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Political Correctness, Identität und Werterelativismus | APuZ 21-22/1995 | bpb.de

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APuZ 21-22/1995 Schlagwort oder Kampfbegriff? Zur „Political Correctness“ -Debatte in den USA Political Correctness, Identität und Werterelativismus „Political Correctness“ oder die Reinigung der Sprache Jahresbände Aus Politik und Zeitgeschichte 25-dm Jahrgang DdS Parlament, 1953-1992 1994 - mit inhaltsverzeichnis, sach-und personenregister zuzügl. versandspesen noch begrenzt vorrätig (preis w. o.) jahrgang: 1993

Political Correctness, Identität und Werterelativismus

Cora Stephan

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Deutschland haben wir, so scheint es, die heftigsten Debatten über Political Correctness (PC) bereits hinter uns: Die Frauenbewegung hat sich mit ihrer Forderung nach einer Repräsentanz des Weiblichen in der Sprache sehr weitgehend durchgesetzt. Ist PC hierzulande also nur eine Frage des Respekts bzw. eine neue Weise der Höflichkeit? Nein, denn PC als Strategie der Anerkennung gesellschaftlicher Minderheiten entwirft keinen universalen Wertekanon, sondern formuliert Sprachregelungen, die die „Identität“ dieser Minderheiten würdigen und betonen sollen. PC bedeutet letztlich das Untergehen eines allgemeinen Werte-kanons in einer Art „Kulturrelativismus“, der womöglich einer fragmentierten modernen Gesellschaft sogar entspricht. Die Kehrseite: „Werterelativismus“ verzichtet auf zivilisatorische Errungenschaften wie Unparteilichkeit der Gerichte und Repräsentativität der parlamentarischen Demokratie zugunsten von „Stammesrecht“ und Lobbyismus. Die Logik von PC ist letztlich ethnizistisch, denn eine darauf sich berufende „Identitätspolitik“ begründet Differenzen mit „Natur“. Natur aber ist nicht verhandelbar, nicht kompromißfähig. Es gibt deutsche Denktraditionen, die einem solchen Werterelativismus entgegenkommen und die im alten Gegensatz von „Kultur“ und „Zivilisation“ wurzeln. In der Debatte um die „doppelte Staatsangehörigkeit“ läßt sich nachvollziehen, wie auch hier letztlich der kulturellen Differenz der Vorzug gegeben wird vor dem politischen Gesellschaftsvertrag. Ist diese Art eines „Zurück zur Gemeinschaft“ letztlich der Preis der Moderne? Schwächt der Werterelativismus die Selbstbehauptung der westlichen Demokratien gegenüber Spielarten des Fundamentalismus?

I.

Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland, so scheint es manchmal, die Hoch-Zeit der Political Correctness (PC) längst hinter uns, sofern man unter PC die Übung versteht, gesellschaftlichen Minderheiten auf semantischer Ebene Anerkennung zu verschaffen: Der hiesige Feminismus z. B. hat überaus erfolgreich eine neue Sprachregelung durchgesetzt, wonach im alltäglichen Sprachgebrauch auch die weibliche Form „Vorkommen“ muß. Die Reeducation der männlichen westdeutschen Bevölkerung ist geglückt: Die Männer der Öffentlichkeit verstehen es heute hervorragend, auch vor weitgehend frauenfreien Versammlungen ihr „Meine Damen und Herren“ zu intonieren. Es ist ja auch erheblich einfacher, den Frauen auf symbolischer Ebene Tribut zu zollen, als ihnen handfest Platz und Positionen einzuräumen.

Wer hier einwendet, die Aufladung des Genus, des grammatischen Geschlechts, mit Attributen des Männlichen und Weiblichen, die Sexualisierung der Sprache also, sei eine genuin romantische Erfindung und keineswegs jahrhundertealte patriarchalische Sprachpraxis -der im grammatischen Sinn männliche Genus habe also keineswegs immer schon Frauen ausgeschlossen -, verfehlt die Intention der feministischen Sprachkritik. Das wissenschaftliche Argument, es gehe um „Wiederherstellung“ der weiblichen Präsenz, um die Aufhebung ihrer Verdrängung aus dem Sprachraum, ist zweitrangig. Vor allem ist feministische Sprach-kritik Teil einer Strategie der Anerkennung.

Der Kampf um die Semantik ist Kampf um Anerkennung -das gilt auch für andere gesellschaftliche Minderheiten, spielt indes als Strategie ethnischer Minderheiten im noch immer relativ homogenen Deutschland eine eher geringe Rolle. Viele Sprachregelungen beziehen sich auf die Vergangenheit: Die Nazi-Terminologie soll gemieden werden. Wer von den „Novemberpogromen“ redet statt von der „Reichskristallnacht“, will von der Sprachpraxis der Täter abrücken. Wer „Asylbewerber“ sagt statt „Asylanten“, möchte jeden Anklang an eine „Das-Boot-ist-voll“ -Metaphorik vermeiden. Es entspricht noch am ehesten der amerikanischen Praxis, wenn anstelle des diskriminierenden Kollektivbegriffs „Zigeuner“ heute, im übrigen auch nicht ausschließlich korrekt, „Sinti und Roma“ gesagt wird.

Es fiele nicht schwer, in solcherlei Bemühungen um den korrekten sprachlichen Ausdruck einen Versuch zu sehen, andere nicht zu verletzen; eine neue Form des Respekts, eben der Anerkennung, wie es der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich einmal vorschlug. Ist „Political Correctness“ die neue Form von Höflichkeit?

II.

Von alten Vorstellungen über „Höflichkeit“, also Definitionen des wünschenswerten oder gesellschaftlich geforderten Umgangs, unterscheidet sich PC in zweierlei Hinsicht: Was „korrekt“ ist, wird nicht von einer dominanten Kultur, von einer elitären Schicht definiert, sondern von denen, die gesellschaftlich Minderheiten sind oder sich als solche empfinden. Und: PC entwirft keinen universalen, keinen allgemeingültigen Wertekanon; im Gegenteil -es geht ja um die Bewahrung einer „Identität“ ethnischer oder sozialer Minderheiten gegen eine dominante „Norm“. PC fordert nicht Korrektheit im Sinne allgemeiner Regeln, an die man sich zu halten hätte; sie propagiert auch nicht Werte und Tugenden wie Pflicht-und Verantwortungsbewußtsein oder Gemeinsinn. PC entstand in Amerika als Gegenbewegung zum Ansinnen, sich der dominanten (weißen, männlichen) Kultur zu assimilieren.

Eine der wichtigsten Regeln der Political Correctness lautet, daß es keinerlei objektive Kriterien, keinen allgemeingültigen Regelkanon mehr gibt, wonach Verstöße wahrgenommen, bewertet oder geahndet werden, sondern daß „das Opfer“ bestimmt, was es als Diskriminierung oder Belästigung empfindet. Diese geballte Deutungsmacht des Opfers heißt: Wer sich als Opfer definiert, reklamiert den Ausnahmezustand und muß sich an die allgemeinen Verkehrsregeln nicht mehr halten, die im Zweifelsfall ja sowieso nur Erfindungen„toter weißer Männer“ sind, also ebenfalls einer bloßen gesellschaftlichen Gruppe, und insofern keine Universalität beanspruchen können. In dieser Hinsicht ist PC das Gegenteil von Höflichkeit; PC propagiert einen unendlichen Werterelativismus.

III.

Der Werte-und Kulturrelativismus der PC führt zu dem, was der australisch-amerikanische PC-Kritiker Robert Hughes „kulturelle Bollwerksbildung“ nennt: Sie negiert Gemeinsamkeiten wie etwa die gemeinsame Definition der Grundlagen, auf denen sich die Veranstaltung namens Gesellschaft abspielt. Das ist das Gefährliche, das Disruptive an PC und zugleich das, was sie zu einem realistischen Konzept moderner Gesellschaft macht. Denn dieser Relativismus entspricht einer individualistischen Gesellschaft, die längst in eine Vielzahl von Szenen und Milieus zerfallen ist, welche jeweils ihren eigenen Regelkanon definieren. „Gefangen in subjektiven Welten mittlerer Reichweite, stehen soziale Milieus in einer Beziehung gegenseitigen Nichtverstehens... Sie ähneln U-Booten mit fehlerhaften Radaranlagen, die sich gegenseitig nicht orten können, ohne daß die Besatzungen dies wüßten“, schreibt der Soziologe Gerhard Schulze

Der Fundus gemeinsamer Wahrnehmung und gemeinsamen Wissens hat rapide abgenommen -ein Prozeß, der in der Tat nicht ohne innere Logik ist. Denn die moderne Gesellschaft unterscheidet sich von anderen darin, daß sich sicherlich noch nie zuvor, trotz drängender Enge, Menschen so unabhängig voneinander bewegen konnten und daß sie ferner ihr Leben ohne die Stützen und Einschränkungen von Herkommen, Religion, starren Konventionen in Selbstverantwortung und nach weitgehend eigenen Regeln gestalten müssen.

Nicht zuletzt im Arbeitsprozeß ist nicht die starre Adaption überkommener Regeln gefragt, sondern die Entwicklung und Anwendung situativer Logiken, die ihrer Natur nach nicht übertragbar sind auf andere Situationen. In der einen Welt existieren eine Vielzahl disparater Welten; PC scheint in mancher Hinsicht der adäquate Ausdruck einer fragmentarisierten Wirklichkeit zu sein.

IV.

Auch daß sich Szenen oder Minderheiten im Kampf um Anerkennung, um Platzvorteile innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen einen Opfer-status beimessen, folgt einer gewissen Logik. Zum einen entlastet die „infantile Kultur der Wehleidigkeit“, wie Robert Hughes betont, vom Streß, den eine Gesellschaft mit sich bringt, in der die Notwendigkeit groß ist, sich ohne die Krücken der Überlieferung zu definieren und zu behaupten Sich als Opfer empfinden heißt, nicht Täter sein zu müssen -eine Entlastungsstrategie in der „Risikogesellschaft“, in der alles mit allem zusammenhängt und das „Private politisch“ ist im Sinne der individuellen Verantwortung eines jeden für das Schicksal des Globus -denn: „Die Nordsee liegt in Ihrem Waschbekken“, wie ein Umweltschützer einmal treffend den „Terror des Zusammenhangs“ auf den Punkt brachte. Das Opfer aber kann nicht verantwortlich gemacht werden.

Hinzu kommt, wie schon gesagt, die Unangreifbarkeit, mit der heute jeder ausgestattet scheint, der von sich behaupten kann, ein Opfer zu sein. Das Postulat, daß das Opfer definiere, was es als Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte empfindet, hat in der feministischen Diskussion zur Forderung geführt, bei Vergewaltigungsprozessen die Rechte des Angeklagten einzuschränken, indem auf die Zeugenbefragung des präsumtiven Opfers der Vergewaltigung zu verzichten sei. Ähnliches wird immer wieder für Prozesse um sexuellen Mißbrauch von Kindern gefordert. Bei allem Verständnis für den Wunsch, Menschen peinigende Erinnerungen zu ersparen oder auch die Denunziation durch übereifrige Anwälte der Gegenseite: Solche Strategien der Anti-Anti-Diskriminierung sind geeignet, dem rechtsförmigen Verfahren den letzten Anstrich von Unparteilichkeit zu nehmen. Es ist Klassen-oder Rassenjustiz zugunsten derer, die sich mit mehr oder weniger Recht als Unterdrückte definieren. Wer diese Tür aufstößt, läßt auch andere, konkurrierende und von den PC-Gläubigen wahrscheinlich als inkorrekt empfundene Deutungsmuster herein.

Zu welchen Verwerfungen Anti-Anti-Diskriminierungsstrategien führen können, hat die Diskussion um den Prozeß gegen O. J. Simpson in den USA gezeigt, insofern hier sozusagen die Konkurrenz zweier Minderheiten um ihren Opferstatus inszeniert wird. Muß die Jury sich als „politically correct“ gegenüber dem Opfer erweisen -einer weißen Frau und muß sie insofern überwiegend weiß und weiblich zusammengesetzt sein? Oder muß sie der Tatsache Rechnung tragen, daß der Angeklagte zwar zur wohlhabenden Klasse, aber zur diskriminierten schwarzen Rasse gehört -muß sie also überwiegend aus schwarzen Männern bestehen? Wer kann sich hier mit höherem Recht als Opfer definieren bzw. als Opfer definiert werden und damit also unangreifbar machen?

Die Entscheidung darüber ist keine Kleinigkeit, denn damit steht und fällt die Selbsteinschätzung einer Gesellschaft, in ihren rechtsförmigen Verfahren noch Unparteilichkeit garantieren zu können -und über ein möglichst großes Kollektiv von Menschen zu verfügen, die über die Perspektive ihrer eigenen Zugehörigkeit zu Geschlecht, Rasse oder Klasse hinaus noch allgemeinen Regeln des Zusammenlebens, den pragmatischen Universalien einer demokratischen Gesellschaft, zu folgen vermögen. Die Logik des politisch Korrekten zielt letztlich auf Stammesrecht: Nur wer zu uns gehört, darf richten. Nach dieser Logik dürfte man nur Angehörige der Mafia über die Mafia urteilen lassen.

V.

Der Diffundierung allgemeiner, für alle geltender Maßstäbe entspricht auf der politischen Ebene der Ersatz der Repräsentation durch Lobbyismus. Die repräsentative Demokratie reklamiert für sich, was unabhängige Justiz beansprucht: auch jene gesellschaftlichen Interessen abzubilden, die nicht im Eigennutz jenes Wählersegments aufgehen, dessen Mehrheitsmeinung Macht verleiht. Von unabhängigen Abgeordneten wird erwartet, daß sie nicht nur die Interessen ihrer Wähler, ihrer Altersgruppe und ihres Geschlechts vertreten -also etwa die mehrheitlich ältere Wahlbevölkerung -, sondern daß sie die partikularen Interessen in freier Auseinandersetzung zu so etwas wie dem Gemeinwohl bündeln, ja veredeln.

Ein frommer Wunsch, denn in der politischen Praxis sind Staat und Regierung längst dazu übergegangen, lautstarke Lobbies zu befriedigen. Die derzeit diskutierte und einigermaßen absurde These indes, älteren Stimmbürgern das Wahlrecht zu beschneiden, um auch der Minderheit der Jungen eine Chance zu geben, läßt nicht nur ein fragwürdiges Verständnis von Demokratie erkennen -die es nämlich aus guten Gründen im allgemeinen vermeidet, die Stimmabgabe von charakterlichen oder geistigen Qualitäten der Wähler abhängig zu machen -, sondern sie bedient darüber hinaus ein allerdings nicht gerade unbegründetes Vorurteil: daß Politik heute sich an der Befriedigung der größten Wählersegmente orientiere und dabei notwendigerweise Interessen der Jungen sowie Zukunftsinteressen vernachlässige. Parteien und Politiker zu zwingen, den Gedanken der Repräsentation wieder ernst zu nehmen? indem man Wählerrechte beschneidet, erweist sich indes als zwiespältiges Mittel.

Political Correctness als Kampf um Platzvorteile der einen Gruppe vor allen anderen ist auch in der Bundesrepublik zu einer neuen Technik des Lobbyismus geworden -ein Lobbyismus, der um so einflußreicher ist, als seine Vertreterinnen nicht nur die Macht der großen Zahl für sich reklamieren, sondern auch eine gesellschaftliche Relevanz, die weit über das Maß tatsächlicher „Betroffenheit“ hinausgeht. Die Behauptung, alle (oder doch wenigstens fast alle) Frauen seien qua Geschlecht Opfer von Diskriminierung, Gewalt und Vergewaltigung, Persönlichkeitsverletzungen und Einschränkungen aller Art, verleiht den Ansprüchen aller möglichen selbsternannten Instanzen zur Kompensation solcher Unbill eine nicht unerhebliche Macht -oder hat doch zumindestens die Berufssituation für Frauen verbessern helfen, sofern sie Sozialarbeiterinnen, Linguistinnen, Psychoberaterinnen, Frauenbeauftragte oder Selbstverteidigungsspezialistinnen sind oder werden wollen.

Problematisch wird das allemal dann, wenn die berechtigte Strategie von Kämpferinnen in eigener Sache -nämlich das Anliegen als möglichst relevant zu zeichnen -zu einer Wirklichkeitsverzerrung führt. Vergewaltigung und sexueller Mißbrauch sind keineswegs nachgerade alltägliche Erfahrungen im Leben (fast) jeder Frau, wie die unterschiedlichsten Initiativen und Meinungsmacher behaupten. Die immer wieder gehörte Behauptung, der Vergewaltigung oder des Mißbrauchs beschuldigte Männer müßten in ihren Rechten beschnitten werden, da alle Männer potentielle Vergewaltiger seien, ist die Kehrseite dieses Prozesses, in dem Frauen kollektiv als Opfer beschrieben werden -Männer werden kollektiv zu Tätern erklärt. Hier wird womöglich legitimer Lobbyismus zum Tribalismus. Eine Vorstufe blutiger Stammesfehden, wie sie den Libanon zerstörten und jetzt Jugoslawien?

VI.

Natürlich nicht. Weder führt PC zu einem Krieg der Geschlechter noch zu einem der Generationen. Die Logik von PC indes ist insofern „ethnizistisch“, als sie auf eine Identitätspolitik bezogen ist, die Differenzen in den Rang von „natürlichen Unterschieden“ erhebt. Denn Identität gilt landläufig als etwas, das man hat und nicht ändern kann: die „Natur“, die formen zu wollen nur „Künstlichkeit“ bewirke. „Natur“ aber ist nicht verhandelbar. Wo beim Kampf zweier Gruppen, die ihren Unterschied ethnisch begründen, Natur gegen Natur steht, ist Kampfbis zur Vernichtung einer Seite programmiert. Stammesideologie heißt: das Insistieren auf den eigenen Gesetzen gegenüber allem, was demgegenüber allgemeinen Rang beanspruchen kann -denn das sei auch nichts weiter als eine bloß konkurrierende Stammesideologie. Es gelten also keinerlei Maßstäbe außer denen, die sich eine Gruppe selbst gibt, die sich möglichst auch noch als Opfer definiert. Das gibt es auch in speziell deutscher Ausführung: Niemand dürfe urteilen, der „nicht dabei gewesen“ sei, war eine beliebte Sentenz jener Deutschen, die die Nazizeit mitgemacht haben. Heute verlautet der gleiche Satz auch schon mal aus dem Osten Deutschlands. Ähnlich operiert „Identitätspolitik“. Auch der Verweis auf die eigene Identität (als Geschlechts-wesen, als Mensch mit religiösen Überzeugungen, als Angehöriger einer anderen Kultur, als Mitglied einer Ethnie) soll ja den Geltungsbereich allgemeiner Maßstäbe einschränken. Auch das kennt deutsche Variationen: Daß etwa die Demokratie der „kulturellen Eigenheit“ dieser oder jener Ethnie, dem „Volk“ oder einer gesellschaftlichen Gruppe widerspreche und niemandem „aufgestülpt“ werden könne, ist ein Satz, der im Westen Deutschlands -dem die „Aufstülpung“ der Demokratie bestens bekommen ist -noch immer auf verblüffend viel Verständnis trifft. Mag sein, daß hier der alte Gegensatz zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ überdauert hat, wonach die innere Befindlichkeit, die Gefühlswelt des einzelnen Priorität hat vor dem „bloß Äußerlichen“, der lediglich formalen Zivilisiertheit. Das paßt indes bestens mit neuen Differenztheorien zusammen, die der „Kultur“ und „Identität“ einer sozialen oder ethnischen Gruppe einen höheren Wert beimessen als den Maßstäben der Gesellschaft, als der Einhaltung der „nur formalen“ Regeln des Umgangs, wie sie die Demokratie auszeichnet, die verfahrensorientiert ist.

Unter dieser Konkurrenz zwischen „kultureller Identität“ in der Gruppe und der Zugehörigkeit zu einer politisch definierten Gesellschaft leidet hierzulande auch die Debatte um die „doppelte Staatsangehörigkeit“. Die „doppelte Staatsangehörigkeit“ gilt mittlerweile als probates Mittel des Umgangs mit den in Deutschland lebenden Ausländern. Sie sollen ihren Paß nicht abgeben müssen, um deutsches Staatsbürgerrecht zu erhalten. Man könne sie, so heißt es, ja nicht zwingen, ihre eigene Identität aufzugeben zugunsten der deutschen.

Nun ist es richtig, daß man einem Volk nicht beitreten kann und daß man dies angesichts der deutschen Geschichte vielleicht auch niemandem zumuten kann. Das hierzulande geltende ius sanguinis, das die Staatszugehörigkeit von der Abstammung abhängig macht, impliziert aber gerade dies. Es spricht angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft viel dafür, von der „Blutgemeinschaft“ als Basis des demokratischen Nationalstaates Abschied zu nehmen. Die Forderung nach einer doppelten Staatsbürgerschaft verdeckt indes die Diskussion über den notwendigen Übergang in Deutschland etwa zu einem ius soli: Denn jene Forderung würdigt ja ebenfalls „Blutsbande“, nämlich die Wurzeln, die jemand in seinem Herkunftsland hat, jene „Identität“, die sie damit für wichtiger erklärt als die Zustimmung zur politischen Verfassung der Bundesrepublik.

Der Vorbehalt der bewahrenswerten kulturellen Identität ergibt nur einen Sinn, wenn man der Meinung ist, diese kulturelle Selbstdefinition habe Vorrang vor dem Einverständnis mit den allgemeinen Regeln, die sich eine Gesellschaft gibt. Das aber ist nicht tolerant, sondern propagiert das Prius der Herkunft, der Ethnizität, vor der Zustimmung zum politischen Vertrag. Das ist, wie Sonja Margolina ausführt, eine gefährliche „Konzession der Politik an Ethnizität“ Unter dem Deckmantel der Toleranz verbirgt sich der gefährliche Luxus, es mit den „westlichen Errungenschaften“ der Demokratie nicht sonderlich ernst zu nehmen.

Oder hat Jean-Marie Guehenno recht, der in der „Logik der Gruppenidentität“ in den kriegerischen Auseinandersetzungen etwa in Ex-Jugoslawien eine notwendige Erscheinungsform der Moderne sieht? Er schreibt unter dem düsteren Titel „Das Ende der Demokratie“: „Der moderne Mensch -ohne Bindung an ein Territorium, , Nomade und doch in einer Funktion gefangen, eines Standorts beraubt, der seiner Arbeit einen Sinn geben könnte, ein unendlich oft reproduzierter Webknoten der Gesellschaft und doch stets einsam -ist dazu verdammt, seine Besonderheit in der Suche nach seinen Ursprüngen zu finden. Er braucht sie, um mit den anderen, ebenfalls , Besonderen das Gefühl einer gemeinsamen Zugehörigkeit teilen zu können.“

VII.

PC kann zur Stammesideologie und zu unendlichem Werterelativismus führen -und damit womöglich zu einer Form, die eine zunehmend zersplitterte Gesellschaft sich gibt. Das, was einige dem Konzept von der „Multikulturellen Gesellschaft“ vorwerfen, nämlich daß es die letzten konsensstiftenden Übereinkünfte und Institutionen preisgebe, da diese ja nur eines unter vielen konkurrierenden Modellen von „Identität“ darstellten, ist womöglich ein müßiger Vorwurf -denn daran wäre dann schlechterdings nichts zu ändern. Es scheint die Schwäche des demokratischen Spiels zu sein, daß es Gesellschaft nicht ohne wenigstens Rudimente von Gemeinschaft und „Homogenität“ attraktiv erscheinen lassen kann. Die Alternative indes ist entschieden unattraktiver.

Daß dieses oder jenes „meiner Identität“ nicht zuträglich sei, ist auf niedrigerer Stufe die Begründung für den Ausstieg aus allem, was die Voraussetzung für Prozesse der Verständigung und des Aushandelns bedeutet. Daß man anderen Kulturen nicht „zumuten“ könne, sich jenen Regeln und Maßstäben anzubequemen, die in den westlichen Demokratien in puncto Freiheit und Menschen-rechten gelten, ist der auf die Spitze getriebene Kulturrelativismus, mit dessen Hilfe man sogar das Todesurteil fundamentalistischer Mullahs gegen den Dichter Salman Rushdie rechtfertigen kann.

Der muslimische Sozialwissenschaftler Bassam Tibi postuliert immer wieder, daß diese Toleranz gegenüber allem, was andere, nichtdemokratische Kulturen für sich reklamieren, um das Überleben der westlichen Demokratien fürchten lasse, deren Nutznießer selten jenen feurigen Stolz auf die eigenen kulturellen Errungenschaften -wie etwa die Respektierung von Freiheit und Menschenrechten -erkennen lassen, der ihren fundamentalistischen Gegnern eignet.

Es stimmt ja: Auch hierzulande wird gern gesucht nach Bindungen anderer, „tieferer“ Art, als die individualistische Moderne und die formale Demokratie sie anbieten. Andere haben bei dieser Suche längst den Vorzug entdeckt, der darin liegt, diese Bindungen ethnisch oder religiös zu begründen -also als etwas, das auf Natur oder doch wenigstens eine lange Geschichte zurückblicken kann. Die meisten dieser „Traditionen“ sind indes durchaus erfunden -vom Schottenrock bis zur fundamentalistischen Auslegung des Koran, vom „Arier“ bis zur serbischen Überlegenheit.

Der derzeit blühende Handel mit allerhand „natürlichen“ Begründungen für PC öffnet die Augen für einen Vorzug des „Künstlichen“: Es bleibt, da von Menschen gemacht, verhandelbar Die auf ethnische Differenzen begründeten Konflikte indes können, da Natur gegen Natur steht, nicht im Kompromiß entschieden werden und sind ihrem Wesen nach unendlich -bzw. sie dauern bis zur Auslöschung eines der Kontrahenten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Robert Hughes, Nachrichten aus dem Jammertal. Wie sich die Amerikaner in political correctness verstrickt haben, München 1994, S. 25.

  2. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992, S. 364.

  3. Vgl. R. Hughes (Anm. 1), S. 22.

  4. Sonja Margolina. Der Ethnizismus im multikulturellen Gewand, in: die tageszeitung vom 2. Januar 1995, S. 12.

  5. Jean-Marie Guehenno, Das Ende der Demokratie, München-Zürich 1994, S. 72.

  6. Vgl. Cora Stephan, Neue deutsche Etikette, Berlin 1995, S. 142.

Weitere Inhalte

Cora Stephan, Dr. phil., geb. 1951; lebt als Publizistin in Frankfurt am Main und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum Thema „Krieg und Gesellschaft“. Buchveröffentlichungen u. a. zur Geschichte der Sozialdemokratie und zur politischen Kultur der Bundesrepublik, darunter zuletzt: Der Betroffenheitskult. Eine Politische Sittengeschichte, Berlin 1993; Neue Deutsche Etikette, Berlin 1995.