Deutschlands feine Unterschiede. Mentalitäten und Modernisierung in Ost-und Westdeutschland
Michael Vester
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Zusammenfassung
Modernisierungsprozesse haben sowohl Gewinner als auch Verlierer(innen). Das bestätigt der ausführliche Vergleich der ost-und westdeutschen Mentalitäten. Die Blockierung der DDR-Entwicklung durch den bürokratischen Wasserkopf und die altindustriellen Wirtschaftsstrukturen drückte sich auch in den Disparitäten der Milieus aus. Nicht zuletzt fehlte eine moderne arbeitnehmerische Mitte. Durch den Elitenwechsel in den fünfziger Jahren waren nicht nur kompetente Funktionseliten zugunsten kleinbürgerlicher Aufsteiger mit zu engen Kompetenzen deklassiert, sondern auch die Produktivkräfte der Innovation blockiert worden, die in den technokratischen Eliten, in der kulturellen und technischen Intelligenz und in der sehr großen ostdeutschen Facharbeiterschaft das System lange wenigstens noch „am Laufen hielten“. Gerade die Mehrheiten dieser dynamischen Gruppen sehen sich nach der Wende (weniger aus Markt-als aus Machtgründen) überproportional deklassiert bzw. durch den Abbau der Landwirtschaft und Industrie ausgegliedert. Wie örtlich begrenzte Beispiele einer weltmarktgerechten Re-und Neo-Industrialisierung zeigen, könnten z. B. die vielfältigen Spezialisierungen der Facharbeiterschaft und ihre Fähigkeit zum Gemeinschaftshandeln ebenso wie die jetzt brachliegenden Qualifikationen vieler Frauen für die wirtschaftliche Modernisierung genutzt werden.
I. Soziale Milieus und Modernisierung
Der ostdeutschen Gesellschaft wird gerne ihr Mangel an Modernität vorgeworfen. Tatsächlich dominierten in der DDR eine „altindustrielle“ Wirtschaftsstruktur und eine blockierende Bürokratie. Verdeckt davon gab es jedoch auch dynamische Potentiale der Entwicklung. Wäre Deutschland 1949 nicht geteilt worden, so hätten sich die Strukturen Ostdeutschlands dementsprechend dynamischer entwickelt. Aus der Branchenvielfalt und der mittelbetrieblichen Tradition Sachsens und Thüringens hätte eine flexible Industriestruktur wachsen können, vielleicht moderner als in Württemberg. Die ostelbischen Agrargroßbetriebe hätten sich effektiver modernisieren können als die von einem jahrzehntelangen „Bauernsterben“ begleitete westdeutsche Landwirtschaft. Die immer schon vom Staat abhängige altindustrielle Metall-und Braunkohlewirtschaft in der Mitte und im Süden Ostdeutschlands wäre vielleicht „schlanker“ geworden und in Teilen erfolgreicher modernisiert als das Rhein-Ruhrgebiet.
Zur Zeit der Wende zeigten Wirtschaft und Gesellschaft Ostdeutschlands allerdings deutliche Spuren der langen Blockierung. Wir möchten dies zunächst in der Makrodimension darstellen, indem wir die großen sozialen Milieus -in Ost-und Westdeutschland -miteinander vergleichen. Anschließend sollen durch eine vertiefte Analyse der einzelnen Milieus und ihrer Dynamiken auch die Potentiale der Innovation deutlicher werden
Dabei gehen wir von der klassischen Mentalitätsund Wirtschaftssoziologie aus, die die sozialen Gruppen durch gemeinsame Alltagsethiken und Wirtschaftsmentalitäten voneinander unterschei-det Sie sieht die Menschen nicht als isolierte Wesen, sondern als Mitwirkende in persönlichen und wirtschaftlichen „Strukturen sozialer Beziehungen“ mit anderen Menschen, mit denen sie ihre Gewohnheiten, Erfahrungen und Weltbilder teilen und auch verändern. Wie sich diese „Vergemeinschaftungen“ (Weber) oder „sozialen Milieus“ (Dürkheim) nach ihren „typischen“ Lebensweisen, Mentalitäten und Wirtschaftslagen voneinander abgrenzen, beeinflußt die Gesamtgliederung unserer Gesellschaften. Auch die Mentalitäten lassen sich räumlich gegliedert darstellen. Im „sozialen Raum“, wie ihn Pierre Bourdieu definiert, können z. B. die „feinen Mentalitäten“ oben und die „einfachen“ unten, die „traditionalen Mentalitäten“ rechts und die „modernen“ links plaziert werden Entsprechend konnten wir auch die ost-und westdeutschen Milieus in , soziale Landkarten'einordnen, die hier in zwei stark vereinfachenden Diagrammen wiedergegeben sind (vgl. Abbildung S. 18).
Schwierig und zugleich spannend daran ist, daß „subjektive“ Mentalität und „objektive“ wirtschaftliche Position nicht übereinstimmen müssen. Unsere Diagramme bezeichnen nur die Lage der Milieus im Feld der Mentalitäten. Von der „menta-len Positionierung“ können die wirtschaftlichen Positionen der Milieus durchaus abweichen. Im allgemeinen sind diese Abweichungen jedoch begrenzt, so daß wir zwar nicht von „objektiv determiniertem“, aber mit Max Weber doch von „typischem“ Bewußtsein ausgehen können. Der Fall liegt anders, wenn Mentalität und soziale Position wirtschaftlich oder funktional gar nicht zusammenpassen, d. h. wenn soziale Gruppen Positionen einnehmen, die sie nach ihren Fähigkeiten nicht verdient haben. Dann ist es sinnvoll, diese scheinbar zufälligen Status-Inkonsistenzen als systematische Strukturmomente („up-classing“ und „down-classing“) bzw. „sozialgeschichtliche Verwerfungen“ zu untersuchen. Was bedeutete es z. B. für die Entwicklung der DDR-Gesellschaft, daß dort so viele Inhaber hoher Positionen in ihren Kompetenzen an ihren kleinbürgerlichen Herkunftshorizont gebunden blieben? War die letztendliche Stagnation der DDR mit dadurch bedingt, daß Menschen mit hohen technischen, kulturellen und sozialen Kompetenzen in subalterne Positionen deklassiert waren?
Da die Mentalitätsformen nicht nur die Oberfläche der Lebensstile betreffen, sondern auch die Alltagsmoral, die Arbeitsethiken und das Gemeinschaftshandeln (z. B. in sozialen Netzen, Bewegungen und Interessenkoalitionen), sind sie auch soziale und wirtschaftliche Produktivkräfte. In den staatssozialistischen Ländern standen diese Produktivkräfte zu den bürokratischen Produktionsverhältnissen in einem Widerspruch, der -wie David Lockwood schon 1964 herausarbeitete -Integration und Bestand des Systems langfristig gefährdete Der Konflikt und auch wissenschaftliche Forschungen über ihn (wie die von Manfred und Ingrid Lötsch wurden verleugnet. Für viele kam der Zusammenbruch des Systems, Folge von Stagnation und Abwanderungsdruck, offensichtlich überraschend.
II. Milieu-Disparitäten in Ost-und Westdeutschland
Die Disparitäten des ostdeutschen und des westdeutschen Milieugefüges sollen nun miteinander verglichen werden. Dabei beginnen wir mit den von uns entwickelten „Mentalitäts-Landkarten“: den Diagrammen der lebensweltlichen Sozial-milieus von 1991 Sie stützen sich auf die Mentalitätstypologie des SINUS-Instituts die wir in eigenen Untersuchungen ergänzt und in den sozialen Raum Bourdieus eingeordnet haben Sodann vergleichen wir sie für Ostdeutschland mit einer „Funktions-Landkarte“, d. h.der „objektiven“ Tätigkeits-und Qualifikationsstruktur der DDR, wie sie Thomas Schwarzer und Dieter Rink analysiert haben
An den Mentalitäts-Landkarten fällt zunächst Gemeinsames auf. Beide Gesellschaften gliedern sich vertikal in drei Stufen des „Klassenhabitus“, d. h. in Mentalitäten der „Distinktion“ (oben), des „Strebens“ und der „Prätention“ (in der Mitte) und der „Notwendigkeit“ (unten) In beiden Gesellschaften gliedern sich diese „Etagen“ außerdem horizontal in drei Fraktionen, die nach der Art ihrer Modernisierung verschieden sind.
Damit beginnen auch die feinen Unterschiede. Die neun westdeutschen Milieus mit ihrer breiten modernen Mitte erscheinen als Ausdruck einer integrierenden Modernisierung, die soziale Gegensätze abgebaut hat. Die Klassenmentalitäten haben sich nicht aufgelöst, sind aber heute zweifellos gelockert und modernisiert. Die Arbeitermilieus haben sich erheblich umgegliedert. Auf den drei Etagen sind die mobileren und aufgeschlosseneren Fraktionen seit 1950 erheblich gewachsen, parallel zum Schrumpfen traditionaler körperlicher Berufsgruppen und zur Öffnung sozialer Chancen Weniger sichtbar ist, daß die westdeutsche Gesellschaft sich nur teilweise pluralisiert und dynamisiert hat, da sich für manche Milieus vertikale Ungleichheiten wieder verfestigt haben Das Wachstum unterprivilegierter Milieus („Traditionslose Arbeiter“) ist nur die Spitze eines Eisbergs
Die ostdeutschen Milieus von 1991 bestätigen den Eindruck einer bürokratisch überformten traditionalen „Arbeitsgesellschaft“. Es fallen zunächst vier Erscheinungen auf:
1.der „Wasserkopf“ des Machtapparats;
2. die große traditionale Arbeiterklasse;
3. das Fehlen einer modernen arbeitnehmerischen und unternehmerischen Mitte und 4. die großen, vom System nicht mehr integrierbaren Milieus der modernen jüngeren Generation.
Der Hauptstrom der Gesellschaft war wenig durch modernere Berufe und Lebensweisen der Mitte modernisiert. Der „traditionelle Flügel“ der Milieus war mit 56 Prozent erheblich größer als im Westen (35 Prozent), die schmalere Mitte (27 Prozent) ebenfalls traditional geprägt. Diese Modernisierungslücke erklärt sich zum einen aus der Strukturdominanz des Politischen und des Lauf- bahnprinzips. Die zentralisierte Macht-und Wirtschaftsbürokratie -die „Bleiplatte“ -behinderte durch ihre Übergröße und ihre Reglementierungen die wirtschaftliche Produktivität und Leistungsmotivation. Zum anderen war nach 1945 die diversifizierte Wirtschaftstradition der Regionen zugunsten des sowjetischen Stahlmodells (Richta) und der industriellen Massenproduktion gekappt worden.
Vergleichen wir die „Mentalitäts-Landkarte“ mit der „Funktions-Landkarte“, so fällt weiterhin auf, daß die „mittlere Etage der Mentalitäten“ mit 37 Prozent viel kleiner ist als die „mittlere Etage der Funktionen“ mit ihren 66 Prozent In dieser Differenz verbirgt sich die große Facharbeiterschaft, die nach ihrem betonten Arbeits-und Notwendigkeitsethos den Traditionen der Volksklassen (dem „Unten“) zuzurechnen ist, in der DDR aber Berufs-positionen der gesicherten Mitte einnahm. Diese Aufwertung einer Gruppe mit besonderem Arbeitsethos hat der DDR eher genutzt als geschadet. Die Probleme kamen eher von kontraproduktiven Zuordnungen anderer Mentalitätsfraktionen. Dies beruhte auf zwei Mechanismen: erstens der Über-schichtung jeder Berufsstufe durch Angehörige des Verwaltungs-und Machtapparates mit besonders viel „politischem Kapital“ und zweitens der Unter-schichtung jeder Stufe durch die Frauen -Die Funktionsschichtung der DDR-Gesellschaft nach den Daten von 1981 bestand aus drei Stufen mit charakteristischen Status-Inkonsistenzen:
Erstens: Oben, in der gutsituierten Macht-und Bildungselite der DDR (20 Prozent) wurden die Funktionseliten (Wirtschafts-, und Staatsverwal-tung, Kultur-und Technikeliten) durch Milieus des Machtapparates dominiert, die dieser Aufgabe mit ihrer subalternen Mentalität und Kompetenz nicht gewachsen waren. Kompetente Elitemilieus (Manager, Unternehmer, bürgerliche Intelligenz) wurden behindert, vertrieben oder in mittlere Etagen deklassiert.
Zweitens: Die große gesellschaftliche Mitte der DDR (66 Prozent) bestand aus meist gut qualifizierten Facharbeitern und Angestellten. Ihr besonderes Ausmaß beruhte darauf, daß sie durch bestimmte Gruppen „aufgefüllt“ worden war: von oben durch deklassierte frühere Oberschichtmilieus und durch den Unterbau des Machtapparates, von unten durch die nicht nur symbolisch aufgewertete Facharbeiterschaft. Die Gruppen der Mitte waren sozial gesichert, aber ohne viel Spielraum für produktive Initiative. Prinzipiell waren sie (außer in informellen Aushandlungsmechanismen) machtlos, seit nach der Niederschlagung des Aufstands dieser Arbeiter-Mitte am 17. Juni 1953 die Chance einer demokratischen Konflikt-und Gegenmachtkultur verpaßt war
Drittens: Schließlich gab es auch ein Unten in der DDR (14 Prozent) die Menschen in Anlern-und Hilfsberufen und in prekären Soziallagen. Hier stimmten soziale Position und Mentalitätsform am ehesten überein. Die meisten Menschen in den objektiven Randlagen fanden sich auch subjektiv in der DDR nicht integriert und gehörten zu den am wenigsten motivierten Gruppen.
Unter den dominanten Strukturen sind durchaus dynamische Produktivkräfte zu erkennen: die „technokratische“ Reformfraktion der alten Wirtschafts-und Politikelite; die spezialisierten Facharbeiter(innen) und Techniker(innen) (Potential einer Neo-Industrialisierung); Teile der humanistischen Intelligenz, der qualifizierten Angestellten und der heute reaktivierten regionalen Unternehmer; schließlich die „Wendegeneration“ der jungen technischen und kulturellen Intelligenz. In allen diesen Gruppen gibt es viele qualifizierte Frauen. -Viele dieser „Produktivkräfte“ haben im Prozeß der deutschen Einigung ihre Chancen nicht bekommen. Dies lag nicht nur an der schwierigen Export-und Konjunktursituation, die ein Nachholen der westdeutschen Modernisierung erschwerte, sondern auch an spezifischen Benachteiligungen, die die Industriearbeiterschaft und die Frauen überproportional trafen. Um diese Veränderungen zu verstehen, soll nun versucht werden, die Entwicklung aus der Perspektive der Milieus (deren innere Differenzierung hier aus Platzgründen nur grob skizziert werden kann) selber nachzuzeichnen. Dabei sollen die einzelnen Phasen der Entwicklung von der Nachkriegszeit bis zur Wende im Vergleich mit Westdeutschland einbezogen werden.
III. Die Arbeitermilieus: Hauptbetroffene beruflicher Ausgliederung
1981 bildeten in Ostdeutschland die Arbeiter der traditionalen Fachberufe in Industrie, Verkehr und Landwirtschaft die größte einzelne Gruppe. Sie stellten 44 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Zusammen mit den Dienstleistungen in Handel, Gastronomie usw., weiteren zwölf Prozent, umfaßten die eher traditional qualifizierten Arbeitergruppen sogar 56 Prozent. Auch die für die Arbeitermilieus typischen Lebensweisen und Mentalitäten waren weit verbreitet, 1991 noch bei 40 Prozent der Ostdeutschen In Westdeutschland dagegen driften Berufsposition und Klassenmentalität weiter auseinander: Etwa 37 Prozent haben Arbeiterberufe, aber nur 22 Prozent auch eine für diese einst typisch gewesene Lebensweise und Mentalität.
Keine Gruppe wurde durch den wirtschaftlichen Umbau seit der Wende so getroffen wie die Arbeitermilieus, und zwar nicht nur die deklassierten „Traditionslosen Arbeiter“ (acht Prozent), sondern auch die einst in die Mitte integrierten „Traditionsgebundenen“ Facharbeitermilieus (27 Pro-zent) Insgesamt zeichnen sich mindestens fünf verschiedene Wege ab: (1) Die Ausgliederung aus dem Erwerbsleben betraf bis zu 50 Prozent der Milieus. Sie verwandelte Facharbeiter in Rentner, Vorruheständler, ABM-Kräfte, Hausfrauen bzw. Arbeitslose auch jüngerer Jahrgänge (2) Zu den Betroffenen gehören oft prekär Beschäftigte, auch Kleinstunternehmer. (3) Eine Minderheit jüngerer männlicher Facharbeiter profitierte von der Reindustrialisierung auf mittlerem technischen Niveau, z. B. beim von Riva übernommenen Baustahlwerk in Brandenburg. (4) Eine Minderheit von besonders qualifizierten jüngeren männlichen Facharbeitern wurde in Standorten der hochspezialisierten Neoindustrialisierung gebraucht, für die z. B. in Brandenburg eine Zahnrad-und eine Druckmaschinenfabrik, der Leichtmetall-und Stahlkonstruktionsbau sowie ein Weichenwerk stehen. (5) Ein Teil der mobileren bzw. bildungsaktiven jüngeren Generation, nicht zuletzt der Frauen, kann in modernere Angestelltenberufe überwechseln, auch als Pendler. 1. Traditionale Facharbeiter: „aktive“ Realitätsbewältigung Die traditionellen Facharbeitermilieus in Ost und West unterscheiden sich erheblich in ihrer Größe.
Das Traditionsverwurzelte Arbeiter-und Bauern-milieu im Osten umfaßt 27 Prozent, das Traditionelle Arbeitermilieu im Westen einen Restbestand von fünf Prozent. In ihren Mentalitäten gleichen sie sich noch sehr. Beide folgen noch der klassischen Bescheidenheitsethik. Diese Überlebensstrategie entspricht alten Gerechtigkeitstraditionen, die in selbstbewußten Handarbeiterberufen, in der (heute säkularisierten) Volksreligion und in den demokratischen sozialen Bewegungen überliefert wurden. Ihr Sinn ist es, die eigene Identität und Würde unter verschiedensten sozialen und politischen Systemen zu sichern. Die Devise „arm, aber ehrlich“ erlaubt eine Anpassung ohne Opportunistnus. Die Alltagsmoral ist stark auf die Bedingungen sozialer Not und Unsicherheit ausgerichtet, mißbilligt aber moralische Kompromisse mit den Herrschenden. Dem entspricht ein besonderes Arbeits-und Gemeinschaftsethos. Wesentlich ist der sorgsame Umgang mit allem Lebensnotwendigen: mit der Sicherung des Arbeitsplatzes und der Altersvorsorge, mit dem eigenen Arbeitsvermögen und den hart erarbeiteten Gütern. Zusammenhalt und Anerkennung in überschaubaren Gemeinschaften von Familie, Arbeitskollegen, Gemeinde sind wichtiger als individueller sozialer Aufstieg. Das Bewußtsein der eigenen Grenzen zeigt sich in der einfachen und nüchternen Lebensweise und in der Verpönung von Prestigedenken, überzogenen Ansprüchen und modischem Konsum. Genuß und Anerkennungsbedürfnis haben vielmehr ihren Ort und ihre Zeit in den Vergemeinschaftungen. Der Obrigkeit gebührt keine Ehrfurcht, aber Konflikte mit ihr werden realistisch begrenzt. Grundsätzlich soll man sich so geben, wie man ist, und offen und ehrlich seine Meinung sagen. Die Geschichte der DDR kennt bis in die siebziger Jahre zähe Kämpfe um Kompromisse, in denen selbstbewußte Facharbeiter zweierlei eigensinnig verteidigt haben: ein Stück innerbetriebliche Öffentlichkeit und den Stolz auf intelligente Qualitätsproduktion. Eine Fallstudie zeigte dies am Beispiel der hochqualifizierten Facharbeiter einer exportstarken Kranfabrik in Leipzig, die jahrzehntelang „resistent“ blieben, bis sie um 1980 durch eine jede Initiative entmutigende Betriebsleitung endgültig resignierten Es gab auch Beispiele größerer Verhandlungsmacht, wie Untersuchungen zum Stahl-und Walzwerk von Brandenburg (Havel) belegen Die innovativen Potentiale der ostdeutschen „Traditionellen“ zeigen sich sehr deutlich an ihrem zwar traditionellen, aber gerade deswegen im Vergleich zu Westdeutschland sehr vielfältig spezialisierten Berufsspektrum Während diese Potentiale bei der älteren Generation durch ihre Ausgliederung aus dem Produktionsprozeß verlorengehen, können Minderheiten der jüngeren Generation, vor allem ihre mobilsten und männlichen Teile, in modernere Arbeiterberufe (Reund Neoindustrialisierung) und modernere Angestelltenberufe überwechseln.
Nur diese Minderheit der jüngeren Generation wird voraussichtlich in gewisser Hinsicht den Modernisierungsweg nachvollziehen können, auf dem sich das westdeutsche traditionelle Facharbeitermilieu seit 1950 nahezu aufgelöst hat. Ursache dieses Prozesses, indem die jüngere Generation in modernere Arbeitnehmermilieus abwanderte, war die von Joseph Mooser beschriebene „Entproletarisierung“ der Lebens-und Arbeitsverhältnisse Wer in Ostdeutschland nicht in solche modernen Berufssituationen kommt, bleibt einerseits auf die in der DDR-Gesellschaft gepflegten aktiven Gesellungsmuster verwiesen: die Netze der informellen Versorgungsökonomie, die die begrenzten Konsummöglichkeiten ergänzten, und die intensive Gesellungskultur, mit denen in der DDR die Restriktionen der Freizeit-und Reisemöglichkeiten kompensiert worden waren. Andererseits gehören zu den Facharbeiter-milieus nun einmal aktive Bewältigungsstrategien der Selbsthilfe, des Bildungserwerbs und auch des Protestes. Die Ausgliederung so großer Bevölkerungsteile könnte daher ein nachhaltiges Kritik-potential in Gesellschaft und Politik bringen, auch bei den Frauen und Männern der nächsten Generation. 2. Traditionslose Arbeiter: „passive“ Bewältigungsstrategien » Diese aktiven Strategien fehlen dem von drastischen Ausgliederungen betroffenen Traditionslosen Arbeitermilieu (TLO), das acht Prozent umfaßte und sich vor allem aus den zehn Prozent der Ostdeutschen rekrutierte, die an-und ungelernte Tätigkeiten in Industrie, Verkehr und Dienstleistungen ausführten. Sie arbeiteten einerseits in den Problemindustrien (Textilbranche und Braunkohlechemie), für deren verschlissene Anlagen an-und ungelernte Kräfte gebraucht wurden, die für ihre materielle Absicherung gesundheitliche Risiken und monotone Tätigkeiten in Kauf nahmen. Andererseits waren die sicheren Arbeitsplätze für An-und Ungelernte bei Post, Bahn und Stadtgastronomie bevorzugt, wo ebenfalls weniger Initiative verlangt war. Nach der Wende führten ausgedehnte Rationalisierungen und Stillegungen dazu, daß heute viele dieser Milieuangehörigen arbeitslos oder prekär beschäftigt sind.
Das „Traditionslose Arbeitermilieu“ in Westdeutschland war 1991 mit zwölf Prozent um die Hälfte größer. Aber in ihrer Mentalität waren die Schwestermilieus sich noch sehr ähnlich. Sie bilden den Gegenpol zu den traditionalen Facharbeitern mit ihrer hohen Arbeits-und Solidaritätsmoral. Von außen werden sie oft als autoritär, ungebildet, sittenlos und anomisch stigmatisiert. So gut wie allen „Traditionslosen“ ist die Gefahr sehr bewußt, mit solchen Vorurteilen auf einen Teufelskreis moralischer und materieller Ausgrenzung festgelegt zu werden. Ihre Lebensführung ist nicht asketisch auf äußere und innere Stabilität eingerichtet. Sie ist mehr am „Heute“ als an einer Lebensplanung orientiert, mehr an Entlastung und Lebensgenuß als an einem Ethos aktiver Verantwortung und Arbeit. Der Neigung, „sich gehen zu lassen“, wird weniger Selbstkontrolle entgegengesetzt. Die Vergemeinschaftungsnetze sind kleiner oder auch , unvollständiger'.
Gegen die Gefahren der Destabilisierung entwikkeln viele „Traditionslose“ Strategien des „Mithaltens“ mit der materiellen Sicherheit, den Moden des Konsums und der sozialen Anerkennung, die die breite Mittelschicht genießt. Hierzu verhelfen ihnen nicht Maximen einer innengeleiteten Leistungsmoral, sondern außengeleitete Formen des Selbstzwangs und vor allem der Anlehnung an stabile Lebenspartner, Arbeitskollektive, staatliche Hilfen usw. Diese Muster der Lebensführung stehen in einem zirkulären Verhältnis zu den eingenommenen gering qualifizierten bzw. prekären Berufspositionen und Soziallagen. Die Mithaltestrategien werden auch zirkulär, d. h. im Rahmen einer Wechselbeziehung zwischen „objektiven“ Lebensbedingungen und „subjektiven“ Lebensweisen, begründet. Initiativen hinsichtlich Bildung, Leistung, Politik usw. sind vergebliche Mühe sie können nicht aus dem Schicksal des , Underdog'herausführen. Soziale Ungleichheit und Hierarchie werden hingenommen -und für Anlehnungsstrategien ausgenutzt.
Bei den Feldforschungen im Raum Brandenburg (Havel) und Espenhain fanden wir eine relativ frohgemute Rückwendung auf die „Festung Alltag“ die als sicherer Ort eines Moratoriums der Umorientierung genutzt wird. Die Devise „arm, aber lebensfroh“ bedeutet auch, daß dem verlorenen Arbeitsplatz (der ja nicht für die Identität, sondern für das Einkommen notwendig war) nicht so viele Tränen nachgeweint wurden. Viele sehen sich nun auf staatliche , Versorgungskarrieren'angewiesen. Gleichwohl kann für manche, insbesondere die Frauen, die schon in , normalen Zeiten'die Konsequenzen der Instabilität zu tragen hatten, der Verlust des Arbeitskollektivs und der staatlichen Kinderbetreuung eine Spirale materieller und moralischer Destabilisierung einleiten.
In solchen Destabilisierungen scheint das westdeutsche „Traditionslose Arbeitermilieu“ dem ostdeutschen einige Schritte „voraus“ zu sein. Es ist seit 1982 um ein Drittel (von neun auf zwölf Prozent), also um knapp zwei Millionen Menschen gewachsen. Dieser Zulauf mag mit der Desintegra tion anderer Milieus Zusammenhängen, die einzelne deklassierte Individuen nicht mehr moralisch oder materiell mittragen können. Nicht wenige westdeutsche „Traditionslose“ hatten ohnehin nicht die Arbeitsplatzsicherheit, die das DDR-System immerhin bot. Einem Wachstum der ostdeutschen Traditionslosen kann entgegengewirkt werden, da die Systeme staatlicher Hilfen und Beratungen, wenn sie nicht weiter abgebaut werden, die Spiralen sozialer Destabilisierung mit relativ geringen Mitteln verhindern können. 3. Moderne Arbeitnehmer: zwei ungleiche Individualisierungswege In Ostdeutschland und in Westdeutschland sind zwei neue, junge Arbeitnehmermilieus entdeckt worden, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Beide, die heute je fünf Prozent umfassen, wachsen derzeit noch erheblich. Sie scheinen im Feld „moderner“ und „individualisierter“ Arbeitnehmer zwei entgegengesetzte Pole zu bezeichnen. Sie wirken wie die „geläuterten Ebenbilder“ der beiden älteren Arbeitermilieus, die ja auch entgegengesetzte Pole bilden. Die ostdeutschen Hedonistischen Arbeiter (HEDAR) entsprechen in vielem den „außengeleiteten“ traditionslosen Arbeitern, allerdings auf einer höheren Ebene der Bildungs-, Berufs-und Lebensstandards. Die westdeutschen Neuen Arbeitnehmer (NEA) scheinen unter den Bedingungen erweiterter sozialer Chancen das Verhaltensrepertoire der „innengeleiteten“ traditionellen Arbeiter-und Bauernmilieus weiterentwickelt zu haben. Beiden neuen Milieus sind auch Momente narzißtischer Selbstverliebtheit eigen.
Die beiden Gruppen leben nicht mehr unter den Bedingungen der Unsicherheit, des Mangels und der Enge wie ihre Eltern. Da die beiden „Muttermilieus“ in beiden Teilen Deutschlands vorhanden sind, kann angenommen werden, daß ihre „Abkömmlinge“ mit der Zeit auch gleichermaßen in Ost und West verbreitet sein könnten. Darauf verweisen auch unsere Interviews aus einer qualitativen Stichprobe in zwei ostdeutschen Regionen Das ostdeutsche „Hedonistische Arbeitermilieu“ besteht aus meist jüngeren Leuten, die eine Stufe über die Bildungs-, Berufs-und Einkommensstandards der „Traditionslosen“ hinausgekommen sind Ihre Berufspositionen sind relativ sicher. Aber sie bieten wenig Selbstverwirklichung, sondern sind Mittel zum Zweck eines hedonistischen Lebensstils. Die Lebensführung ist auf das „Heute“ und das Mithalten mit der westlichen Konsum-und Freizeitwelt ausgerichtet. Man ist im Trend und häufig demonstrativ selbstbewußt. Die Angehörigen des Milieus „verlieren den eigenen Vorteil niemals aus den Augen und nehmen alle sich bietenden Vergünstigungen in Anspruch“
Auch bei den westdeutschen „Neuen Arbeitnehmern“ ist der Hedonismus wesentlich, aber in Ethiken der Selbstverwirklichung eingebettet. Man will sich leisten können, was einem gefällt, aber nicht im Sinne eines außengeleiteten Konsums, sondern einer autonomen Gestaltung, die zugleich im Rahmen des Möglichen bleibt. Dieser Realismus entspricht dem der Eltern. Im Beruf besteht der Ehrgeiz, sich lebenslang fachlich weiterzuentwickeln und verantwortungsvolle Tätigkeiten auszuüben. Sie arbeiten bevorzugt als Fachhandwerker, als Fachleute in Schrittmacherindustrien und in technisch, sozial und pädagogisch interessanten Teilen des öffentlichen Dienstes. Auf das Vertrauen in die eigene Fachleistung -auch ein Erbe des traditionalen Arbeitsethos -stützt sich die Bereitschaft, sich häufiger im Leben einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Diese Mobilität und die Aufgeschlossenheit für Neues und auch unkonventionelle Lebensformen werden mit dem „ererbten“ Sinn für die eigenen Grenzen ausbalanciert. Zufriedenheit ist wichtiger als unermüdlicher Aufstieg. Das Aufstiegsstreben begrenzt sich oft auf Fachhochschulabschlüsse und auf Berufsgruppen moderner technischer und sozialer Fachintelligenz. Neben dem Aufstieg muß Raum bleiben für vielfältige gesellige Beziehungen mit Gleichaltrigen, aber auch den Arbeitnehmerfamilien, aus denen sie stammen.
Von ihren Eltern hat etwa die Hälfte der „Neuen Arbeitnehmer“ die Bereitschaft zu sozialem, gewerkschaftlichem und politischem Engagement übernommen. Aber sie wollen sich nicht von Politikern und Institutionen vereinnahmen lassen, sondern lieber „Politik von unten“ machen Als Gruppe der praktischen Intelligenz (die der Familienherkunft nach oft auch an die Tradition der wandernden Handwerksgesellen anknüpft) haben die „Neuen Arbeitnehmer“ sich vor allem im Zusammenhang mit der Ausweitung entsprechender Berufsfelder und Lebensweisen in der neuen technologisch-sozialen Revolution aus der jüngeren Generation des „Traditionellen Arbeitermilieus“ (TRA) bzw. -für Ostdeutschland -„Traditionsverwurzelten Arbeiter-und Bauernmilieus“ (TRAB) herausdifferenziert. Ihnen wird daher bis zum Jahre 2000 ein Wachstum auf etwa zehn Prozent vorausgesagt Ihre Kombination von traditionaler Verantwortlichkeit, Realismus und Innovation ist eine Art individualisiertes Äquivalent zu Japanischen 1 Produktionsmentalitäten.
Wie sich die ostdeutschen „Hedonistischen Arbeiter“ entwickeln werden, ist weniger kalkulierbar. Zum einen hat sich, wie Annette Spellerberg belegen kann der hedonistische Konsumstil in Ostdeutschland sehr ausgeweitet. Es könnte aber auch sein, daß die Gruppe sich auflöst: teilweise durch Abstieg in traditionslose Milieus und teilweise durch den Aufstieg in ein sich neu bildendes ostdeutsches „Hedonistisches Milieu“ mit Mittelklassecharakter (vgl. unten, IV. 3).
IV. Mittelklassenmilieus: nachholende Modernisierung?
In der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft finden wir drei Milieus mit mittleren Berufsqualifikationen, die auch die für Mittelklassen typischen Mentalitäten aufweisen. Sie umfassen einen großen kleinbürgerlichen Pol von 23 Prozent und auch einen kleinen, aber sehr modernen Pol einer Jugendsubkultur von fünf Prozent. Darin entspricht sie teilweise ihrem westdeutschen Pendant, in dem diese Pole 22 Prozent bzw. dreizehn Prozent groß sind. Aber zwischen diesen beiden Polen sieht es anders aus. Hier ist in Westdeutschland ein großer , moderner Mainstream'aus qualifizierten Angestellten und Arbeitern entstanden: das „Aufstiegsorientierte Milieu“. Durch Zuwanderung (aus den schrumpfenden klassischen Facharbeiter-und Bauernmilieus) ist es ständig gewachsen, bis 1991 auf 24 Prozent. In der DDR-Gesellschaft befand sich dagegen an dieser Stelle nicht ein Milieu, das für die wirtschaftliche Dynamik wichtig war, sondern ein hierarchisches Funktionärsmilieu von neun Prozent, das diese Entwicklung eher blokkiert hatte.
Aufgrund dieser „Modernisierungslücke“ sind die Milieus der Mitte im Osten mit 37 Prozent deutlich kleiner als ihr 59 Prozent großes westdeutsches Pendant. Die Lücke bildet heute eine attraktive Zuwanderungszone für modernere Arbeitnehmer und neue Selbständige mit Initiative 1. Kleinbürgerliche Milieus: zwei Varianten konventioneller Statusorientierung Mit seiner beachtlichen Größe von 23 Prozent bestätigt das ostdeutsche Kleinbürgerlich-materialistische Milieu (KLM) seine schon von Theodor Geiger betonte systemüberdauernde Beharrungskraft In Ostdeutschland, wo die Selbständigen teilweise in den fünfziger Jahren verfolgt und vertrieben und nach 1970 neu deklassiert worden waren, hat der kleinbürgerliche Habitus bei Fach arbeitern und Meistern sowie bei einfachen und mittleren Angestellten der staatlichen Verwaltung, der Banken und des Bildungs-und Gesundheitswesens gleichsam überwintert, oft in mittleren Hierarchie-Positionen, die auch ihrem Habitus entsprachen. Heute entstehen aus ihnen, durch Umstellungen in die entgegengesetzte Richtung, wieder die Beamten und kleinen Selbständigen, die immer schon zu den tragenden Säulen des Milieus gehört haben.
Wie ihre plebejischen Nachbarn, die traditionellen Facharbeiter, hegen auch die kleinbürgerlichen Milieus in Ost und West eine Vorliebe für eine zuverlässige, oft restriktive Moral, die der gemeinsamen Verwurzelung in der traditionalen Gesellschaft des Mangels und der Klassenschranken entspricht. Deutliche Unterschiede bestehen jedoch in den Einstellungen zur sozialen Ungleichheit und zum Statusstreben. Zum kleinbürgerlichen Ethos gehört der Stolz, den materiellen Lebensstandard nicht nur zu sichern, sondern auch zu verbessern; er soll -in Maßen -als Statussymbol die Zugehörigkeit zum gehobenen Mittelstand auch nach außen demonstrieren. Eventuelle Makel sollen nicht allzusehr auffallen, man will sich lieber nicht exponieren. Dies setzt auch aggressivem Aufstiegsstreben Grenzen. Man gibt sich „zufrieden“ und will „das Beste aus den Dingen machen“. Die traditionellen Werte wie Disziplin, Ordnung, Pflichterfüllung, Verläßlichkeit usw. werden vor allem mit einem „Blick nach oben“ hochgehalten. Während nach dem kleinbürgerlichen Ideal die eigene Familie der Hort der Geborgenheit ist, verlangt die Nachbarschaftsethik der Volksklassen ausdrücklich auch mehr Verantwortung für die Gemeinschaft, in der man lebt und arbeitet.
Zwischen Ost und West zeigen sich Akzentunterschiede. Im Osten wurde 1991 der materielle Gütererwerb höher bewertet, vermutlich wegen des Nachholbedarfs aus DDR-Zeiten. Dem westdeutschen Kleinbürgerlichen Milieu sind die Folgen der Modernisierung seiner Gesellschaft anzusehen: es ist kleiner und in gewissen Momenten auch moderner geworden 2. Funktionärsmilieus und Aufstiegsmilieus: eine traditionale und eine modernisierte Mitte Das ostdeutsche Status-und Karriereorientierte Milieu von neun Prozent, das hauptsächlich aus der früheren Funktionärsschicht der DDR stammt, entspricht eher noch der „traditionalen Mitte“ der früheren deutschen Karriere-Angestellten und -Beamten, die im DDR-System sehr verfestigt worden ist. In Westdeutschland sind dagegen von 1950 bis 1990 die Angestellten und Beamten insgesamt von 21 Prozent auf 52 Prozent der Erwerbstätigen angewachsen, die Teilgruppe der sog. „neuen Berufe“ die besonders viel modernes Ausbildungskapital voraussetzen, sogar noch stärker, von fünf Prozent auf 22 Prozent. Entstanden ist die „moderne Mitte“ des Aufstiegsorientierten Milieus von 24 Prozent, dessen Mentalität stärker arbeitnehmerisch geprägt ist. Das ostdeutsche „Status-und Karriereorientierte Milieu“ stand 1991 mitten in dem Umstellungsprozeß, mit dem seine Angehörigen, die oft mittlere und höhere Führungskader von Partei und Verwaltung der DDR gewesen waren, in die entsprechenden Etagen der neuen Gesellschaft überwechseln wollten. Wie in jeder Bürokratie war der vergangene Status durch Privilegien, Macht und „gute Beziehungen“ gekennzeichnet gewesen. Diese Muster setzten sich in dem Streben fort, den Leitbildern westlicher Manager und entsprechenden Lebensstandards zu folgen, viel Geld zu verdienen, aufzusteigen und seinen Status auch symbolisch zu demonstrieren. Die damit verbundene Unsicherheit wurde nicht einheitlich verarbeitet. Ein Teil dieser Erfolgreichen hält noch trotzig an DDR-Werten fest bzw. unterstützt die PDS. Ein anderer Teil zeigt eine eher kritiklose Identifikation mit marktwirtschaftlichem Ellenbogen-denken, mit einem in Westdeutschland schon relativierten Fortschrittsglauben und einer entsprechenden High-Tech-Faszination. Die Berufsmuster zeigen, daß diese Umstellungsstrategien häufig eine Deklassierung vermeiden halfen. Auch aufgrund ihrer Bildungsabschlüsse erreichten viele die Positionen von Facharbeitern, Handwerkern, qualifizierten Angestellten oder Selbständigen. Diese Stufenleiter scheint grundsätzlich der der DDR-Gesellschaft zu entsprechen, in der die Führungskader aufgrund ihres „politi-sehen Kapitals“ in jeder gesellschaftlichen Etage als „Sahne“ oben schwammen -und die Initiativen anderer blockierten.
Das westdeutsche „Aufstiegsorientierte Milieu“ ist dagegen heterogener, entsprechend dem Zustrom aus arbeitsorientierten bäuerlichen, handwerklichen und industriellen Volksmilieus. Die erreichte gesellschaftliche Stufe wird nicht so sehr mit Gesichtspunkten der „guten Beziehungen“ und ständischen Etablierung verbunden als mit der eigenen Leistung. Man hat sich,, hochgearbeitet, nicht hochgedient. Neben dem Habitus der Status-konkurrenz gilt ein arbeitnehmerischer Habitus, nach dem der Aufstieg nicht auf Kosten anderer gehen, sondern eine Art kollektiver Aufstieg nach dem Beckschen Fahrstuhleffekt sein soll. 3. Der Generationenbruch: asketische und konsumorientierte Spontaneität
Auf allen drei Stufen der DDR-Gesellschaft gab es auch einen Pol radikaler, modernisierter junger Milieus, 1991 mit 17 Prozent kaum kleiner als ihre Schwestermilieus in Westdeutschland, die 20 Prozent umfaßten. Die soziale Zusammensetzung beider Milieus entspricht der Übergangsphase zwischen 20 und 30 Jahren, die zwischen Ausbildung und Jobs verläuft und in der die angestrebten Bildungsabschlüsse und Einkommen noch nicht erreicht sind.
Während die Milieus der modernen Mitte eher durch berufliche Differenzierung entstanden sind, wirkt hier -im Osten wie im Westen -seit den siebziger Jahren ein Generationenbruch. Die beachtliche Größe des westdeutschen Hedonistischen Milieus (13 Prozent) läßt sich aber auch strukturell, aus der durch Bildungsreformen und sozialen Wandel verlängerten Jugendphase erklären. Da dieser Strukturwandel nun auch mehr für Ostdeutschland gilt, ist mit einem entsprechenden Wachstum des ostdeutschen Subkulturellen Milieus, das 1991 mit fünf Prozent noch klein war, zu rechnen. Auch die Qualität dieses Jugendmilieus war 1991 noch deutlich anders. Sie spiegelt noch die aufgezwungene und zugleich selbstgewollte Abdrängung ins Abseits der DDR-Nischengesellschaft wider.
Im Grundsätzlichen überwiegen jedoch die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West. Beide Milieus teilen die Ideologie eines radikalen Individualismus, der das Unverwechselbare, die Selbstbestimmung und die Ungebundenheit demonstrativ betont, die Spontaneität des Lebensgenusses im „Hier und Jetzt“, die Ablehnung einer längerfristigen Lebensplanung, den eher sorglosen Umgang mit Geld und die Brüche im Ausbildungs-oder Berufsweg. Beide definieren sich jugendtypisch geradezu als Gegenteil der angepaßten Normalbürger der Elterngeneration.
Eben darin zeigen sich aber auch Unterschiede. Die westdeutschen „Hedonisten“ haben Freude am guten Leben, an Luxus und Komfort. Was sie demonstrativ ablehnen, sind die Sicherheit und Geborgenheit, mit der die harmonieliebenden westdeutschen Kleinbürger sich so stark identifizieren. Die ostdeutschen „Subkulturellen“ stellen dagegen die Geringschätzung der materiellen Güter ostentativ zur Schau, wie ein Negativbild des Konsummaterialismus der ostdeutschen Kleinbürger. Die Konsumaskese und auch die enge Bindung an Gruppen Gleichgesinnter erinnern, bis in feine Geschmacksnuancen hinein, an die „UrSpontis“ der westdeutschen Universitätsstädte in den frühen siebziger Jahren.
Seit 1991 befinden sich beide Milieus in neuen Entwicklungen. Die Abgrenzung gegen die älteren Milieus ist inzwischen weiter verarbeitet, so daß die eigene Lebensführung jetzt positiver und stil-sicherer ist Zugleich könnten beide Milieus stärker zur Innovation der anderen Milieus beitragen. Innerhalb der „Subkulturellen“ wächst auch eine realistische jüngere Bildungselite heran, die sich von der inzwischen etablierten Elite des Bündnis 90 (vgl. unten, V. 3.) völlig abgenabelt hat und auf einen neuen Generationenwechsel an der Spitze der ostdeutschen Gesellschaft drängt.
V. Funktions-, Herrschafts-und Oppositionseliten: Deklassierung oder Statuserhalt?
Die ostdeutsche Oberschicht war vermindert durch deklassierte Teile der alten kulturellen Oberschicht. Diese fanden sich in der DDR vor allem in mittleren Berufspositionen des Kultur-, Bildungsund Gesundheitsbereichs (fünf Prozent der Er-werbsbevölkerung) wieder. Zum anderen hatten in der Machtelite der DDR Gruppen Dominanz erlangt, die dorthin während des Elitewechsels der fünfziger Jahre aufgestiegen waren. Große Teile dieser sog. HJ-und FDJ-Generation hatten jedoch die relativ enge Mentalität und Kompetenz ihrer Herkunft beibehalten: auf der Mentalitäts-Landkarte gehören sie eher zur kleinbürgerlichen Mitte, zum Status-und Karriereorientierten und Kleinbürgerlich-materialistischen Milieu. Zu dieser „herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse“ (Bourdieu) gehörten insbesondere die Leitungskader der Macht-und Sicherheitsorgane (sechs Prozent) und der kommunalen, staatlichen und wirtschaftlichen Führungseliten (acht Prozent). Zur zweitgenannten Gruppe gehörten allerdings auch viele fähige Technokraten, die in der DDR einen langen Kampf gegen die bürokratischen Blockierungen gefühy hatten. Auf das Fach-und Erfahrungswissen dieser oppositionellen Reserveelite, die es in allen Ostblockländern gab, wurde aus politischen Gründen in der Wende, zum Schaden der ostdeutschen Wirtschaft, kaum zurückgegriffen.
In der Wende waren die Funktionseliten im Gesundheits-, Sozial-und Schulwesen eher gering oder partiell von Entlassungen betroffen In vielen Bereichen stieg der Bedarf eher. Andere Gruppen der wissenschaftlichen Intelligenz wurden, teils verdrängt durch Westdeutsche, empfindlich deklassiert. Im Bereich des „Wasserkopfes“ veränderten sich die Proportionen erheblich. In den lokalen und zentralen staatlichen Verwaltungen kam es zu begrenzten, im Sicherheits-und Macht-apparat (mit Ausnahme von Polizei und Heer) zu umfassenden Entlassungen. Bemerkenswerterweise haben viele der Betroffenen ihr hohes Ausbildungs-und Beziehungskapital nutzen und, trotz gewisser Statusverluste, in der neuen ostdeutschen Gesellschaft Ersatzpositionen finden können, die ihnen einen Abstieg in die Mitte ersparten. 1. Technokratische Funktionseliten: konventionelle und individualisierte Mentalitäten Die technokratischen Eliten waren -mit einer gewissen Modernitätsdifferenz -1991 in Ost und West ähnlich zusammengesetzt. Das ostdeutsche Rationalistisch-technokratische Milieu (sechs Prozent) bestand aus Angestellten, Beamten und Selbständigen mit hohen Bildungsabschlüssen, die leitenden Positionen, auch in der Wirtschaft, einnahmen und mittlere und hohe Einkommen hatten. Das westdeutsche Technokratische Milieu (neun Prozent) rekrutierte sich ähnlich, ihm gehörten aber mehr Freiberufler und Bezieher hoher und höchster Einkommen an.
In unseren Milieudiagrammen haben wir die westdeutschen „Technokraten“ in der modernen Mitte verortet, die ostdeutschen am traditionellen Pol. Ihr Vertrauen auf Machbarkeit und Rationalität erinnert noch sehr an den Fortschrittsglauben älterer deutscher Eliten, zuletzt auch der sog. „Helmut-Schmidt-Generation“. Gerade diese Generation hat in Westdeutschland an Leitbildfunktionen verloren. In den technischen, administrativen und kulturellen Eliten, die das Milieu heute ausmachen, wuchsen die Erfahrungen der Risiken des Fortschritts und der Grenzen eines autoritären Managementstils einerseits und der Chancen flexibler Führungsstile und individualisierter Lebensweisen andererseits. Aber auch die ostdeutschen Technokraten standen, gerade wegen ihres Bestehens auf Rationalität, häufig in kritischer Opposition zu der blockierenden Macht der Bürokratien.
Die Modernisierung des Lebensstils betrifft bei den westdeutschen „Technokraten“ allerdings mehr die Form als die Grundprinzipien der Lebensführung. In beiden Milieus werden Karriere und Leben noch bewußt und effektiv geplant. In beiden herrscht ein sich gegen das Mittelmaß abgrenzendes Perfektionsstreben und ein Elitebewußtsein, das materiellen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung auf der Grundlage einer überdurchschnittlichen eigenen Leistung beansprucht. Diese Haltung ist aber in Ostdeutschland in ein konventionelles Pflichtethos („Erfolg als Pflicht“) eingebaut und in die konformistische Maxime, sich pragmatisch anzupassen, wenn dies nötig ist. In Westdeutschland sind beruflicher Erfolg und bevorzugte Lebensstandards durch eine Ideologie der Selbstverwirklichung gefärbt. Beruf und Lebensstil sollen der Entwicklung der Persönlichkeit und neuen Erfahrungen dienen, Freiräume und eine betonte individuelle Selbstdarstellung zulassen. Von dem gehoben-anspruchsvollen Konsum-stil der ostdeutschen Technokraten unterscheiden sich die westdeutschen durch eine stärkere Neigung zu kultivierter Kennerschaft und einen avantgardistischen, den Trend für andere Milieus setzenden Stil. 2. Bildung und Besitz im Umbruch:
Varianten bürgerlicher Milieus 1991 fanden sich in Deutschland noch zwei erstaunlich intakte bürgerliche Milieus. Allerdings war das östliche Bürgerlich-humanistische Milieu (zehn Prozent) auf die Bildungsfraktion dieser Klasse reduziert. Es bestand aus qualifizierten und leitenden Angestellten der Verwaltungs-, Bildungs-, Sozial-und Informationsberufe sowie Wissenschaftlern, Ärzten und Rechtsanwälten. Angehörige dieser Gruppen besaßen hohe und höchste Bildungsabschlüsse sowie mittlere und gehobene Einkommen und befanden sich, teils altersbedingt und teils wendebedingt, bereits zu einem Drittel im Ruhestand. Das westdeutsche Konservativ-gehobene Milieu (acht Prozent) rekrutierte sich aus den gleichen Gruppen, zusätzlich aber auch aus mehr Selbständigen und Freiberuflern, und es lag ebenfalls -wenn auch weniger ausgeprägt -über dem Altersdurchschnitt.
Am ostdeutschen Bürgerlich-humanistischen Milieu fällt zunächst ein Paradox auf. Im Vergleich zu seinem westdeutschen Pendant ist es halbiert, da ihm die besitzende Fraktion fehlt. Aber es ist doch größer. Die Lücke, die durch Vertreibung, Verfolgung, Enteignung und Abwanderung vieler bürgerlicher Eigentümer und Akademiker gerissen wurde, ist offensichtlich durch ostdeutsche Bildungsaufsteiger aus der protestantischen Handwerker-und Facharbeiterintelligenz mindestens ausgeglichen worden Diese Verbindung wurde auch dadurch erleichtert, daß die bürgerliche „Restklasse“ ihren Charakter veränderte. Politisch abgedrängt, reaktivierte sie die alten protestantisch-preußischen Tugenden der Innerlichkeit und Askese, der Disziplin, Pflichterfüllung und sozialen Verantwortung und erneuerte deren Verbindung mit der Pflege der humanistischen Traditionen der Toleranz, Menschenwürde und Solidarität. Hierzu gehört auch das Streben, mit sich, der Familie und dem sozialen Umfeld in Harmonie zu leben. Verbunden war dies mit dem Hochkultur-Schema: der Wertschätzung von Kultur und Kunst und der traditionsbezogenen Distanz zu den „oberflächlichen“ materiellen Dingen. Dies bezeichnet keine Konsumfeindschaft, sondern die Vorliebe für überlegten Konsum und langlebige Qualitätsgüter. Bei den westdeutschen „Konservativ-gehobenen“ gehen diese Tugenden eine andere Verbindung ein, die mit der äußeren Machtstellung des Milieus zu tun hat. Die humanistische Tradition verbindet sich weniger mit Kritischem als mit dem Respekt vor gewachsenen Strukturen. Die soziale Verantwortung wird eher hierarchisch-gönnerhaft verstanden. Zur Hochkultur gehören auch ein distinguierter Lebensrahmen mit hohen Ansprüchen an Qualität und Kennerschaft sowie ein Elitebewußtsein, für das auch der materielle Erfolg und eine anerkannte gesellschaftliche Stellung wichtig sind. Allerdings darf dies nicht übertrieben zur Schau gestellt werden. Die Attribute der Macht und der Privilegien dürfen nicht nach Art der Parvenüs provozieren. Sie werden, im Stil einer distinktiven Einfachheit und Humanität, dementiert.
Eine Restauration dieser distinguierten Kombination von Bildung und Besitz ist in Ostdeutschland, wo sich jetzt eine eher neureiche Aufsteigerklasse neben der gepflegten bürgerlichen Tradition etabliert, kaum zu erwarten. Ein ungeschmälerter Erhalt der ostdeutschen „Bürgerlichen Humanisten“ ist wegen partieller Deklassierungsprozesse der DDR-Intelligenzschichten ebenfalls unwahrscheinlich. Die erhebliche Größe des Milieus (zehn Prozent) ist sicherlich nicht nur daraus zu erklären, daß es eine Zuflucht und Nische bot, sondern auch daraus, daß der DDR-Staat aus Prestige-und Legitimationsgründen eine differenzierte, teils lokal sehr wirksame, teils in den Zentren auch übergroße kulturelle Intelligenz alimentiert und mit gewissen (eher nicht unmittelbar materiellen) Privilegien und Freiräumen gepflegt hatte. 3. Alternativmilieus zwischen Rückzug und Innovation In den Bürgerbewegungen vor und während der Wende zeigte sich eine jüngere Generation der humanistischen Intelligenz, die ihrer Innerlichkeit eine politische Öffentlichkeit schuf, zunächst im Schutzraum der Kirchen, später als „Stimme“ der Bewegungen, die 1989 den Zusammenbruch des SED-Systems auslösten. Viele haben allerdings die Enttäuschung darüber, daß die Mehrheit der Ostdeutschen ihre Führungsrolle und ihre basisdemokratischen Ideale nicht akzeptierte, kaum verheilet. Auch viele Wissenschaftler aus diesem Milieu können sich das Scheitern ihrer Ansprüche auf kulturelle Hegemonie nur aus Defiziten des Volksbewußtseins an Subjektivität, Modernität, Universalismus usw. erklären Es fällt ihnen schwer zu erkennen, daß gerade diese Geringschätzung sie das Vertrauen von Menschen gekostet hat, denen ihr Leben lang zuviel versprochen worden ist.
Nachdem der einigende politische Druck nicht mehr besteht, scheint sich heute dieses Linksintellektuell-alternative Milieu das 1991 stolze sieben Prozent oder mehr als eine Million Ostdeutsche vereinigte, in seine Teilgruppen aufzulösen. Nach den Landtagswahlen von 1994 wirken die alten Führungsgruppen der Bündnis-Grünen wie Generäle oder Feldprediger, deren Bataillone -oft als politische Nichtwähler -fortgelaufen sind, um nach der Enttäuschung durch die politischen Eliten erst einmal ihr Haus, den Alltag, in Ordnung zu bringen. Vieles spricht dafür, daß wir uns in einem sozialen Moratorium befinden, in dem die Milieus sich politisch neu orientieren.
Die Mehrheit des Milieus versteht sicher ihre Orientierungen nicht so fundamentalistisch zugespitzt. Auch das westdeutsche Pendant, das Alternative Milieu ist inzwischen weniger puristisch, zumal es sich, durch Abwanderungen zu den pragmatischeren „Technokraten“, auf zwei Prozent halbiert hat. Beide Milieus betonen die Ansprüche der Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung, der Individualität und Authentizität. Im Westen wird dieser Individualismus durch einen anderen hohen Anspruch, nämlich: intensive zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, etwas relativiert. Die Prinzipien der Konsumaskese und der postmateriellen Werte werden im Osten als Abwertung materieller Bedürfnisse und Gebot einer einfachen, naturnahen Lebensweise akzentuiert, im Westen eher als Mahnung, umweltbewußte Qualität einzukaufen, und als Erlaubnis, sich in harmonische Idylle zurückzuziehen. Auch der Anspruch, sich für die eigenen Ideale politisch, sozial und künstlerisch zu engagieren, wird im Westen weniger unbedingt formuliert. Denn das westdeutsche Alternativmilieu ist inzwischen sozial stärker gemischt; zu ihm gehören nicht nur etablierte Akademiker mit gutbezahlten Berufen in Ausbildung, Forschung, Kulturwesen usw., sondern auch viele Schüler und Studenten mit geringerem Einkommen. Das westdeutsche alternative Milieu ist also offener für eine jüngere Generation, während das ostdeutsche sich stärker von dem jungen subkulturellen Milieu abgrenzte. Hier sind sicher neue Dynamiken zu erwarten.
VI. Gewinner und Verlierer(innen)
In der Diskussion zeigt sich oft eine heimliche Ethnisierung. Viele sehen die Ostdeutschen, einem fremden Stamm gleich, als homogene Einheit, ohne die kontrastierenden Schicksale der Einzelgruppen zu beachten. Dies verführt zu Verallgemeinerungen, die die Ostdeutschen entweder als Gewinner einer Modernisierung (mit gewissen Schattenseiten) oder als Verlierer in einem Kolonisierungsprozeß (mit gewissen Lichtseiten) hinstellen
In seiner klassischen Untersuchung einer anderen, jedoch strukturell vergleichbaren sozialen Transformation hat E. P. Thompson die beiden orthodoxen Denktraditionen detailliert kritisiert: die Modemisierungsschule, weil sie die Differenzen zwischen Gewinnern und Verlierern durch Durchschnittswerte wegrechnet, die Verelendungsschule, weil sie die sozialen Gruppen nur als Objekte ökonomischer Prozesse sieht und nicht auch als Subjekte der Gegenwehr und Selbsthilfe Jede technologisch-ökonomische Modernisierung erzeugt in den betroffenen Branchen und Milieus beides: aufsteigende und absteigende Gruppen. Diese wirtschaftlichen Prozesse verlaufen jedoch nicht natur-gesetzlich, sondern sind begleitet von Kämpfen, in denen es um die Marktregulierung und Sozialpolitik geht, mit der die „Freisetzung“ von Produzenten der vorher relativ gesicherten sozialen Mitte aufgefangen werden soll -oder nicht.
Diesem Paradigma folgend haben wir die ostdeutsche Gesellschaft nicht als Aggregat von Individuen betrachtet, die isoliert auf-oder absteigen. Wir sehen sie als Klassengesellschaft, d. h. als Feld von Großgruppen mit feinen Unterfraktionen, die sich nach einer gewissen Choreographie der Modernisierung bewegen. Wenn wir jedes Milieu, aber auch jede Geschlechts-, Altersklasse usw. als Gruppe für sich betrachten, sehen wir plötzlich doch eindeutige Auf-und Absteiger(innen), Um-und Aussteiger(innen). Die Verlierer häufen sich in bestimmten Zonen: regional in den Gebieten abseits der Zentren und Transportkorridore, sozial besonders in der einst so gesicherten großen mittleren Etage der ostdeutschen Gesellschaft. Insofern stimmt Dietmar Wittichs (differenzierend formulierte) These vom radikalen Umbruch
Die Umstrukturierung traf auf jeder der drei „Etagen“ der Gesellschaft ganz bestimmte Gruppen. In der Mitte waren dies Industrie und Landwirtschaft, die aufgrund der Weltmarktlage kein westdeutsches Wirtschaftswunder nachholen konnten. Stillgelegt wurden jedoch nicht nur rückständige, sondern auch modernisierungsfähige Industriepotentiale, die für Westfirmen eine unliebsame Konkurrenz hätten werden können. So verloren insbesondere Milieus der Facharbeiter(innen) und technischen Intelligenz ihre erwerbsstrukturelle Grundlage, in vielen Regionen sogar mehrheitlich. Aus der Produktion ausgegliedert wurden vor allem Frauen, Ältere, weniger Qualifizierte, Ausländerinnen) und die weniger Mobilen. -Betroffen sind auch spezifische Gruppen der Eliten -und hier ausgerechnet frühere technokratische und wissenschaftliche Oppositions-und Reformkräfte, die sich durch die Wende sozial deklassiert und politisch desavouiert sehen. Ebenfalls verlieren viele Traditionslose Arbeiter, vor allem in abgebauten Problemindustrien, ihre in der DDR immerhin gegebene materielle Sicherheit. Auch hier sind Frauen und Ältere sowie Jugendliche mit geringer Qualifikation am meisten benachteiligt.
Diese Statusverluste begründen kein allgemeines Wachstum der materiell und moralisch destabilisierten Unterklassenmilieus, obwohl diese beunruhigend zunehmen werden. Die meisten Betroffenen der oberen und mittleren Milieus werden durch ihre sozialen Zusammenhänge aufgefangen. Da viele dieser Verlierergruppen sich auch schon in der DDR geprellt sahen, sitzen sie nun zwischen den Stühlen. Die Unzufriedenheit kommt nur teilweise der PDS zugute; sie fließt in weit größerem Ausmaß in Wahlenthaltung und skeptische Distanz Die moralische Nichtidentifikation mit unserem gesellschaftspolitischen System wird, durch den Milieunexus mit der ausgegliederten älteren Generation, auch lange bei denjenigen Jüngeren nachwirken, denen der Übergang in unser Erwerbssystem materiell gelingt.
Michael Vester, Dipl. -Soz., Dr. phil., geb. 1939; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover; Sprecher des Forschungsverbundes Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung der Universitäten Hannover und Oldenburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß, Frankfurt am Main 1970ff.; (Hrsg.) Die Frühsozialisten I. u. JL, Reinbek 1970 u. 1971; (Hrsg.) E P. Thompson, Das Elend der Theorie, Frankfurt am Main 1980; Modernisierung und Unterentwicklung in Südportugal, Hannover 1991; (zus. mit Peter von Oertzen/Heiko Geiling/Thomas Hermann/Dagmar Müller) Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993; (Hrsg.) Unterentwicklung und Selbsthilfe in europäischen Regionen, Hannover 1993; Das Janusgesicht sozialer Modernisierung. Sozialstrukturwandel und soziale Desintegration in Ost-und Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26-27/93; (Hrsg. zus. mit Michael Hofmann/Irene Zirke) Soziale Milieus in Ostdeutschland, Köln 1995.
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