I. Eine Quelle zur Zeitgeschichte: Die Besucherbücher der Ausstellung „Lebensstationen in Deutschland“
Am 26. März 1993 eröffnete das Deutsche Historische Museum im Berliner Zeughaus Unter den Linden eine kulturhistorische Ausstellung zum Thema „Lebensstationen in Deutschland 1900-1993“. Ursprünglich für drei Monate konzipiert, wurde die Ausstellung nach zwei Verlängerungen bis in den Dezember 1993 gezeigt. In den Gästebüchern dieser Ausstellung konnten die Besucher aus Deutschland-Ost und Deutschland-West sagen, was sie voneinander hielten.
Die Reaktion auf dieses Angebot war enorm und sprengte das bei Ausstellungen übliche Maß der Äußerungen: Während der knapp neunmonatigen Laufzeit der Ausstellung schrieben rund 7500 (!) Ausstellungsbesucher ihre Meinung nieder und füllten auf diese Weise mehr als ein Dutzend der ausgelegten Gästebücher Diese waren bald zum nicht mehr wegzudenkenden Teil der Ausstellung geworden, und auch die Medien begriffen schnell, daß die Besucher hier einen Ort sahen, wo sich „Volkes Stimme“ niederschlagen konnte Wenn auch die Einzelfeststellungen vorherrschen, so ist es doch ebenso erstaunlich wie zentral, daß zahlreiche Niederschriften in den Besucherbüchern nicht isoliert voneinander zu sehen sind, sondern mit anderen, vorausgegangenen in Beziehung stehen. So fand in den Büchern auch eine Art Dialog, eine zeitversetzte Diskussion der Besucher miteinander statt.
Das Thema der Ausstellung und der besondere Ort, an dem sich die vox populi niederschlug, spielten sicher eine besondere Rolle für das Hervorbringen so vieler und vor allem so vielfältiger und divergierender Meinungsbekundungen: Die Ausstellung stellte in einem kulturhistorischen Rahmen dar, welche wichtigen Lebensabschnitte und -Zäsuren in Deutschland zwischen 1900 und 1993 vorzufinden sind und wie sie sich mit den Veränderungen von Gesellschaft und Kultur gewandelt haben Lebensstationen wurden dabei verstanden als individuell wie kollektiv wichtige Ereignisse, die einen Einschnitt in der Biographie darstellen und den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen markieren. Dazu zählen Taufe, Kommunion/Konfirmation und Heirat ebenso wie etwa die Mitgliedschaft in einer (staatlichen) Jugendorganisation, der Eintritt ins Berufsleben, die Absolvierung des Wehrdienstes oder der Übergang ins Rentenalter. Thema der Ausstellung war also, wie sich die Struktur eines individuellen Lebens, seine Abschnitte und Einschnitte, mit dem gesellschaftlichen Wandel im 20. Jahrhundert auch gewandelt haben.
So war das Ausstellungsthema keines, das dem Besucher äußerlich geblieben wäre; die eigene Biographie und das eigene Leben kamen sehr schnell mit ins Spiel. Hinzu kommt, daß fast die Hälfte der Ausstellung sich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebenssituation in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945 befaßte. Parallel zueinander verliefen die Abteilungen „DDR“ und „Bundesrepublik Deutschland“, und zwischen ihnen befand sich eine Mauer -eine begehbare allerdings. Von ihr aus konnten die Besucher zugleich auf beide „Deutschlands“ blicken und sie unmittel-bar vergleichen. Was sahen sie von dieser Brücke aus? Auf der einen, der DDR-Seite, gab es eine streng und geradlinig angelegte Ausstellungsarchitektur, die einen gelenkten Lebenslauf vorstellte, dessen einzelne Stationen sich gleichförmig reihten, während auf der anderen, der bundesrepublikanischen Seite, die einzelnen Lebensstationen ein Labyrinth mit vielen Ein-und Ausgängen bildeten. Die Architektur stellte also mit den ihr eigenen (visuellen) Mitteln zwei stark differente Lebens-konzeptionen dar das straff geregelte Leben von der Kinderkrippe bis zum „Feierabendheim“ auf der einen Seite, auf der anderen das „ganz normale Chaos“ ohne starre Abfolge und mit fließenden Übergängen. Innerhalb dieser kontrastiven Architektur waren die Besucherbücher von uns an zentraler Stelle plaziert worden, nämlich auf der Brücke mit Blick auf die Ausstellungsabschnitte „Deutsche Demokratische Republik“ und „Bundesrepublik Deutschland“ Unter der Themenstellung „Und heute -1993?“ forderten wir die Besucher auf, sich ins Verhältnis zu setzen nicht nur zu dem, was sie in der Ausstellung gesehen hatten, sondern darüber hinaus auch zur Situation in Deutschland nach der , Wende.
II. Selektive Erinnerung: Der staatlich verordnete Lebensweg in der DDR und die individuelle Biographie
Was hatte uns überhaupt bewogen, die Darstellung der Lebensstationen in Ost und West so hart zu kontrastieren? Ausschlaggebend waren, über die unmittelbaren Eindrücke und Erfahrungen im deutsch-deutschen Alltag hinaus, die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften. Schon ein erster Blick auf rein quantitative Werte lehrt die Einsicht, daß der Lebensweg in der DDR im allgemeinen auf festen Gleisen verlief. 80 Prozent der Säuglinge kamen in die Krippe, 98 Prozent der Kinder wurden mit der Einschulung „Junge Pioniere“. Es folgten die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der rund drei Viertel aller Jugendlichen beitraten und der „Überführungsritus“ der Jugendweihe, an der 98 Prozent aller Vierzehnjährigen teilnahmen Die Phase der Bildung und Ausbildung unterlag einem strikten Zeitplan (J. Zinnecker spricht hier vom „selektiven Moratorium“ und der Übergang ins Arbeitssystem war weitgehend vorgeplant. Dementsprechend blieb den Jugendlichen in der stärker reglementierten und auch auf sozio-kulturellem Gebiet durch einen „Modernisierungsrückstand“ charakterisierten DDR wenig Raum oder Zeit für Reifungskrisen und für die Identitätssuche. Der Übergang ins Berufsleben vollzog sich zumeist prompt, und der Arbeitsplatz wurde zu einer Art Heimat Während einer Psychotherapie-Tagung 1993 in Potsdam fiel folgerichtig das Wort von der „Verkrippung der DDR“, und es bezog sich nicht nur auf die fast „flächendeckende“ sozialistische Krippenerziehung der Kleinkinder. „Wir wurden ja immer ans Händchen genommen, das ganze Leben lang“, sagte eine Ärztin aus dem Plenum Ein anderes Ergebnis legen die Befunde der Sozialwissenschaften bezogen auf den Westen nahe. Hier ist die Bildungszeit offener und durch ungeplante Verlängerungen gekennzeichnet. Der Übergang ins Berufsleben ist wenig geregelt, und durch einen lockeren Zeitplan kommt es häufig zu einer Verzögerung dieser Statuspassage. Charakteristisch für den „westlichen Lebensweg“ ist, daß der Zeitpunkt der Gründung einer eigenen Familie zumeist hinausgeschoben wird und daß die gewonnene Zeit zur Erprobung von Partnerschaften) und Sexualität verwandt wird. Demgegenüber fand im Osten die Ablösung von der Herkunftsfamilie durch die frühe Neugründung einer eigenen Familie statt; eine „Probephase“ entfiel zumeist. 1981 lag das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen bei 23 Jahren (1971 sogar bei 21 Jahren); nur wenige heirateten -anders als im Westen -jenseits der dreißig zum ersten Mal Es ist nur folgerichtig, daß die meisten Frauen ihre Kinder zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr zur Welt brachten. Danach war, in den Termini der Demo-graphen, die „generative Phase“ im allgemeinen abgeschlossen.
Der Übergang ins Erwachsenenalter und die Annäherung an den Status der eigenen Eltern vollzogen sich in der DDR also sehr viel schneller als in der Bundesrepublik. Fazit: Die Lebenswege unterschieden sich in Ost und West hinsichtlich der Vorgaben, der Verbindlichkeit und der Steuerung durch überindividuelle Faktoren grundlegend.
Auffällig ist nun, daß nur wenige Besucher aus dem Westen sich mit der Gegenüberstellung der Lebenswege auseinandersetzten. Eine der wenigen Äußerungen lautete: „Gegenseitiges Kennenlernen ist zum gegenseitigen Verständnis wichtig. Dazu trägt diese Ausstellung bei!“ (7: 11. 06. 93, w, Berlin-Steglitz) Der geradlinige, verordnete Lebensweg in der DDR wurde dagegen von den meisten Besuchern aus den neuen Bundesländern als ein Spiegel betrachtet -ein Spiegel, in dem auch sie und ihre Biographie sichtbar wurden. Die je individuelle Biographie in diesem Spiegel sehen zu müssen, war für viele nur schwer erträglich: „Wir haben nicht nur strammgestanden und das FDJ-Hemd getragen“ (6: 5. 8. 95, m, Ostdeutschland), so und ähnlich lauteten etliche Einträge. In den Nischen der Gesellschaft aber hätten viele ihr Auskommen und ihre Zufriedenheit gefunden, das war oft die Selbst-und Fremddeutung: „Ich war in der DDR trotz allem, was man im nachhinein als organisiert und manchmal auch stumpfsinnig bezeichnen möchte, glücklich. Glücklich, weil ich kein , Held‘ war, weil ich oft meine Klappe hielt und die Nischen fand, die ich für mich suchte.“ (3: 13. 11. 93, m, Wittenberge)
Die ehemaligen DDR-Bürger insistierten darauf, den offiziellen, verordneten Teil ihres Lebens, die , Rahmung 6 sozusagen, als den nicht-eigentlichen, nicht-authentischen Part beiseite zu lassen *In*sofern diente die Ausstellung mit den jeweils schematisierten Lebensläufen Ost-und Westdeutscher auch als Feld, das Distanzierungen von einer spezifischen Form der Analyse und Betrachtung von Vergangenheit, einer an den Strukturen orientierten Geschichtsschreibung, provozierte.
III. Nostalgie statt politischer Aufarbeitung der Vergangenheit
In den Besucherbüchern überwiegen Bedauern angesichts der verlorenen Lebenswelten und Rückwärtsgewandtheit. Der gerade von Analytikern des Zeitgeschehens oft geforderte nüchterne, kritische Blick auf die Zustände im realexistierenden Sozialismus ist kaum vorhanden, und Einflüsse einer in diesem Sinne wirkenden (schulischen) politischen Bildung sind nicht zu erkennen, denn nur sehr selten wird in einem Ost-West-Systemvergleich von den DDR-Bürgern ihr Staat genau betrachtet und (im analytischen Sinne) mit dem westlichen Gesellschaftssystem verglichen
Es erschreckt, daß nur wenige der Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR das Ende ihres Staates auch als Chance für die eigene Entwicklung darstellen, die mit dem Fall der Mauer neue Perspektiven und Horizonte erhielt. Die Diskrepanz zwischen der allenthalben in den Kulturzeitschriften und auf dem Büchermarkt eingeklagten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und den Aufgaben, die in den Besucherbüchern als notwendig zu bewältigen deklariert werden, ist frappant. Forderte erst jüngst wieder der Theologe und CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann die „Aufarbeitung der Geschichte“, die den ehemaligen DDR-Bürgern „niemand abnehmen“ könne so herrschen in den Besucherbüchern Stimmungen und Wahrnehmungen vor, die sich in Empörung über (vermeintlich oder tatsächlich erlittene) Ungerechtigkeiten ergehen.
Von der Geschichte betrogen worden zu sein, zufällig auf der falschen Seite gelebt zu haben, dies taucht als Muster der Vergangenheitsinterpretation häufig auf: So schreibt ein kurz nach Kriegsende im östlichen Deutschland geborener Mann, daß viele Menschen „heute noch nicht begriffen haben, daß uns der Kommunismus als Folge des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges aufgezwungen wurde. Ich bin 1946 geboren (in Deutschland), war niemals für ein kommunistisches System eingestellt, wurde also 40 Jahre unschuldig zum Kommunismus gezwungen. Gleichaltrige im Westen dagegen hatten die Wahl!“ (9: 24. 06. 93, m, Ostdeutschland) Von ihnen fühlt sich der Schreiber schlecht behandelt: „Trotzdem fühlt man sich als Mensch II. Klasse durch das arrogante Verhalten vieler , Wessis 6. Heute würde ich auf eine Wiedervereinigung verzichten und wenn es mir schlechter gehen würde!“ (Ebd.)
Ein nachfolgender Besucher merkt dazu an: „Der gute Mann hat im Prinzip recht, nur sollte er Haß und Bitterkeit denjenigen gegenüber empfinden, die die katastrophalen Folgen des Sozialismus-Experiments verursacht haben. Sie leben heute noch und das wohl nicht einmal schlecht.“ (9: nach 24. 06. 93, m, Westdeutschland?) Hier wird dem restaurativen Wunsch nach Rückkehr zu den alten Verhältnissen entgegengehalten, man solle sich die Personen anschauen, denen man die ganze Misere zu verdanken habe.
Nicht das Regime wird kritisiert, nicht die strukturellen Hintergründe, sondern als Kränkung wird beklagt, daß man altbekannten Personen aus der DDR in neuen entscheidungsrelevanten Positionen begegnet: „Mai 1993 im Stolpe-Land -Ich fragte beim Schulamt nach Arbeit an (ich hatte nie gekündigt!). Ich war Regimekritiker der DDR. Eine verschmitzt lächelnde Kreisschulrätin holte den Personalchef mit der Bemerkung: , Ja, es ist der alte! 6 Tatsächlich, es war der alte Genosse Kaderleiter! Welche Chance ich dann hatte -dazu keine Äußerung als Regimekritiker der DDR.“ (9: 07. 07. 93, m, Ostdeutschland) Das Land wird mit seinem Regenten synonym gesetzt („StolpeLand“).
Vergangenheitsbewältigung, wie sie jüngst von Günter Wiehert, Wolfgang Thierse und Michael Wolffsohn vorgeschlagen wurde, kann da womöglich gar nicht greifen. Wer „den Kern der Systemstrukturen“ aufdecken will kann sich nicht sicher sein, damit auch etwas zum besseren Umgang mit den erlittenen Kränkungen, Demütigungen und Diskriminierungen in die Hand zu bekommen. „Die Analyse des Systems und seiner Mechanismen wird vieles aufklären“, meint Thierse aber er gibt gleichzeitig zu bedenken, daß mit der Rekonstruktion der Strukturen nicht alles geleistet sei. Sein Plädoyer für den „Dialog des Austausches von Biographien, in dem hoffentlich andere Maßstäbe gelten als bei der Bewertung von ökonomischen und politischen Verhältnissen“ findet jedenfalls in den Aufzeichnungen aus den Gästebüchern einigen Halt. Denn diese rekurrieren in der Vergangenheitsbewältigung kaum auf das „System“, sondern auf die Biographie, auf Personen und Begegnungen.
IV. Im Wechselbad von verbalen Schlachten und Anteilnahme
„Man sollte die Mauer wieder errichten, um uns (Wessis) vor Euch (Ossis) zu schützen, da ihr (Ossis) eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellt“, schreibt ein Besucher aus den alten Bundesländern im Sommer 1993 in eines der Bücher. Ein folgender Besucher strich den Eintrag durch, ein weiterer schrieb über den durchgestrichenen Eintrag: „Zensur“ und ein anderer: „Horn-ochsen“. Zwei weitere Einträge folgen: „Werdet endlich erwachsen, tut uns den Gefallen, wir Ossis sind doch gar nicht so schlimm.“ „Alle, die dieser Meinung (bezieht sich auf den ersten Text) sind, sind Schwachköpfe. Wenn Eure Eltern, Großeltern oder Verwandten damals auf der Ostseite gewesen wären, wärt Ihr heute auch , Ossis'." (9: 19. /20. 07. 93)
Beschimpfungen, Versuche, den anderen (östlichen) Deutschen zum Deutschen „zweiter Klasse“ zu stempeln, sind kein Einzelfall. In einem Besucherbuch findet sich im Sommer 1993 der Eintrag: „Ich finde es schade, daß die Mauer weg ist. Vorher gab es wenigstens Arbeit und eine gesicherte Existenz! Der Preis für die sog. Freiheit ist zu hoch!“ Unflätig setzt ein folgender Besucher darunter: „Du Arschloch, ohne uns wärst Du doch verreckt!“, und ein dritter ergänzt: „Oder Du Arschloch!“ Ein vierter fügt hinzu: „Wer Arbeit will, auch Arbeit kriegt!“ (13: Juli 93)
Es folgen „Dialoge“ wie: „Kohls Aussage , keinem wird es schlechter gehen 1 -das Gegenteil ist ja wohl jetzt nach drei Jahren , Einheit 6 bewiesen!“ „Wenn Euch Ossis die 40 Jahre mit der Mauer so gut gefallen haben, könnt Ihr sie ja jetzt wieder aufbauen.“ „Sie steht im Kopf.“ „Natürlich ist es besser geworden, jedenfalls für uns , Ossis 6, leider nicht für alle.“ „Wenn man im Vergleich DDR -BRD nicht sehen kann, daß auf jeden Fall eine Besserung eingetreten ist, ist man wohl mit Blindheit geschlagen.“ „Ein Blinder“ (6: 12. /13. 10. 93)
Werden in der Erinnerung an die DDR die Arbeit für alle und das staatlich garantierte Auskommen hochgehalten, so lautet im Gegenzug der Vorwurf, es habe keine Freiheit gegeben. Auf diese wollen aber andere, aus dem Osten, dann wieder gerne verzichten. Sehen die einen mit dem Einzug westlicher Mentalität Raff-und Geldgier um sich greifen, so verweisen die anderen auf die beschränkten Konsummöglichkeiten in der DDR. An diesen deutsch-deutschen Schmähungen wird deutlich, daß fundamentale Orientierungsgrößen des Westens, nämlich Freiheit, individuelle Leistung und Konsummöglichkeiten, nach dem Fall der Mauer ihre Attraktivität für viele der neuen Bundesbürger offensichtlich eingebüßt haben Das Ende der gewohnten Lebensverhältnisse erscheint -trotz in vielen Fällen gestiegener finanzieller Möglichkeiten trotz politischer Freiheit, Reise-und Konsumangeboten -als Verlust, da es die Entwertung der bisherigen Lebensumstände bedeutet. Vier Jahre nach der Wende werden von einem Teil der Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR die ehemaligen grundlegenden Orientierungsgrößen des Ostenß -soziale Sicherheit, Kollektivität, beschränkte Märkte -wieder favorisiert.
V. Entfremdungen: Die alten und die neuen Bundesbürger
Groß ist auf östlicher wie auf westlicher Seite oftmals das Erstaunen angesichts der Fremdheit beider Deutschlands: „Die Unterschiede im Verhalten von , Ossis 6 und , Wessis 6 sind -bedingt durch den unterschiedlichen Hintergrund 6 (Erziehung, gesellschaftliche Verhältnisse usw.) -größer, als ich erst dachte.“ (13: 09. 09. 93, m, Ostdeutschland) Das Gefühl, mit den „anderen Deutschen“ Fremden gegenüberzustehen, spricht aus allen Besucherbüchern: „Der Besuch dieser Ausstellung hat mich in meiner Ansicht bestätigt, daß die deutsche Einheit gerade noch früh genug zustande kam. Ein paar Jahre später wären Menschen an der Regierung, die sich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung in Ost und West so weit voneinander entfernt haben, daß sie die Einheit gar nicht mehr wollen.“ (9: 12. 07. 93, w?, 59 J., Münster/Westf.) Und nicht nur die Regierungen, sondern auch viele Menschen hätten dann sicher nicht mehr die Einheit gewollt, vermutet mancher Besucher.
Besucher aus Ost und West haben das Gefühl, von der Wiedervereinigung überrollt worden zu sein. Man traf nur in der kurzen Zeit der Massenflucht aus der DDR und in der Phase unmittelbar nach der Maueröffnung auf die „Brüder und Schwestern“ -hüben wie drüben. Nachdem die erste Euphorie verflogen war, stellte man fest, wie sehr man einander fremd ist, wie sehr mithin die Geschwistermetapher eine Phrase war bzw. wie schnell sie es wurde: „Die sogenannte Wiedervereinigung verlief in vielen Bereichen sehr unklug und ohne jegliches Einfühlungsvermögen für das Fremdsein und Anderssein der anderen. Diese Fehler haben tiefe Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust, mangelndes Selbstwertgefühl usw.).“ (7: 11. 06. 93, w, Berlin-Steglitz)
Während in den Besucherbüchern sehr wenig Material für die allenthalben kursierende Imagination zu finden ist, „der Ostdeutsche eigne(t) sich hervorragend zum , häßlichen Deutschen“ 1, womit er dem Westdeutschen als „Projektionswand“ für den „nie versiegenden deutschen Selbsthaß“ diene findet sich doch bestätigt, daß „die deutsch-deutschen Vereinigungsturbulenzen ... die Abstände zwischen den Menschen ... eher vergrößert“, zumindest aber kaum verändert haben Ein junger Mann aus dem „Zonenrandgebiet“ schildert sein Verhältnis zur DDR folgendermaßen: „Ich bin in der Nähe der ehemaligen Grenze zur DDR aufgewachsen. Für mich war am Zaun ein Teil der Welt zu Ende, und ein neuer (anderer) Teil begann dahinter. Einen Bezug zu der anderen Seite hatte ich nicht. Eigentlich ging es mir damals nicht anders als den meisten Menschen. Eigentlich ist dies auch nach der Grenzöffnung so geblieben.“ (7: Juli 93) Für diesen jungen Besucher ist mit 1989 zwar die äußere Mauer gefallen, nicht aber die Fremdheit gewichen. Sie ist in bezug auf das andere Deutschland und seine Bewohner geblieben. Und seine Reiseaktivitäten haben ihn (in östlicher Richtung) nicht weiter geführt als vor der Grenzöffnung. Wen wundert es in Anbetracht der deutlich werdenden Differenzen, wenn manchmal schon Stimmen laut werden, daß man es hier mit einem Fall für eine „psychologische Friedensforschung“ im Rahmen der Begegnung mit einer fremden Kultur zu tun habe? Jedenfalls sieht es Leo Ensel so: „Wenn das Aufeinanderprallen von Westdeutschen und Ostdeutschen nicht die Herausforderung an die vielzitierte multikulturelle Gesellschaft ist, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeuten soll!“
Die Fremdheit scheint sich auch durch die Massenmedien oder die Imagination vom wiedervereinigten Deutschland nicht problemlos reduzieren zu lassen, bleibt doch bis in die jüngsten sozialwissenschaftlichen Erhebungen und sozialpsychologischen Studien hinein -trotz aller massenmedialen Appelle zum Zusammenwachsen -die mentale Differenz deutlich sichtbar und wird vermutlich dadurch noch zusätzlich forciert. Denn die Differenz zum anderen tendenziell abzulegen, die Fremdheit zu reduzieren, setzt ja schon voraus, daß es eine übergeordnete Einheit gibt, deren Vollzug noch aussteht. Diese übergeordnete Einheit müßte aber anders aussehen als die Kopie des Westens, die im Osten zum Original erklärt wird (so jedenfalls die Besucher). Niemand würde wohl derart massiv von Fremdheit sprechen, wenn es um die Nachbarn der Europäischen Union ginge, wie es derzeit innerhalb Deutschlands geschieht.
VI. Überforderung angesichts der Zukunft?
„Das Heilen dieser Wunden braucht viel Zeit. Es dauert vermutlich zwei Generationen, bis wir wieder ohne Vorurteile und gegenseitiges Verletzen aufeinander zugehen können.“ (7: 11. 06. 93, w, Berlin-Steglitz) Das stimmt nicht gerade hoffnungsvoll für die unter ihren akuten Kränkungen leidenden Bürger in diesem Land. Geschichte wird hier als eine nicht selbst gemachte oder machbare gedeutet. Das Geschichtsbild, das dieser Wahrnehmung zugrunde liegt, widerspricht damit zentral jener Vorstellung, die den Sozialismus offiziell durchherrschte und auch noch der Hintergrund der 1989er Revolution war: Hier wie dort wurde als Basis die Idee verfolgt, die Menschen machten Geschichte. Wie sonst hätte man den Mut haben können, gegen eine Zentralmacht den Aufstand zu proben, die der sozialistischen Staatsverfassung den Rang des ewig so Bleibenden attestierte? Um so erstaunlicher ist es, daß bezogen auf das Heute die Menschen resignieren und den positiven Bezugspunkt nicht im eigenen Tun sehen, sondern im Verstreichen der Zeit, die schon Veränderungen bringen werde. Geschichte wird nach der gewonnenen Revolution also als etwas verstanden, was nicht aktiv vollzogen wird von den Menschen, sondern was sich an ihnen vollzieht. Die Menschen sind nach dem kurzen Aufstand zurückgekehrt in die Passivität. Nun heißt es wieder abwarten.
Wer von den Besuchern sich in der Prognose der gesellschaftlichen Rekonvaleszenz nicht in Generationenfolgen verstrickt (und so für die nahe Zukunft keine Aussicht auf kurzfristige Besserung sehen mag), flüchtet sich in den Gedanken „Was wäre, wenn nicht...“ oder hat Zukunftsmodelle parat, die ebenso originell wie weitschweifig ausfallen können. Sich der von den Ausstellungsmacherinnen aufgeworfenen Frage so zu stellen, ist recht erstaunlich. Denn die Frage lautete, daran sei hier erinnert, „Und heute -1993?“. Mit den Antworten werden jedoch keine Gegenwartsdiagnosen, sondern -oft mit ausdrücklichem Bezug auf diese Frage -Zukunftsvisionen geboten, oder es werden gar Szenarien eines Geschichtsverlaufs entworfen, der anders hätte aussehen sollen. Versuchen sich nämlich manche Besucher in Schätzungen über den Zeitverlauf bis zum Abbau der binnen der letzten Jahre aufgetürmten Vorurteile, so haben andere Strategien parat, wie einer überstürzten Angleichung entgegenzuwirken gewesen wäre: „Meiner Meinung nach war die Wiedervereinigung der beiden Landesteile, die sich innerhalb von 40 Jahren in verschiedene Richtungen entwikkelt haben, verfrüht und übereilt. Statt dessen hätte die ehemalige DDR ein autonomer (von der BRD unterstützter) Staat bleiben sollen. So hätten beide Gebiete ihre Entwicklung selbständig weiterführen können.“ (9: 12. 07. 93, w?, Ostdeutschland) „Gemeinsam in die Zukunft, das wäre die richtigere Idee zur »Wiedervereinigung 6 gewesen. So wurde im Hauruck-Verfahren ein Land aufgesogen, freien Marktgesetzen ausgesetzt und nahezu gelöscht. Ich meine, Menschlichkeit ist wichtiger als Trennung und Abgrenzung. Ich hoffe, die Schäden der Löschaktion DDR werden bald für die Menschen aus diesem Land nicht mehr so zerstörerisch sein wie noch in der momentanen Gegenwart.“ (9: 12. /14. 05. 93, w, Ostdeutschland)
Das Gefühl, die eigene Biographie plötzlich unwiderruflich für eine Gegenwart verloren zu haben, die nicht die eigene ist, prägt zahlreiche Nieder-schriften ehemaliger DDR-Bürger, und wer dem „Löschen“ der DDR nachtrauert, bietet in der Regel keinen pragmatischen Hinweis darauf, wie man denn nun mit der einmal geschehenen Geschichte umgehen könnte.
Von Pragmatismus sind allerdings auch jene Gedanken kaum berührt, die sich die Besucher um die Zukunft machen. So äußert sich ein älterer Gast vom Bodensee: „Und heute? Heute haben wir die Wiedervereinigung. Wäre allen bewußt gewesen, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen würden, hätte es sie nie gegeben. Das hätte manchen gefreut. So aber ist die Entwicklung global wie national eine der größten Herausforderungen für Deutschland. Wir sollten unsere Geschichte annehmen -in allen ihren Epochen. Unsere Kräfte müssen wir sammeln für das, was die Zukunft fordert. Geduld, Toleranz und Augenmaß sind die unabdingbaren Voraussetzungen, damit zusammenwächst, was zusammengehört! (W. Brandt).“ (6: 11. 07. 93, m, Westdeutschland)
Zwar werden hier -wie in zahlreichen ähnlichen Niederschriften -die (deutschen) Grundtugenden bemüht, um eine Orientierung in dieser besonderen Situation zu geben, doch freilich bleibt es bei Appellen, und man kann sich kaum des Verdachtes erwehren, daß in diesen Bekundungen auch eine Aufforderung an das Erziehungssystem durchscheint, dem der Part der (inneren) Vollendung der Vereinigung zugewiesen wird.
Die Metaphorik des Wachsens, also des Organischen und Lebendigen, ist ein durchgängig gebrauchtes Bild zur Erzeugung einer anderen Vorstellungswelt als jener, die man allenthalben dominieren sieht. Das Bild vom Leben ist auch dort wirksam, wo von der jüngeren Generation enttäuschte politische Hoffnungen geäußert werden. Gerade am 4. November 1993 haben sich -wohl in Erinnerung an die große Demonstration in Ostberlin vier Jahre zuvor -nach Aktion rufende Eintragungen in den Besucherbüchern gehäuft: „Nur eins bitte nicht: Resignation! Uns bleibt nur der Weg auf die Straße, die Ossis müssen den Schwung von ’ 89 wiederfinden.“ -„Wir jungen Berliner sitzen zwischen zwei Stühlen, zwischen gefrusteten Wessis und traurigen Ossis. Wir werden alle noch mal auf die Straße gehen, mit neuem Willen zur Revolution. Gebt uns, der Nachwuchsgeneration, eine Chance, wir haben Visionen und Ideen.“ (11 u. 13: 04. /05. 11. 93, junge m?, Ostdeutschland)
Auffällig ist auch, daß die meisten Westdeutschen den Willen zum Zupacken betonen und durchaus auch den zur wirtschaftlich-finanziellen Einschränkung. Wovon sie aber nicht sprechen, ist eine psychische Änderung ihrer selbst (wie es manche Ostdeutsche von ihnen wünschen und erhoffen).
Wirtschaftlich-monetäre Einschränkungen werden akzeptiert, doch insgesamt ist man, so wie man ist, mit sich „zufrieden“, will keine „sozialpsychologischen“ Veränderungen. Eine der wenigen Stimmen, die sich hier äußerte, lautete: „Wir Westdeutschen haben uns doch noch gar nicht vor Augen geführt, daß wir uns nach der Wiedervereinigung in einem anderen Land befinden. Mit dem Ende der DDR hat doch auch die alte Bundesrepublik aufgehört zu existieren.“ (13: 16. 11.
1993, m, Westdeutschland) Hier, so darf man vermuten, ist eine fortdauernde Quelle für den Fortbestand von Fremdheit und wechselseitiger Distanz zu finden. Wenn nämlich von der einen Seite die persönliche Biographie, die Psyche ins Spiel gebracht wird, die andere Seite aber gerade das Persönliche durch monetäre Aspekte zu verdinglichen sucht, wird nur prolongiert, was die aktuelle Situation kennzeichnet: Desintegration.
Nimmt man an, daß die in zahlreichen sozialpsychologischen Studien herausgearbeiteten Differenzen in den Lebenswegen und in den Wahrnehmungsmustern zwischen Ost und West keine bloß im wissenschaftlichen Diskurs kursierenden Auffälligkeiten sind, sondern daß sie sich tatsächlich im Alltag der Beobachteten und Befragten niederschlagen, so stellt sich die Frage, wie mit dieser Differenz in der Reflexion über sie umgegangen wird. Denkbar sind mehrere Varianten selbst dann, wenn man -wie allgemein üblich -davon ausgeht, daß die westlichen Kultur-und Lebenslaufmuster nun zu den dominanten, jene der östlichen Gesellschaft majorisierenden geworden sind. Eine Variante besteht in der schnellen Angleichung an den westlichen Lebensstil. Sie war zu erwarten gewesen aus der Wunschprojektion von 1989 heraus, zum anderen Teil Deutschlands zu gehören. Die Biographieforschung legt freilich eine zweite Variante nahe: Ein gewisses Beharrungsbestreben ist im Hinblick auf Gewohnheiten und Orientierungsmuster einer Person eher zu erwarten als das Abwerfen der eingeschliffenen Handlungs-und Denkformen. Dies zumal dann, wenn von einem Wechsel nicht zugleich auch das soziale Umfeld betroffen ist. Dagegen bieten die Besucherbücher eher Stimmen und mithin Daten für eine dritte Variante, die den Faktor Zeit stärker ins Spiel bringt
Erst im nachhinein, so möchte man sagen, vier Jahre nach der Maueröffnung, trifft das Geschichtsereignis, ein wiedervereinigtes Volk zu sein, die Menschen in Deutschland unvorbereitet, und sie reagieren darauf auf beiden Seiten mit dem Plädoyer für Verlangsamung. Will man von einer „Ethnologie des Inlands“ sprechen so wird man sehen müssen, daß die gewohnte Balance zwischen den „Polarisierungszwillingen“ DDR und Bundesrepublik, die in ihrer Unterschiedlichkeit komplementär und in ihren Selbstwahrnehmungen angewiesen waren auf den Blick auf den jeweiligen anderen als das „Andere“, dahin ist.
VII. Bilanzen: Besucher thematisieren die Besucherbücher
Die Besucherbücher forderten nicht nur zum Streit untereinander heraus, zum Dialog und zum gemeinsamen Weiterdenken, sondern sie wurden von den Besuchern selbst zum Gegenstand ihrer Analysen gemacht. So beklagt eine junge Frau aus Westdeutschland die in den Niederschriften sich ausdrückende Stimmung in der ehemaligen DDR -wo sei die Freude über die neuen politischen Rechte und Freiheiten geblieben? „Wo sind die Menschen, die sich so sehr die freie Meinungsäußerung und Reisefreiheit gewünscht hatten? Freut sich denn keiner von ihnen über den Mauerfall? Warum nur Klagen?“ (3: 25. 11. 93, junge w, Westdeutschland) Jemand hat darunter geschrieben: „Pressefreiheit für Arbeitslose im Osten?“
Die Prioritäten der Wahrnehmung und Bewertung der Gegenwart sind andere geworden. Die Erlangung politischer Freiheiten im Osten ist in den Besucherbüchern von östlicher Seite kaum ein Thema. Der aufmerksame Leser der Bücher wird feststellen, daß die Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung und freie Wahlen nicht thematisiert werden. Erst die Erinnerung macht die Differenz in den allgemeinen Bürgerrechten wieder sichtbar. Denkt man an die Bilder und Stimmungen von 1989/90 zurück, so stellt man fest, wieviel sich geändert hat. Keine Rede ist mehr vom Glück, dem Westen zuzugehören, von Freiheit, Reisemöglichkeiten etc. Das Gewonnene -weil jetzt selbstverständlich -wird nicht thematisiert, das Verlorene -Geborgenheit, Kontinuität, soziale Sicherheit -deutlich herausgestrichen. Das ist insofern durchaus verständlich, als es gerade die Verluste sind, die den Alltag dominieren: Die Arbeitslosigkeit sowie das Verschwinden der gewohnten sozialen Bezüge und Lebensformen werden täglich neu und schmerzhaft erfahren. Das können die gewonnene Reisefreiheit und die -in den letzten Monaten der DDR-Gesellschaft allenthalben schon um sich greifende -individuelle Meinungsoffenheit nicht kompensieren.
Diese Haltung bleibt natürlich nicht ohne Kommentar und Widerspruch -insbesondere seitens der Besucher aus dem Westen. Den Verlustäußerungen setzt eine jugendliche Schreiberin aus Jever in Ostfriesland deutlich entgegen: „Ich habe mir gerade mal ein paar Seiten durchgelesen. Und muß feststellen: Hört endlich auf zu meckern!! Ist Freiheit nicht mehr wert als alles andere?? Aller Anfang ist schwer, auch dieser, aber es kann nur aufwärts gehen, wenn jeder was dafür tut, und da sollte man vielleicht mal bei sich anfangen und nicht immer auf die anderen warten.“ (7: 20. 05. 93, junge w, Westdeutschland) Ähnlich urteilen „zwei Mindener“: „Am 9. November 1989 haben wir vor Freude über die Entwicklung -Untergang des , realexistierenden Sozialismus-geweint. Heute -nach ca. dreieinhalb Jahren -sind wir nachdenklich über alles, was sich verändert hat! Wer wollte denn die Freiheit haben? Wir hatten sie!“ (3: 31. 07. 93, m/w?, Westdeutschland)
Ein Stuttgarter schreibt, er „vermisse bei den vielen Zuschriften in diesem Buch die Gedanken aus der Unfreiheit und Gängelei in die Freiheit nach so vielen Jahren. Bin selbst vor über 40 Jahren geflüchtet, und wir haben alles, Haus, Hof und Besitz, zurückgelassen, um diesem Regime zu entgehen und um der Freiheit willen. Diese Eindrücke vermisse ich hier.“ (4: 26. 08. 93, m?, Stuttgart)
Auch im Bilanzieren des Gelesenen bleibt der geradezu hilflose Versuch der Besucher evident, gegen dit alltäglichen Nöte und permanent erfahrbaren Brüche in der Biographie der neuen Bundesbürger einen eher abstrakt bleibenden Gewinn zu setzen. Das Unterfangen, die gewonnene „Freiheit“ in eine individuelle Bilanz einbringen zu wollen, kann nur schiefgehen. Denn in vielen Fällen wird eben diese Freiheit heute als etwas, was nie vermißt wurde, deklariert. Die Struktur der Argumentation in den uns vorliegenden Texten, die auf die Besuchereinträge in den Besucherbüchern selbst reflektieren, entspricht etwa der im „Ossi-Wessi-Streit“: In den Blick gerät, hier wie dort nicht das konkrete Individuum, sondern das Kollektiv oder das abstrakte Individuum. Was fehlt, ist der Vorschlag, auch hier -im Gefolge einer kommunitaristischen Idee etwa -gemeinsam nach der Verwirklichung von Freiheit zu streben.
Eine Ausnahme bieten die Besucherbücher freilich auch hier. Unter der Überschrift „Kleine Anekdote“ ist von einem Besucher aus Essen/Berlin (3: 14. 11. 93, m, Westdeutschland) zu lesen: „An einem grauen Novembertag bin ich nun hier gewesen, beeindruckt von der guten Darstellung unserer Geschichte, der Geschichte der Menschen in Deutschland. , Wie geht es weiter? 4 -und leider doch überkommt mich das Gefühl der Leere, fast schon Resignation, wenn ich hier die Kommentare lese. Hat da wirklich jemand die Fenster aufgestoßen, nach den Jahren der geistigen Stagnation 4 (Stefan Heym 4. 11. 89 auf dem Alex) oder dümpeln wir immer tiefer in einem Mief, gleichermaßen in Ost und West, aus dem unsere Kinder nicht nach oben sehen können. Die Ideale, die ihr Erwachsenen fast alle nicht erlebt, kennt die Jugend kaum noch. Deutschland im Herbst 93 -ein Trauerspiel. , Und ich glaube und hoffe doch auf uns. Und wäre ich am Ende, erreicht habe nichts als einen Anfang von vorn! 4 (frei nach W. Bier-mann).“