Das deutsch-französische Verhältnis der Gegenwart, das sich unter den Prämissen der Nachkriegsordnung (die doppelte deutsche und europäische Teilung zwischen zwei ideologisch und machtpolitisch antagonistischen Blöcken) herausgebildet hat, blieb bis zum Wendejahr 1989/90 in seiner den Bilateralismus prägenden Arbeitsteilung an die Bedingungen des Ost-West-Konflikts gebunden. Während sich Frankreich das Feld der Außenpolitik vorbehielt, war die Bundesrepublik für das Ökonomische zuständig. In dem Maße wie die „geopolitische Zäsur“ die die Überwindung der Nachkriegsordnung darstellt, auch die bisherigen Rahmenbedingungen des deutsch-französischen Bilateralismus und die ihm zugrunde-liegende Arbeitsteilung tangiert, stellt sich die Frage der Funktionsfähigkeit dieses Bilateralismus unter den neuen Prämissen. Insbesondere die mit der Verwirklichung der deutschen Einheit und dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung obsolet gewordene Grundlage der deutsch-französischen Arbeitsteilung und die notwendig gewordene deutsche Abkehr von der außenpolitischen Abstinenz der Nachkriegszeit berühren zutiefst ein bilaterales Verhältnis, das auch schon in der Vergangenheit von Spannungen und Krisen geschüttelt wurde, sobald sich die Bundesrepublik auf das Feld der. Außenpolitik vorzuwagen versuchte.
Vier historische Phasen lassen sich bis 1989 im deutsch-französischen Verhältnis unterscheiden; sie werden in den folgenden Kapiteln im Überblick charakterisiert: 1. Eine Phase der Vorbereitung in den Nachkriegsjahren und im Verlauf der fünfziger Jahre, in der die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich in die Wege geleitet und die Basis für die europäische Integration gelegt wird. 2. Die initiative Phase französischer Außenpolitik in der Ära de Gaulle, die den Bilateralismus begründet. 3. Eine passive Phase französischer Politik unter den Nachfolgern de Gaulles im Zeichen der deutschen Ostpolitik und intersystemarer Entspannungsbemühungen, in der die Erhaltung des europäischen Status quo das Ziel Frankreichs ist. 4. Die Phase der Reaktivierung des Bilateralismus und Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses in der Ära Mitterrand.
I. Die Phase der Aussöhnung und die Grundlegung der europäischen Integration
Wenn Frankreich in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch lange an den Zerstückelungsplänen des besiegten Deutschlands festgehalten hatte, die die „Großen Drei“ schon im Vorfeld der Potsdamer Konferenz beiseite gelegt hatten, ferner den aus dem Potsdamer Abkommen hervorgegangenen Kontrollrat durch eine ausgesprochene Obstruktionspolitik nachhaltig blockiert hatte, so sorgten doch bald unter dem Einfluß der zunehmenden Ost-West-Konfrontation die deutsche Spaltung und die Blockbildung in Europa für eine Anpassung der französischen Deutschlandpolitik an die der Westalliierten. Mit der Hinwendung zur europäischen Lösung sollte Frankreich dann versuchen, den drohenden Verlust an Kontrolle über Westdeutschland zu kompensieren.
Der vom französischen Plankommissar Jean Monnet entworfene Schuman-Plan des Jahres 1950 -Grundlage der Montan-Union und später der EWG -strebte nicht nur an, durch die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl die Überlegenheit der westdeutschen Stahlindustrie aufzufangen und -abgesehen vom wirtschaftlichen Nutzen -die Sicherheit vor Deutschland zu verbessern. Der Schuman-Plan vermochte überdies zweierlei: den französischen Führungsanspruch in Europa zu retten und andererseits durch die Einbindung Q 0 Deutschlands in den übergreifenden Rahmen des europäischen Einigungsprozesses das Ziel der „Kontrolle durch Integration“ zu verfolgen.
Aus deutscher Sicht wiederum beinhaltete der Schuman-Plan eine unerhörte Wiederaufwertung und die Wiedereinführung in die internationale Gemeinschaft. Für Konrad Adenauer war die Aussöhnung mit Frankreich, die für ihn eine „axiomatische Bedeutung“ besaß der Anker der Westbindung der jungen Bundesrepublik und der Eckstein auf dem Weg nach Europa.
Wenngleich Mißtrauen oder gar Angst vor dem deutschen Partner auf französischer Seite -wie die Krise der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in Erinnerung rufen sollte -noch eine Komponente der deutsch-französischen Beziehungen darstellte, so wurde unter der Macht des Faktischen, wozu sowohl das dichter werdende Netz wirtschaftlicher Beziehungen als auch der sanfte Druck der amerikanischen Vormacht zählten, die deutsch-französische Annäherung das Kernstück jenes sich im Windschatten des Ost-West-Konflikts herausbildenden westeuropäischen Mikrokosmos.
II. Die Entstehung des Bilateralismus in der Ära de Gaulle
Die Rückkehr General de Gaulles an die Macht im Mai 1958 brachte eine bedeutende Akzentverlagerung für das deutsch-französische Verhältnis. Nach dem Scheitern der von de Gaulle zunächst angestrebten Umgestaltung der Bündnisstrukturen mit dem Ziel, Frankreich als dritte westliche Ordnungsmacht anerkannt zu sehen (Trilateralismus bzw. Tripartismus), und nach dem darauf folgenden, ebenfalls fehlgeschlagenen Versuch, die amerikanische Vormachtstellung im Bündnis durch die Schaffung einer politischen und militärischen Union Westeuropas (Fouchet-Pläne) zurückzudrängen, wandte sich de Gaulle dem Bilateralismus mit der Bundesrepublik zu.
Da nach dem Scheitern des Tripartismus klar-geworden war, daß Frankreich seinen Großmachtstatus nur zurückgewinnen würde, wenn es ihm gelänge, das der europäischen Sicherheit zugrundeliegende System beider antagonistischer Bündnisse mit ihrer jeweiligen Vormacht zu überwinden, strebte de Gaulle in einer globalisierten Strategie danach, eben diese Folgen des Kalten Kriegs abzubauen. Zielten die Fouchet-Pläne darauf, eine von den USA getrennte politische und militärische Union Westeuropas herauszubilden, die nach der ebenfalls angestrebten Lockerung des Warschauer Pakts in eine gesamteuropäische Lösung münden sollte, in der sich Frankreichs Führungsanspruch hätte verwirklichen lassen können, so rückte nun nach dem Scheitern der europäischen Schiene die Bundesrepublik zum Hauptpartner Frankreichs in dem Maße auf, wie de Gaulle die den Fouchet-Plänen zugrundeliegende Konzeption auf die deutsch-französischen Beziehungen übertrug.
Zwar kam in der gaullistischen Vorstellung der Bundesrepublik nicht der gleiche weltpolitische Status wie Frankreich zu, doch auch in der Rolle des Juniorpartners war Adenauer für die Über-windung der Folgen des Kalten Kriegs zu gewinnen. Zudem war dieser über die Kennedy-Administration irritiert; die McNamara-Doktrin der „flexiblen Erwiderung“ ließ bei ihm Zweifel an der US-Nukleargarantie aufkommen, und in der Berlin-Krise erschienen die Amerikaner unentschlossen.
Doch gerade die Übertragung der gaullistischen Ambitionen auf den deutsch-französischen Bilateralismus sollte dessen Grenzen aufzeigen, und zwar dort, wo er an die deutsche Frage rührte. In seinem Streben, die amerikanische Vormachtstellung zurückzudrängen und die Bundesrepublik -in der Hoffnung, die anderen EWG-Mitglieder würden sich dann anschließen -zu einem „Weg von den USA, hin zu Frankreich“ zu bewegen (davon zeugte das Kernstück des Elysee-Vertrags, die bilaterale militärische Kooperation, die, wäre der Vertrag ohne Abstriche erfüllt worden, eine Abkehr der Bundesrepublik von ihren bisherigen sicherheitspolitischen Prioritäten bedeutet hätte), konnte de Gaulle nur mit der deutschen Frage locken. Ohnehin wäre die deutsche Wiedervereinigung Voraussetzung oder Folge eines getreu seinem gesamteuropäischen Konzept dem Machtbereich der Blöcke entzogenen Europas gewesen. Doch wäre ein wiedervereinigtes Deutschland -selbst in der Form einer lockeren Konföderation, wie es de Gaulle vorschwebte -wohl kaum in der Rolle des Junior-partners eines die europäische Führung beanspruchenden Frankreichs geblieben. An diesem Punkt kristallisierte sich jenes französische Dilemma, das Paris auch künftig dazu führte, ideell zwar für die Wiedervereinigung einzutreten, jedoch nur so lange, wie diese nicht wirklich auf der Tagesordnung stand.
Angesichts der nur vagen Hoffnung, de Gaulle würde sich unter bestimmten Umständen für eine Wiedervereinigung einsetzen, und gleichzeitig von Washington unmißverständlich vor die Wahl gestellt, sich zwischen Frankreich und den USA zu entscheiden, setzte der Bundestag dem Elysee-Vertrag eine Präambel voran, die die atlantische Grundorientierung der Bundesrepublik erneut betonte und im übrigen ein Inventar all dessen darstellte, was den gaullistischen Zielsetzungen zuwiderlief Die gaullistische Deutschlandpolitik geriet wiederum aufgrund der Unlösbarkeit ihres Dilemmas in jenen „Byzantinismus“ (Stanley Hoffmann), der in seiner Vielschichtigkeit und seinen konträren Rückversicherungsversuchen (den Deutschen gegenüber hält man am Ideal der Wiedervereinigung fest, damit sie nicht separat den Dialog mit Moskau suchen, den anderen Mächten gegenüber deutet man an, daß alles unter Kontrolle bleiben wird) den Handlungsspielraum bis zur Handlungsunfähigkeit einengte
Damit war nicht nur die verteidigungspolitische Kooperation -wenn man von einigen Wiederbelebungsversuchen auf der symbolischen Ebene in den achtziger Jahren absieht -aus dem Bilateralismus ausgeklammert; es war auch klargeworden, daß der Bilateralismus seine Grenzen dort finden würde, wo er an die europäische Nachkriegsordnung rühren könnte. Implizit waren damit seine Prämissen deutlich geworden: Es waren diejenigen des Ost-West-Gegensatzes, in dessen Windschatten sich die europäische Konstruktion konstituieren und Frankreich -durch seine Nuklearfähigkeit legitimiert und durch die deutsche Teilung dazu in die Lage versetzt -seinen Führungsanspruch sichern konnte. Nach dem Rücktritt de Gaulles 1969 zielte die französische Außenpolitik auf die Erhaltung des europäischen Status quo sowie auf die Konsolidierung des Bilateralismus in der Form einer Arbeitsteilung, wonach die zunehmend wirtschaftsstärkere Bundesrepublik für die Wirtschaftspolitik zuständig ist und Frankreich sich das Feld der Außenpolitik vorbehält.
III. Die Erhaltung des Status quo als Ziel französischer Außenpolitik
Daß der deutsch-französische Bilateralismus an seine Grenzen stieß, wenn die Bundesrepublik sich aus ihrer vom Ost-West-Konflikt auferlegten Abstinenz in der Außenpolitik zu emanzipieren versuchte und initiativ wurde, zeigt jene Krise in den bilateralen Beziehungen, die im Zeichen der Ostpolitik auftrat. Zwar war die durch den nach der Kuba-Krise einsetzenden intersystemaren Entspannungsprozeß ermöglichte Ostpolitik der Brandt-Scheel-Regierung eher ein Versuch, in dem durch die Entspannung erweiterten Handlungsspielraum der Bundesrepublik eine Erleichterung in den Ost-West-Beziehungen, insbesondere in den innerdeutschen Beziehungen zu erreichen, doch wurde sie in Paris als verkappte Wiedervereinigungspolitik verstanden. Paris fürchtete, daß sich eine Lösung der deutschen Frage im Einvernehmen zwischen Bonn und Moskau oder im Einvernehmen zwischen den Weltmächten anbahnen könnte. Nach dem Brandt-Breschnew-Treffen von Oreanda auf der Krim (1971) erschien in Paris wieder jenes „Rapallo-Gepenst“, das fortan bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederkehren sollte. Das seit 1945 stets latente französische Trauma eines deutschen Arrangements mit der Sowjetunion um der Wiedervereinigung willen, das sich in einer Neutralisierung des gesamten Deutschlands -so die französische Befürchtung -hätte verwirklichen lassen, hätte sowohl die seit dem Scheitern der gaullistischen Politik nun in der Erhaltung der Nachkriegsordnung liegende Voraussetzung für die französische Führungsrolle in Westeuropa als auch die für die französische Sicherheit unerläßliche Funktion des NATO-verteidigten deutschen Vorfelds ins Wanken gebracht. In der Tat brauchte Paris die Erhaltung des europäischen Status quo sowohl für seine politischen Führungsambitionen als auch für seine Sicherheit, denn der französische Sonderstatus im Bündnis, der Frankreich sozusagen einen „Trittbrett-FahrerVorteil“ (W. Schütze) garantierte, war nur in dem Maße praktikabel, wie Frankreich kein „Frontstaat“ war und das westdeutsche Vorfeld unter dem amerikanischen Schutzschild für Frankreich die Funktion des „Glacis“ erfüllen konnte. Zwar hatten Pompidou und -vielleicht noch dezidierter -Giscard d’Estaing, die beiden Nachfolger de Gaulles, das von de Gaulle als Hebel der Überwindung des Blocksystems und der Wieder-gewinnung des Großmachtstatus Frankreichs -also als dynamisches Element -konzipierte besondere Verhältnis zur Sowjetunion zu einem Instrument der Rückversicherung gegen Veränderungen im europäischen Status quo -also zu einem statischen Element -umdefiniert. Danach war die Sowjetunion für Frankreich zum Garanten des europäischen Status quo -und damit de facto auch der deutschen Teilung -geworden. Insbesondere Giscard d’Estaing, der kaum weniger als Pompidou eine Änderung des europäischen Status quo fürchtete und im Fortdauern der deutschen Teilung die Grundlage der deutsch-französischen Beziehungen sah, strebte zur verstärkten Garantie der Nachkriegsordnung eine Neubelebung der in der Amtszeit Pompidous etwas lockerer gewordenen Zusammenarbeit mit Moskau an. Indes und trotz aller Rückversicherungsgarantien durch die „schöne und gute Allianz“ (de Gaulle) fürchtete Paris stets ein deutsch-sowjetisches Arrangement genauso, wie es auch ein Arrangement beider Supermächte fürchtete, das die politische Landkarte Europas auf seine Kosten hätte verändern können.
Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte sich Pompidou der beginnenden KSZE gegenüber äußerst zurückhaltend gezeigt, denn es galt in Paris die Überzeugung, daß die Bundesrepublik stets der Nutznießer der Entspannung sein würde. Sein Nachfolger Giscard d’Estaing hatte sich zur Helsinki-Schlußakte von 1975 nur deswegen bekannt, weil er darin eine definitive Festschreibung der europäischen Landkarte sah. Vor diesem Hintergrund war die deutsche Ostpolitik geeignet, den der Bundesrepublik gegenüber überaus mißtrauischen Pompidou zutiefst zu beunruhigen. Die Krise in den bilateralen Beziehungen legte sich erst, als die deutsche Ostpolitik in die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), welche Frankreich ansonsten nicht sonderlich interessierte, eingebettet und damit in den EG-Rahmen nach dem Motto einer „Kontrolle durch Integration“ eingebunden wurde.
Die Krise hatte aber gezeigt, daß die Grenzen des reibungslosen Funktionierens des deutsch-französischen Gespanns nicht zuletzt dort lagen, wo die stillschweigende „Arbeitsteilung“ in Frage gestellt werden konnte; anders ausgedrückt: daß diese Grenzen durch die Bedingungen des Ost-West-Gegensatzes gesetzt waren. Jede nicht von Frankreich initiierte Bewegung im Ost-West-Verhältnis ließ französische Befürchtungen aufkommen, daß sie die politischen Rahmenbedingungen sowohl für die französische Rolle in Westeuropa als auch für die französische Sicherheit grundlegend verändern könnte.
Wenngleich der Imperativ der Aufrechterhaltung dieser Rahmenbedingungen dazu führte, daß nicht multilateral eingebundene deutsche außen-politische Initiativen schnell in den Verdacht einer Wiederauflage von Rapallo gerieten und dadurch an das Fundament des deutsch-französischen Bilateralismus rührten, oszillierten die französischen Befürchtungen eigentlich zwischen zwei entgegengesetzten Polen: Quasi antagonistisch zu der befürchteten Neutralisierung der Bundesrepublik kam etwa ab Mitte der siebziger Jahre die Sorge auf, daß die deutsche Wirtschaftskapazität zu einer wirtschaftlichen Dominanz der Bundesrepublik in der EG führen könnte.
Die Bundesrepublik hatte die Ölkrise des Jahres 1973 viel schneller als Frankreich überstanden, was eine zunehmende wirtschaftliche Disparität zwischen den beiden Ländern erkennbar werden ließ. Unter den Prämissen des Kalten Kriegs waren die Machtattribute jedoch vorwiegend militärischer Natur. Nicht die Wirtschaftskapazität, sondern die Nuklearfähigkeit vermochte den französischen Führungsanspruch in der EG -und darüber hinaus sein Mitgestaltungsrecht in Europa -zu legitimieren. Durch diese Ausgleichs-fähigkeit der Nuklearkapazität konnten die immer wiederkehrenden französischen Befürchtungen vor einer deutschen wirtschaftlichen Dominanz -die am Ende der Amtszeit Giscard d’Estaings einen vorläufigen Höhepunkt erreichten -die bilateralen Beziehungen weniger beeinträchtigen als die außenpolitischen Emanzipationsversuche der Bundesrepublik. Doch die Tatsache, daß das Gleichgewicht in den bilateralen Beziehungen so eindeutig an die durch die Prämissen des Kalten Kriegs begründete Ausgleichsfähigkeit der wirtschaftlichen durch die nukleare Kapazität gebunden war, machte dieses Gleichgewicht wiederum von der Aufrechterhaltung dieser Prämissen abhängig. Gerade diese Abhängigkeit tangierte in der nachfolgenden Phase der achtziger Jahre erneut die Grundlage des Bilateralismus, als infolge der Reformpolitik in der Sowjetunion und eines neuen Einverständnisses zwischen den Weltmächten von französischer Seite eine Entnuklearisierung der doppelten Teilung befürchtet wurde -und dies erst recht nach der Zäsur des Jahres 1989.
IV. Reaktivierung des Bilateralismus und Beschleunigung der europäischen Integration
Mit den zunächst durch die Nachrüstungsdebatte eingeleiteten und dann vor dem Hintergrund der Umwälzungen im Osten Europas mit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung endenden achtziger Jahren entwickelte sich eine neue Phase in den deutsch-französischen Beziehungen, die einige Parallelen mit der Zeit der Ostpolitik -wenngleich auch bei einem fundamentalen Bruch in der traditionellen französischen Außenpolitik -aufweist: Mitterrand, der sein Amt antrat, als die Nachrüstungsdebatte das Bündnis erschütterte, brach zunächst mit dem Vorsatz aller seiner Vorgänger seit de Gaulle, sich in eine interne Strategiediskussion des Bündnisses nicht einzumischen, und trat zugunsten der NATO-Nachrüstung ein. Die in der Bundesrepublik aufflammende Nachrüstungsdebatte hatte die seit der Zeit der Ostpolitik in den Hintergrund getretenen französischen Befürchtungen vor einem deutschen Abdriften erneut belebt. Man fürchtete wieder, daß unter dem Druck der Friedensbewegung und eines überparteilichen Widerstands die Bundesrepublik ein Arrangement mit der Sowjetunion suchen könnte: daß also um den Preis der „Neutralität“, gar einer „Finnlandisierung“, die Bundesrepublik in eine Lage geraten würde, die den europäischen Status quo ändern und Frankreich seines deutschen Vorfeldes berauben würde, oder wie es Ramond Aron 1983 kurz vor seinem Tode ausdrückte: „Zum ersten Mal seit langer Zeit in der Geschichte haben die Franzosen nicht Angst vor der Stärke der Deutschen, sondern davor, daß sie schwach werden könnten.“ Auch der in Deutschland zum ersten Mal artikulierte Anti-Amerikanismus ließ Paris fürchten, daß ein „Nationalpazifismus“ oder „Nationalneutralismus“ indirekt die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung bringen könnte. Nicht von ungefähr bemerkte ein Berater Mitterrands, „mit der NATO-Nachrüstung sei die deutsche Frage für die kommenden 20 Jahre gelöst“.
Die französische Befürchtung, die Sowjetunion könnte nun „die deutsche Karte“ spielen und eine Wiedervereinigung um den Preis der deutschen Neutralität anbieten, ließ Mitterrand auf die eingespielte Tradition der Erhaltung des europäischen Status quo durch das Einvernehmen mit Moskau verzichten und statt dessen die verstärkte Verankerung der Bundesrepublik im Westen durch die Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses und eine Aktivierung des Bilateralismus anstreben. Der Versuch, auch die seit dem Elysee-Vertrag in Klammern gesetzte bilaterale militärische Zusammenarbeit (Gründung der deutsch-französischen Brigade und des Verteidigungsrates) zu aktivieren, fand aber erneut seine Grenzen darin, daß -trotz der Annäherung Frankreichs an das Bündnis infolge der Nachrüstungsdebatte und des französischen Verzichts auf die Rolle Moskaus als Garant des europäischen Status quo -die Inkompatibilitäten zwischen dem nicht integrierten Frankreich und der vollintegrierten Bundesrepublik nach wie vor bestanden. Eine weitere Einschränkung lag darin, daß Frankreich weder bereit noch in der Lage war, eine nukleare Zusatzgarantie zu bieten, so daß die Belebung der militärischen Zusammenarbeit notwendigerweise auf die symbolische Ebene verschoben werden mußte.
Die Reformpolitik Gorbatschows und vor allem der INF-Vertrag über den Abbau der Mittelstrekkenraketen zwischen den Weltmächten sollte dann wieder einmal die alten französischen Ängste, wie sie sich auch schon hinsichtlich der Ostpolitik artikuliert hatten, in den Vordergrund treten lassen. Erneut fürchtete Frankreich, die Bundesrepublik könnte als Gewinner der neuen Entspannung eine Ostpolitik auf eigene Faust treiben, und vor allem, Paris würde infolge des als „Entnuklearisierung“ Europas -d. h. im französischen Verständnis als Entnuklearisierung der deutschen Teilung -verstandenen INF-Vertrags seinen Mitgestaltungsanspruch verlieren und die deutsche Frage wieder aktualisiert werden. Als sich dann infolge der Umwälzungen in Osteuropa die Wiedervereinigung anbahnte, geriet die französische Diplomatie in Kurzatmigkeit. Mitterrand versuchte mit seinem Besuch in Kiew im Dezember 1989 auf die Rolle der Sowjetunion als Garant des europäischen Status quo zurückzugreifen, kollidierte aber mit den anders gelagerten Interessen Gorbatschows. Auch seine versuchweise Aufwertung der DDR in letzter Minute scheiterte an dem sich bereits in Auflösung befindenden ostdeutschen Staat. Schließlich versuchte Mitterrand noch, die polnische Karte zu spielen, indem er eine anfängliche deutsche Un-deutlichkeit in der Frage der Oder-Neiße-Grenze geschickt ausnutzte. Doch lag der Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung nicht in Paris.
Auf den sich anbahnendeh Wiedervereinigungsprozeß reagierte Mitterrand mit einer Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses, welchen er schon ab Mitte der achtziger Jahre nicht zuletzt vor dem Hintergrund der französischen Befürchtungen vor einem deutschen Abdriften mit dem Ziel vorangetrieben hatte, die Bundesrepublik fester im Westen zu verankern.
V. Die Zäsur der Jahre 1989/90
Mit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung (des europäischen Status quo) und mit der deutschen Wiedervereinigung waren auch die Prämissen beseitigt worden, unter denen das deutsch-französische Gespann auf den Weg gebracht worden war und sich schließlich entwickelt hatte. Unter den neuen Prämissen der Ära nach dem Kalten Krieg haben sich nun die Parameter des bisherigen Bilateralismus gründlich verändert. Für beide Partner ist eine Umorientierung erforderlich, die das eingependelte Gleichgewicht im Bilateralismus empfindlich tangiert. Die Überwindung der europäischen Teilung droht -aus französischer Sicht -Frankreich an die Peripherie eines sich epizentrisch nach Osten verlagernden Europas zu drängen und es zu marginalisieren. Die Überwindung der deutschen Teilung läßt Paris überdies fürchten, das Gewicht des größer und stärker gewordenen Deutschlands nicht mehr ausbalancieren zu können. In dem Maße wie die Nuklearkapazität wegen ihres Bedeutungsverlustes nach dem Ende des Kalten Krieges die deutsche Wirtschaftskapazität nicht mehr auszugleichen vermag und wie die Wirtschaftskapazität nun anstelle der Nuklear-fähigkeit zum neuen Attribut der politischen Dominanz zu werden scheint, fürchtet Paris den Aufstieg Deutschlands zur neuen regionalen Führungsmacht. Auch die notwendige Emanzipation der deutschen Außenpolitik von den Bedingungen des Ost-West-Konflikts, die Abkehr von einer Quasiabstinenz -allein schon in der Wahrnehmung der eigenen geographischen Brückenlage zu den Ländern Ostmittel-und Osteuropas stört nicht nur den bisherigen arbeitsteiligen Konsens im deutsch-französischen Gespann, sondern weckt in Frankreich Befürchtungen, die schließlich an die Rivalitäten des versunkenen Staatensystems anzuknüpfen drohen.
Alle diese Befürchtungen, in denen sich die Schlagwörter aus einer nach einer vierzigjährigen Parenthese wieder in Gang gesetzten europäischen Geschichte wie „Mitteleuropa“, „Drang nach Osten“ usw. zusammenballen und zu denen sich die Angst vor jener von George Bush vorgeschlagenen „Leadership in Partnership“ gesellt, drängten Paris zu dem obsessiven Wunsch, Deutschland noch stärker einzubinden, es im Westen fest zu verankern -gleichsam „Gulliver zu fesseln“. Paris schien der breitere Rahmen der EG bzw.der Europäischen Union zweckdienlicher als der Bilateralismus, um die wiedererwachten Gespenster zu bannen -wenngleich die Motorfunktion des deutsch-französischen Gespanns weiterhin für die Beschleunigung der westeuropäischen Einigung sorgen sollte. Paris setzte eindeutig sein Primat der EG-Vertiefung gegenüber der Erweiterung fest, was Bonn zur Sprachregelungsakrobatik einer Komplementarität beider Begriffe zwang, obwohl die Vertiefungspriorität ohne Zweifel im französischen Verständnis als Bremse des vermeintlichen deutschen Drangs nach Mitteleuropa konzipiert war. Denn nur im sich noch stärker integrierenden westeuropäischen Mikrokosmos kann Paris hoffen, auch nach dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung seinen Führungsanspruch aufrechtzuerhalten. Die 1990 beschlossene Wirtschaftsund Währungsunion, die von Paris mittlerweile zur Gretchenfrage der deutschen Europa-Gesinnung hochstilisiert worden war, sollte darüber hinaus eine deutsche Wirtschafts-und Währungsdominanz und damit eine deutsche Führungsrolle in der zur EU gewordenen EG verhindern. Wenngleich Bonn zunächst der Währungsunion nur im Junktim mit einem Ausbau der föderativen Struktur der EU zugestimmt hatte, ließ Bundeskanzler Kohl in Maastricht schließlich diese Forderung fallen. Ohnehin wollte Paris nur eine Integration „ä la carte“ auf denjenigen Teilgebieten, wo sie ihm zweckdienlich erschien, d. h. „ein föderales Europa auf dem Gebiet der Wirtschafts-und Währungsunion, aber ein intergouvemementales Europa auf dem Gebiet der Außen-und Sicherheitspolitik“
Vor dem Hintergrund des Maastrichter Prozesses bahnte sich gleichwohl ein Konflikt zwischen Bonn und Paris an, der wie ein „Remake“ aus den sechziger Jahren anmutete. Nach der Überwindung der bipolaren Weltordnung strebte nun Paris -gestützt auf die europäische Konstruktion und die Anknüpfung an den deutsch-französischen Bilateralismus gaullistischer Prägung -erneut danach, die amerikanische Vormachtstellung in Europa zurückzudrängen, die Bündnis-Kompetenz auf den unwahrscheinlich gewordenen Fall einer europäischen Konfrontation zu beschränken und durch den Ausbau einer konkurrierenden europäischen Organi-sation um die Achse EU-WEU, die für die neuartigen Konflikte in der Welt zuständig wäre, sowohl seine an den Bedingungen des Ost-West-Konflikts gescheiterten Weltordnungsmachtansprüche als auch seine Führungsansprüche in Europa über die Veränderung der Prämissen hinweg zu retten. Die Aufstockung der deutsch-französischen Brigade zur Armeekorpsstärke (Euro-Korps) und seine Umdefinition als Kern einer europäischen Verteidigungskapazität zielten in französischer Sicht zweifellos darauf, die NATO auszubooten und wieder an die gaullistischen Ambitionen anzuknüpfen. Der Rückgriff auf den Neo-Gaullismus drohte wiederum in Bonn die Konflikte aus den sechziger Jahren zwischen „Atlantikern" und „Gaullisten“ wieder aufflammen zu lassen. Zwar billigte der NATO-Gipfel vom Januar 1994 eine globale Arbeitsteilung zwischen Westeuropa und den USA, die einer Relativierung des Militärischen als „Währung“ der internationalen Beziehungen Rechnung trägt und damit auch seine Instrumentalisierung relativiert. Nichtsdestoweniger können die latenten französischen neo-gaullistischen Ambitionen Bonn immer wieder zum -allerdings bereits eingeübten -Spagat zwischen Paris und Washington veranlassen.
Doch gravierender als der Neo-Gaullismus, der im trilateralen Spannungsfeld die deutsch-amerikanischen Beziehungen stärker als die deutsch-französischen belastet, sind für den Bilateralismus die Interessenkonflikte, die sich daraus ergeben, daß mit der Überwindung der Rahmenbedingungen des Ost-West-Konflikts die dem Bilateralismus zugrundeliegende Arbeitsteilung nun obsolet geworden ist. Mit dem notwendigen Abschied Deutschlands von seiner außenpolitischen Abstinenz geraten die bilateralen Beziehungen in ein bisher unbekanntes Spannungsfeld.
VI. Das Ende des Bilateralismus?
In der europäischen Dimension, d. h. hinsichtlich der Gestaltung und der Strukturen des neuen Europas, prallen -trotz der Bonner diplomatischen Sprachregelung einer Komplementarität von Vertiefung und Erweiterung -grundsätzlich antagonistische Interessen aufeinander. Paris fürchtet, daß sich mit einer Osterweiterung das Gravitationszentrum einer erweiterten EU nach Deutschland verschiebt. Die Furcht vor dem Wiedererstehen eines „germanischen Blocks“ hatte nicht nur Mitterrand dazu veranlaßt, den mittelosteuropäischen Län-dern quasi als Trostpreis anstelle einer EU-Mitgliedschaft eine eher nebulöse Konföderation anzubieten; sie vermochte darüber hinaus zeitweise die Ratifizierung der Verträge mit Österreich, Schweden und Finnland in Frage zu stellen. Dagegen ist für Deutschland von vitaler Bedeutung, daß seine Ostgrenze nicht als Demarkationslinie zwischen einem reichen Westen und einem von politischen Instabilitäten und wirtschaftlichem Chaos bedrohten armen Osten fungiert. Nicht zuletzt aus sicherheitspolitischen Interessen ist für die Bundesrepublik eine Einbindung der ostmitteleuropäischen Länder in die westeuropäische Gemeinschaft eine Priorität.
Wirtschaftliche und daher politische Stabilität in den aus der Erbmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten und insbesondere in Ruß-land ist für Deutschland ein sicherheitspolitischer Imperativ, der die Zielsetzungen der deutschen Außenpolitik nachhaltig zu prägen vermag. Von französischer Seite wird hingegen nicht nur die Restauration eines determinierenden deutschen wirtschaftlichen Einflusses in Osteuropa befürchtet, sondern infolge der neuen deutsch-russischen Beziehungen Rußland als offenes Feld für eine deutsche wirtschaftliche und kulturelle Einflußnahme gesehen.
Auch in der Frage der von Paris als Gegengewicht zur gefürchteten „Nordlastigkeit“ der EU vorangetriebenen Öffnung zum Mittelmeerraum und den Maghreb-Staaten, die es Frankreich als Anführer einer europäischen „Südschiene“ ermöglichen würde, die innereuropäische „Balance of Power“ für sich günstiger zu gestalten, sind die Interessen alles andere als deckungsgleich -zumal die französische Südinitiative von den EU-Nettozahlem, und nicht zuletzt von Deutschland, zu finanzieren wäre, das ohnehin schon die Osthilfe weitgehend allein zu tragen hat. Sowenig der Mittelmeerraum angesichts der sicherheitspolitischen und sonstigen neuen Herausforderungen zu vernachlässigen sein mag, sowenig sind die geopolitischen Interessen eines sich erneut nach Süden orientierenden Frankreichs und eines mitteleuropäischen Deutschlands, das sich dem Osten Europas nicht verschließen kann, also kompatibel. Überhaupt vermag die Renaissance der Geopolitik -die in Frankreich viel stärker als in Deutschland wahrgenommen wird -nicht zuletzt aufgrund der mit ihr verbundenen Begriffe wie „Einflußzonen“, „Balance of Power“ und dergleichen die Interessenkonvergenz zu erschweren.
Nun nützt es aber nichts, die Renaissance der Begriffe zu verdammen. Sie beschreiben nur die Realität, die schließlich in der Balkan-Krise auf erschreckende Weise zeigt, wie selbst die eingespielten EG-Mechanismen trotz des vielfach angekündigten Strebens nach einer gemeinsamen Außenpolitik versagen, wenn die über die letzten 50 Jahre der europäischen Geschichte hinweg-geretteten Rivalitäten aus dem europäischen Staatensystem gleichsam in Anknüpfung an die Anfangsjahre dieses Jahrhunderts die außenpolitischen Zielsetzungen -wenngleich im Verborgenen -zu determinieren vermögen. Daß Paris im deutschen Vorpreschen zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens den Versuch einer Wiederherstellung ehemaliger Einflußzonen auf dem Balkan zu erkennen glaubte, trug nicht nur dazu bei, daß eine gemeinsame europäische Außenpolitik in Sarajevo -oder in Zagreb -begraben wurde. Es zeigte darüber hinaus, daß die Definition einer deutschen Außenpolitik, die sich nicht mehr in der durch den Ost-West-Konflikt zugewiesenen Nische einschränken lassen kann, die Basis des bisherigen Bilateralismus nachhaltig berührt, weil alle bisherigen Regulierungsmechanismen an die Bedingungen des Ost-West-Konflikts gebunden waren. Wenn für Paris der Schatten Bismarcks über der deutschen Außenpolitik zu schweben droht -so u. a. Lionel Stoleru in „Le Monde“ dann ist auch unter dem Feigenblatt der EU die Grundlage des Bilateralismus gleichsam als Spiegelbild der Prämissen der Nachkriegsordnung unwiderruflich versunken.
Nicht nur in der Außen-, sondern auch in der Wirtschaftspolitik droht die Verabschiedung von den bisherigen Prämissen das bislang einigermaßen funktionierende Gespann Deutschland-Frankreich empfindlich zu stören. In den GATT-Verhandlungen standen sich nicht nur zwei entgegengesetzte Handelsphilosophien -der französische Protektionismus und der mit einer großen Export-abhängigkeit einhergehende deutsche Freihandelsimperativ -gegenüber. Die GATT-Verhandlungen sind darüber hinaus Bestandteil einer globalen neuen Weltordnung, die den veränderten Gewichten der Ära nach dem Kalten Krieg und insbesondere dem zunehmenden Gewicht der Handelsbeziehungen anstelle der militärischen Potenz Rechnung trägt. Ohne Zweifel gehört -wie die Clinton-Administration paradigmatisch vorführt -die Fähigkeit zum Freihandel nun zum Attribut der globalen oder regionalen Führungsmächte. Zwar ist mit Hilfe der EU-Kompensationsmechanismen der GATT-Konflikt zunächst beigelegt worden, doch auch in der wirtschaftlichen Dimension könnte zukünftig -zumal die deutsche Kapazität, für Kompensationen aufzukommen, an die Grenzen der Belastbarkeit sowie des innenpolitischen Konsenses zu stoßen droht -der bisherige Bilateralismus neue Einschränkungen erfahren.
Die Rückkehr zur gaullistischen nuklearen Herrlichkeit, die in der Wiederaufnahme der Atomtests zum Ausdruck kommt, kann nur zusätzlich die zentrifugalen Momente im Bilateralismus fördern. Denn anders als unter den Bedingungen des Kalten Kriegs, als die Bundesrepublik für ihre Sicherheit von einer nuklearen Abschirmung abhängig war, vermag die frazösische Nuklearkapazität nun nicht mehr die verbindende Funktion des Ausgleichs der deutschen Wirtschaftskapazität auszuüben. Unter den neuen Prämissen einer deutschen Emanzipation von einer nuklearen Abschirmung werden Nuklearkapazität und Wirtschaftskapazität, da sie nun von ihrer erzwungenen bindenden Komplementarität gelöst sind, zu konkurrierenden Momenten. Dies um so mehr, als sich in der Entkopplung beider Momente die konkurrierende Grundorientierung der EU als Militär-bzw. als Wirtschaftsmacht widerzuspiegeln vermag.
Wenn die erzwungene außenpolitische Abstinenz der Bundesrepublik die Bedingung für das Funktionieren des Bilateralismus war, war in der Tat die Grundlage des Bilateralismus ein Korrelat der Prämissen der Nachkriegsordnung. Aber auch in seiner wirtschaftspolitischen Komponente war der Bilateralismus im Grunde genommen in seinem durch die EG determinierten Rahmen an die Bedingungen des europäischen Status quo gebunden. In dem Maße wie mit der Überwindung der Prämissen der Nachkriegsordnung die wirtschaftliche Kapazität zum regionalen -gar globalen -Dominanzattribut gerät, könnte auch hier das Fundament des Bilateralismus sich als Korrelat jener aus den Bedingungen des Ost-West-Konflikts abgeleiteten bisherigen Arbeitsteilung im deutsch-französischen Gespann erweisen. Das Gleichgewicht im bisherigen Bilateralismus scheint an die Bedingungen einer unwiderruflich beendeten Ära gebunden gewesen zu sein. Ob sich ein neues Gleichgewicht einpendeln kann, ist nicht mit Sicherheit vorhersehbar.