I. Einleitung
„Die deutsch-französische Aussöhnung ist zu einer Binsenweisheit der internationalen Politik geworden.“ Diese Feststellung eines amerikanischen Kenners der deutsch-französischen Beziehungen stammt aus den späten siebziger Jahren Viele würden sagen, daß diese Charakterisierung heute, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mehr denn je zutrifft. Nun haben es Binsenweisheiten an sich, nicht nur als allgemein bekannt, sondern auch als unumstößlich zu gelten. Was genau aber ist an der deutsch-französischen Aussöhnung „binsenweise“ und was (vielleicht) nur ein Gemeinplatz, ein Urteil (oder Vor-Urteil gar), das lediglich immer wiederholt wird?
Zu den Binsenweisheiten im Hinblick auf die Vergangenheit gehören insbesondere drei Einschätzungen: (1) daß die Aussöhnung ganz wesentlich das Verdienst von Persönlichkeiten wie Jean Monnet, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle war; daß sich deutsch-französische Aussöhnung und europäische Integration wechselseitig bedingten; und daß die Aussöhnung erheblich zur Stabilisierung des gesamten westeuropäischen Raumes beigetragen hat 2. Von diesen Einschätzungen haben insbesondere die zweite und dritte Maxime über die Jahrzehnte hinweg eine enorme handlungsleitende Wirkung auf die deutsche und die französische Europapolitik entfaltet: Wer Westeuropa stabilisieren und als eine Zone des Friedens festigen wollte, der mußte die europäische Integration voranbringen; und wer die europäische Einigung voranbringen wollte, der mußte den Konsens und das Zusammenrücken von Franzosen und Deutschen suchen. Dies war -vereinfacht ausgedrückt -die zur europapolitischen Maxime geronnene Lehre der Vergangenheit.
Das Ende des Ost-West-Konflikts hat viele Maximen entwertet, diese jedoch anscheinend nicht -zumindest nicht, wenn man sich die Einschätzungen von Experten vor Augen hält 3. Hält dieses zentrale handlungsleitende Denkmuster deutscher Europa-und Frankreichpolitik jedoch einer nüchternen Analyse noch stand? Ist es wirklich angemessen, die Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit durch eine Bezugnahme auf Krieg und Nationalismus zu beschwören Und muß derjenige, der die Friedens-und Wohlstands-zone Westeuropas erhalten und nach Osten ausdehnen will, tatsächlich eine weitere Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen und der europäischen Integration anstreben? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages.
II. 1989 und die Folgen für die deutsch-französischen Beziehungen
Es gibt wohl kaum zwei ähnlich gewichtige Staaten, die durch ein derart engmaschiges Beziehungsgeflecht miteinander verbunden sind, wie Deutschland und Frankreich. Dies gilt nicht nur für die offiziellen Beziehungen auf Regierungsebene, sondern auch für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung. Dem Blick auf diese „objektiven“ Daten entgehen jedoch sehr grundlegende Unterschiede zwischen beiden Ländern -Faktoren, die für eine Beurteilung der Qualität und Stabilität ihrer Beziehungen nicht minder wichtig sind. Zum einen betrifft dies strukturelle Interessenunterschiede, zum anderen elementare Unterschiede in der politischen Kultur.
Die europäischen Umwälzungen seit 1989 haben am objektiven Tatbestand eines hohen Grades wechselseitiger Verflechtung wenig verändert. Wenn überhaupt, so wurde das Beziehungsgeflecht eher noch ausgebaut. Zugleich ist jedoch das Trennende zwischen beiden Ländern prononcierter zu Tage getreten. Die alte, vor allem von französischer Seite als solche wahrgenommene symmetrisch/asymmetrische Bindung zwischen der militärisch-politischen Großmacht Frankreich einerseits und der politisch-wirtschaftlichen Großmacht Bundesrepublik andererseits scheint dahin. Deutschland ist durch die Vereinigung nicht nur größer geworden, es hat auch durch den Rückzug der Roten Armee und die Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte, an denen auch Frankreich partizipierte, vor allem gegenüber seinem wichtigsten westeuropäischen Verbündeten einen überproportionalen Sicherheits-und einen erheblichen Status-gewinn zu verbuchen Daß vor diesem Hintergrund die europäische Integration für beide Länder noch mehr als früher zu einem Gradmesser ihrer bilateralen Beziehungen werden würde, war angesichts der Bedeutung, die Europa auf beiden Seiten zugemessen wurde, zu erwarten. Zu erwarten (oder zu befürchten) war allerdings auch, daß die Unterschiede in den seit den fünfziger Jahren sichtbar divergierenden Europakonzeptionen noch deutlicher hervortreten würden
Auf den ersten Blick schien die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen nach der Vereinigung diesen Erwartungen (oder Befürchtungen) nicht zu entsprechen. In unterschiedlichen Bereichen (z. B. äußere Sicherheit, Währungpolitik) ergriffen die Verantwortlichen in Bonn und Paris neue Initiativen, deren Reichweite teilweise auch kundige Beobachter überraschte Trotzdem vermochte die regelmäßige Zelebration der deutsch-französischen Freundschaft auf den Gipfeltreffen zwischen Helmut Kohl und Francois Mitterrand nicht zu überdecken, daß es unter der Oberfläche brodelte.
Das deutlichste Beispiel lieferte im vergangenen Jahr der höchste französische Repräsentant in Deutschland, Botschafter Francois Scheer, als er wiederholt öffentlich Klage führte über die mangelnde Verständigung zwischen beiden Staaten. „Seit 32 Jahren ... sind wir in Wirklichkeit nicht sehr weit fortgeschritten im Verständnis füreinander“, urteilte der Vertraute Mitterrands. Er äußerte die Befürchtung, daß sich als Folge der Umwälzungen in Europa die „nationale Komponente“ in beiden Ländern verstärken, Deutschland seine Westbindung lockern und aufgrund von unterschiedlichen europapolitischen Interessen Deutschlands im Osten und Frankreichs im Süden die deutsch-französische Rivalität wieder aufbre-chen könnte Von offizieller deutscher Seite wurden diese Vorwürfe zwar zurückgewiesen, die Verstärkung der bereits zuvor unternommenen Bemühungen um eine möglichst enge Abstimmung der deutschen und französischen EU-Präsidentschaft signalisierte jedoch, daß sich beide Seiten der Sensitivität dieser Problematik bewußt waren
Wie immer dieser Vorfall in seiner Bedeutung auch zu bewerten sein mag -jene Stimmen, die für die deutsch-französischen Beziehungen schwierigere Zeiten heraufziehen sehen, sind im vergangenen Jahr lauter geworden Gleichzeitig sind allerdings auch die politisch Verantwortlichen auf beiden Seiten verstärkt mit Forderungen hervorgetreten, die Beziehungen zwischen beiden Staaten -vor allem im Zusammenhang mit der für 1996 anstehenden Regierungskonferenz über die Europäische Union -weiter zu vertiefen. DDie Forderung im Schäuble-Lamers-Papier, daß Deutschland und Frankreich „den Kern des festen Kerns“ einer sich weiter vertiefenden Europäischen Union bilden und ihre Beziehungen „auf eine qualitativ neue Stufe stellen“ müßten, ist nur das prominenteste Beispiel einer weitverbreiteten Haltung innerhalb des politischen Establishments in Bonn
Welches Denkmuster sich hinter dieser Forderung verbirgt, soll im übernächsten Abschnitt eingehender beleuchtet und auf seine Stimmigkeit hin überprüft werden Zuvor ist jedoch eine Einordnung in den größeren historischen Kontext angezeigt.
III. Einbindungspolitik: Ein kurzer Rückblick auf eine vierzigjährige Erfolgsgeschichte deutscher Außenpolitik
Für die westdeutsche Nachkriegspolitik im allgemeinen und die Frankreich-und Europapolitik der Bundesrepublik im besonderen bestand die grundlegende außenpolitische Veränderung nach dem Zweiten Weltkrieg in einer aus Not und Einsicht geborenen Revision des dominanten machtstaatlichen Denkmusters: Der für das traditionelle Konzept des Gleichgewichts der Mächte zentrale Gedanke, daß staatliche Autonomie ein Ziel an sich sei und durch geschickte machtpolitische Strategien erreicht und gesichert werden könne, wurde durch die Vorstellung verdrängt, daß Aussöhnung, Vertrauensbildung und Sicherheit mit den westeuropäischen Nachbarn durch „Einbindung“ (im Sinne von wechselseitigen Souveränitätsverzichten) besser zu erreichen sei War diese Politik angesichts der westalliierten Kontrolle der Bundesrepublik anfangs alternativ-los, so galt dies für spätere Phasen, insbesondere ab den siebziger Jahren, weit weniger. Zu diesem Zeitpunkt hatten die außenpolitischen Eliten die Vorzüge dieser revolutionären Strategie jedoch in einem Maße schätzen gelernt, daß über alternative Strategien ernsthaft nicht mehr diskutiert wurde. Angesichts der immensen Vorteile, die die westdeutsche Einwilligung in die „Fesselung der deutschen Macht“ (Katzenstein) zeitigte -u. a. in der Herausbildung eines historisch einmaligen Maßes an Erwartungsverläßlichkeit innerhalb Westeuropas sowie enormer Effizienzgewinne durch wirtschaftliche und von Einflußgewinnen durch politische Integration war dies auch nicht weiter verwunderlich.
Die Last der geschichtlichen Erfahrungen und die Langzeitwirkung machtstaatlicher Denkmuster brachten es allerdings auch mit sich, daß diese Erfolge (zumindest in der Wahrnehmung der politisch Verantwortlichen) immer den Charakter des Zerbrechlichen und Reversiblen behielten. Dies zumal, als neben der Anerkennung, die den Konstrukteuren der deutsch-französischen Aussöhnung und der europäischen Integration für ihre weitsichtige Politik entgegengebracht wurde, immer auch die Erkenntnis mitschwang, daß ihr Erfolg zumindest insofern auch einer „günstigen“ internationalen Konstellation geschuldet war, als die gemeinsame östliche Bedrohung das Zusammenrücken wesentlich beförderte. Vor diesem Hintergrund entsprach es auch einer gewissen Logik, daß sich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Rückzug der Roten Armee die Stimmen jener mehrten, die vor heraufziehenden Belastungen für das deutsch-französische Verhältnis angesichts eines veränderten Gleichgewichts warnten.
IV. „Stillstand ist Rückschritt“: Das vorherrschende Denkmuster deutscher Frankreich-und Europapolitik
Die Politikempfehlung, die sich für die große Mehrheit des außenpolitischen Establishments aus diesen Befürchtungen aufdrängt, läßt sich zugespitzt folgendermaßen zusammenfassen: Ange-sichts der oben skizzierten Machtverschiebungen müßten Deutschland und Frankreich in allen Fragen, die Europa betreffen, noch enger zusammenrücken, wenn sie ihr Verhältnis dauerhaft festigen und auch weiterhin den Stabilitätsanker einer (zunehmend gesamt-) europäischen Friedens-und Wohlstandszone bilden wollen. Vor allem müßten sie sich zuerst auf die Vertiefung der Integration innerhalb der Europäischen Union und sodann auf die Erweiterung der Union nach Osteuropa verständigen und diese gemeinsam vorantreiben.
Die Einbeziehung der östlichen Nachbarstaaten Deutschlands sei deshalb so wichtig, weil sie „die einzige Lösung“ der dortigen Probleme darstelle und nur auf diesem Wege „ein Rückfall in das instabile Vorkriegssystem und die Rückkehr Deutschlands in die alte Mittellage verhindert werden kann“. Sollte dies nicht gelingen, „könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europas alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen“. Da dies aber weder wünschenswert noch realisierbar erscheine, habe Deutschland „ein fundamentales Interesse an der Osterweiterung der Union; aber ein ebensolches an ihrer vertiefenden Verfestigung, weil erst diese die Voraussetzung für die Erweiterung schafft. Denn ohne eine solche innere Stärkung könnte die Union die außerordentlichen Aufgaben der Osterweiterung nicht bewältigen und wieder zu einer lockeren Staatengruppierung zerfallen, die Stabilität nicht garantieren könnte.“ Nur wenn es gelinge, die EU zu vertiefen und zu erweitern, habe Deutschland „die Chance, zur ruhigen Mitte Europas zu werden“
Vor allem mit Blick auf Frankreich stelle sich heute, „nachdem der Osten als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt ist und der Bewegungsspielraum für Deutschland derselbe ist wie für alle seine westlichen Partner ... die alte Frage nach der Eingliederung der Stärke Deutschlands in die europäische Struktur ... in neuer, ja, in ihrer eigentlichen Bedeutung“ Kurzum, „die Flucht nach vorne“, die schon die Gründerväter der europäischen Integration für unausweichlich hielten, um Deutsche und Franzosen dauerhaft aneinander zu binden, müsse weitergehen.
V. Für oder wider die Härtung des Kerns?
Welche Grundannahmen über die Triebkräfte einzelstaatlicher Außenpolitik und die Dynamik zwischenstaatlicher Interaktion verbergen sich hinter dieser Politikempfehlung, und wie plausibel ist diese Argumentation mit Blick auf die heutige Situation in Europa im allgemeinen und die deutsch-französischen Beziehungen im besonderen? 1. Grundannahmen Wenn man das Schäuble-Lamers-Papier auf seine Grundannahmen reduziert, kommt das folgende Gedankengebäude zum Vorschein (1) Die Wurzel aller Übel der internationalen Politik liegt in der Autonomie der Staaten, d. h. ihres Freiraums, über die Gestaltung ihrer Beziehungen zu anderen Staaten eigenständig entscheiden zu können. (2) Ein Resultat dieser Atomisierung des internationalen Systems in autonome staatliche Einheiten besteht darin, daß jeder Staat für sich selbst sorgen muß und dem System damit eine strukturelle Konfliktträchtigkeit innewohnt. (3) Auf diese Konflikt-trächtigkeit des Systems können die Staaten grundsätzlich mit zweierlei Strategien reagieren: a) machtpolitischen, indem sie sich rüsten und/oder (unter weitestgehender Bewahrung ihrer Autonomie) mit anderen Staaten gegen tatsächliche oder potentielle Angreifer Bündnisse schließen, oder b) integrativen, indem sie sich unter partiellem oder vollständigem Verzicht auf Autonomie mit anderen Staaten (auch potentiellen Gegnern) zusammenschließen, übergeordnete Institutionen bilden und diese mit spezifischen Machtbefugnissen ausstatten. (4) Diese beiden Strategievarianten zeitigen unterschiedliche Ergebnisse: a) in der Summe führen die machtpolitischen Strategien von Staaten dazu, daß sich auf der Ebene des internationalen Systems aufgrund der Verteilung von Machtpotentialen (also Militär, Wirtschaft, Bevölkerung etc.) zwischen den Staaten spezifische machtpolitische Aggregatzustände (sogenannte „Machtgleichgewichte“) herausbilden, die im günstigen Fall eine fragile Stabilität bewirken, im ungünstigen Fall Rivalität oder gar Krieg heraufbeschwören; b) integrative Strategien führen demgegenüber dazu, daß die Wirkungsmacht des Sicherheits-dilemmas reduziert (im Falle vollständiger Integration sogar eliminiert) wird und die sich integrierenden Einheiten Krieg untereinander in dem Maße nicht mehr fürchten müssen, wie es ihnen gelingt, auf höherer Ebene ein effektives Gewalt-monopol zu institutionalisieren. 2. Kritik Die einzelnen Elemente dieses Gebäudes von Annahmen sind aus den einschlägigen Debatten über die sogenannte „realistische“ und-„liberale" Denkschule in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin „Internationale Beziehungen“ (IB) wohl vertraut Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, daß sowohl im Schäuble-Lamers-Papier wie auch in der breiteren Expertendiskussion über die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen und der europäischen Integration häufig Annahmen und Argumentationsmuster aus beiden Denkschulen vermischt werden, die nicht konsistent sind.
Aus realistischer Sicht ist beispielsweise die im Schäuble-Lamers-Papier geäußerte Befürchtung leicht nachvollziehbar, daß die Deutschen aufgrund des wiedergewonnenen „Bewegungsspielraums“ in Zukunft viel stärker versucht sein könnten, „die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditonellen Weise“ zu bewerkstelligen -d. h. ohne allzu große Rücksicht auf möglicherweise gegenläufige Interessen der westeuropäischen Partner. Wenig überzeugend ist demgegenüber die verordnete Therapie: Die Vorstellung, daß sich der deutsche Handlungsspielraum durch Integration wirksam einschränken ließe, erscheint aus realistischer Perspektive illusorisch, da gerade vergleichsweise mächtige Staaten (wie Deutschland heute) nur solchen Institutionalisierungsbestrebungen zustimmen werden, die zum einen ihre spezifischen Interessen widerspiegeln und zum anderen immer eine Rückzugsmöglichkeit offenlassen
Umgekehrt sind aus liberaler Perspektive jene Verweise nachvollziehbar, die die kooperationsfördernde Wirkung vergangener Integrationsfortschritte hervorheben. Diese hätten dazu beigetragen, daß vor allem aus deutscher Sicht „Hegemonie weder möglich noch erstrebenswert“ erschien und sich „die Kontrolle Deutschlands durch seine Partner mit der Kontrolle der Partner durch Deutschland“ wohltuend verband Wenn aber Integration solche Erfolge zu erzielen vermag und in Westeuropa zum Teil auch erzielt hat, warum sollte dies allein durch die neue „Bewegungsfreiheit“ Deutschlands gefährdet werden? Müßten nicht das Ausmaß der ökonomischen und gesellschaftlichen Verflechtung zwischen den Mitgliedstaaten der EU im allgemeinen sowie Deutschland und Frankreich im besonderen, ferner die gleichzeitige Einbindung beider Staaten in zahlreiche andere internationale Institutionen sowie die (auch außenpolitisch bedeutsame) feste Verankerung demokratischer Herrschaft und pluralistischer Interessenartikulation im jeweiligen innerstaatlichen Bereich -müßten also nicht alle diese Faktoren, die aus liberaler Perspektive kooperationsfördernd wirken, zum Anlaß genommen werden, die Entwicklungsperspektiven der deutsch-französischen Beziehungen gelassen-optimistisch einzuschätzen?
Ein Vergleich der Annahmen, die dem Schäuble-Lamers-Papier zugrunde liegen, mit den beiden dominierenden IB-Theorietraditionen zeigt, daß die daraus resultierende Politikempfehlung gewisse Inkonsistenzen aufweist und zugleich aus beiden Perspektiven wenig überzeugend ist. Auf einen knappen Nenner gebracht, ist die angemahnte Fortsetzung der Flucht nach vorne aus der Sicht des Realismus zwecklos, weil Staaten einander unweigerlich verfolgen und auch immer einholen werden. Für den Liberalismus ist hingegen die Flucht geradezu irrwitzig, weil alleine die Vorstellung als solche bereits pathologische Züge aufweist; in der Realität gibt es nämlich gar keinen Verfolger! 3. Folgerungen Was folgt daraus? Der Reiz der Theorie besteht darin, daß sie eine Entscheidung nicht erzwingt und in mancher Hinsicht sogar eine Vertagung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zuläßt. Demgegenüber ist es der Fluch der Praxis, daß sie zum Handeln heute verdammt ist. Ihre sich anschließende Frage an die Theorie ist daher, was insgesamt mehr überzeugt: der Realismus oder der Liberalismus? Die (absehbare) Antwort, daß sich dies nicht eindeutig klären lasse, ist (theoretisch) genauso vernünftig wie (praktisch) unbefriedigend. Die Frage der Praxis bleibt daher: Was sollen wir heute tun, und wie kann jene Wissenschaft, die sich mit internationaler Politik befaßt, dabei von Nutzen sein?
Eine mögliche Antwort, die die Grenze des wissenschaftlich Vertretbaren noch nicht zu überschreiten scheint, lautet, daß unter den heute gegebenen Umständen mehr denn je vom Denken und Handeln der politisch Verantwortlichen abhängt. Weil jede kluge Politik sich gegen die Unwägbarkeiten der Zukunft absichem will und sich einbilden muß, diese gestalten zu können, wird sie bemüht sein, sowohl die Radikalität, die in der Politik-empfehlung des Realismus steckt -daß es also nicht möglich sei, wirksame Vorkehrungen gegen (tatsächliche oder vermeintliche) deutsche Hegemoniebestrebungen in Europa zu treffen -, als auch jene, die in der Politikempfehlung des Liberalismus steckt -daß dies überhaupt nicht nötig sei -, für ihre praktischen Zwecke abzumildern.
Die daraus resultierende schlechte Nachricht wäre immer noch, daß es nicht einfach sein wird, die gewachsene Macht Deutschlands europaverträglich einzuhegen, vor allem dann nicht, wenn die außen-politischen Entscheidungsträger Deutschlands weiter der Auffassung zuneigen, daß ihnen aus dem Osten Unheil drohe und diese Gefahren nur (im Sinne eines „Entweder-Oder“) durch eine Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration oder einseitiges deutsches Handeln zu bewältigen seien. Die gute Nachricht lautet demgegenüber, daß nicht nur die gewachsenen engen Bindungen zwischen Deutschland und seinen westeuropäischen Partnern, sondern auch das (im Vergleich zur sowjetischen Bedrohung vor 1989) viel geringere Gefahrenpotential in der unmittelbaren östlichen Nachbarschaft ein größeres Maß an Gelassenheit angeraten erscheinen lassen, als es im letzten Herbst im Schäuble-Lamers-Papier anklang.
Vom Denken und Handeln der politisch Verantwortlichen hängt deshalb so viel ab, weil die vor-findbaren materiellen Rahmenbedingungen (bzw.deren Veränderung) gute Gründe für beide Theorien zu liefern scheinen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß sich die Machtposition Deutschlands im Verhältnis zu Frankreich verändert hat und gleichzeitig aus deutscher Sicht sowohl die Notwendigkeit als auch die Chance der Einflußnahme auf die Entwicklung in Mitteleuropa zugenommen hat. Genauso richtig ist aber, daß neben den neuen Gestaltungsmöglichkeiten im Osten Deutschlands das engmaschigere Netz an Verflechtungen mit Westeuropa fortbesteht und jede kluge Politik an einvernehmlichen Strategieabsprachen innerhalb der EU interessiert bleiben wird. Da also die materiellen Rahmenbedingungen keine bestimmte Verhaltensweise erzwingen, spielen heute ideelle Faktoren eine entscheidende Rolle, d. h. vor allem Vorstellungen davon, wie sich das relevante internationale Umfeld Deutschlands entwickeln könnte und sollte.
Wenn man die deutsch-französischen Beziehungen vor diesem Hintergrund betrachtet, geben die Entwicklungen des vergangenen Jahres zumindest jenen Anlaß zur Sorge, die einer Fortsetzung deutscher Einbindungspolitik höchste Priorität einräumen. In den Grundsatzreden zur deutschen Außenpolitik wird zwar wie früher die Verpflichtung zum Multilateralismus und zur Integration betont bei der Konkretisierung dieser Grundsätze im Hinblick auf spezifische Probleme gibt es jedoch vermehrt Anzeichen dafür, daß die außenpolitischen Entscheidungsträger in Bonn neuerdings wieder mit machtpolitischen Strategien liebäugeln.
In einer Regierungserklärung nach dem Abschluß der schwierigen Erweiterungsverhandlungen der EU im letzten Jahr sagte Außenminister Kinkel beispielsweise, daß Deutschland nicht gewillt sei, auf Dauer „östliches Grenzland der Europäischen Union (zu) bleiben“; vielmehr rücke es „auch politisch wieder in die Mitte Europas“. Die Bundesrepublik habe sich „nie mit dem Konzept einer Westunion oder einer Südwestunion identifiziert“, sondern sich stets zum ganzen Europa bekannt. Insofern sei auch die Norderweiterung der EU und der Beitritt Österreichs als „ein wesentlicher Schritt auf dem Weg (zu werten), die Balance in Europa wiederherzustellen“. All dies stelle „für Deutschland in seiner Mittellage einen nicht unerheblichen Gewinn“ dar
Aus dieser Wortwahl lassen sich zwar keine eindeutigen Rückschlüsse auf mögliche Verhaltensweisen deutscher Außenpolitik ziehen -allein die Tatsache, daß solche Worte in einer Regierungserklärung gebraucht werden, läßt aber aufhorchen. Für Realisten ist diese Entwicklung wenig überraschend, behaupten sie doch, daß sich außenpolitische Diskurse über kurz oder lang an sich verändernde materielle Rahmenbedingungen anpassen werden und machtpolitische Strategien sich dann durchsetzen, wenn Zwänge, die staatlichen Handlungsspielraum zuvor eingeengt hatten, wegfallen Die Anhänger einer dritten Denkschule neben Realismus und Liberalismus -die sogenannten „Konstruktivisten“ -entgegnen, daß sich darin eine verkehrte Sicht der Dinge spiegele und wir keineswegs die Opfer von internationalen Machtverschiebungen seien, sondern vielmehr die Gestalter der Zukunft aufgrund unserer Ideen, wie diese Zukunft aussehen soll
VI. Deutschland, Frankreich und die Osterweiterung: Die Verheißung eines Sieges Europas über sich selbst
Welche Entwicklungsperspektiven eröffnen sich vor dem Hintergrund dieser theoretischen Erörterung für die deutsch-französischen Beziehungen, und was ist zu tun? Die jüngsten Entwicklungen deuten an, daß sich die deutsche Außenpolitik in den nächsten Jahren nicht so sehr mit dem alten Prioritätenkonflikt zwischen den USA und Frankreich sondern eher mit einem Prioritäten-konflikt zwischen der Osterweiterung der EU einerseits und einer fortgesetzten engen Zusammenarbeit mit Frankreich andererseits konfrontiert sehen könnte. Angesichts der Tatsache, daß Frankreich (wie einige südeuropäische EU-Mitglieder auch) der Osterweiterung weit reservierter gegenübersteht als Deutschland, könnte sich diese Herausforderung in den kommenden Jahren nicht nur zu einer Schlüsselfrage der Europäischen Union, sondern auch zu einem Gradmesser der deutsch-französischen Beziehungen entwickeln
Hier einen für beide Seiten akzeptablen Interessenausgleich vorzunehmen wird allerdings deshalb nicht einfach sein, weil die gängigen institutionellen Arrangements, die eine unterstellte deutsche Vormachtstellung wirksam unterbinden könnten (also all das, was in der Regel unter der Rubrik „Vertiefung“ der EU summiert wird), zwar von deutscher Seite akzeptiert zu werden scheinen, in Frankreich jedoch aufgrund der damit verbundenen Abstriche am eigenen Souveränitätsdenken kaum auf Gegenliebe stoßen Dieses Phänomen, daß Frankreich trotz gewisser Zugeständnisse grundsätzlich an der „Vorstellung von der unaufgebbaren Souveränität der , Etat Nation“ festhält, „obwohl diese Souveränität längst zu einer leeren Hülse geworden ist“ erweist sich dabei aus deutscher Sicht als besondere Hürde.
Was ist zu tun? Zweierlei Einschätzungen leiten die nachfolgenden Empfehlungen an: erstens, daß jene deutschen Politiker, die auf eine schnellstmögliche Osterweiterung drängen, die Gefahren im Falle einer langsamen Integration (bzw.den Nutzen im Falle zügigen Handelns) überzeichnen; zweitens, daß „im Westen“ mehr zu verlieren als „im Osten“ zu gewinnen ist und daß daher jede Erweiterung der EU in erster Linie „westunionsverträglich“ (und d. h. vor allem zwischen Deutschen und Franzosen einvernehmlich) gestaltet werden muß.
Wenn diese Einschätzungen richtig sind, dann folgt daraus vor allem, daß der Elan, den die Bundesregierung in bezug auf die Ausdehnung westlicher Institutionen wie EU und NATO nach Mitteleuropa entwickelt hat, gedrosselt werden muß. Dies dürfte insofern nicht allzu schwierig sein, als die angeblichen Risiken, die für Deutschland mit seiner Situation als „östliches Grenzland“ von EU und NATO verbunden sind, zumindest in der derzeitigen Situation wenig plausibel erscheinen und in einer nüchternen Analyse deutlich relativiert werden müssen.
Hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen wäre des weiteren darauf zu achten, daß im Zuge der demnächst wahrscheinlich erfolgenden Revision des Elysee-Vertrages von 1963 besonderer Wert auf solche Elemente gelegt wird, die dem von beiden Seiten beklagten Zustand, daß das Verständnis füreinander noch „nicht sehr weit fortgeschritten“ ist (Scheer), entgegenwirken. Entscheidend dürfte dabei sein, daß angesichts der vorhandenen und sich abzeichnenden Konflikte im deutsch-französischen Verhältnis solche Institutionen und Foren bereitstehen bzw. geschaffen werden, die für eine frühzeitige Problemerkennung und eine rationale Konfliktbearbeitung notwendig sind. Trotz der großen Anzahl von deutsch-französischen Institutionen gäbe es hier sicherlich noch Nachholbedarf. Dabei wäre besonders darauf zu achten, daß solche formelle und informelle Formen des politischen und gesellschaftlichen Dialogs gefördert werden, die eine offene Thematisierung unterschiedlicher Sichtweisen und der ihnen zugrunde-liegenden Annahmen ermöglichen.
Wenn diese Chance genutzt würde, dann wäre ein wichtiger Schritt auf jenem Weg getan, den Mitterrand in einer seiner letzten Reden als französischer Staatspräsident als sein „Vermächtnis“ bezeichnete: Europa zum „Sieg über sich selbst“ zu verhelfen