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Mehr Markt in die Freie Wohlfahrt? Zum Problem marktwirtschaftlicher Bedingungen in der Freien Wohlfahrtspflege | APuZ 25-26/1995 | bpb.de

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APuZ 25-26/1995 Ausstieg aus dem Sozialstaat? Gefährdungen der Gesellschaft durch weltweite Umbrüche Sind die Grenzen des Sozialstaates überschritten? Zur Diskussion über die Reformperspektiven der Sozialpolitik Umbau des Sozialstaates unter Sparzwang. Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft Mehr Markt in die Freie Wohlfahrt? Zum Problem marktwirtschaftlicher Bedingungen in der Freien Wohlfahrtspflege

Mehr Markt in die Freie Wohlfahrt? Zum Problem marktwirtschaftlicher Bedingungen in der Freien Wohlfahrtspflege

Wolfgang Klug

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Zusammenfassung

Verstärkt werden die Wohlfahrtsverbände mit den Bedingungen der Marktwirtschaft konfrontiert: In den Bereichen, in denen sie sich bisher im Einvernehmen mit staatlichen Stellen ohne Konkurrenz bewegen konnten, finden sich mehr und mehr Anbieter, die sich nicht an früher übliche Absprachen zur Aufteilung des Marktes halten. Daß der Wettbewerb in das Feld der Wohlfahrtspflege einzieht, erstaunt, da den Wohlfahrtsverbänden über Jahrzehnte hinweg ein Weg neben marktwirtschaftlichen Denk-und Verhaltensweisen garantiert zu sein schien. Noch immer zeugen die gängigen Finanzierungsmodalitäten von der Auffassung, marktwirtschaftliche Prinzipien fänden in der Freien Wohlfahrtspflege keine Anwendung. Begründet wird die Sonderrolle mit der Eigenart personenbezogener Dienstleistungen und mit der besonderen Zielgruppe wohlfahrtsverbandlicher Leistungen („Die Ärmsten der Armen“), die auf dem Markt nicht ausreichend versorgt würde. Während sich im innerverbandlichen Handeln Managementwissen mehr und mehr durchzusetzen scheint, möchten Wohlfahrtsverbände die traditionellen Beziehungs-und Finanzierungsstrukturen aufrechterhalten. Ein Wandel zu marktwirtschaftlicherem Denken, eine Differenzierung im Angebot, eine Klärung der Stellung im Sozialstaat wären statt dessen notwendige Schritte. Trotzdem, so zeigt der Befund, muß vor dem Irrtum gewarnt werden, eine generelle Privatisierung sozialer Dienstleistungen könne alle Probleme lösen.

I. Problemstellung

Unter der Überschrift „Kampf gegen Bürsten-und Besen-Image“ berichtete die Süddeutsche Zeitung am 28. 9. 1994 in ihrem Wirtschaftsteil von den Anstrengungen der „Pfennigparade“, „Faktor im Wirtschaftsleben“ zu werden. Von steigender „Wirtschaftsleistung“ ist da die Rede, von „DirektMarketing“ und 23 Millionen Mark Umsatz. Was sich hier liest wie eine von der PR-Abteilung eines modernen Industrieunternehmens formulierte Selbstdarstellung ist die Meldung über eine Stiftung für Schwerbehinderte.

Das Beispiel der „Pfennigparade“ steht keineswegs allein, sondern markiert einen Trend: Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege (Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden) sind gewollt oder gezwungenermaßen dabei, zu Partnern oder Konkurrenten, jedenfalls aber zu Teilnehmern am freien Markt sozialer Dienstleistungen zu werden. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der Markt für Seniorenwohnheime hart umkämpft.

Zunächst erstaunt es, von einem Wunsch der Wohlfahrtsverbände zu hören, am marktwirtschaftlichen Geschehen teilzunehmen, werden diese doch eher mit der Sammelbüchse als mit professionellen Marketingkampagnen in Verbindung gebracht. Schließlich behauptet die Freie Wohlfahrtspflege ja von sich selbst, sie sei eben nicht mit „normalen“ Marktanbietern und Geschäftsleuten zu vergleichen. So legt beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Wert auf die Feststellung: „Freie Wohlfahrtspflege unterscheidet sich einerseits von gewerblichen, auf Gewinnerzielung ausgerichteten Angeboten und andererseits von denen öffentlicher Träger.“

Ist es ein Widerspruch, Teilnehmer am freien Markt zu sein und sich doch von anderen (gewerblichen) Marktanbietern zu unterscheiden? Kann man am Marktgeschehen teilnehmen, ohne in der Organisation, in der „Unternehmensphilosophie“ und in der Darstellung nach außen den Gesetzen des Marktes zu folgen?

Es geht dabei wohlgemerkt nicht nur um Image-Fragen, wenn Wohlfahrtsverbände sich anschikken, ihre Leistungen so zu gestalten, daß sie gegen gewerbliche Konkurrenz bestehen können; und es sind möglicherweise nicht nur „edle“ Motive, die hinter dem Wunsch zu einer solchen Veränderung stehen. Sicher trägt ein Wandel äußerer Rahmenbedingungen, wie z. B. die steigenden Finanzierungsprobleme oder ein stärkeres Kostenbewußtsein öffentlicher Kassen, seinen Teil zu einer anderen Geisteshaltung bei.

Mittlerweile ist aber auch innerer Druck aus den Wohlfahrtsverbänden selbst spürbar, der offenbar eine Hinwendung der Freien Wohlfahrtspflege zu marktwirtschaftlichen Denk-und Verhaltensweisen unumgänglich macht: „Social-Management“ ist allerorten angesagt -und von diesem Zauber-wort, das derzeit in den Verbänden und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Verbände kursiert, wird häufig die Lösung aller Probleme erwartet.

Sind also Pflege, Erziehungs-und Beratungsleistungen „Dienstleistungen“ wie jede andere (gewerblich erbrachte) Dienstleistung auch? Lassen sich die Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege wie jedes andere Produkt „vermarkten“? Sind betriebswirtschaftliche Sichtweisen nicht geradezu der Gegenpol zu „sozialen“ Werthaltungen? Gibt eine soziale Organisation nicht das an ihr Typische auf, wenn sie versucht, ihre „Produkte“ marktgerecht zu machen? Diese Fragen sollen uns im Folgenden beschäftigen.

II. Strukturprinzipien der Freien Wohlfahrtspflege

Ehe wir uns der Diskussion von Chancen und Grenzen von Wohlfahrtsverbänden unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zuwenden, schicken wir einige Bemerkungen über das Verhältnis von Freier Wohlfahrtspflege, Staat und Marktwirtschaft voraus. 1. Sozialstaatsgebot, Subsidiaritätsprinzip und Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen Grundlegend für die Stellung der Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik ist das in Art. 20 GG verankerte Sozialstaatsgebot. Als Konsequenz daraus bestimmt § 17 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I): „In der Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen wirken die Leistungsträger darauf hin, daß sich ihre Tätigkeit und die der genannten Einrichtungen und Organisationen zum Wohle der Leistungsempfänger wirksam ergänzen. Sie haben dabei deren Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten. Die Nachprüfung zweckentsprechender Verwendung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bleibt unberührt.“

Die konkrete Anwendung des der „Zusammenarbeit“ zwischen Freier Wohlfahrtspflege und öffentlichen Leistungsträgern zugrundeliegenden Subsidiaritätsprinzips läßt sich am Beispiel der Gewährung von Sozialhilfe gut illustrieren Grundsätzlich sind für die Gewährung von Sozialleistungen die in §§ 18 bis 29 SGB I genannten Leistungsträger, Behörden, Körperschaften und Ämter zuständig. Für die Sozialhilfe regelt § 28 Abs. 4 SGB I: „Zuständig sind die Kreise und kreisfreien Städte, die überörtlichen Träger der Sozialhilfe und für besondere Aufgaben die Gesundheitsämter. Sie arbeiten mit den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege zusammen.“

Wir finden in diesem Paragraphen die Unterscheidung zwischen den „Trägern der Sozialhilfe“ (Behörden, Körperschaften etc.), also öffentlich-rechtlichen Trägern (kurz: öffentliche Träger), und Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, also „freien Trägern“ (d. h. nicht öffentlich-rechtlichen Trägern).

Der öffentliche Träger muß gewährleisten, daß die Leistung erbracht wird, er kann aber freie Träger mit der Durchführung beauftragen und damit für die Sozialhilfeberechtigten die Leistungen von den Wohlfahrtsverbänden „erkaufen“. Dabei gilt der Grundsatz des Vorrangs freier Träger: Wenn der Wohlfahrtsverband die Hilfe leisten kann, soll der öffentliche Träger von eigenen Maßnahmen absehen (§§ 10 Abs. 4; 8 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz [BSHG]). Zusätzlich schreibt der Gesetzgeber dem öffentlichen Träger eine grundsätzliche Förderverpflichtung gegenüber dem freien Träger vor (§ 10 Abs. 3 BSHG).

Diese gesetzliche Grundlage sicherte den freien Wohlfahrtsverbänden bislang eine Vorrangstellung gegenüber kommunalen und sonstigen Anbietern sozialer Leistungen und gab damit den deutschen Wohlfahrtsverbänden eine einzigartig starke Stellung in Europa 2. Beteiligung der Wohlfahrtsverbände an der Planung sozialer Maßnahmen Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Wohlfahrtsverbände bei der Planung sozialer Maßnahmen sind gesetzlich geregelt. Auch hier zeigt sich in der Sozialgesetzgebung die besondere Stellung der Wohlfahrtsverbände: So sind etwa bei kommunalen Vorhaben der Kinder-und Jugendhilfe (z. B. Kindergartenbau, Einrichtung eines Jugendzentrums) die freien Träger „in allen Phasen ihrer Planung frühzeitig zu beteiligen“ (§ 80 Abs. 3 Kinder-und Jugendhilfe-Gesetz [KJHG]). Zu diesem Zweck soll der öffentliche Träger Arbeitsgemeinschaften gründen, in denen auch Wohlfahrtsverbände Mitglieder sind (§ 78 KJHG). 3. Die Besonderheit sogenannter „intermediärer Instanzen“

Prinzipiell können soziale Dienstleistungen („Humandienstleistungen“) auch von gewerblichen Anbietern („profit-sector“) oder von der staatlichen Versorgungsinstanz („non-profit-sector“) geleistet werden. Allerdings gibt es eine Reihe von Organisationen, die weder rein staatlichen Stellen noch eindeutig dem gewerblichen Sektor zugeordnet werden können. Zu diesen sogenannten „inter­ mediären Instanzen“ sind sowohl freie Wohlfahrtsverbände als auch Selbsthilfegruppen, aber auch andere Körperschaften (z. B. Kirchen) zu zählen

Woraus beziehen nun Wohlfahrtsverbände in diesem Anbietermarkt ihre spezifische Daseinsberechtigung?

Im traditionellen Selbstverständnis der Verbände erfüllen sie einen wichtigen Beitrag zwischen den Versorgungsinstanzen „Markt“ und „Staat“: Dort, wo diese Instanzen bei der Versorgung mit sozialen Dienstleistungen versagen, könnten nur sie eine menschenwürdige Lebensführung Bedürftiger fördern Mit „Versorgung“ sind dabei nicht nur Hilfen im Sinne der klassischen sozialstaatlichen Instrumentarien Recht und Geld, sondern besonders auch psychische und soziale Förderung gemeint.

Aus ihrer besonderen Stellung und Tradition erklärt sich auch die Organisationsstruktur der freien Wohlfahrtsverbände. In aller Regel sind sie als gemeinnützige Vereine nach dem Vereinsrecht organisiert und nicht nach den in der gewerblichen Wirtschaft üblichen Möglichkeiten des Handelsrechts (z. B. GmbH). 4. Abrechnungsmodalitäten sozialer Dienstleistungen Sachleistungsprinzip Die Erbringer der Leistungen (z. B. Sozialstationen) verpflichten sich, die vertraglich vereinbarten Pflegekosten nicht mit den Gepflegten selber, sondern nur mit der Solidarkasse (z. B.der Pflegekasse) abzurechnen. Auf diese Weise zahlt der Patient nicht selbst, der Leistungserbringer seinerseits darf, außer der Rechnung an die Pflegekasse, keine weitere Rechnung an den Pflegebedürftigen stellen. Somit ist der, der die Leistung bezahlt (die Kasse also) nicht der, der die Leistung konsumiert (der Pflegebedürftige) -ein u. a. psychisch und sozial wesentlicher Unterschied zum Normalgeschäft, wo Leistung gegen Entgelt erfolgt. Hier stehen sich der Wohlfahrtsverband und die Pflegekasse als Vertragspartner gegenüber, der Pflegebedürftige muß sich nicht darum kümmern (oder bemühen). Das Pflegeversicherungsgesetz läßt mittlerweile auch davon abweichende Regelungen zu.

Bindung an Pflegesätze Zwischen den öffentlich-rechtlichen Sozialhilfeträgern und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrt werden auf der Grundlage des § 93 Abs. 2 BSHG für die Leistungserbringung verbindliche Kostensätze ausgehandelt Staat und Wohlfahrtsverband treten sich als gleichberechtigte Partner gegenüber; dadurch erhält das Ergebnis des Aushandelns -die „Pflegesatzvereinbarung“ -den Charakter eines Vertrages, nicht eines Gesetzes oder einer Verordnung. Gemeinsam regeln Anbieter und Kostenträger (nicht die Empfänger der Leistungen) Art, Umfang und Kosten sozialer Leistungen. Ebenso geregelt ist die Verfahrensweise mit den Pflegekassen.

Komplexes Finanzierungssystem Immer wieder monieren die freien Verbände, die Pflegesätze seien nicht kostendeckend Aus diesem Grund müßten sie zusätzliche finanzielle Mittel zur Finanzierung ihrer sozialen Dienstleistungen beschaffen (z. B. Spenden, Mitgliedsbeiträge). Dies kann im Einzelfall bedeuten, bis zu 16 verschiedene Kostenträger heranziehen zu müssen, deren Verwendungsnachweise, Auflagen und Verwaltungsrichtlinien dann wieder zu berücksichtigen sind. Die Folge ist ein erheblicher Verwaltungsaufwand.

Abhängigkeit wohlfahrtsverbandlicher Planungen Das Finanzierungssystem erzeugt -aus der Sicht der Wohlfahrtsverbände -auch erhebliche Planungsunsicherheit, insbesondere, wenn es sich um freiwillige Zuschüsse je nach der Haushaltslage der öffentlichen Hände handelt. Von Verbandsvertretern wird beklagt, daß die Wohlfahrtsverbände durch das geschilderte Finanzierungssystem in zunehmende Abhängigkeit von den Finanzierungsträgern geraten.

Durch dieses Finanzierungssystem ist der Leistungserbringer (der Verband also) nicht mehr Herr der eigenen Leistungsgestaltung, oder anders ausgedrückt: Der Sozialhilfeträger diktiert mit den Preisen auch die Art und Form der Leistungen, die er finanziert Dieses Prinzip tritt deutlich beim neuen Pflegesatzrecht zutage. In einem Schreiben des Bundesministeriums für Familie und Senioren vom 19. Januar 1994 heißt es dazu: „In den Vereinbarungen über , Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen sowie über die dafür zu entrichtenden Entgelte 1 sind daher auch Regelungen zu treffen, die den Trägern der Sozialhilfe eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen ermöglichen.“

III. Sozialwissenschaftliche Standortbestimmung

Für die Sozialwissenschaften wirft die Stellung der Wohlfahrtsverbände zwischen Staat und Gesellschaft eine Reihe von Fragen auf:

Einerseits wurde durch das System der Freien Wohlfahrtspflege zweifellos ein hohes Maß an Stabilität bei der Bereitstellung sozialer Leistungen erreicht. Andererseits haftet den Verbänden in ihrer Funktion als Dienstleister das Odium des „Oligopolisten“ oder gar des „Monopolisten“ an Indizien dafür seien die gegenseitigen Absprachen der Wohlfahrtsverbände zur Aufteilung des „Marktes“ sozialer Dienstleistungen. So haben sich die Wohlfahrtsverbände beispielsweise bundesweit die Ausländerberatung oder -in München -die (fast vollständig von der Stadt finanzierten) Alten-und Service-Zentren untereinander „aufgeteilt“. Man müsse, so einige Sozialwissenschaftler, solche Absprachen, die im Einvernehmen mit öffentlich-rechtlichen Trägern geschehen, als „Kartellbildung“ bezeichnen

Ein weiterer Hinweis für die These der Kartellbildung unter behördlicher Mitwirkung sei die Angleichung der Bürokratien der Verbände an die der öffentlichen Verwaltung. Diese Angleichung der Strukturen zwischen Wohlfahrtsverbänden und staatlichen Stellen führe zu einer behörden-ähnlichen Organisation bei den freien Wohlfahrts-verbänden und damit auch zu entsprechenden Verhaltensweisen Die aufeinander bezogenen Haushaltspläne von öffentlichen Körperschaften und freien Trägern verhinderten marktwirtschaftlich orientierte langfristige Planungen Dadurch würden die Dienstleistungen nicht nur teurer als unter Marktbedingungen auch die Freiheit der Konsumenten (der „Klienten“) würde zugunsten einer paternalistischen Betreuung verhindert

Die fehlende Innovationskraft der Verbände, die zu innerer Erstarrung führe, sei außerdem der Preis des jahrzehntelangen Schutzes vor Konkurrenz-und Marktdruck durch das Subsidiaritätsprinzip das staatliche Aufgaben zwar an gesellschaftliche Träger delegiert, nicht aber zugleich zu einem offenen, marktwirtschaftlichen Wettbewerb führt.

Zweifelsfrei erbringen -dies läßt sich jenseits aller Verbände-Polemik einigermaßen empirisch gesichert erkennen -Wohlfahrtsverbände Leistungen (z. B. im Bereich der Alten-und Krankenhilfe), wie sie zumindest dem äußeren Anschein nach auch von gewerblichen Anbietern erbracht werden, wodurch sich Wohlfahrtsverbände faktisch in Konkurrenz zu gewerblichen Anbietern befinden. Konkurrenz aber gehört zu den „normalen“ Spielregeln marktwirtschaftlichen Geschehens. Dementsprechend lassen sich im Bereich der Freien Wohlfahrt mindestens zwei Zielkonflikte beschreiben: 1. Zielkonflikt: Erfüllt der Wohlfahrtsverband die Bedingungen des Marktes, oder spezialisiert er sich auf die Zielgruppen, bei denen der Markt offensichtlich „ versagt“?

Wenn sich ein Wohlfahrtsverband zunehmend auf die Bedingungen eines offenen Marktes einstellen wollte, müßte er -wie jedes andere Unternehmen auch -sich die Marktsegmente heraussuchen, die ihm ein rentables Ergebnis versprechen. Er müßte dann Leistungen so „verkaufen“, daß sie möglichst zahlungskräftige Abnehmer am Markt finden. Dies wäre dann eine andere Zielsetzung als die, denjenigen Menschen eine Leistung anzubieten, die eben nicht zu den potentiell zahlungskräftigen Kunden gehören. Bei Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft Leistungen „kaufen“ können, weil ihnen das Geld, die Gesundheit oder das psychische Vermögen fehlt, versagen offenbar die Marktgesetze. Bei „Bedürftigen“ ist zwar der Leistungsbedarf sehr hoch; die Mittel, ihn zu befriedigen, aber sind gering.

Die Auswirkungen eines veränderten Selbstverständnisses werden spätestens dann offenkundig, wenn es um die „Image“ -Pflege der Wohlfahrtsverbände geht: Wirbt ein Verband um Spenden mit dem Slogan, für die „Ärmsten der Armen“ zu sorgen, oder „verkauft“ er seine Leistungen wie jedes andere Dienstleistungsunternehmen? 2. Zielkonflikt: Orientiert sich der Wohlfahrtsverband an den Gesetzen des Marktes, oder läßt er sich in sozialstaatliche Verantwortung einbinden?

Als Marktteilnehmer müßte ein Verband bestrebt sein, in eigener Kalkulation sowohl seine Preise selbst zu gestalten, als auch sich seine Leistungen nach Einzelverträgen mit den „Kunden“ bezahlen zu lassen. Dadurch ließe sich eine optimale „Gewinn“ -Kalkulation erreichen. Mit den Gewinnen könnten dann andere, defizitäre Bereiche finanziert werden, um trotz partieller Gewinne in der Gesamtrechnung weiterhin gemeinnützig zu bleiben. Eine solche freie Preis-kalkulation in Teilbereichen sozialer Dienstleistungen wäre allerdings eine Abkehr von dem bisherigen Sachleistungssystem, das einerseits eine gewisse Sicherheit durch die Einbindung in öffentlich-rechtliche Vorgänge bietet (schließlich gewährleistet der Sozialhilfeträger sichere Erträge), andererseits keine freie Preisgestaltung und Privatverträge ermöglicht

Dahinter steht ein grundsätzlicher Zielkonflikt: Will der Verband als Auftragnehmer des Sozialstaates finanzielle Sicherheit anstreben, indem er für sich in Anspruch nimmt, dem Staat damit Auf-gaben abzunehmen, oder macht er sich von sozial-staatlicher Definitionsmacht frei und definiert selbst, für welchen Personenkreis seine Leistungen zu welchen Konditionen vergeben werden? Programmatische und finanzielle Freiheit in wirtschaftlich rentablen Bereichen führt also möglicherweise zu einem Konflikt mit dem Staat bei den Diensten, die nicht marktwirtschaftlich organisierbar sind und in dauerhafter Abhängigkeit von staatlichen Geldern stehen (z. B. in der Obdachlosenhilfe).

IV. Neue Anforderungen an die Freie Wohlfahrtspflege

Sowohl im betriebs-als auch im volkswirtschaftlichen Sinne ergeben sich heute -unabhängig von den geschilderten möglichen Zielkonflikten -neue Anforderungen an die Wohlfahrtsverbände: 1. Betriebswirtschaftliche Anforderungen Nicht erst verschiedene Skandale und Fehlentwicklungen in der jüngsten Vergangenheit haben deutlich gemacht, daß in der Organisation, in den Entscheidungsverfahren, im Controlling, in der Personalentwicklung, aber auch im Bereich der Unternehmensphilosophie (Stichwort „corporate identity“) bei den Wohlfahrtsverbänden erhebliche Defizite aufzuarbeiten sind. Management-wissen auch im Bereich wohlfahrtsverbandlicher Dienstleistungen einzusetzen ist mittlerweile nicht mehr nur wünschenswert, sondern zum Überleben der Organisationen notwendig Die mannigfaltigen Publikationen, Fortbildungsmaßnahmen und Tagungen der vergangenen Jahre haben mittlerweile Wirkung gezeigt: In vielen Verbandsspitzen sind Managementthemen kein Tabu mehr 2. Volkswirtschaftliche Anforderungen Während im betriebswirtschaftlichen Sinne offenbar Bewegung in die Verbände kommt, verhält man sich auf der volkswirtschaftlich relevanten Ebene noch eher konservativ. Trotz unverkennbarer Probleme insbesondere im Bereich herkömmlicher Finanzierungssysteme werden Lösungen beinahe ausschließlich innerhalb des beste­ henden Gefüges gesucht. So wird nach wie vor eine „kostendeckende Finanzierung“ durch verbesserte Pflegesatzvereinbarungen gefordert.

Dies ist um so erstaunlicher, als durch private Dienstleistungsunternehmer zunehmend das überkommene Wohlfahrtsverbandssystem in Frage gestellt wird. Private Anbieter behaupten -häufig nur schwach widersprochen sie arbeiteten wirtschaftlicher als Wohlfahrtsorganisationen, weil sie auch ohne staatliche Zuschüsse, Steuerprivilegien (Gemeinnützigkeit) und Spenden auskämen. Jüngstes Beispiel dafür sind die Verhandlungen über die Pflegesätze. Während sich die privaten Pflege-dienste mit dem Vorschlag der Kassen zufrieden-geben, weigern sich die Wohlfahrtsverbände, diesen Vorschlag zu akzeptieren, da sie damit ihre Kosten nicht gedeckt sehen Gesetz-und Zuschußgeber werden sich auf Dauer wohl einer solchen Argumentation nicht verschließen können. Das Pflegeversicherungsgesetz weist erstmals einen neuen Weg, indem es den Pflegebedürftigen bzw.deren Angehörigen freistellt, statt der Sachleistung eine Geldleistung zu erhalten (§ 37 Sozial-gesetzbuch XI). 3. Veränderungen durch den Europäischen Binnenmarkt Die dem Europäischen Binnenmarkt zugrunde liegenden vier Freiheiten (freier Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen) könnten erhebliche Auswirkungen auf die Freie Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik haben Während nicht zuletzt durch die europäische Wettbewerbsdoktrin auch national eine stärkere Konkurrenz durch private Anbieter zu erwarten ist, ist auf europäischer Ebene die bevorzugte Stellung der Verbände in Frage gestellt. Der europäische Binnenmarkt könnte eine Niederlassungsfreiheit für europäische Anbieter sozialer Dienste bringen, wodurch sich die deutschen wohlfahrtsverbandlichen Dienste plötzlich ausländischer Konkurrenz gegenübersähen. Noch ist die Frage nicht entschieden, ob sich auf europäischer Ebene das deutsche Modell starker Wohlfahrtsverbände wird halten können, oder ob sich die Vertreter des „reinen Wettbewerbs“ durchsetzen, was zur Folge hätte, daß Zuschüsse an die Wohlfahrtsverbände als unerlaubte Subventionen gelten müßten Sicher ist jedenfalls, daß sich der Trend zu mehr Wettbewerb nicht aufhalten lassen wird.

Im Auftrag der Bank für Sozialwirtschaft hat die Prognos AG versucht, ein Zukunftsszenario für die Entwicklung der Wohlfahrtsverbände in einem vereinten Europa zu entwerfen. Ihre Prognose: „Auf kürzere oder längere Sicht ist davon auszugehen, daß die im Bundessozialhilfegesetz, im Sozial-gesetzbuch ... formulierte besondere Rolle der Freien Wohlfahrtspflege unwirksam wird.“

Dann könnte die bevorzugte Stellung der sechs Wohlfahrtsverbände beendet sein: Sie müßten staatliche Zuschüsse mit privaten Anbietern teilen, und eine wie auch immer geartete Unterstützungsverpflichtung des Staates gäbe es nicht mehr.

V. Marktwirtschaftliche Anfragen an die Wohlfahrtsverbände

Im Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland ist die marktwirtschaftliche Organisation in der spezifischen Spielart der „Sozialen Marktwirtschaft“ der Normalfall. Sie sieht einen untrennbaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wohlergehen und der Möglichkeit sozial orientierter Verteilung von Gütern „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) gebe es nur im Marktprozeß und nicht außerhalb desselben.

Interventionsbedarf besteht für den Sozialstaat entweder dort, wo die Marktzugangschancen des einzelnen nicht gegeben sind, oder dann, wenn Menschen den Beistand der Gemeinschaft als Überlebensgarantie brauchen. Durch die Garantie eines Mindestmaßes an Schutz vor Existenzbedrohung sollen Leben und Freiheit gesichert, Ausgrenzung vermieden, Klassengegensätze überwunden und dadurch letztlich soziale Katastrophen verhindert werden. Für diese Ordnung hat sich unser Staatswesen entschieden, weil es darin größtmögliche Freiheit mit bestmöglicher Versorgung vereint sieht. Nicht wenige Marktwirtschaftler sind jedoch davon überzeugt, daß die größere Gefahr dem Sozialstaat dann droht, wenn er zum „Versorgungsstaat“ wird Das aber kann nur heißen: Wenn es einen Sonderweg der Wohlfahrtspflege außerhalb oder gar gegen Prinzipien der Marktwirtschaft geben soll, muß dieser sich legitimieren, ja es muß einen zwingenden Grund geben, der ein Abweichen von der sonst als erfolgreich akzeptierten Wirtschaftsordnung rechtfertigt. Für eine Legitimation dieses Sonderweges sind zwei Argumente denkbar: a) die Besonderheit wohlfahrtsverbandlicher Dienstleistungen; b) das „Versorgungssegment“ der Wohlfahrtsverbände, das dort angesiedelt ist, wo Staat und Markt -vermeintlich oder tatsächlich -versagen. 1. Die Besonderheit wohlfahrtsverbandlicher Dienstleistungen Besonders die konfessionellen Verbände setzten und setzen z. T. heute noch, gemäß ihrer Tradition, auf eine karitative Gesinnung („Liebestätigkeit“) ehrenamtlicher Kräfte. Erst im Laufe der Zeit wurde dieses Potential, dessen Motivation aus christlichen Werten gespeist war, durch professionelle Tätigkeit ergänzt oder gar ersetzt. Geblieben ist häufig die ursprüngliche „Unternehmensphilosophie“, die zu befolgen bisweilen mit starken Worten angemahnt wird Solchermaßen definierte Arbeit dürfte sich jedoch nur schwer mit der Vorstellung einer marktgängigen Leistung in Einklang bringen lassen.

Auch manche SozialWissenschaftler halten personenbezogene Dienstleistungen für nicht standardisierbar und damit für nicht vergleichbar mit anderen Dienstleistungen Ohne einheitliche Leistungsstandards wäre die personenbezogene Dienstleistung aber schwerlich mit anderen Marktleistungen zu messen: nicht kosten-und personalbezogen kalkulierbar, nicht zeitlich einzugrenzen, schwer im Erfolg zu bewerten (und folglich fast nicht zu kontrollieren oder planmä­ ßig zu verändern) und damit insgesamt im betriebswirtschaftlichen Sinne kaum kalkulierbar.

Ist also eine personenbezogene Dienstleistung, wie sie ein Wohlfahrtsverband erbringt, mit einer Leistung, die nach marktwirtschaftlichen Gesetzen entsteht, grundsätzlich nicht vergleichbar?

Die Behauptung, Wohlfahrtsverbände seien schon deshalb nicht mit einem marktwirtschaftlich geführten Unternehmen zu vergleichen, weil die Mitarbeiter eine -wie auch immer geartete -„höhere“ Motivation hätten, erweist sich allzu häufig als Zweckoptimismus. Denn der Wohlfahrtssektor hat sich in den Jahrzehnten seit der Gründung der Wohlfahrtsverbände entscheidend verändert. Die Verrechtlichung und Professionalisierung der sozialen Arbeit führte durch Spezialisierung und Ausdifferenzierung zu einem spezifischen sozialen Dienstleistungssystem, in dem gut ausgebildete Experten tätig sind und nicht altruistisch eingestellte Helfer mit hohem humanistischen oder christlichen Ethos. Heute orientieren sich Fachkräfte mehr an ihrem in der Ausbildung erlernten Wissen als an traditionellen Trägerphilosophien

In ihrer formalen Struktur ist denn auch die wohlfahrtsverbandliche Dienstleistungsarbeit mit jedem anderen Erwerbszweig vergleichbar Produktionsfaktoren wie Kapital, Arbeitskraft, Know-how fließen in das Unternehmen (Input), werden im Unternehmen durch Kombination der Produktionsfaktoren umgestaltet (Transformation) und führen zu einer Dienstleistung (Output). Für diesen Prozeß gilt genauso das „Ökonomische Prinzip“, mit minimalem Aufwand das optimale Ergebnis zu erreichen. Auch für den Sektor der Freien Wohlfahrtspflege gelten die Gesetze des Arbeitsmarktes, der Notwendigkeit der Kosteneinsparung (und damit der Rationalisierung). Auch die Leistungen der Wohlfahrtsverbände müssen angeboten werden und bedürfen daher einer -wie immer man es nennt -Marketingstrategie.

Sofern man also nicht von vornherein Marktwirtschaft mit Gewinnmaximierung gleichsetzt, sind betriebswirtschaftliche Kriterien durchaus anwendbar. Daß sich Wohlfahrtsverbände häufig dennoch gegen solche betriebswirtschaftlichen Effizienz-Überlegungen sperren, hängt möglicherweise auch damit zusammen, daß der sozia-len Arbeit eigene Maßstäbe der Qualitätsanalyse fehlen.

Anders gefragt: Ginge einer Dienstleistung, die durch einen Wohlfahrtsverband erbracht wird, etwas verloren, wenn sie durch einen Vertrag zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger abgesichert, nach frei ausgehandelten Preisen finanziert, durch direkte Finanzierung vom Klienten (Kunden) bezahlt, durch Konkurrenten zur „kunden“ -freundlichen Gestaltung gezwungen würde? Eher ist das Gegenteil zu erwarten: Der „Klient“ würde zum „Kunden“, der souverän die Leistung so kauft, wie er sie haben will. Er würde zum selbständigen Nutzer einer Leistung, statt zum Betreuten, der auf Gestaltung, Preis und Anbieterauswahl keinen Einfluß hat -ein Ziel, das sich die Sozialarbeit immer auf die Fahnen schreibt. 2. Die Theorie des Marktversagens Schwieriger als der formale Vergleich zwischen wohlfahrtsverbandlicher und marktwirtschaftlicher Leistungserbringung erscheint das Problem des jeweiligen Zielpublikums zu sein. In der Tat muß die Frage gerade nach denen gestellt werden, die nicht -oder nicht mehr -die Kaufkraft oder die Fähigkeit haben, sich Leistungen „am Markt“ kaufen zu können. Der Gewährleistungsanspruch des Sozialstaates verlangt eben auch die Versorgung minderbemittelter oder behinderter Bürger mit sozialen Leistungen. Wohlfahrtsverbände als Organisationen, die nicht nach maximalem Gewinn streben, entstünden, so eine sozialwissenschaftliche Hypothese, gerade dadurch, daß die Versorgungsinstanz Markt versagt. Wenn es die Wohlfahrtsverbände nicht gäbe, mithin marktwirtschaftliche Gesetze lückenlos angewendet würden, käme es zu einer „suboptimalen Bereitstellung bestimmter Güter“ für die bedürftigen Personen, die aus Mangel an Kaufkraft durch für sie zu hohe Preise von der Leistung ausgeschlossen würden.

Für diese Bedürftigen ist also der Beitrag der Wohlfahrtsverbände nicht nur eine persönliche Überlebensgarantie, sondern im Sinne des marktwirtschaftlichen Gesamtgefüges systemstabilisierend, weil er dessen offensichtliche Schwächen ausbalanciert.

Daß jedoch unter dem Dach der Wohlfahrtsverbände nicht nur minderbemittelte Menschen betreut werden, zeigt ein Blick auf die Leistungsbi-lanz: So betrieben die Wohlfahrtsverbände beispielsweise rund 1100 Krankenhäuser 19400 Kindertagesstätten und rund 13 000 Einrichtungen der Altenhilfe Es ist nicht zu vermuten, daß diese Dienste ausschließlich für sozial Schwache bereitgestellt werden

Trotzdem bleibt das Dilemma natürlich bestehen: Die Versorgung der ganzen Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen ist integraler Bestandteil des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft -und eben auch derjenigen, die sich diese Leistungen nicht „kaufen“ können. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Lösung dieses Problems nicht unmittelbar und ausschließlich von Marktmechanismen zu erwarten ist

Ginge man generell daran, das bisherige Finanzierungssystem („Sachleistungsprinzip“) durch eine direkte Subventionierung der privaten Haushalte zur Stärkung von deren Kaufkraft zu ersetzen so könnte dies zumindest für einen Teil der Betroffenen faktisch zu einer sozialstaatlichen Leistungsverweigerung führen -müßten sie dann doch ihren Leistungsanspruch selbständig geltend machen. Es ist am hohen Prozentsatz der „verdeckten Armut“ ersichtlich, daß ein subjektiver Rechtsanspruch häufig genug nicht zur Realisierung des Rechts führt. Hier wäre zu überlegen, ob nicht doch andere Versorgungsinstanzen die klassische monetäre und rechtliche Ausrichtung der sozialstaatlichen Versorgung ergänzen müßten, etwa genossenschaftliche, nachbarschaftliche und ko-operative Selbsthilfenetze Eine solche Förderung kann beispielsweise der gezielte Aufbau von Selbsthilfe-Kontaktstellen, Helferbörsen und Nachbarschaftshilfen, aber auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Ehrenamtlichen sein Schließlich könnten die Wohlfahrtsverbände Vor-reiter einer Sozialreform sein, deren Zielrichtung die Schaffung dezentraler und überschaubarer Versorgungsstrukturen ist. In diesen „kleinen“ sozialen Netzen in denen nicht anonyme und bürokratische Großorganisationen nachbarschaftliche Solidarität verdrängen, könnten Mängel sozialstaatlicher Versorgung ausgeglichen werden. Dies wäre eine ebenso wirksame wie sinnvolle Renaissance des alten Subsidiaritätsanliegens der Wohlfahrtsverbände. Norbert Blüm ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Erst Subsidiarität schafft den Boden für mehr Verantwortung und mehr Füreinander. Sie ist Gegenwehr, die nicht Mitverantwortung, Mitgefühl und Zuwendung an Apparate delegiert und die Nächstenliebe den Profis überläßt.“

Mit der Etablierung dieses Instrumentariums ergäbe sich eine originäre und sinnvolle Aufgabenteilung zwischen staatlicher Intervention und wohlfahrtsverbandlicher Initiative, deren Finanzierung durch sozialstaatliche Mittel gerechtfertigt wäre.

VI. Ausblick

Wir kommen zurück auf die Ausgangsfrage: Wie verhalten sich Wohlfahrtsverbände unter marktwirtschaftlichen Bedingungen? Die an die Wohlfahrtsverbände selbst gerichteten Anforderungen lassen sich vergleichsweise leicht benennen. Es ist evident, daß die Öffnung für marktwirtschaftliche Denk-und Verhaltensweisen zu ihrer Überlebensbedingung wird. Damit aber stellt sich die Frage nach der Berechtigung der Freien Wohlfahrtspflege überhaupt: Würde nicht eine weitgehende Verlagerung sozialer Dienstleistungen in die Hand privater Träger zu einer Verbesserung für die Bedürftigen führen?

Diese Frage wurde zuletzt in Zusammenhang mit der Pflegeversicherung diskutiert, als Streit entstand um die Höhe der Pflegesätze. Während die privaten Anbieter das Angebot der Pflegekassen akzeptierten, lehnten die Wohlfahrtsverbände mit Hinweis auf höhere Kosten fachlich qualifizierter Pflege ab. Die Reaktion der Pflegekassen ließ nicht lange auf sich warten: „Wenn die Wohlfahrtsverbände zu diesem Preis nicht arbeiten könnten, müßten sie eben aussteigen. Dies sei nicht tragisch. Es werde genügend Konkurrenz geben, die die Pflege-aufgaben übernehmen könne.“

Ob diese „Lösung“ im Einzelfall richtig ist, bleibt fraglich. Sicher ist: Eine Verdrängung der Wohlfahrtsverbände aus dem Sektor sozialer Dienstleistungen, die marktgerecht zu organisieren sind, hätte erhebliche Konsequenzen für das Gesamtsystem. Zum einen ginge das in langjähriger Erfahrung gewonnene Know-how verloren, und damit ein Stück Qualität. Zum andern würden sich private Anbieter dann allein an der Gewinnseite des Leistungsspektrums orientieren, während den Wohlfahrtsverbänden die Verlustbereiche verblieben. Ein Verlustausgleich zwischen defizitären und nicht-defizitären Bereichen wäre nicht mehr gegeben, die Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung würde den Wohlfahrtsverbänden die Möglichkeit nehmen, unabhängig von staatlichen Vorgaben fachlich flexibel auf Notlagen zu reagieren. Mit einer Aushöhlung der wirtschaftlichen Basis wäre auch der durch die Wohlfahrtsverbände bereitgestellte Leistungsverbund (z. B. mit dem Einsatz von Ehrenamtlichen) gefährdet. Schließlich könnte „langfristig eine neue Angebotsstruktur sozialer Dienstleistungen“ entstehen, „die nicht mehr das Zusammenwirken von staatlicher Planungsverantwortung und eigenständiger Aufgabenerfüllung durch freie Träger zur Grundlage hat“ Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die Verwirklichung einer flächendeckenden und bedarfsgerechten Versorgung insbesondere der minderbemittelten Bevölkerungsgruppe.

Vor einer allzu leichtfertigen Privatisierungsdebatte sei also nachdrücklich gewarnt.

Zum Abschluß vier Thesen als Anstoß für weitere Überlegungen: 1. Ein Großteil der Dienstleistungen der Wohlfahrtsverbände wird in Konkurrenz zu gewerblichen Anbietern geleistet. Für diese Dienstleistungen ist eine Sonderstellung der Wohlfahrtsverbände nur noch sehr schwer begründbar. Marktwirtschaftliche Regeln sind in diesem Segment problemlos anwendbar. Allenfalls die überkommenen Finanzierungsmodi hemmen hier konsequentes marktwirtschaftliches Verhalten. 2. Für einen kleinen Teil wohlfahrtsverbandlicher Leistungen, die sich im Bereich des Segmentes befinden, in dem marktwirtschaftliche Instrumente wegen der Besonderheit der Zielgruppe versagen, stellt sich die Frage nach der Gestaltung und Finanzierung des Angebotes. In internen Zieldiskussionen wird jeder freie Wohlfahrtsverband klären müssen, ob er weiterhin bereit ist, als Auftrag-nehmer sozialstaatlicher Aufgaben programmatisch und finanziell vom Auftraggeber Staat abhängig zu sein, oder ob er zugunsten seiner Gestaltungsfreiheit durch konsequentes Ausschöpfen eigener Ressourcen auch seine ideellen Ziele selbst finanziert. 3. Für eindeutig sozialstaatliche Aufgaben, die ein Wohlfahrtsverband als Dienstleistung für staatliche Stellen ausführt, muß er von diesen entsprechend finanziert und vertraglich abgesichert werden sowie in der Gestaltung der Auftragserfüllung freie Hand erhalten. Andererseits muß der Weg der Vergabe dieser öffentlichen Aufträge nachvollziehbar und in jeder Hinsicht transparent sein. 4. Die Verbände vereinen derzeit meist verschiedenste Versorgungsinstanzen (marktwirtschaftlich operierende Unternehmen, sozialstaatliche Auftragnehmer und selbstorganisierte Gruppen) unter einem (Vereins-) Dach. Dadurch wird es allen Teilen schwer, ihre jeweils eigenen Stärken zu entfalten. Es ist zu überlegen, ob nicht eine stärkere organisatorische Trennung zwischen diesen Instanzen für alle Bereiche mehr Entfaltungsfreiheit brächte. Zu bedenken ist dabei wiederum das Grundproblem, daß gewinnorientierte Segmente erst das Fundament schaffen für gemeinwohlorientierte Dienstleistungen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Freie Wohlfahrtspflege im Sozialstaat, Bonn 1992, S. 9.

  2. Vgl. Johannes Münder, Träger der Sozialhilfe, in: Wolfgang Müller (Hrsg.), SelbstHilfe: ein einführendes Lesebuch, Weinheim-Basel 1993.

  3. Vgl. Bernd Schulte, Das Verhältnis zwischen öffentlichen und freien Trägern in internationaler Perspektive, in: Johannes Münder/Dieter Kreft, Subsidiarität heute, München 1990.

  4. Humandienstleistungen verstanden als „eine Arbeit, deren Nutzwirkung sich unmittelbar auf eine andere Person erstreckt“, Adolf Völker, Allokation von Dienstleistungen, Frankfurt-New York 1984, S. 43.

  5. Vgl. Hans Oliva/Hubert Oppl/Rudolf Schmid, Rolle und Stellenwert Freier Wohlfahrtspflege, München 1991, S. 19ff.

  6. Vgl. z. B. Hans Flierl, Privatisierung auch für soziale Dienste?, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst, 45 (1993) 11, S. 97.

  7. Neuerdings sitzen in Bayern auch die privaten Anbieter mit am Verhandlungstisch; vgl. Hans Flierl, Veränderungen gestalten -Neues zur Struktur der Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst, 47 (1995) 1, S. 9.

  8. So z. B. Georg Simnacher, Ist die Pflege noch zu bezah len?, in: Caritasverband der Erzdiözese München und Freising/innere Mission, Sozialstation 2000. Zur Zukunft der Pflege, München 1992, S. 101.

  9. So Hubert Oppl, Zur „Marktposition“ der Freien Wohlfahrtspflege, in: Soziale Arbeit, 41 (1992) 5, S. 156.

  10. Ein Beispiel nannte die Main-Post vom 11. 2. 1994. Unter der Überschrift „Im Pflegezimmer wird nur noch das Mehrbettzimmer bezahlt“ berichtete die Zeitung von Protesten des Caritasverbandes gegen einen derartigen Beschluß des Bezirkes Schwaben.

  11. Abgedruckt im Bayerischen Wohlfahrtsdienst, 46 (1994) 2, 8. 14.

  12. Vgl. Dietrich Thränhardt, Im Dickicht der Verbände, in: Rudolph Bauer/Hartmut Dießenbacher (Hrsg.), Organisierte Nächstenliebe, Opladen 1988, S. 46.

  13. Walter Didicher, Sozialpolitische Perspektiven und freie Träger, Konstanz 1987, S. 399.

  14. Die These der gegenseitigen Durchdringung von Verbänden und Staat ist unter dem Namen „Neokorporatismus“ in die Literatur eingegangen. Vgl. Rolf Heinze, Verbände-politik und Neokorporatismus, Opladen 1981, S. 71.

  15. Vgl. Peter Schwarz, Management in Nonprofit Organisationen, Bern u. a. 1992, S. 330.

  16. Vgl. Hubert Oppl, Der Markt als letzte Chance, in: Social Management, 4 (1994) 5, S. 27.

  17. Vgl.ders., Rolle und Stellenwert Freier Wohlfahrtspflege aus sozialwissenschaftlicher und aus der Sicht kommunaler und kommerzieller Anbieter, in: Herbert Effinger/Detlef Luthe (Hrsg.), Sozialmärkte und Management. Herausforderungen bei der Produktion Sozialer Leistungen im Intermediären Bereich, Bremen 1993, S. 125.

  18. Vgl. Hans-Dietrich Engelhardt, Innovation durch Organisation, München 1991, S. 10.

  19. Vgl. Herbert Effinger, Soziale Dienste zwischen Gemeinschaft, Markt und Staat, in: H. Effinger/D. Luthe (Anm. 17), S. 16.

  20. In der Süddeutschen Zeitung vom 21. 3. 1995, S. 21, beklagte das Diakonische Werk im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung: „Zehn Tage vor Leistungsbeginn wissen die Pflegedienste noch nicht, zu welchen Preisen sie arbeiten werden.“

  21. Vgl. Wolfgang Seibel, Besondere Managementrisiken bei Wohlfahrtsverbänden, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 43 (1992) 1, S. 190ff.

  22. Vgl. z. B. Albert Hauser, Caritas in der Diözese mit neuer Struktur, in: Caritas '95, Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 1994, S. 47ff.

  23. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 28. 3. 1995, S. 2.

  24. Vgl. hierzu: Frank Loges, Entwicklungstendenzen Freier Wohlfahrtspflege im Hinblick auf die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, Freiburg 1994, S. 27ff.

  25. Vgl. Peter Eichhorn, Auf dem Markt bestehen oder untergehen, in: Caritas. Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, 95 (1994) 3, S. 102.

  26. Prognos AG, Freie Wohlfahrtspflege im zukünftigen Europa, Basel-Köln 1991, S. 34.

  27. Vgl. Walter Hamm, An den Grenzen des Wohlfahrtsstaats, in: Karl Hohmann/Dietrich Schönwitz/Hans-Jürgen Weber/Horst Wünsche (Hrsg.), Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Band 2, Stuttgart-New York 1988, S. 367.

  28. Ludwig Erhard (Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957, S. 259) meint, die „Flucht vor der Eigenverantwortung“ führe unweigerlich zu einer Haltung, bei der „jeder die Hand in der Tasche des anderen hat“. Neuerdings warnt Peter Koslowski (Der soziale Staat der Postmoderne, in: Christoph Sachße/Tristam Engelhardt, Sicherheit und Freiheit, Frankfurt 1990, S. 50) vor der „Sozialstaatsillusion“.

  29. So schlägt beispielsweise der Professor für Caritas-Wissenschaften Heinrich Pompey (Das Profil der Caritas und die Identität ihrer Mitarbeiter/-innen, in: Caritas '93, Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 1992, S. 25) dem Caritasverband vor, angesichts der Entfremdung der Mitarbeiter von der Kirche nur noch Einrichtungen zu betreiben, in denen die eigenen theologischen Vorgaben uneingeschränkt gelten und nur noch praktizierende Christen arbeiten.

  30. Vgl. H. -D. Engelhardt (Anm. 18), S. 138.

  31. Vgl. Gerhard Frank/Claus Reis/Manfred Wolf, „Wenn man die Ideologie wegläßt, machen wir alle das gleiche...“, Frankfurt 1994.

  32. So Christoph Badelt, Soziale Dienste und Wirtschaftlichkeit, in: H. Effingdr/D. Luthe (Anm. 17), S. 143.

  33. Vgl. H. Oppl (Anm. 17), S. 125f.

  34. Eberhard Goll, Die Freie Wohlfahrtspflege als eigener Wirtschaftssektor, Baden-Baden 1991, S. 49.

  35. Nach den Zahlen von 1993, in: Heinz Niedrig, Daten und Tendenz der freien Wohlfahrstpflege, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 45 (1994) 8, S. 300.

  36. Vgl. ebd., S. 303.

  37. Vgl. ebd., S. 300.

  38. Vgl. Rudolph Bauer (Anatomie der Wohlfahrtsverbände, in: Claus Mühlfeld/Hubert Oppl/Hartmut Weber-Falkensammer/Wolf-Rainer Wendt [Hrsg. ], Sozialarbeit und Wohlfahrtsverbände -Hilfe mit beschränkter Haftung?, Frankfurt 1987, S. 14) kommt gar zu dem Schluß, daß die Arbeit auf „klassischen“ Feldern der Armenpflege inzwischen nur noch marginalen Stellenwert bei der Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände einnehme.

  39. So bezweifelt die Bundesregierung beispielsweise, daß eine humane, soziale und psychische Betreuung etwa von gebrechlichen, behinderten und psychisch kranken Menschen über den Markt gewährleistet werden kann. (Aus einem „Problempapier“ des Bundesministeriums für Familie und Senioren, zit. in: Frank Loges, Wohlfahrtsverbände als Unternehmer, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 45 [1994] 2, S. 61.)

  40. Vgl. Antonin Wagner, Zur Rolle gemeinwirtschaftlicher Träger in der Gesundheitspolitik, in: H. Effinger/D. Luthe (Anm. 17), S. 89; Dietmar Freier, Mehr Markt und weniger Dirigismus in der Sozialen Arbeit, in: Marina Lewkowicz (Hrsg.), Neues Denken in der Sozialen Arbeit. Mehr Ökologie -mehr Markt -mehr Management, Freiburg 1991, S. 116.

  41. Vgl. Andre Gorz, Richtziele für eine Neugestaltung des Wohlfahrtsstaates, in: Michael Opielka/Illona Ostner, Umbau des Sozialstaates, Essen 1987, S. 144.

  42. Vgl. Fritz Vilmar/Brigitte Runge, Auf dem Weg zur Selbsthilfegesellschaft?, Essen 1989, S. 146; s. auch Warnfried Dettling, Die neue Subsidiarität, in: J. Münder/D, Kreft (Anm. 3), S. 64.

  43. Peter Groß, Der Wohlfahrtsstaat und die Bedeutung der Selbsthilfebewegung, in: Soziale Welt, 33 (1982) 1, S. 43 nennt diese Strukturen „Sozialgemeinden“.

  44. Zit. in Joachim Merchel, Alte und neue Subsidiarität, in: Neue Praxis, 14 (1984), S. 302.

  45. Süddeutsche Zeitung vom 28. 3. 95, S. 2.

  46. F. Loges (Anm. 39) S. 65.

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Wolfgang Klug, Dipl. -Sozialpädagoge, M. A., geb. 1960; Studium der Sozialpädagogik und der Philosophie in München; seit 1986 Leiter eines Sozialzentrums; seit 1991 nebenberuflich Lehrauftrag für praxis-orientierte Ausbildung an der Fachhochschule für Sozialpädagogik; derzeit Promotion im Bereich der Wohlfahrtsverbändeforschung. Veröffentlichungen u. a.: „Du findest überall einen Bruder oder eine Schwester.. “ -Arbeitshilfe für Flüchtlingsbetreuer, München 1994; Professionalität und kirchliche Wertorientierung -ein Gegensatz? (i. E.); Veröffentlichungen zu Problemen der Arbeitslosigkeit.