gefährliche Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität
Rainer Geißler
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Zusammenfassung
In der Öffentlichkeit herrscht das Gerücht, die Kriminalitätsrate sei unter Ausländem erheblich höher als unter Deutschen. Dieses Gerücht ist gefährlich, weil es ausländerfeindliche Stimmungen schürt, die immer häufiger in Haß und Gewalt gegen Ausländer umgeschlagen sind. Die trübe Quelle des Gerüchts sind die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik, denen irreführende Daten aus der Bevölkerungsstatistik gegenübergestellt werden. Dieser unzulässige Vergleich, der eine Vielzahl von Verzerrungen zu Lasten der Ausländer enthält, wird in diesem Beitrag von seinen ausländerfeindlichen Elementen gesäubert. Das Ergebnis: Ansässige Ausländer werden nicht häufiger, sondern seltener kriminell als Deutsche in vergleichbarer Soziallage. Dieses Resultat stimmt mit der gut belegten Anpassungsthese der Migrationssoziologie überein, die besagt, daß sich Einwanderer besser an die Gesetze des Gastlandes halten als die Einheimischen selbst. Da sich Ausländer besser mit den Mängeln ihrer Soziallage arrangieren als Deutsche, läßt sich, allen bestehenden Vorurteilen zum Trotz, schlußfolgern: Durch die Unterschichtung der deutschen Gesellschaft durch Ausländer hat sich die Kriminalitätsrate insgesamt nicht erhöht, sondern vermindert.
I. Ein Problem von Wissenschaft, Moral und Politik
Ein Gerücht geht um in Deutschland -das statistische Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität. Seine trübe Quelle ist die polizeiliche Kriminalstatistik, deren Datenmassen ausländer-feindlich verschmutzt sind. Das Gerücht wird insbesondere von solchen Politikern, Medien und -man muß sagen leider -auch Sozialwissenschaftlern verbreitet, zu deren Wunschbild von einer ethnisch möglichst homogenen Gesellschaft es bestens paßt. Es leitet Wasser auf die Mühlen all derjenigen Monokulturalisten, die bemüht sind, die tatsächlichen oder -so weitgehend in diesem Fall -auch nur vermeintlichen Probleme und Gefahren zu dramatisieren, die der deutschen Gesellschaft von ihren „Ausländern“ angeblich drohen.
Das statistische Gerücht ist nicht nur ein Problem von Wissenschaft und Statistik, sondern gleichzeitig auch ein Problem von Moral und Politik sowie eine Gefahr für den inneren Frieden. Mit seiner globalen Verunglimpfung von „Ausländem“ verstößt es gegen den ethischen Kodex für ein menschliches Miteinander, für den fairen Umgang mit ethnischen Minderheiten in einer zivilisierten Gesellschaft. Politisch wird es instrumentalisiert für eine restriktive Ausländerpolitik. Und Gefahren für den inneren Frieden gehen von ihm aus, weil es den sozialpsychologischen Boden für eine ausländerfeindliche Stimmung mitbereitet, die in den letzten Jahren immer häufiger in Haß und Gewalt gegen Ausländer umgeschlagen ist. Das Gerücht ist eine der vielfältigen Ursachen dafür, daß der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahren die Kontrolle über das Gewaltpotential bei Teilen ihrer Bevölkerung entglitten ist.
Damit keine Mißverständnisse aufkommen: In diesem Beitrag soll nicht etwa bestritten werden, daß das organisierte Verbrechen grenzübergreifende, internationale Strukturen entwickelt hat, in denen mehr Ausländer als Deutsche aktiv sind, oder daß bestimmte Ausländergruppen bei bestimmten Delikten -z. B. im Rauschgifthandel -dominieren Es geht vielmehr darum, die inzwischen über sechs Millionen zählende Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung gegen das immer wieder geäußerte, diskriminierende Vorurteil in Schutz zu nehmen, ihr Zuzug nach Deutschland habe die Kriminalitätsrate in die Höhe getrieben und die Kriminalitätsprobleme der deutschen Gesellschaft verschärft.
II. Erscheinungsformen des Gerüchts in der Öffentlichkeit
Die folgenden Beispiele zu den Erscheinungsformen des Gerüchts sollen verdeutlichen, wie und durch wen das Gerücht über die Massenmedien in der Öffentlichkeit verbreitet wird.
Alle Jahre wieder wird die sogenannte „Polizeiliche Kriminalstatistik“ (PKS) des Bundeskriminalamts veröffentlicht, und alle Jahre wieder nehmen die regionalen und überregionalen Tageszeitungen dieses Ereignis zum Anlaß, über ausgewählte Daten der „Kriminalitätsentwicklung“ zu berichten. In den Schlagzeilen der Presse ist dann von „Verbrechen“, „Straftaten“ und „Kriminalität“ die Rede -eine ausgesprochen irreführende Ausdrucksweise, deren sich auch die Polizeistatistiker und die Politiker bedienen Ungenau und irreführend ist sie deshalb, weil die Kriminalämter in ihren Statistiken nicht die tatsächliche Kriminalität erfassen, sondern lediglich diejenigen Handlungen und Personen registrieren, die von Polizeibeamten einer Straftat verdächtigt werden. Der polizeiliche Verdacht auf eine strafbare Handlung wird jedoch nur in knapp einem Drittel der Fälle durch ein Gericht bestätigt. So verdächtigte die Polizei im Jahre 1990 1, 38 Millionen Personen einer oder auch mehrerer Straftaten, aber nur 434000 Personen wurden in demselben Jahr auch rechtskräftig verurteilt Bei Ausländern war die sogenannte „Verurteilungsquote“ noch erheblich niedriger als bei Deutschen.
Meist wird in den jährlich wiederkehrenden Pressemeldungen über die PKS auch auf die (angeblich) so hohe Ausländerkriminalität hingewiesen. Die überregionale „Welt am Sonntag“ machte z. B. aus dem Gerücht die dicke Schlagzeile „Kriminalität steigt alarmierend -27 Prozent Ausländer-Anteil“ in der regionalen „Siegener Zeitung“ tauchte das Gerücht als Unterschlagzeile unter Hinweis auf eine Aussage von Innenminister Kanther auf: „Kanther: Ausländerdelikte geben Anlaß zur Sorge.“
Andere Presseorgane verpacken das Gerücht etwas dezenter in die Texte ihrer Artikel. So meldete „BILD“ seinen Millionen von Leserinnen: „Der Innenminister: , Große Sorge macht mir die Entwicklung der Ausländer-Kriminalität. Fast ein Drittel aller ermittelten Tatverdächtigen habe nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Laut Polizei-Statistik ist der Anteil ausländischer Tatverdächtiger besonders hoch bei Autodiebstählen (49 Prozent), Rauschgift-Delikten (51 Prozent), Menschenhandel (47 Prozent) und Taschendieb-stahl (73 Prozent).“ Ganz ähnlich berichtete auch „Die Welt“ desselben Tages
Seit 1993 werden die nackten PKS-Zahlen zur Ausländerkriminalität in einigen Zeitungen mit geringfügigen Relativierungen versehen, einige Politiker benutzen sie jedoch ohne jeden relativierenden Kommentar für ihre Ziele und finden dabei in der Presse ein Sprachrohr. So meldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (F. A. Z.) unter der Schlagzeile „Bötsch warnt vor Ausländerkriminalität“ folgendes: „Bötsch führte die wachsende Zahl der Verbrechen auf den wachsenden Ausländeranteil in Deutschland zurück. 1991 habe er 8, 5 Prozent betragen. Der Anteil der Ausländer an den Straftatverdächtigen lag dagegen bei 26, 8 Prozent. Eine Lösung des Ausländerproblems, so Bötsch, erfordere die Änderung des Grundgesetzartikels 16 (, Politisch Verfolgte genießen Asylrecht 4) und 19 (Rechtsweggarantie).“
Das Gerücht wird nicht nur in den Berichten über die PKS verbreitet, sondern auch in längeren Artikeln in einigen Organen der „seriösen“ Presse. Im Feuilleton der F. A. Z. schreibt Eike Lippert in einem ganzseitigen Beitrag zu Problemen der Wiedervereinigung: „Die hohe Kriminalität unter Ausländern und Asylbewerbern ist bekannt. Dabei stehen die Rumänen mit Abstand an der Spitze. Genau das sind die Sinti und Roma, die illegal über Polens grüne Westgrenze strömen und zu Hunderten vor der hoffnungslos überfüllten zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in Lichtenhagen campierten. Und das in einem dichtbesiedelten Wohngebiet, in dem es gärte und kochte. Dort entfalteten sie ihren Anteil einer multikulturellen Gesellschaft: bettelten, lärmten, liebten sich, belästigten Frauen und Kinder. Die Grünflächen versanken in Unrat und Kot. Verbrechen grassierten: Betrug, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzungen, Vergewaltigungen grausamster Art. In Lichtenhagen brodelte der Zorn wie in zahllosen Gemeinden ganz Deutschlands.“ In diesem Schreckensgemälde über die Situation in Rostock-Lichtenhagen wird der politisch-ideologische Kontext plastisch sichtbar, in den das Gerücht häufig eingebettet ist: Es begründet eine generelle Abwehrhaltung gegenüber „Ausländern“ und wird dazu benutzt, um brutale Gewaltakte von Deutschen gegenüber Ausländern zu erklären und gleichzeitig zu rechtfertigen. Rostock wurde bekanntlich über die Grenzen Deutschlands hinaus berüchtigt wegen der gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Ausländern unter den Augen von applaudierenden Anwohnern und untätig zuschauenden Polizisten.
Der ehemalige Landesjustizminister und Kriminologe Hans-Dieter Schwind benutzt in einem ganzseitigen Beitrag zum Thema „Sind wir ein Volk von Ausländerfeinden?“ ebenfalls die Daten der PKS: „Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) für das gesamte Bundesgebiet zeigt, daß inzwischen mehr als 30 Prozent aller Raubtaten, Vergewaltigungen und gefährlichen oder schweren Körperverletzungen von Nichtdeutschen verübt werden. Am Taschendiebstahl sind Ausländer sogar mit mehr als 70 Prozent beteiligt.“ Auch bei Schwind, der es als Jurist eigentlich besser wissen müßte, verwandelt sich der Verdacht von Polizeibeamten gegenüber „Nichtdeutschen“ unversehens in tatsächlich begangene „Raubtaten, Vergewaltigungen“ etc. Die PKS-Daten präsentiert Schwind ohne jegliche Relativierungen, und aus den hohen Anteilen der 14-bis 21jährigen Ausländer unter den Tatverdächtigen schließt er auf eine „eher mißlungene Integration“ der „zweiten und dritten Generation der früher zugewanderten Ausländer“, obwohl sich diese Daten gar nicht auf diese Generation beziehen, sondern alle jungen Ausländer umfassen.
Das hier lediglich an einigen Beispielen skizzierte Bild einer tendenziösen, einseitig-dramatisierenden Medienberichterstattung zur Ausländerkriminalität ist durch verschiedene weitere, zum Teil systematisch angelegte Inhaltsanalysen gut belegt
Das über die Medien verbreitete Gerücht über die hohe Ausländerkriminalität verfehlt seine Wirkung nicht: 57 Prozent der Westdeutschen betrachten die Ausländerkriminalität als eines der dringlichsten Probleme der inneren Sicherheit. Und auch 53 Prozent der Ostdeutschen sind dieser Meinung -obwohl in den neuen Ländern bekanntlich kaum Ausländer leben Unter der Bevölkerung Ostdeutschlands ist zudem der Eindruck verbreitet, daß Deutsche erheblich gesetzestreuer sind als „Gastarbeiter“, wie die ausländischen Arbeitnehmer in der ostdeutschen Umfrage genannt wurden Bei Westdeutschen dürften ähnliche Vorurteile existieren.
III. Der statistische Kern: ein Vergleich von Äpfeln und sauren Gurken
Der angeblich harte statistische Kern des Gerüchts sind zwei Eckdaten aus der PKS und aus der Bevölkerungsstatistik, die einander gegenübergestellt werden, obwohl sie nicht vergleichbar sind: der Ausländeranteil unter den Tatverdächtigen (1992 gut 32 Prozent) und der Ausländeranteil an der Bevölkerung (1992 knapp 10 Prozent). Diese Gegenüberstellung suggeriert, daß die Kriminalitätsbelastung der Ausländer mehr als dreimal so hoch ist wie diejenige der Deutschen.
Prototypisch soll diese unzulässige Gegenüberstellung nochmals an zwei Beispielen illustriert werden. Schwind schreibt in dem bereits erwähnten Artikel: „Rund 30 Prozent aller Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren sind heute Nichtdeutsche und das bei einem ausländischen Bevölkerungsanteil an dieser Altersgruppe von lediglich 10 Prozent.“ Und in einer Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins FOCUS zur „Ausländerkriminalität“, die das Gerücht sogar zu einem „deutschen Tabu-Thema“ hochstilisiert, werden in einem Balkendiagramm zur „Jugendkriminalität“ die Ausländeranteile an den Tatverdächtigen und an der Wohnbevölkerung -nach Altersgruppen gegliedert -schön farbig gegeneinander abgesetzt und dabei den Leserinnen suggeriert, es gingen z. B. 41, 6 Prozent der Delikte, die sich 21-bis 25jährige zuschulden kommen lassen, auf das Konto der wenigen Ausländer, die nur 10, 3 Prozent dieser Altersgruppe ausmachen
Unter unvoreingenommenen Fachleuten ist es inzwischen eine Binsenweisheit, daß bei dieser Gegenüberstellung Unvergleichbares miteinander verglichen wird. Es werden nicht nur Äpfel mit Birnen verglichen -diese Metapher würde den Grad der Unvergleichbarkeit völlig verharmlosen -, es werden eher Äpfel mit Tomaten oder sauren Gurken verglichen. Ich werde im folgenden versuchen, das Unvergleichbare besser vergleichbar zu machen, oder -um es etwas pointierter zu formulieren -ich werde die trüben Daten der PKS soweit wie möglich „reinigen“, damit sie einen klareren Blick auf die tatsächlichen Unterschiede in der Kriminalität von Deutschen und Ausländern erlauben. Die Daten werden dabei -am Beispiel der Zahlen für die alten Bundesländer aus dem Jahr 1992 -einem achtstufigen „Reinigungsverfahren“ unterzogen, wobei die verschiedenen Stufen der Reinigung mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Problemen verknüpft sind.
IV. Die Reinigung der PKS: nicht höhere, sondern niedrigere Kriminalität der ausländischen Wohnbevölkerung
Ausgangspunkt des Reinigungsverfahrens sind die bereits erwähnten Eckwerte des unzulässigen Vergleichs: Ausländer, die 1992 lediglich 10 Prozent der Bevölkerung (bzw. 9 Prozent der Wohnbevölkerung) ausmachen sind unter den „Straftätern“ der PKS des Jahres 1992 mit 32, 2 Prozent vertreten
Stufe 1: ausländerspezifische Delikte. Die erste Reinigungsstufe ist sehr einfach, die Korrektur wird z. T. -nicht in allen Tabellen -in der PKS selbst vorgenommen. Fast ein Viertel aller tatverdächtigen Ausländer hat sich Verstöße gegen das Ausländer-oder das Asylverfahrensgesetz zuschulden kommen lassen -ausländerspezifische Delikte, die Deutsche in der Regel gar nicht begehen können. Bereinigt man die Statistik um diese Verstöße, dann reduziert sich der Ausländeranteil von 32, 2 auf 26, 8 Prozent
Stufe 2: „Touristenkriminalität“. Auch das Reinigungsverfahren der zweiten Stufe ist einfach, denn die erforderlichen Angaben sind in der PKS vorhanden; allerdings werden sie nicht benutzt, um die PKS-Daten zur Ausländerkriminalität selbst entsprechend zu bereinigen. In der Polizei-statistik sind Gruppen von Ausländern registriert, die in der Bevölkerungsstatistik nicht berücksichtigt werden. Die Basis der PKS ist also im Hinblick auf die Ausländer größer als die Basis der Bevölkerungsstatistik. Um beide Statistiken miteinander vergleichbar zu machen, müssen also die entsprechenden Gruppen aus den Zahlen der PKS herausgenommen werden. Beim Tatverdacht ohne ausländerspezifische Delikte gehören dazu insbesondere Ausländer ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik -die PKS führt sie als „Touristen/Durchreisende“ -sowie einige Angehörige der Stationierungsstreitkräfte und einige Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis (Illegale). Klammert man diese Gruppen, die ca. 14 Prozent der Tatverdächtigen (ohne ausländerspezifische Delikte) ausmachen, aus, dann verringert sich der Ausländer-anteil weiter auf 24 Prozent
Stufe 3: Kriminalität der Asylbewerber (hauptsächlich Bagatellkriminalität). Es ist statistisch einfach, aber kriminologisch -und auch kriminalistisch, d. h. zum Zweck der Verbrechensbekämpfung -unsinnig, alle Ausländer in einen Topf zu werfen und unter der Rubrik „Nichtdeutsche“ zusammenzufassen. Kriminologisch bestehen zwischen den verschiedenen Gruppen von Ausländern gravierende Unterschiede. So leben z. B. die Asyl-suchenden und die ausländische Wohnbevölkerung in völlig unterschiedlichen sozialen und psychischen Situationen und sind daher völlig unterschiedlichen Zwängen und Verlockungen zu kriminellen Handlungen sowie auch unterschiedlichen Gefahren der Verdächtigung, Stigmatisierung und Kriminalisierung ausgesetzt.
Ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien sind mehr oder weniger in die deutsche Gesellschaft teilintegriert. Sie verfügen in der Regel über Arbeit, Einkommen und eigene Wohnungen; sie leben in ihren Familien und in einem sozialen Beziehungsgeflecht von Freunden und Bekannten. Durch die Einbindung in das deutsche Netz der sozialen Sicherheit genießen sie ähnliche soziale Sicherheiten wie die deutsche Bevölkerung; ihr Leben läuft mit einer persönlichen und sozialen Perspektive ab Völlig anders stellen sich die Lebensbedingungen der Asylbewerber dar. Sie sind in der Regel ohne Arbeit, ohne eigenes Einkommen, von Sachleistungen der Behörden, günstigenfalls von Sozialhilfe abhängig. Sie hausen in Notunterkünften, in Wohncontainem, auf Schiffen, in Turnhallen u. ä., meist zusammengedrängt mit ihnen fremden Menschen, die häufig anderer Nationalität sind und eine andere Sprache sprechen. Aus ihrer gewohnten Umgebung wurden sie meist durch Armut oder Krieg vertrieben, häufig wurden sie dabei von ihren Familien getrennt. In einer ihnen völlig fremden Gesellschaft und Kultur leben sie ohne Sicherheiten, ohne konkrete Perspektive, unter dem Damoklesschwert einer drohenden Abschiebung -also unter den sehr hohen Belastungen einer extremen sozialen und psychischen Notsituation.
Nur bei einer sehr oberflächlich-formalen Betrachtungsweise haben Asylbewerber und ausländische Wohnbevölkerung ein Gemeinsames: Sie verfügen nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber dieses Gemeinsame ist soziologisch und kriminologisch nahezu bedeutungslos. Es sagt nur wenig über die typische Soziallage dieser Menschen und ihre damit verknüpften psychischen Dispositionen und Verhaltensweisen aus. Das Kriterium der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit verdeckt statt dessen wichtige soziale und kriminologisch sowie auch kriminalistisch relevante Unterschiede. Im Hinblick auf ihre sozio-psychische Situation steht die ausländische Wohnbevölkerung den Deutschen erheblich näher als den Asylbewerbern. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn in einer neuen Studie festgestellt wird, daß die Delikthäufigkeit und die Deliktstruktur der ausländischen Arbeitnehmer denjenigen der Deutschen sehr ähnlich sind, aber andererseits erheblich von denjenigen der Asylbewerber abweichen Da die Kriminalität der Asylbewerber einen Sonderfall darstellt -sie geraten hauptsächlich in den Verdacht, neben ausländerspezifischen Delikten einfache Diebstähle, vor allem Warenhausdiebstähle begangen zu haben, ein typisches Bagatellund „Notdelikt“ -und da die Asylbewerber zudem auch noch besonderen Stigmatisierungs-und Kriminalisierungsprozessen ausgesetzt sind vergleiche ich im folgenden die deutsche Wohnbevölkerung nur mit der ausländischen Wohnbevölkerung. Dadurch verringert sich der Ausländeranteil unter den Tatverdächtigen auf 16, 9 Prozent, der Prozentsatz hat sich also im Vergleich zu dem hohen Ausgangswert fast halbiert.
Stufe 4: falscher oder übertriebener Tatverdacht. Bei der Reinigungsstufe 4 geht es um den bereits erwähnten Sachverhalt, daß tatverdächtige Ausländer seltener rechtskräftig verurteilt werden als tatverdächtige Deutsche. 1989 lagen die Verurteiltenquoten unter Deutschen bei 34, 4 Prozent, unter Ausländem aber nur bei 29, 5 Prozent Die Unterschiede in den Quoten zwischen den beiden Gruppen variieren stark bei verschiedenen Delikten und in verschiedenen Altersgruppen Es ist bisher nicht in allen Einzelheiten empirisch geklärt, wo die Ursachen dafür hegen, daß tatverdächtige Ausländer seltener bestraft werden als Deutsche Es gibt jedoch gute Argumente und auch wichtige empirische Anhaltspunkte dafür -ich werde sie später noch darstellen -, daß Ausländer häufiger als Deutsche unter falschen oder übertriebenen Tatverdacht geraten und daß daher die Verurteiltenstatistik den tatsächlichen Relationen der Kriminalitätsbelastung von Deutschen und Ausländem näher kommt als die PKS. Berücksichtigt man die Unterschiede in den „Schwundquoten“ zwischen Tatverdacht und Verurteilung in der bisherigen Rechnung, dann reduziert sich der Ausländeranteil unter den „Kriminellen“ auf rechnerisch 15 Prozent Die Reduktion des Ausländeranteils auf dieser umstrittenen Reinigungsstufe ist also mit knapp zwei Prozentpunkten im Vergleich zu den Stufen 1 bis 3 nur gering.
Mit dem Abschluß von Stufe 4 ist ein wichtiger Zwischenschritt getan: Der Ausländeranteil von 15 Prozent markiert den rechnerisch einigermaßen exakt zu ermittelnden Anteil an „krimineller Bedrohung“, die möglicherweise von der ausländischen Wohnbevölkerung ausgehen könnte. Die 15 Prozent liegen erheblich unter dem dramatisierenden Ausgangswert von 32, 2 Prozent. Würden die 15 Prozent die „Verbrechensrealität“ angemessen erfassen, dann läge die Kriminalitätsbelastung der Ausländer zwar nicht mehr um das Dreifache, aber immer noch um zwei Drittel über der Kriminalitätsbelastung der Deutschen. Aber auch diese vordergründig exakte Zahl überzeichnet den Vergleich noch erheblich zu Lasten der Ausländer.
Nicht angesprochen wurde bisher das Problem, ob es ausländerspezifische Stigmatisierungs-, Etikettierungs-und Ausleseprozesse bei der Wahrnehmung und Verfolgung von Straftaten gibt. Geraten Ausländer eher in einen falschen Verdacht als Deutsche? Werden sie bei tatsächlichen Straftaten eher angezeigt, von der Polizei entdeckt und an die Staatsanwaltschaft weitergemeldet? Wie groß sind die eventuell dadurch bedingten Verzerrungen in den Kriminalstatistiken?
Leider sind diese Fragen bisher nicht empirisch, exakt quantitativ zu beantworten. Es gibt jedoch drei gewichtige, empirisch belegte Argumente für die Annahme, daß Ausländer nicht nur bei kriminellen Handlungen häufiger entdeckt werden als Deutsche, sondern daß sie auch häufiger in falschen oder übertriebenen Tatverdacht geraten. Die Mehrbelastung der Ausländer um zwei Drittel, die in den oben ermittelten 15 Prozent zum Ausdruck kommt, ist also durch Stigmatisierungs-, Etikettierungs-und Selektionsprozesse zu Lasten der Ausländer deutlich überhöht. 1. Auf den verschiedenen Stufen der Strafverfolgung laufen nachweislich Prozesse der Kriminalisierung und Auslese zu Lasten der unteren sozialen Schichten ab Diese schichtspezifi-sehe Kriminalisierung wirkt sich mit Sicherheit auch zu Lasten der Ausländer aus, die zu zwei Dritteln der unteren Unterschicht angehören
2. Nachgewiesen ist des weiteren ein Polizeieffekt zu Lasten der Ausländer: Ausländer geraten bei den Ermittlungen der Polizei häufiger als Deutsche unter falschen oder übertriebenen Tatverdacht. Staatsanwälte und Richter hingegen sehen tatverdächtige Handlungen von Ausländern häufiger nicht als Straftat an, stellen Verfahren gegen Ausländer häufiger wegen Geringfügigkeit ein und stufen den polizeilich erhobenen Tatvorwurf häufiger zu einem weniger schweren Delikt herab Das Verhalten der Ausländer wird also von Bevölkerung und Polizei aufmerksamer und kritischer beobachtet als das der Deutschen. Daher ist es auch sehr wahrscheinlich, daß die wirklich kriminellen Handlungen bei Ausländern häufiger entdeckt werden. Dieser Polizeieffekt kann auf einer späteren Stufe der Strafverfolgung nur teilweise durch Staatsanwälte und Gerichte korrigiert werden 3. Interessante Hinweise auf ausländerspezifische Kriminalisierungseffekte liefern auch die beiden einzigen Dunkelfelduntersuchungen, in denen Ausländer erfaßt werden. In einer repräsentativen Stichprobe von Bremer Jugendlichen im Alter von ca. 16 bis 17 Jahren hatten die Ausländer weniger Straftaten begangen als die Deutschen Und unter den gut 3600 Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen -eine Repräsentativauswahl unter Schülerinnen der Sekundarstufen I und II sowie Jungarbeitern und Arbeitslosen -waren Ausländer nur um 10 Prozent höher belastet als Deutsche Diese Ergebnisse widerlegen die bereits erwähnte These von der „eher mißlungenen Integration“ der zweiten und dritten Ausländergeneration Sie machen gleichzeitig deutlich, daß die Selektionsprozesse bei der Strafverfolgung zu Lasten der Ausländer noch erheblich stärker ausgeprägt sind als die Selektionsprozesse zu Lasten der unteren Schichten
Resümierend läßt sich feststellen: Die Mehrbelastung der ausländischen Wohnbevölkerung, die in den bisher errechneten (Stufe 1 bis 4) 15 Prozent Ausländeranteil an den Tatverdächtigen zum Ausdruck kommt, ist durch Etikettierungs-und Ausleseprozesse zu Lasten der Ausländer erheblich überhöht. Dennoch lege ich diese überhöhte Zahl den weiteren Stufen des Reinigungsverfahrens zugrunde.
Stufen 5 bis 8: sozialstrukturelle Verzerrungen zu Lasten der Ausländer. Das Korrekturverfahren auf den Stufen 5 bis 8 verläuft nach denselben Regeln, es unterscheidet sich aber grundlegend von den Stufen 1-4. Die errechneten Werte sind keine realen, sondern fiktive Größen, die am faktischen Umfang der vermeintlichen „Bedrohung“ durch kriminelle Handlungen der Ausländer nichts ändern; sie lassen diese aber in einem völlig anderen Licht erscheinen. Für einen angemessenen Vergleich von Deutschen und Ausländern sind auch die Stufen 5 bis 8 unabdingbar.
Das kriminologische Problem entsteht aus dem bekannten Phänomen, daß die ausländische Wohnbevölkerung sozialstrukturell anders zusammengesetzt ist als die deutsche: Unter den Ausländern gibt es mehr Männer, mehr Großstadtbewohner, mehr jüngere Menschen und erheblich mehr Unterschichtangehörige -alles Faktoren, die deutlich mit der Polizeiauffälligkeit Zusammenhängen, d. h., sie verstärken entweder die Tendenzen zu kriminellen Handlungen oder zu kriminalisierenden Reaktionen der Kontrollinstanzen, oder -und das ist das Wahrscheinlichste -sie verstärken beide Tendenzen zugleich.
Für einen angemessenen Vergleich müssen die Daten um die sozialstrukturell bedingten Verzerrungen bereinigt werden. Dies ist möglich, indem man die Kriminalitätsbelastung einer Vergleichsgruppe von Ausländern berechnet, die im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Wohnort und Schichtzugehö-rigkeit der deutschen Wohnbevölkerung entspricht. Für die jeweiligen Einzelfaktoren läßt sich diese Berechnung mit einer einfachen Formel durchführen die zu folgenden Ergebnissen führt: Der Geschlechtereffekt (überhöhter Männeranteil) erhöht die Kriminalitätsbelastung um 9 Prozent, der Regionaleffekt um 12 Prozent und der Alterseffekt schlägt mit einer Erhöhung von 33 Prozent zu Buche. Am dramatischsten wirkt sich der Schichteffekt aus. Die Mehrheit der Tatverdächtigen (in einer Fallstudie 52 Prozent) oder Verurteilten (in einer Fallstudie 56 Prozent) stammt aus der Schicht der Un-und Angelernten. Von den deutschen Erwerbstätigen gehörten 1989 nur 16 Prozent dieser Schicht an, aber 64 Prozent der ausländischen Erwerbstätigen und von der erwerbstätigen „zweiten Ausländergeneration“ noch 45 Prozent Durch die schichtspezifischen Verzerrungen erhöht sich die Kriminalitätsbelastung der Ausländer um 129 Prozent und die Belastung der „zweiten Generation“ um 78 Prozent
Die verschiedenen sozialstrukturellen Effekte lassen sich nicht einfach addieren, da sie z. T. miteinander verknüpft sind. Dennoch läßt sich schlußfolgern: Die Besonderheiten des Sozialprofils erhöhen die Kriminalität der Ausländer um mindestens 150 Prozent. Bei einer Gruppe von Ausländern „mit deutschem Sozialprofil“ muß also die Kriminalitätsbelastung um diesen Wert reduziert werden. Konkret bedeutet dies in meiner Rechnung: Der Ausländeranteil von 15 Prozent verrin gert sich auf höchstens 6 Prozent -ein Prozentsatz, der immer noch aus Stigmatisierungs-und Selektionsgründen überhöht ist. Wenn man also sinnvoll vergleichbare Gruppen der ausländischen Bevölkerung gegenüberstellt und Äpfel mit Äpfeln, aber nicht mit sauren Gurken vergleicht, ergibt sich: Die Gefahr, daß eine kriminelle Handlung begangen wird, ist unter Ausländern in vergleichbarer Soziallage keinesfalls größer als unter Deutschen, sie ist auch nicht gleich groß, sondern sie ist deutlich niedriger als unter Deutschen.
V. Theoretische Konsequenzen: Verminderung der Kriminalitätsrate durch höhere Anpassungsbereitschaft der Ausländer
Dieses Ergebnis hat wichtige theoretische Konsequenzen für die Erklärungsversuche zur Ausländerkriminalität. In der Regel wird nach den Ursachen für die (angeblich) höhere Ausländerkriminalität gefragt, wobei in diesem Zusammenhang u. a. häufig die sogenannte Konflikttheorie ins Feld geführt wird Aus meiner bisherigen Argumentation wird jedoch deutlich, daß bereits die Ausgangsfrage falsch gestellt ist. Erklärungsbedürftig ist nicht, warum Ausländer häufiger unter Tatverdacht stehen als Deutsche, sondern warum sie unter ähnlichen Lebensbedingungen wie die Deutschen seltener kriminelle Handlungen begehen. Das Merkmal „nichtdeutsch“ zeigt -bei vergleichbarer Soziallage -nicht höhere Kriminalität, sondern höhere Gesetzestreue an. Die Kulturkonflikttheorie, die eine besondere Auffälligkeit der Ausländer für Straftaten unterstellt, scheidet also auf dieser allgemeinen Ebene als Erklärungsmuster aus.
Ergiebiger ist dagegen die aus der Migrationssoziologie bekannte und empirisch belegte These von einer besonderen Anpassungswilligkeit der Einwanderer: Einwanderer sind stärker als die Einheimischen bereit, sich an die Gesetze des Gastlandes zu halten. Mit steigender Aufenthaltsdauer nähert sich dann die Kriminalitätsbelastung so wie auch andere Verhaltensweisen -den Verhaltensmustem der einheimischen Bevölkerung an. Die zweite Migrantengeneration ist also im Vergleich zu ihren Eltern höher belastet, was jedoch nicht bedeutet, daß sie auch häufiger kriminell wird als vergleichbare Gruppen des Gastlandes
Die Anpassungshypothese läßt noch eine weitere Überlegung zu: Ohne ausländische Wohnbevölkerung wäre die Kriminalität in Deutschland nicht niedriger, sondern höher. Warum? Die deutsche Gesellschaft hat der großen Mehrheit der ausländischen Arbeitnehmer die unteren Positionen ihrer sozialen Hierarchie zugewiesen und dadurch gleichzeitig Teilen der deutschen Unterschicht den kollektiven sozialen Aufstieg ermöglicht. In der Migrationssoziologie wird dieser Vorgang als Unterschichtung bezeichnet. Ohne Ausländer wäre die deutsche Unterschicht umfangreicher, die Positionen der Un-und Angelernten, in denen ca. zwei Drittel der Ausländer arbeiten, wären weiterhin ausschließlich von Deutschen besetzt. Mit dem Einrücken in die unteren Ränge der deutschen Gesellschaft übernehmen die Ausländer auch die damit verbundenen Nachteile: unqualifizierte, häufig besonders schwere und schmutzige Arbeiten, hohe Arbeitsplatzrisiken, niedrige Einkommen, niedriges Sozialprestige, schlechte Bildungschancen, besondere gesundheitliche Risiken und nicht zuletzt einen besonderen sozialstrukturellen Druck zum Verstoßt gegen die Gesetze und besonders ausgeprägte Risiken der Kriminalisierung durch die Strafverfolgungsinstanzen Gleichzeitig ermöglichen die Ausländer Teilen der deutschen Bevölkerung, sich von diesen Benachteiligungen zu befreien. Mit anderen Worten und etwas überspitzt: Ausländische Arbeitnehmer nehmen den Deutschen nicht nur die Schmutzarbeit ab, sondern zusammen mit der Schmutzarbeit auch den mit den unteren Positionen verbundenen Kriminalitätsdruck und die damit zusammenhängenden Kriminalisierungsrisiken.
Aus der Anpassungshypothese ergibt sich eine weitere Schlußfolgerung: Ausländische Arbeitnehmer arrangieren sich mit den Benachteiligungen, die mit der Zugehörigkeit zur Unterschicht verknüpft sind, besser als Deutsche; sie tendieren weniger als diese dazu, die mit ihrer Mangellage verbundenen Probleme durch Straftaten lösen zu wollen; unter ähnlich benachteiligenden Lebens bedingungen werden sie seltener kriminell als Deutsche.
Die vorangehenden Überlegungen führen also zu folgendem Schluß: Wenn die Positionen im unteren Bereich der Schichthierarchie nicht mit Ausländern, sondern mit Deutschen besetzt wären, wenn es statt der gut einen Million von un-und angelernten ausländischen Arbeitnehmern eine Million mehr un-und angelernte deutsche Arbeitnehmer gäbe, dann wäre die Kriminalitätsrate in Deutschland nicht niedriger, sondern höher. Die deutsche Gesellschaft profitiert von der größeren Anpassungsbereitschaft der ausländischen Wohnbevölkerung. Durch die Unterschichtung der Gesellschaft mit Ausländern wird die Kriminalitätsrate nicht erhöht, sondern -ganz im Gegenteil -vermindert.
VI. Praktische Schlußfolgerung: Bekämpfung des Gerüchts durch Veränderung der PKS
Wer am Abbau ausländerfeindlicher Stimmungen und Ressentiments interessiert ist, die den sozialpsychologischen Nährboden für Gewalt gegen Ausländer bilden, muß das gefährliche Gerücht von der angeblich so hohen Ausländerkriminalität bekämpfen und es als solches entlarven. Da sich das Gerücht wesentlich auf Daten der PKS stützt, die es mit der Aura von Objektivität oder gar Wissenschaftlichkeit umgeben, ergibt sich aus der Analyse eine Forderung an diejenigen, die für die jährlichen Berichte der Kriminalämter verantwortlich sind: Die PKS muß die Aufbereitung und die Darstellung ihrer Daten so verändern, daß sie ausländerfeindlichen Fehldeutungen keinen Vorschub mehr leisten können.
Ein konkreter Ansatzpunkt dazu ist, von der kriminologisch unsinnigen, ethisch problematischen und sozial gefährlichen Kategorie der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ Abstand zu nehmen und das entsprechende Kapitel völlig umzugestalten Der Begriff der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ im Regierungsbulletin des Jahres 1993 wird von „Ausländeranteil“ gesprochen der sich in der Öffentlichkeit rasch in den Begriff der „Ausländer-kriminalität“ verwandelt, ist ein Unbegriff, ein wahres Unwort im schlimmen Sinne dieser Bezeichnung. Aus kriminologischer Sicht ist er aus vier Gründen unsinnig und irreführend: 1. Unter seinem Dach vereinigt er ein Sammelsurium von kriminologisch (und kriminalistisch) zu trennenden Erscheinungen. 2. Statt dessen sondert er eine Gruppe von Tat-verdächtigen aus, bei der die allgemeinen Interpretationsprobleme, die von den Etikettierungs-, Stigmatisierungs-und Ausleseprozessen herrühren, in extremem Maße zu Buche schlagen. Die daraus folgenden Verzerrungen zu Lasten der Ausländer kann die PKS nicht korrigieren, weil diese Probleme nicht mit den üblichen quantitativen Verfahren der Kriminalstatistik zu erfassen sind. 3. Die beiden genannten Mängel des Konzepts dramatisieren die kriminelle Bedrohung, die von „den Ausländern“ angeblich ausgeht, und leisten so ausländerfeindlichen Ressentiments massiv Vorschub. 4. Im Zusammenhang mit seiner dramatisierenden Überzeichnung führt der Begriff auch theoretisch in die Irre: Er suggeriert, daß das Merkmal „nichtdeutsch“ ursächlich für eine besonders hohe Kriminalität verantwortlich sei. Bereinigt man die Zusammenhänge von „nichtdeutsch“ und Tatverdacht jedoch um wichtige Scheinkorrelationen (mit Geschlecht, Alter, Wohnort und Schicht), dann kehrt sich der Kausaleffekt bei der ausländischen Wohnbevölkerung genau um: „nichtdeutsch“ erhöht die Gesetzestreue, nicht die Kriminalität.
Die Verantwortlichen der PKS werden sich gegen diese Vorwürfe verteidigen und argumentieren, sie würden ja auf die methodischen Probleme ihrer statistischen Daten und auf die Unzulässigkeit des Vergleichs von Ausländern und Deutschen in ihren Berichten aufmerksam machen Das Doppelbödige dieser methodischen Hinweise besteht jedoch darin, daß die problematischen Daten dennoch in der hier kritisierten Form publiziert werden -und dies, obwohl deren Gefährlichkeit offensichtlich und auch den Statistikern bekannt ist. Um mit einem pointierten Satz zu den Wirkungen der PKS abzuschließen: Mit ihren Daten zu den „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ konterkariert die PKS ihr wichtigstes Ziel: Damit werden Verbrechen nicht bekämpft, sondern sie werden umgekehrt -in Gestalt von Gewalt gegen Ausländer stimuliert.
Rainer Geißler, Dr. phil., geb. 1939; Professor für Soziologie an der Universität -Gesamthochschule Siegen. Letzte Buchveröffentlichungen: Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur sozialstrukturellen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992; (Mitautor und Hrsg.) Sozialer Umbruch in Ostdeutschland, Opladen 1993; Soziale Schichtung und Lebenschancen in Deutschland, Stuttgart 19942; (Mitautor und Hrsg. zus. mit Bernhard Claußen) Die Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation, Opladen 1995 (i. E.).
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