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Die europäische Politik von Jacques Chirac: Auf dem Weg zu einer notwendigen Klärung? | APuZ 30/1995 | bpb.de

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APuZ 30/1995 Frankreich nach den Präsidentschaftswahlen: Chancen und Grenzen des Wandels Das deutsch-französische Verhältnis nach der historischen Zäsur des Jahres 1989 Eine Flucht nach vom ohne Ende? Die deutsch-französische Achse und die Vertiefung der europäischen Integration Die europäische Politik von Jacques Chirac: Auf dem Weg zu einer notwendigen Klärung? Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen 1945-1995

Die europäische Politik von Jacques Chirac: Auf dem Weg zu einer notwendigen Klärung?

Christian Lequesne

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Diese ohne großen zeitlichen Abstand nach seiner Wahl unternommene Analyse läßt den Schluß zu, daß mehrere Ungewißheiten bestehen, was Jacques Chiracs politische Optionen angeht. Es scheint so, als blieben die Reformabsichten, die der neue Präsident der französischen Republik hinsichtlich der Europäischen Union für notwendig erachtet, hinter denen zurück, die von der Partei des Bundeskanzlers Kohl gewünscht werden. Ohne eine Verwässerung der Europäischen Union in Form einer besseren Freihandelszone zu beschwören -wie manche britische Konservative es wünschen -, ist Jacques Chirac doch zurückhaltend gegenüber einer Verstärkung der Institutionen der Gemeinschaft, welche die Kompetenz des Staates zu sehr beschneiden würden. Deshalb ist es für die Zukunft der europäischen Integration wichtig, daß Bonn das Niveau seiner Ansprüche weiterhin hochhält -nicht nur, was die Realisierung der Einheitswährung, sondern auch was die Zusammenarbeit in Europa insgesamt

Übersetzung aus dem Französischen von Michelle Maurer-Wildermann. Bonn.

Es ist ein etwas waghalsiges Unterfangen, wenige Wochen nach seiner Wahl die europäische Politik des neuen französischen Präsidenten analysieren zu wollen. Zum jetzigen Zeitpunkt hat der Nachfolger Francois Mitterrands im Elysee-Palast in der Tat noch keine klare Position bezogen hinsichtlich der großen europäischen Ziele, wie etwa die Einheitswährung, die Regierungskonferenz 1996 oder die Erweiterung der Europäischen Union. Warum zögert Jacques Chirac, eine genauere Positionsbeschreibung zu geben, wie der Beitrag Frankreichs zur weiteren Gestaltung Europas auszusehen hätte? Und was wären die Konsequenzen dieser Ungewißheit, wenn sie fortdauern sollte?

I. Europa: Frankreich zwischen Weltoffenheit und nationaler Identität

Eine Besonderheit bei den Kampagnen für die Präsidentschaftswahlen vom Mai/Juni 1995 war die Art und Weise, wie die wichtigsten Kandidaten (E. Balladur, J. Chirac, L. Jospin) ihre Entscheidung für den Vertrag von Maastricht bestätigt haben -der hinsichtlich des Referendums vom September 1992 die französische Gesellschaft noch so stark gespalten hatte -, wobei sie sich jetzt darauf beschränkten, entweder nur allgemeine oder erstaunlich widersprüchliche Aussagen zu machen. Jacques Chirac hat sich besonders beim letzteren hervorgetan. So hat er mehrfach betont, daß er die Einheitswährung wünsche -selbstverständlich eher 1999 als 1997 -, andererseits aber im November 1994 zu einem Referendum für die dritte Etappe der Wirtschafts-und Währungsunion aufgerufen und damit die Verpflichtungen des Vertrages von Maastricht wieder in Frage gestellt. Abgesehen von einer gaullistischen Ausprägung, die Jacques Chirac nicht gerade prädestiniert hätte, eine zusätzliche europäische Vereinheitlichung zu wünschen, spiegelt diese widersprüchliche Stellungnahme die grundsätzliche Schwierigkeit wider, die die französische Gesellschaft und die politische Klasse nach dem Ende des kalten Krieges empfinden -nämlich zwei sich gegenseitig verstärkende Herausforderungen miteinander zu vereinbaren: die Weltoffenheit und die nationale Identität.

Seitdem die achtziger Jahre die französische Gesellschaft dazu gebracht haben, die Marktregeln mit weniger Vorbehalt als früher zu akzeptieren (im Grunde genommen unter dem Einfluß der Sozialisten), ist sie sich in der Tat bewußter geworden, daß ihre Zugehörigkeit zur Europäischen Union einer mittleren Macht wie Frankreich die Möglichkeit bietet, ihre Stellung innerhalb einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten weiterhin zu sichern. Aber indem das bisherige Verständnis von der „Staatsnation“ und der Souveränität nach und nach relativiert wird, hat der Prozeß der Internationalisierung eine Verstimmung innerhalb der französischen Gesellschaft hervorgerufen, und zwar gegenüber der wiederholten Infragestellung des Identitätsrahmens, wie ihn die „Staatsnation“ versinnbildlicht.

Mehr als jeder andere Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen ist Jacques Chirac mit diesem Dilemma konfrontiert. Dieses Dilemma findet man in den verschiedenen Prioritäten, die die Politiker, die ihn unterstützen, vertreten. Einerseits gibt es diejenigen, die -wie der Premierminister Alain Juppe oder der frühere Präsident Valery Giscard d’Estaing -die zukünftige Bestimmung Frankreichs innerhalb einer „Macht Europa“ sehen, die mit den notwendigen Mitteln ausgestattet wäre (Währung, Verteidigung), um seine Stabilität und seinen Rang innerhalb eines weltweiten Wettbewerbs zu sichern. Andererseits gibt es diejenigen, die -wie der Präsident der Nationalversammlung, Philippe Seguin -bemüht sind, die Integrationssymbolik eines republikanischen Staates zu schützen, dessen Ziel es sei, „zu vereinen oder zumindest zu versuchen zu vereinen“

Angesichts der zwei konkurrierenden Modelle der europäischen Politik -das des deutschen Bundeskanzlers Kohl und des britischen Premierministers John Major -ist die Unfähigkeit, eine klare Position zu beziehen, eine weitere Charakteristik des französischen Dilemmas Weltoffenheit versus nationale Identität, mit dem Jacques Chirac konfrontiert wird Vor allem bezieht man sich dabei auf die Vorschläge von Schäuble und Lamers vom 1. September 1994, die -davon gehen wir aus -die Zustimmung von Bundeskanzler Kohl erhalten haben. Sie betonen für die Europäische Union die Notwendigkeit einer Osterweiterung, wobei es aber neben Frankreich und Deutschland eine begrenzte Anzahl von Staaten geben sollte, die bereit sind, die Einheitswährung vorrangig zu realisieren und eine politische Integration innerhalb eines föderativen Rahmens mitzutragen. Des weiteren wird Bezug genommen auf die von John Major in seiner Rede von Leyden am 7. September 1994 gemachten Vorschläge. Diese betonen ebenfalls die Notwendigkeit einer Osterweiterung, aber eher im Rahmen eines europäischen Wirtschaftsraumes, wobei jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit hätte, sein Vorgehen selber zu bestimmen, zumal auf dem Gebiet der Außen-und Sicherheitspolitik.

Auch wenn Jacques Chirac sicherlich keine Europäische Union wünscht, die auf das Niveau einer verbesserten Freihandelszone degradiert ist, sind die Vorschläge von John Major insofern verlockend, als sie keine fundamentalen Reformen erfordern, die die staatlichen Kompetenzen grundlegend in Frage stellen, wogegen Helmut Kohls Positionen -trotz der vorsichtigeren Formulierungen beider CDU/CSU-Papiere vom 14. Juni 1995 im Vergleich zum Schäuble-Lamers-Papier vom 1. September 1994 -eine zeitlich bestimmte Annäherung an eine föderative Struktur unterstellen. Aber ist der Wunsch nach einer Einheitswährung mit den Deutschen mit der Billigung der britischen Ablehnung, die Institutionen der Europäischen Union zu stärken, zu vereinbaren? Dies ist die Frage, die sich Jacques Chirac und seine wichtigsten Berater im Moment noch konkreter zu beantworten weigern. Durch diese Weigerung entsteht für Deutschland die Notwendigkeit, klare, aber bestimmt formulierte Vorstellungen an die Adresse Frankreichs zu richten. Es wäre in der Tat gut, Jacques Chirac daran zu erinnern, daß Deutschland zwar sein politisches Handeln immer noch innerhalb der Europäischen Union abstimmt -das Schäuble-Lamers-Papier ist in dieser Hinsicht eindeutig -, es aber andererseits der einzige europäische Staat ist, der über eine ausreichende Macht verfügt, um eine eigene Diplomatie auf Weltniveau führen zu können, sollten seine Nachbarn ein Miteinandergehen ablehnen. Gleichzeitig wäre es angebracht, Jacques Chirac darauf aufmerksam zu machen, daß die amerikanische Diplomatie, wenn sie den Aufbau einer neuen Partnerschaft im Europa nach dem kalten Krieg plant, sich eher an Bonn und Moskau wendet als an London und Paris.

II. Der Test der Einheitswährung

Während der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht verteidigte Präsident Francois Mitterrand die Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion mit Vehemenz. Es lag ganz besonders an seiner Beharrlichkeit, daß in einem dem Vertrag von Maastricht hinzugefügten Protokoll über die Wirtschafts-und Währungsunion die „Unumkehrbarkeit“ des Weges der Union zur Einheitswährung, und zwar spätestens bis zum 1. Januar 1999, festgelegt wurde. Es gab zwei Gründe für diese französische Beharrlichkeit: Auf der wirtschaftlichen Ebene wurde die Schaffung einer einheitlichen Währung als logische Entsprechung zum Europäischen Binnenmarkt eingeschätzt. Auf der politischen Ebene wurde die beiderseitige Festlegung einer Europäischen Währung als die Möglichkeit gesehen, sich einseitigen Zinssatzentscheidungen der Bundesbank zu entziehen. Der politische Einsatz von Bundeskanzler Kohl zugunsten der Einheitswährung war und bleibt eine positive Tatsache für Frankreich. Dennoch ist es kein Geheimnis, daß dieser Einsatz für Helmut Kohl an zwei zwingende Bedingungen geknüpft ist: die Unabhängigkeit der zukünftigen Europäischen Zentralbank und die Aufrechterhaltung der im Vertrag von Maastricht vereinbarten volkswirtschaftlichen Konvergenzkriterien. Hans Tietmeyer, Präsident der Bundesbank, läßt keine Gelegenheit aus, seine Bedingungen sine qua non in Erinnerung zu bringen, wobei er des öfteren unterstreicht, daß die zukünftige Einheitswährung die Preisstabilität auf lange Sicht unbedingt garantieren muß. In dieser Hinsicht existiert ein grundlegender politisch-kultureller Unterschied zwischen den Deutschen und den Franzosen. Für die ersteren ist die Währung nicht nur ein wirtschaftliches Instrumentarium son29 dem auch ein gesellschaftspolitischer Faktor. „Nur unter der Bedingung einer gesunden Währung kann eine Gesellschaft mit einem hohen Lebensstandard und einer politischen Stabilität frei leben“, schrieb vor kurzem der Präsident der Bundesbank in der katholischen Zeitschrift „Etudes“ Überdies gilt die Inflation bei den Deutschen in Erinnerung an dunkle Zeiten ihrer Geschichte als etwas sehr Negatives. Für die Franzosen ist die Währung eher ein Wirtschaftsfaktor, und wenn die Inflation auch ein zu bekämpfendes Übel ist, so ist sie nicht mit einem absoluten sozialen Chaos gleichzusetzen.

Die politische Unmöglichkeit für Bundeskanzler Kohl, einer Aufweichung der in Maastricht definierten volkswirtschaftlichen Konvergenzkriterien im Hinblick auf das Zustandekommen der Einheitswährung 1999 -die Aufgabe des Zieljahrs 1997 scheint nach dem Treffen der europäischen Staats-und Regierungschefs in Cannes sicher zu sein -zuzustimmen, ist zugleich ein Zwang, der Premierminister Alain Juppe bei der Formulierung seiner Wirtschaftspolitik sicherlich nicht entgangen ist. In der Tat hat sich der Premierminister bei der Vorlage des Staatshaushaltes am 22. Juni 1995 vor der Nationalversammlung verpflichtet, die von Jacques Chirac während des Wahlkampfes gemachten sozialen Versprechungen (Arbeitsbeschaffung, Ausbildungsbeihilfen etc.) mit der im Vertrag von Maastricht verlangten Minderung des öffentlichen Defizits von derzeit 5, 7 Prozent auf drei Prozent des Bruttoinlandproduktes bis Ende 1997 in Übereinstimmung zu bringen. Für die kommenden Jahre ist der dem Premierminister zur Verfügung stehende finanzpolitische Spielraum um so geringer, als die Schätzungen der OECD eine Verlangsamung des Wachstums ab 1996 voraussagen. Alain Juppe läuft also Gefahr -wenn er im nächsten Jahr ein größeres Maßhalten verlangt -, die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung zu bremsen und mit denen auf Konfrontationskurs zu gehen, die -wie Philippe Seguin -dieses Verhalten als Verrat an den Versprechungen, die Jacques Chirac seinerzeit seiner Wählerschaft gemacht ansehen. Wenn öffentlichen hatte, die er aber Ausgaben nicht reduziert, gibt Alain Jupp nicht nur das Ziel sondern einer Einheitswährung auf, setzt sich auch kurzfristig Angriffen auf den Franc aus. Folglich ist es wünschenswert, daß das vom Premierminister im Staatshaushalt vorgeschlagene eingehalten weil wahr Gleichgewicht wird, es -scheinlich die einzige Möglichkeit für Frankreich ist, 1999 die Einheitswährung zu verwirklichen, ohne einen sozialen Bruch zu riskieren.

Eine positive politische Haltung Deutschlands ist wichtig für den Erfolg dieses Risikoprojektes. Aber wie kann man von der französischen Gesellschaft verlangen -die täglich mit der Arbeitslosigkeit konfrontiert ist -, daß sie sich der notwendigen Haushaltsdisziplin unterwirft, welche unter anderem dazu dient, das Ziel der Einheitswährung nicht aus den Augen zu verlieren, wenn man das Gefühl hat, daß der deutsche Nachbar sie eigentlich nicht will, obwohl er die im Vertrag von Maastricht festgelegten Bedingungen erfüllt? Hier hat die ablehnende Haltung des Bundesbankpräsidenten dem Plan der Kommission gegenüber, der die Einsetzung einer Einheitswährung, verteilt auf drei Jahre ab 1999, vorsieht (genannt die „kritische Masse“), Wasser auf die französischen Mühlen derjenigen geleitet, deren einziges Ziel es ist, daß der Staat das Projekt der einheitlichen Währung endgültig aufgibt. Die französische wie die deutsche Verantwortung ist, was den Erfolg der Wirtschafts-und Währungsunion betrifft, um so größer, als sich hier zeigen wird -viel mehr als bei der Regierungskonferenz von 1996 -, ob die beiden Länder die Fähigkeit haben werden, die Vertiefung der Europäischen Union mit einer begrenzten Anzahl von Staaten weiterzuführen, die dies wünschen und können.

III. Die Regierungskonferenz von 1996

Der Vertrag von Maastricht ist von seinen Unterhändlern als ein Prozeß konzipiert worden. In der Tat sehen seine Schlußbestimmungen (Artikel N, Paragraph 2) vor, daß eine Regierungskonferenz „ 1996 bestellt wird, um die Bestimmungen dieses Vertrages zu prüfen, für welche eine Überarbeitung vorgesehen ist“. Eine Frage wird den Mitgliedstaaten auf jeden Fall bei der Festlegung der Agenda nicht erspart bleiben: Besteht die Aufgabe ausschließlich in einer eventuellen Reform des Vertrages von Maastricht, oder gehört im Hinblick auf die Osterweiterung dazu auch die Reform des gemeinschaftlichen politischen Handelns auf einigen Gebieten, wie die gemeinsame Agrarpolitik oder die Regionalpolitik? Im letzteren Falle besteht die Gefahr, daß ein überfüllter Terminplan die Möglichkeit, zu einem Kompromiß zu gelangen, minimiert. Welche Positionen könnte Frankreich in einigen wichtigen Fragen einnehmen? Verteidigung Dieser Bereich ist wichtig, weil der Krieg in Jugoslawien gezeigt hat, daß die öffentliche Meinung in Frankreich sehr empfindsam auf die Tatsache reagiert, daß die Europäische Union weder über eine wirklich gemeinsame Außenpolitik noch über eine überzeugende Schlagkraft auf der militärischen Ebene verfügt. Gleich der Einheitswährung ist dieser Bereich ein Test, inwieweit Frankreich willens ist, das Projekt einer „Macht Europa“ gemeinsam mit Deutschland weiterzuführen. Überdies bietet er die Möglichkeit eines konstruktiven Austausches mit Großbritannien. Ohne die Annäherung der Positionen zwischen Paris und London hinsichtlich der europäischen Verteidigung überschätzen zu wollen, hat sich doch die Kooperation auf dem Gebiet der Verteidigung seit zwei Jahren stark entwickelt, sei es in der Waffenproduktion oder bei der Behandlung des Jugoslawienkonfliktes

Die europäische Verteidigung wirft zuallererst das Problem der Zukunft der Westeuropäischen auf, die Vertrages von Union hinsichtlich des Maastricht schon „mit der Ausarbeitung und Durchführung der von der Europäischen Union getroffenen Beschlüsse, soweit sie die Verteidigung betreffen“, beauftragt ist. Ist es also angebracht, die Annäherung von WEU und EU in Zukunft zu forcieren? Wie könnte diese Annäherung aussehen?

Das Dokument der CDU/CSU vom 14. Juni 1995 zu Fragen der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit schlägt die Entwicklung einer engen Kooperation zwischen der Europäischen Union und der WEU vor, wobei es langfristig das Ziel der Regierungskonferenz sein sollte, die Integration der WEU innerhalb der EU in einem festen Zeitrahmen zu ermöglichen. Kurzfristig könnte diese engere Zusammenarbeit bedeuten, daß alle Mitgliedstaaten der EU -auch die neutralen Staaten, die innerhalb der EU einen Beobachterstatus haben -beauftragt sein würden, über die Orientierung einer europäischen Verteidigung zu beraten, mit deren Durchführung eine mit verstärkter Einsatzfähigkeit versehene WEU betraut sein würde. Obwohl Frankreich bis jetzt keine endgültige Entscheidung in dieser Hinsicht getroffen hat, scheinen Äußerungen manche Jacques Chirac und Alain Juppe auf eine verstärkte Einsatzfähigkeit der -WEU hinauszulaufen, die gleichzeitig eine aktive Rüstungs-und Raumfahrtpolitik sowie die Errichtung einer europäischen multinationalen Streitmacht voraussetzt; das Eurocorps kann als erste Stufe einer zukünftigen europäischen Streit-macht betrachtet werden. Eine verstärkte politische Abhängigkeit der WEU von der Europäischen Union wäre unter bestimmten Bedingungen denkbar, auch wenn eine zeitlich festgelegte Fusion nicht auf der Tagesordnung der französischen Politik steht. Einerseits könnte Frankreichs Wunsch dahin gehen -das CDU/CSU-Papier schlägt es schon vor -, daß die Beschlüsse des Europäischen Rates, deren Ziel ein Militäreinsatz sein würde, nicht durch eine Staatenminderheit blockiert oder einem Staat, der sich nicht beteiligen möchte, aufoktroyiert werden können. Andererseits könnte Frankreich hinsichtlich des Entscheidungsprozesses die Begrenzung der Interventionsmöglichkeiten der Kommission und des Europaparlaments verlangen.

Sind, allgemein betrachtet, die französischen Positionen denjenigen nahe, die Großbritannien in einem Memorandum über die Fragen der europäischen Verteidigung im Hinblick auf die Regierungskonferenz am l. März 1995 vorgestellt hat? Dieses Dokument schlägt eine verstärkte Partnerschaft zwischen der WEU und der EU vor, strebt für die Verteidigungspolitik die Einrichtung einer Art vierten Säule innerhalb der Union an und möchte ebenfalls die WEU mit einem Rat, bestehend aus den Staats-und Regierungschefs der Mitglieds-, Beobachter-und assoziierten Staaten, versehen. Obwohl die Einbeziehung der Verteidigung in die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik der EU (GASP) den britischen Vorschlägen fremd ist, dürfte die Idee, die Interventionsmöglichkeit von Kommission und Europäischem Parlament zu beschränken oder auch das Gewicht der Neutralen im Rahmen einer abgestuften Teilnahme an den Entscheidungen des WEU-Rates zu begrenzen, in Paris nicht nur auf Mißfallen stoßen.

Das Ziel einer europäischen Verteidigung wird zwangsläufig auch die Frage der Kompatibilität mit dem Atlantischen Bündnis aufwerfen. Es könnte sein, daß Frankreich hinsichtlich dieser Frage eine weniger apodiktische Haltung seinen überzeugten „atlantischen“ Partnern gegenüber einnimmt als noch während der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht. Das Ende des kalten Krieges und das im Januar 1994 vom Atlantischen Bündnis gegebene „grüne Licht“ für die Entwicklung einer europäischen Verteidigungsidentität haben Frankreich in der Tat dazu gebracht, der Frage der notwendigen Komplementarität zwischen europäischer und atlantischer Verteidigung viel pragmatischer und offener gegenüberzustehen. Die Idee einer „transatlantischen Charta“ -Jacques Chirac erwähnte sie in seiner Rede zur Außenpolitik vom 16. März 1995 die die Solidarität mit den Vereinigten Staaten im Rahmen einer neuen Verteilung der Verantwortung festigen und die europäische Position auf dem internationalen Parkett sichern würde, ist ein Zeichen für eine solche neue außenpolitische Akzentsetzung.

Abgestufte Integration Seitdem die Staats-und Regierungschefs nach dem Gipfel von Kopenhagen im Juni 1993 regelmäßig ihre Verpflichtung zur Erweiterung der EU um die Staaten Mittel-und Osteuropas sowie um Zypern und Malta bekräftigen, ist die Verwirklichung des Plans einer Europäischen Union von 27 bis 30 Mitgliedstaaten für Anfang des nächsten Jahrhunderts durchaus denkbar. Aufgrund dieser neuen Größenordnung muß über ein neues Konzept der Europäischen Union nachgedacht werden, welches das Prinzip einer Differenzierung der politischen Aktivitäten systematisieren müßte. Auf jeden Fall sollte die Regierungskonferenz diesen Gedanken in ihre Arbeit mit einbeziehen, weil noch vor jeglicher Erweiterung die Fünfzehn über die Organisation der Wirtschafts-und Währungsunion sowie über die gemeinsame Verteidigung nachdenken werden müssen.

Es ist das Schäuble-Lamers-Papier, das in Frankreich im September 1994 eine öffentliche Debatte über eine abgestufte Europäische Union eingeleitet hat. Es gibt zwei Gründe, warum das Konzept eines „Kern-Europa“ in Frankreich nicht immer wohlwollend aufgenommen worden ist: Indem es sich vorwiegend an der Endrealisierung der Wirtschafts-und Währungsunion orientierte, begrenzte es zu sehr die Anzahl der dann wohl beteiligten Länder (Deutschland, Frankreich und die Beneluxländer). Andererseits vertrat es eine institutioneile Entwicklung, indem es auf das Modell des „Bundesstaates“ Bezug nahm (eine Idee, welcher die jakobinische politische Kultur wenig entspricht). Dieses Papier der CDU/CSU veranlaßte Frankreich, über solche Differenzierungen nachzudenken, wobei Premierminister Edouard Balladur sich ebenfalls über eine zukünftige Europäische Union, zusammengesetzt aus konzentrischen Kreisen, öffentlich geäußert hatte In seiner Rede vom 16. März 1995 über die Außenpolitik griff Jacques Chirac diese Idee auf und stellte eine Konstruktion vor, die drei Kreise bilden würde: 1. Der Kreis der eigentlichen Union, der alle Mitgliedstaaten der Union um eine Zollunion, eine gemeinsame politische Basis für die „Bereiche des Handels und der gemeinsamen Interessen“ sowie um eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik neu gruppieren würde. 2. Der Außenkreis der Partnerschaft, dem die Staaten angehören würden, die bevorzugte Verbindungen mit der Europäischen Union anstreben, obwohl sie aufgrund ihrer Größe, ihrer zu schwachen wirtschaftlichen Entwicklung oder aufgrund ihrer geographischen Situation (ganz oder teilweise außerhalb Europas) der Union nicht beitreten können. Wenn Jacques Chirac die Einbeziehung Rußlands sowie der Staaten Mittel-und Osteuropas in diesen Kreis klar bejaht, so ist es vorstellbar, daß die Mittelmeerstaaten wie die Türkei oder die Maghrebstaaten ebenfalls dazugehören könnten. Für Paris ist es in Zukunft wichtig, die Osterweiterung -die als vorteilhaft für Deutschland gilt -durch eine konsolidierte Mittelmeerpolitik auszubalancieren. 3. Der innere Kreis der „verstärkten Solidaritäten“. Die Pluralform ist insofern wichtig, als sie die Möglichkeit zeigt, daß wechselnde Formen der Kooperation sowohl mit den Betroffenen als auch in einzelnen Politikbereichen (Währung, Verteidigung etc.) gangbar sind.

Aber im Unterschied zum „Kern-Europa“ des Schäuble-Lamers-Papiers weist das Schema einer differenzierten Europäischen Union von Jacques Chirac keinen zentralen Kem von einigen Staaten auf, die zu weitergehenden Integrationsschritten willens bzw. in der Lage sind. Demnach kommen auch spezifische Institutionen für die Verwaltung der „verstärkten Solidaritäten“ nicht in Frage. Nach dem Modell der Wirtschafts-und Währungsunion im Vertrag von Maastricht sollten die Institutionen der Union je nach Kooperationsform verschiedene Kompetenzen übernehmen. Nähert sich hier Jacques Chirac nicht dem von John Major in seiner Rede von Leyden gelobten Modell eines flexiblen Europas?

Reform der Institutionen der Gemeinschaft Eigentlich würde die Perspektive der bevorstehenden Erweiterungen es nötig machen, daß das institutionelle System der Union einer tiefgreifenden Erneuerung unterzogen wird -wie dies die Diskussion über eine abgestufte Integration gezeigt Hat. Indes wird sich die Regierungskonferenz höchstwahrscheinlich mangels einer gemeinsamen Vision auf eine institutioneile Reparatur beschränken nach dem Motto: hier ein bißchen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat, dort etwas Mitentscheidung für das Parlament. Was könnten Frankreichs Vorschläge sein angesichts dieser zu erwartenden Politik pragmatischer Anpassung, die dem Wesentlichen ausweicht?

Generell möchte Jacques Chirac, daß die Gemeinschaftsmethode in dem Maße, wie die Union neue Aktivitäten entwickelt, nicht die intergouvernementale Methode in den Hintergrund drängt. Dies bedeutet, daß die Absicht, die Entscheidungsprozeduren der 2. und 3. Säule (Außen-und Sicherheitspolitik, innere und Justizangelegenheiten) zu Gemeinschaftsprozeduren zu machen, keine große Begeisterung in Paris auslösen würde. Gleichzeitig sollte nach französischen Vorstellungen die Kommission keine größeren Befugnisse haben als die, die ihr in den aktuellen Verträgen zuerkannt werden. Obwohl Frankreich sicherlich der Zuerkennung neuer Befugnisse für das Europäische Parlament wird zustimmen müssen, dürfte Paris bei seinen Partnern vor allem darauf drängen, daß die nationalen Parlamente stärker an der Rechtsetzung der Union beteiligt werden. In seiner außen-politischen Rede vom 16. März 1995 schlug Jacques Chirac insbesondere vor, daß die nationalen Parlamente Vorbehalte gegen Gemeinschaftsregelungen im Namen des Subsidiaritätsprinzips geltend machen können.

Für Jacques Chirac steht fest, daß die Rolle des Europäischen Rates und des Ministerrats aufgewertet werden sollte. Wenngleich Frankreich höchstwahrscheinlich verpflichtet sein wird, eine Ausweitung der im Rat bestehenden Mehrheitsregeln für die Annahme bestimmter Gemeinschaftspolitiken (im engeren Sinne) zu akzeptieren, dürfte es im Gegenzug darauf bestehen, daß bei der Stimmenverteilung das Gewicht der großen Nettobeitragsstaaten für das Budget der Union stärker berücksichtigt wird. Außerdem hat sich Jacques Chirac für die Einsetzung eines europäischen Ratspräsidenten ausgesprochen, welcher für drei Jahre vom Rat gewählt würde, um die Union zu repräsentieren, die Verteidigung seiner Interessen und die Förderung seiner Identität zu sichern. Damit wird eine Idee aus der Zeit des damaligen Präsidenten Giscard d’Estaing wieder aufgegriffen, mit dem Ziel, die äußere wie die innere Wahrnehmung der Europäischen Union zu verstärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Philippe Seguin, Ce que j’ai dit, Paris 1993, S. 13.

  2. Die Äußerung, die Jacques Chirac am 9. Juni 1995 im Elysee-Palast gegenüber John Major gemacht hat, ist aufschlußreich: „Da Europa das ist, was es ist, ist die Qualität der deutsch-französischen Beziehungen wesentlich für dessen Fortschritt, aber sie reichen nicht aus ... Europa werden wir nicht ohne England machen“ (Agence Europe, 13. 6. 1995). („L’Europe etant ce qu’elle est, la qualite de la relation franco-allemande est essentielle pour la faire progresser, mais eile n’est pas süffisante ... Nous ne ferons pas l’Europe sans l'Angleterre".)

  3. „II ne peut y avoir de socit libre offrant un niveau de vie lev et une stabilit politique qu’ä condition que la monnaie soit saine“, in: Etudes, Mai 1995, S. 602.

  4. Vgl. F.de La Serre/H. Wallace, Les relations francobritanniques dans L’Europe de l’apres-guerre froide, in: Les Etudes du CERI, Nr. 1, April 1995, S. 14f.

  5. Vgl. Gespräch mit Edouard Balladur im Figaro vom 30. 8. 1994.

Weitere Inhalte

Christian Lequesne, Dr. habil., geb. 1962; Mitarbeiter des Centre d’Etudes et de Recherches Internationales; Professor am Institut d’Etudes Politiques, Paris, sowie am College d’Europe, Warschau; Mitglied des wissenschaftlichen Direktoriums des Instituts für Europäische Politik, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Paris-Bruxelles. Comment se fait la politique europenne de la France, Paris 1993; (Mitautor) L’Union europeenne: ouverture ä l’Est?, Paris 1994.