I. Die Fragestellung
Ähnlich wie Umweltschäden und verwahrloste Bausubstanz in den neuen Bundesländern als „Altlasten“ gelten, so erscheinen auch bestimmte „alte“, in 40 Jahren DDR erworbene Denk-und Verhaltensweisen der Menschen als Modernisierungshemmnisse. Mit dem vorliegenden Beitrag soll darauf hingewiesen werden, daß einige dieser Mentalitäten und Verhaltensmuster im Gegenteil Zukunftspotentiale darstellen. Begründet wird dies mit modernisierungstheoretischen Argumenten und Befunden, die vergleichsweise genau darauf eingehen bzw. zeigen, was in „postindustriellen Gesellschaften“ erforderlich ist.
Mithin sollen in diesem Beitrag im wesentlichen zwei Fragen beantwortet werden:
Erstens: Gibt es im Rahmen von gesellschaftlichen Modernisierungprozessen auch Entwicklungsmuster des Denkens und Handelns, die sich verallgemeinern (und eventuell bis in die Zukunft hinein voraussehen) lassen? Wenn ja, wie lassen sie sich charakterisieren?
Wenn es solche benenn-und voraussehbaren Entwicklungstendenzen gibt, dann werden bestimmte Denk-und Verhaltensweisen in die Zeit „passen“, sich für den einzelnen als förderlich und für gesellschaftliche Prozesse als funktional erweisen. Andere Denk-und Verhaltensweisen werden unzeitgemäß sein und „quer“ zu kommenden Entwicklungen liegen. Sie werden bestenfalls als liebenswert „altmodisch“ gelten, schlimmstenfalls an den Rand des Tolerablen, zu persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsbarrieren geraten.
Zweitens: Hieraus ergibt sich die zweite, viel brisantere Frage, deren Beantwortung im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen wird: Inwieweit stellen die derzeit in Ostdeutschland beobachtbaren Denk-und Verhaltensweisen Barrieren oder aber Wege der Modernisierung dar, inwiefern hemmen oder fördern sie erfolgversprechende Wege in die Zukunft?
Dies zu thematisieren ist m. E. von erheblicher Bedeutung: Die DDR ist, so sagen viele nicht zuletzt wegen ihres systembedingten Mangels an handlungsfähigen Akteuren und praktizierter subjektiver Autonomie implodiert. Es waren also ganz wesentlich Fragen des Denkens und Handelns, die den Anfang vom Ende der DDR mit sich brachten. Auch die gegenwärtigen Transformationsprozesse, die Probleme des Umbruchs und deren Bewältigung, sind keinesfalls nur eine Frage des „Objektiven“, beispielsweise des Arbeitsplatzangebots oder der Umweltschäden. Die momentanen Veränderungen sind auch maßgeblich bestimmt von „subjektiven“ Faktoren, von Einstellungen, von der Zufriedenheit und den Aktivitäten der Menschen. Schließlich wird auch die Zukunft der neuen Bundesländer entscheidend davon abhängen, wie sich Mentalitäten und Verhaltensformen entwikkeln werden. Rigide Beharrungskräfte, Fehlanpassungen oder Überreaktionen könnten dazu beitragen, daß Übergangsprobleme zu langfristigen werden. „Moderne“ Mentalitäten und Praktiken könnten dazu verhelfen, Transformationsprobleme abzukürzen. Wenn es gelänge, in Ostdeutschland vorhandene „alte“, gleichwohl zukunftsweisende Denkweisen zu identifizieren, um so die Möglichkeit zu eröffnen, diese positiv zu besetzen, also ihre Träger zu ermutigen, wäre einiges erreicht
Freilich hat die eben skizzierte Themenstellung ihre Tücken und Gefahren:
Erstens erfordert sie eine Feststellung von soziokulturellen Modernisierungstendenzen und von individuellen Denkweisen, die in diesem Rahmen funktional und zukunftstauglich sind. Es steht also eine theoretisch begründete Unterscheidung von Kulturmustern an, die im Lichte von Modernisie-rungsentwicklungen positiv bzw. negativ zu bewerten sind. Wo die Sicherheit herkommt, bestimmte Gesellschaftsentwicklungen als voraussehbare Trends zu bezeichnen -wo doch die Gedanken bekanntlich frei und Kulturbestände erwiesenermaßen langlebig sind gilt es wohl zu begründen. Erst recht begründungs-und rechtfertigungsbedürftig ist die wertende Benennung von mentalen Zukunftspotentialen und Zukunftshemmnissen.
Zweitens birgt die Absicht, „rückständige“ Denkmuster einerseits und moderne, zukunftsorientierte andererseits zu identifizieren, die Gefahr in sich, Vorurteile zu schüren: Wenn der Anschein entstünde, daß den „Ossis“ erläutert werden müsse, in welcher Hinsicht sie „noch zu lernen haben“, daß sie darüber aufzuklären seien, wo ihre von ihnen selbst unerkannten Zukunftschancen lägen, wäre das kein Beitrag zur politischen Bildung, sondern zum Wiederaufbau der „Mauer“ in den Köpfen der Menschen. Diese Gefahr besteht um so mehr, als im folgenden die Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland im Mittelpunkt stehen werden, während auf Differenzierungen innerhalb Ost-und Westdeutschlands wenig eingegangen wird
Auf den ersten Blick enthält die Fragestellung dieses Beitrags eine dritte, ganz unmittelbare Schwierigkeit: Wenn man praktischen Erfahrungen und populären Modernisierungsvorstellungen glaubt, muß man über dieses Thema gar nicht lange reden. Dann scheint die Antwort auf der Hand zu liegen. Dann überwiegen die „Altlasten“ ganz eindeutig, und die Menschen in Ostdeutschland „haben noch viel zu lernen“.
Denn viele „aus der Praxis“ berichtete „Erfahrungen“ über Denk-, Lebens-und Handlungsmuster in Ostdeutschland lassen sich mit dem Begriff „Rückständigkeit“ zusammenfassen: In den neuen Bundesländern auffallende Mentalitäten und Verhaltensweisen (wie die Betonung der Familien-gemeinschaft, Rückzugsmentalität, Privatismus, formales Pflichtdenken, Materialismus, Normalitätsdruck, Autoritäts-und Staatsgläubigkeit) werden häufig jenen gleichgestellt, die in Westdeutschland und in anderen entwickelten Industriegesellschaften vor mehr als 20 Jahren verbreitet waren, dort aber heute ganz unangebracht erscheinen. Auch Begründungen für dergleichen „Rückständigkeiten“ sind schnell zur Hand. Meist wird auf „Erblasten“ der DDR verwiesen: In der DDR dominierte -bis zuletzt -noch die mechani sierte Massenproduktion von Gütern mit maschinenabhängigen, regelorientierten, standardisierten Arbeitsplätzen, als im Westen schon die differenzierte Dienstleistungsökonomie blühte; die materiellen Lebensbedingungen in der DDR waren -ebenfalls bis zuletzt -durch Knappheit und Einheitsangebote charakterisiert, stärker noch als im Westdeutschland der sechziger Jahre; der Sozialismus konservierte die „spezifisch deutschen Kulturtraditionen“ des pflichtorientierten Protestantismus, des Preußentums und des Untertanen-staates. Die 68er-Bewegung und der Wertewandel haben in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Es besteht also kein Begründungsnotstand, dem Denken in Ostdeutschland Rückständigkeit zu attestieren. So weit zur Praxis vieler alltäglicher Beobachtungen.
Aber auch die landläufigen, von den konkreten Gegebenheiten in Ostdeutschland abstrahierenden Modernisierungsvorstellungen vermitteln kein anderes Bild. In der Regel werden hierbei bestimmte Einrichtungen oder empirische Gegebenheiten als Kennzeichen des Modernisierungsgrades von Gesellschaften benannt. Hierzu zählen der Aufbau der demokratischen und wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen, der Marktwirtschaft, des Wohlstands und Massenkonsums, der Massenmedien, der Mobilität, Alphabetisierung und Bildung der Menschen sowie die Verlängerung ihrer Lebenserwartung und die Verbesserung ihres Gesundheitszustandes. All das gilt üblicherweise als Gradmesser der Modernisierung. Länder, die diese Kennzeichen nicht oder in minderem Maße besitzen, müssen mehr oder minder viel „nachholen“.
Diese populären Modernisierungsvorstellungen einer „nachholenden Modernisierung“ verleiten erst recht zur Vermutung, daß Denk-und Verhaltensweisen in Ostdeutschland „rückständig“ seien. Schließlich sind die erwähnten, als Modernisierungskennzeichen geltenden Institutionen, Rechtsordnungen und Organisationen in Ostdeutschland den westdeutschen mittlerweile weitgehend angeglichen. Auch das materiell Faßbare, vom Straßen-und Wohnungsbau über die Kommunikationsmittel und Entlohnungen bis hin zur Produktivität, ist in schnellem Aufholen begriffen. Kulturmustern hingegen wird nachgesagt, sich wesentlich langsamer zu ändern als Institutionen und Materielles. Eine oft zu hörende Vermutung besagt denn auch, daß das Denken und Verhalten in Ostdeutschland noch viel rückständiger sei, daß es auf diesem Gebiet noch viel mehr nachzuholen gäbe als etwa bei der Modernisierung von Verwaltungen oder Betriebsabläufen. Alltägliche Beobachtungen fügen sich häufig diesen abstrakten Erwartungen eines Modernisierungsrückstandes: Privatismus und Traditionalismus, Gemeinschaftsabhängigkeit, Staats-und Autoritätsgläubigkeit scheinen in vielen Fällen modernen Institutionen noch nicht angepaßt. Diese „subjektiven“ Modernisierungsrückstände behindern anscheinend die nachholende Modernisierung. Die Schlußfolgerung scheint nahezuliegen, daß die Zukunft des Denkens und Verhaltens für Ostdeutsche schon heute in Westdeutschland zu finden sei. Da also die eingangs gestellten Fragen auf große Risiken und verbreitete Einwände stoßen, möchte ich im folgenden zwei gegenläufige Antworten geben: Erstens will ich darlegen, daß nicht nur die erwähnten laienhaften Alltagsbeobachtungen und -theorien, sondern auch die übergroße Mehrzahl der professionellen soziologischen (Modernisierungs-) Theorien und empirischen Befunde den Anschein einer „Rückständigkeit des Denkens“ in Ostdeutschland stärken. Dies kann ohne Mühe weiter-getrieben werden bis nahe an einen Punkt hin, an dem man von „gesicherten sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen“ sprechen könnte. Kaum aufgerichtet, möchte ich zweitens manche theoretischen Grundpfeiler und empirischen Aufbauten dieses „Erkenntnisgebäudes“ wieder, einreißen. Die scheinbare Sicherheit, daß Ostdeutschland geprägt sei von „veralteten“, für die Zukunft untauglichen Mentalitäten, will ich ein Stück weit brechen. Es soll die These vertreten und begründet werden, daß es in Ostdeutschland manche Strukturen des Bewußtseins und des Verhaltens gibt, die nur scheinbar rückständig sind, die in Wirklichkeit aber (ähnlich wie erhaltene Altstadtkerne, Frauen-erwerbstätigkeit, Kinderkrippen, Polikliniken und in sich differenzierte Mittelschulen) beachtliche Zukunftspotentiale in sich bergen. Diese These soll mit theoretischen Argumenten zur Entwicklung „postindustrieller“ Gesellschaften begründet und -soweit möglich -empirisch gestützt werden. So ist auch der Untertitel des Aufsatzes gemeint: Einige soziokulturelle Bestände Ostdeutschlands, die heute noch „Altlasten“ der Vergangenheit, meist der DDR-Vergangenheit, darstellen, könnten sich als Zukunftspotentiale erweisen. Sie könnten vielleicht sogar dazu dienen, einen etwas anderen Weg in die „postindustrielle Gesellschaft“ einzuschlagen und hierauf diejenigen Länder zu überholen, die den „normalen“ Gang westeuropäischer Modernisierung gehen. Ironischerweise könnte so Walter Ulbricht mit seiner Parole vom „Überholen ohne einzuholen“ doch noch recht behalten -freilich anders, als er es meinte.
II. Die erste Antwort: „Altlasten“
1. Soziologische Modernisierungstheorien und die „Modernisierung des Denkens“ in Westdeutschland Auf den ersten Blick unterscheiden sich soziologische Modernisierungstheorien erheblich. Dies zeigt sich an wichtigen Beispielen: -So faßte Emile Dürkheim (1858-1917) den Modernisierungsprozeß als Übergang von der „mechanischen Solidarität“ zur „organischen Solidarität“, von der unverbundenen Gleichartigkeit zur verbundenen Ungleichartigkeit (funktional differenzierter) Gesellschaftsbestandteile '-Georg Simmel (1858-1918) stellte den Menschen im Laufe der Modernisierung in den „Schnittpunkt“ von immer mehr und immer verschiedeneren „sozialen Kreisen“. Jedem dieser Kreise allein (Beruf, Stand, Familie, Verein, Gemeinde etc.) ist der einzelne immer weniger verpflichtet, damit wachsen individuelle Entfaltungschancen -Norbert Elias (1897-1990) sieht den einzelnen Menschen in enger Verflechtung mit gesellschaftlichen Strukturen. Diese „Figurationen“ verändern sich in langfristiger historischer Perspektive in der Weise, daß die Funktionsteilung zunimmt, die „Menschenketten“ länger werden, mit denen der einzelne korrespondiert, was zu einer Zurücknahme von Affekten und einer Zunahme von zivilisierter Selbstkontrolle führt -Talcott Parsons (1902-1979) isolierte „evolutionäre Universalien“. Das sind „Erfindungen“ von Gesellschaften, die für ihre Entwicklung „so wichtig sind, daß mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese , Erfindung machen“ oder aber empfindliche Nachteile und Entwicklungsrückstände erleiden. Religion, Sprache, Verwandtschaftsordnungen und Tech-nologie sind nach Parsons die evolutionären Universalien früher Entwicklungsphasen. Kulturell legitimierte soziale Schichtung, Bürokratie, Geld und Marktorganisation, generell gültige Normen und demokratische Assoziationen sind Parsons zufolge die evolutionären Universalien entwickelter Gesellschaften. -Wolfgang Zapf(geh. 1937) vertritt das Konzept der „weitergehenden Modernisierung“, im Sinne von Richtungskonstanz und Strukturverbesserung. Innerhalb der Basisinstitutionen Marktwirtschaft, Konkurrenzdemokratie, Konsum, Wohlfahrtsstaat, die moderne anpassungsfähige erfolgreiche Gesellschaften auszeichnen, werden Innovationen durchgesetzt, auch unter Konflikten -Ulrich Beck (geb. 1944) ist dagegen Verfechter der Theorie „reflexiver Modernisierung“, die Korrekturen und Begrenzungen des Modernisierungsprozesses ins Blickfeld rückt. Die Modernisierung richtet sich nun, unter anderem mittels Wissenschaft und politischer Prozesse, auf die Folgen der bisherigen, vornehmlich rationalisierenden Modernisierung '-Ähnlich Burkhart Lutz (geb. 1925): Er diagnostiziert das Ende der selbstlaufenden und den Beginn der selbstgesteuerten Modernisierung
Genauer besehen weisen diese gängigen Modernisierungstheorien nicht nur Unterschiede und Widersprüche auf. Der gemeinsame Tenor lautet, daß Modernisierungsprozesse im Grunde sowohl Rationalisierungs-als auch Ausdifferenzierungsprozesse darstellen. Geläufige Modernisierungstheorien laufen ferner darauf hinaus, daß der einzelne in seinen subjektiven Kompetenzen, seiner Autonomie, seiner persönlichen Handlungs-und Entscheidungsfähigkeit immer mehr gefördert, aber auch gefordert wird. Daraus wird nicht selten geschlossen, daß die Individuen auch tatsächlich immer eigenständiger, zweckrationaler, individueller, ichbezogener, ja egoistischer leben und sich ihre Bindungen zu Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde etc. immer mehr lockern.
Diese gemeinsamen modernisierungstheoretischen Grundzüge haben sich auch im neueren Theorien-und Begriffsapparat der Soziologie niedergeschlagen. Ein Exkurs mit drei Beispielen soll darauf hinweisen:
Erstens: So konzentrierte sich der soziologische Begriff der Sozialstruktur noch bis in die sechziger Jahre hinein auf die Berufshierarchie und das hierauf aufbauende Schichtungs-und Ungleichheitsgefüge. Dann wurde immer öfter ein mehrdimensionaler Sozialstrukturbegriff verwendet, der auch „horizontale“ Strukturbereiche wie Bevölkerung, Familie, Erwerbstätigkeit etc. einschloß. Die wesentlichen Gesellschaftsstrukturen waren offenkundig nicht länger vornehmlich durch Ungleichheiten des Erwerbslebens zu charakterisieren. Seit einigen Jahren wird darüber hinaus diskutiert, ob auch soziokulturelle Strukturen, wie soziale Milieus und die vom einzelnen mehr oder minder wählbaren Lebensstile, als genuine Bestandteile des Begriffs „Sozialstruktur“ und nicht länger nur als deren Folgeerscheinungen gelten sollen. Ganz offenkundig schreitet mit der gesellschaftlichen Differenzierung auch die kulturelle und individuelle Entwicklung der Sozialstruktur fort.
Zweitens: Ähnlich ist es mit dem soziologischen Begriff Lebensformen. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren, als mehr als neun Zehntel der einschlägigen Altersjahrgänge in Deutschland verheiratet waren und hiervon mehr als neun Zehntel Kinder hatten, existierte der soziologische Begriff „Lebensformen“ praktisch nicht. Man sprach von „Familie“ und „Familiensoziologie“. Die zunehmende Differenzierung der Art und Weise alltäglichen Zusammenlebens erforderte jedoch ein „größeres begriffliches Dach“. Da der Inhalt des Begriffs „Familie“, anders als der Begriff „Sozialstruktur“, kaum zu erweitern war, jedenfalls nicht Alleinlebende und nichteheliche Lebensgemeinschaften einschließen konnte, wurde eine abstraktere Begrifflichkeit notwendig, eben der Begriff „Lebensformen“. Er wird den differenzierteren und immer mehr selbstgewählten Formen persönlichen Zusammenlebens gerecht.
Drittens: In gleicher Weise spiegeln sich die oben theoretisch skizzierten Modernisierungsprozesse im Vordringen bestimmter soziologischer Theorie-muster. So nehmen individuelle Theorien des sozialen Handelns immer mehr Raum ein, sowohl in der Form normativer Handlungstheorien, die den Zielsetzungen der Menschen besonderes Gewicht zumessen und zumeist interpretative Forschungsverfahren nahelegen, als auch in der Form von Theorien rationaler Wahl, die die zweckmäßige Mittelwahl in den Vordergrund rücken und oft analytische Methoden nach sich ziehen. Auch in der „Maßstabsverkleinerung“ der Systemtheorien und ihrer Wendung hin zur Thematisierung selbst-referentieller Systeme spiegeln sich Ausdifferenzierung und zunehmende subjektive Kompetenz, also die oben theoretisch gefaßten gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.
Wenn Modernisierungstheorien auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen Bezug nehmen, müssen diese nicht notwendigerweise wirklich gegeben sein. Deshalb soll nun anhand empirischer Befunde gezeigt werden, inwieweit die oben theoretisch (und in ihrer Widerspiegelung in soziologischen Begriffen und Erklärungsmustern) gezeigten Modernisierungstendenzen, insbesondere die der „Modernisierung des Denkens“, tatsächlich zutreffen. Überblickt man die neueren empirischen Ergebnisse der soziokulturellen Sozialforschung, so belegt eine Fülle von Befunden aus der Milieu-und Lebensstilforschung, der Wertewandelforschung und der Erforschung von Lebensformen, daß sich in Westdeutschland seit wenigstens 20 Jahren nicht nur die Möglichkeiten deutlich verbessert haben, subjektive Fähigkeiten zu entwickeln und individuelle Aktivitäten zu entfalten -der „soziale Raum“ öffnete sich sondern ganz offenkundig wurden diese Möglichkeiten auch genutzt. Subjektive Fähigkeiten vermehrten und individuelle Aktivitäten verstärkten sich. Die theoretisch behaupteten und im soziologischen Instrumentarium reflektierten Entwicklungen gibt es also tatsächlich.
Dies zeigt sich unter anderem an der Vergrößerung bestimmter sozialer Milieus Unter „sozialen Milieus“ werden Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Konstellationen von Werthaltungen und Einstellungen verstanden. Manche dieser Milieus sind im Vergleich zu einigen anderen „übereinander“ in der Sozialstruktur anzusiedeln, weil die typischen Berufspositionen, Bildungs-und Einkommensgrade ungleich sind. Das Verhältnis zwischen einigen Milieus ist jedoch durch bloße Unterschiede der Mentalitäten und Alltagsethiken gekennzeichnet. Diese Milieus sind „nebeneinander“ zu lokalisieren.
So hat sich im Zeitraum von 1982 bis 1991 das „Hedonistische Milieu“ von zehn auf 13 Prozent vergrößert. Ihm gehören meist junge Menschen an, die radikale Individualisten darstellen, welche Werte wie Freiheit und Ungebundenheit favorisieren. Spontaneität im Konsum, Originalität, Unverwechselbaren und „Echtheit“ gelten ihnen als wichtige Stilkriterien. Auch das „Aufstiegsorientierte Milieu“ wächst anhaltend. 1982 wurden ihm 20 Prozent, 1991 schon 24 Prozent der westdeutschen Bevölkerung zugerechnet. Dessen Mitglieder wollen sich hocharbeiten und soziales Ansehen genießen, orientieren sich deshalb an den Standards und Statussymbolen oberer Schichten. Das „Technokratisch-liberale Milieu“ bleibt immerhin in seiner Größe von ca. neun Prozent bestehen. Ihm werden Menschen zugerechnet, die vom Wunsch nach intensivem Leben, nach neuen Erfahrungen, nach Wachstum und Entwicklung ihrer Persönlichkeit erfüllt sind. Sie streben Erfolg, einen hohen Lebensstandard und -beruflich -Selbstverwirklichung an. Glück gilt ihnen als machbar.
Dagegen werden diejenigen Milieus ständig kleiner, die wenig subjektive Handlungskompetenzen vermitteln und erfordern. So schrumpft die traditionelle Arbeiterkultur, die Werte der Bescheidenheit, der Verantwortung gegenüber anderen und der pflichtgemäßen Arbeitsorientierung favorisiert. Das „Traditionelle Arbeitermilieu“ Westdeutschlands umfaßte im Jahre 1982 noch neun Prozent und im Jahre 1991 nur noch fünf Prozent der Bevölkerung
Auch die empirischen Befunde zum Wertewandel weisen in die Richtung vermehrter Selbstbestimmung der einzelnen. Insgesamt hat im Zuge des „Wertewandels“ die fraglose Hinnahme von Traditionen und Normen abgenommen. Regeln und vorgegebene Strukturen werden immer öfter nur noch dann akzeptiert, wenn sie persönlichen Interessen und/oder Selbstverwirklichungsbestrebungen entsprechen.
Auch wenn man den „Wertewandel“ nicht so grob zusammenfaßt, sondern differenzierter betrachtet, ergibt sich die gleiche Tendenz. Der „Wertewandel“ verläuft ja keineswegs eindimensional, weg von materiellen sowie von Pflicht-und Akzeptanz-werten hin zu Werten der Selbstverwirklichung und Kommunikation. Weit überwiegend finden sich in der Bevölkerung vielmehr unterschiedliche Mischungstypen, die auch beide Pole intensiv oder aber wenig ausgeprägt verkörpern können. Gerade die immer häufiger beobachtbaren Werte-kombinationen, wie der „Idealist“ und der „Hedo nistische Materialist“, tragen sowohl alte (materielle oder Pflicht-) Werte, als auch neue (Selbstverwirklichungs-) Werte in sich, die aber stets der Durchsetzung von persönlich als richtig empfundenen Zielsetzungen dienen. Hierbei läßt sich der „Idealist“ kennzeichnen durch wenig Pflicht-und Akzeptanzwerte, wenig Hedonismus und Materialismus, aber viel idealistische Selbstentfaltung und Engagement. Die typische 68er Generation kommt diesem Typus nahe. Der „Hedonistische Materialist“ hingegen ist charakterisiert durch wenig Pflicht-und Akzeptanzwerte, wenig nach außen gerichtetes Engagement, aber viel Hedonismus und viel Materialismus. Die „Konsumjugendlichen“ der achtziger Jahre entsprechen diesem Typus ziemlich genau
Die Erforschung von Lebensformen macht schließlich deutlich, daß Menschen in modernen Gesellschaften in immer unterschiedlicheren Konstellationen Zusammenleben. Die Häufigkeit aller „untypischen“ Lebensformen nimmt zu. So lebten im Jahre 1972 erst ein Prozent, im Jahre 1990 schon 20 Prozent aller westdeutschen Frauen im Alter von 25 bis 29 Jahren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Unter allen westdeutschen Familien mit 25-bis 45jährigen Eltern fanden sich im Jahre 1961 erst 9, 82 Prozent und im Jahre 1990 schon 14, 87 Prozent Alleinerziehende. Unter allen westdeutschen Haushalten der 25-bis 45jährigen befanden sich im Jahre 1961 nicht mehr als 11, 06 Prozent und im Jahre 1990 bereits 28, 72 Prozent Einpersonenhaushalte Vieles spricht dafür, daß mittlerweile selbst die Kategorien „Alleinerziehende“, „Nichteheliche Lebensgemeinschaften“ und „Alleinlebende“ zu grob sind, um der Vielgestaltigkeit von Lebensformen gerecht zu werden. Diese Pluralisierung der Lebensformen spricht für die wachsende Fähigkeit der einzelnen, die Lebensform wählen oder schaffen zu können, die ihren Neigungen bzw. ihrer Lage am ehesten entspricht.
Insgesamt ergibt sich so ein Bild, dem zufolge die Zunahme individueller Autonomie und der Fähigkeit des einzelnen, seine subjektiven Bestrebungen zu realisieren, in langfristiger Perspektive ein geradezu zwangsläufiger Bestandteil des Modernisie rungsprozesses ist. Zwar umfassen die gezeigten systematischen Befunde nur die letzten Jahrzehnte; über die vielen Jahrzehnte zuvor wissen wir nur durch punktuelle historische Erkenntnisse. Aber auch wenn wir zeitweilige Gegenbewegungen in Rechnung stellen (Romantik, Jugendbewegung, Faschismus) ändert sich an diesem Trend nichts.
Darüber hinaus legen die dargestellten Resultate empirischer Forschung den Schluß nahe, daß nicht nur die subjektiven Kompetenzen, sondern auch deren Ausübung wachsen, daß (aus) gelebte individuelle Werthaltungen, Einstellungen und Meinungen, daß eine wachsende Subjektivität des Verhaltens, daß eine immer größere Herauslösung des einzelnen aus Beziehungsgefügen und seine nur partielle und zweckhafte Einbindung notwendige Entwicklungsprozesse einer sich modernisierenden Gesellschaft sind. 2. Die Situation in Ostdeutschland Von alldem findet sich in Ostdeutschland entschieden weniger als in Westdeutschland. Wir treffen in hohem Maße noch auf soziokulturelle Strukturen, die typisch für vorindustrielle Gesellschaften oder für „klassische“ produktionsorientierte Industrie-gesellschaften sind. Diese Gefüge bieten vergleichsweise wenig subjektiven Freiraum und lassen relativ wenig individuelle Aktivität erkennen. Diese pauschal erscheinende Aussage soll anhand der folgenden empirischen Befunde belegt werden.
Erstens: In Ostdeutschland überwiegen bis heute die weniger modernen traditionalen Milieus. So umfaßt das „Traditionsverwurzelte Arbeiter-und Bauernmilieu“, das der Bescheidenheitsethik der Arbeiterschaft anhängt, noch erstaunliche 27 Prozent der Bevölkerung, während in Westdeutschland, wie erwähnt, gerade noch fünf Prozent der Bevölkerung diesem Typus entsprechen. Auch das „Kleinbürgerlich-materialistische Milieu“, dessen Respektabilitätsethik keineswegs mehr subjektiven Freiraum bietet, schließt noch volle 23 Prozent der Bevölkerung der neuen Bundesländer ein Umgekehrt fehlen in Ostdeutschland weitgehend die aufstiegsorientierten und technokratischen Milieus. Selbst das „Status-und Karriereorientierte Milieu“ ist mit neun Prozent der Bevölkerung im Osten Deutschlands nicht nur viel kleiner als sein westdeutsches Pendant. Es ist auch anders, entspricht es doch viel eher der „Statusmentalität der früheren deutschen Karriere-Angestellten und -Beamten, die im DDR-System sehr verfestigt worden ist“ Insgesamt sind die sozialen Milieus in Ostdeutschland so viel norm-, konventions-und traditionsgebundener als in Westdeutschland, daß sich die Übertragung von Typologien aus dem Westen zum Teil aus diesem Grund verbietet.
Zweitens: Ähnliche Befunde zeigen sich, wenn man sich aus der „Vogelperspektive“ der gesamtgesellschaftlichen Milieugliederung hinabbegibt in die „Froschperspektive“ und den Milieuvernetzungen in kleinen Dörfern nachgeht. Aufschlußreich ist eine qualitative Studie, die von sehr geringen Unterschieden und großen Gemeinsamkeiten der Milieubindung in zwei Dörfern, einem ost-und einem westdeutschen, im Vogtland berichtet Prägend sind in beiden Fällen die Gemeinschaften der Familie und der Dorfbindung. Hierbei ist die westdeutsche Gemeinde immerhin von „Gesellschafts-“ und Individualisierungsprozessen gestreift. Die ostdeutsche Dorfgemeinschaft hat sich in ihrer Prägekraft „trotz oder vielleicht gerade wegen der Herrschaft des real existierenden Sozialismus fast uneingeschränkt auf dem Niveau des späten Jahrhunderts erhalten“. Die Verfasser betonen, „daß der Sozialismus mit seiner grundsätzlich anti-individualistischen und anti-ökonomischen Zielrichtung und seinem moralisierenden Gleichheitsgebot die Vorstellung einer harmonischen, traditionellen Dorfgemeinschaft eher stützte als zerstörte. Das sozialistische System konnte in der ostdeutschen Gemeinde deshalb so problemlos akzeptiert werden, weil es -jedenfalls in seinen alltäglichen Konsequenzen -die althergebrachte Ordnung nicht unter Erneuerungsdruck setzte. In einer Dorfgemeinschaft, in der jeder nahezu alles vom anderen weiß, werden Spitzeldienste zur Farce. In einer Dorfgemeinschaft, in der die traditionellen Mechanismen der sozialen Kontrolle Homogenität erzwingen, bedarf es keinerlei politischer Disziplinarmaßnahmen seitens der Partei oder des Staates. Die Sozialform, die das sozialistische System anbot, entsprach so in vielem der überkommenen Gemeinschaftsrealität, der ideologische Überbau wurde entweder nicht ernst genommen oder stillschweigend ignoriert und damit auch toleriert. Wenn das Wort , Kollektiv politisch erwünscht war, dann sagte man eben , Kollektiv statt Gemeinschaft, die Sache aber blieb die gleiche. Noch mehr: Der Sozialismus als Gleichheitsideologie verhinderte das Einsetzen sozialer Differenzierungsprozesse, die sich aus der Steigerung der Produktivkräfte notwendig ergeben hätten, wären ihr nicht ideologische Fesseln angelegt worden. So stützte das sozialistische Gleichheitspostulat die Bewahrung der alten, traditionellen Gemeinschaftswerte, indem es die Entstehung einer die Struktur des Dorfes sprengenden sozialen Ungleichheit verhinderte oder jedenfalls begrenzte.“ 19
Drittens: Unter Lebensstilen werden in einer Untersuchung im Rahmen des „Wohlfahrtssurveys 1993“ ähnliche, bei zahlreichen Menschen anzutreffende Kombinationen u. a. von Freizeitverhalten, Massenmediennutzung, Musikgeschmack, Kleidungsstil, Einrichtungsstil, Lebenszielen und Wahrnehmungen der persönlichen Lebensweise verstanden (interaktive, expressive und evaluative Indikatoren) Als Resultat ergab sich, daß in Ostdeutschland häusliche und bescheidenere Lebensstile wesentlich verbreiteter sind als in Westdeutschland. „Die modernen Orientierungen, ausdifferenzierten Freizeitaktivitäten und , legitimen kulturellen Vorlieben im Westen sind Resultat gewachsener Aneignungsmöglichkeiten in fortgeschrittenen und wohlhabenden Gesellschaften.“
Diese empirischen Befunde lassen sich ohne Mühe ergänzen. So brachte der „Arbeiterstolz, der von den Mächtigen der DDR bewußt gefördert wurde, eine hohe. Betriebs-und Ortsbindung, ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl unter der qualifizierten Industriearbeiterschaft vor allem an bestimmten Standorten mit sich Bei allen Vorteilen, die solche Mentalitäten haben, der Entwicklung von individuellem Verhalten und praktizierter subjektiver Autonomie erscheinen sie nicht zuträglich. Auch aus einer langfristigen sozialhistorischen Perspektive, die den Blick auf das Ganze einer gesellschaftlichen Kultur freigibt, wird deutlich, wie vieles vom „typisch Deutschen“, wieviel vom „deutschen Sonderweg 1in Ostdeutschland erhalten geblieben ist: der Normalitätsdruck, die Innerlichkeit, das patriarchalische Staatsverständnis und anderes mehr
Diese Belege beweisen zwar nichts. Im Lichte der oben angeführten Theorien interpretiert, verdichten sie aber das Bild von einem deutlichen Modernitätsabstand des Denkens zwischen Ost-und Westdeutschland. Das Netz der Belege ließe sich so engmaschig knüpfen, daß man fast von einer sozialwissenschaftlich gesicherten Erkenntnis sprechen könnte. Aus funktionaler Perspektive ist es von hier nicht mehr sehr weit zu Befürchtungen, daß die in Ostdeutschland weitverbreiteten Mentalitäten und soziokulturell verankerten Verhaltensmuster Modernisierungsprozessen hinderlich sein werden. Einerlei, welcher der gezeigten Modernisierungstheorien man anhängt -ob man unter Modernisierung nun funktionale Differenzierung, die Weiterentwicklung von Basisinstitutionen oder die Besinnung der Menschen auf Stärken und Schwächen ihres Fortschritts versteht -, keine der genannten Modernisierungstheorien wird zum Ergebnis kommen, daß traditionsverhaftete, konformistische und gemeinschaftsverpflichtete Menschen Modernisierung fördern werden. Und umgekehrt sieht es aus dem Blickwinkel geläufiger Modernisierungstheorien so aus, als würden solche Persönlichkeitsstrukturen mit Modernisierung nicht allzugut zurechtkommen.
Die Ursachen der eben dargestellten, in Ostdeutschland weitverbreiteten Denkmuster stehen in dieser Veröffentlichung nicht zur Debatte. Wenn es aber so ist, daß die oben aufgewiesenen traditionalen, wenig subjektiv-autonomen Strukturen der Eingebundenheit vornehmlich aus der 40jährigen Vergangenheit der DDR zu erklären sind, dann waren die Hinterlassenschaften der DDR „Erblast“ und nicht „Mitgift“ Teils stellen sie direkte Entsubjektivierungen und Entmündigungen aufgrund des politischen Systems, der sozialstaatlichen Überversorgung (Sicherheitsdenken) und der ökonomischen Ünterversorgung (Beziehungsökonomie, Beschaffungsnetzwerke) in der DDR dar. Teils sind sie wohl aus indirekten Wirkungen von DDR-Strukturen zu erklären, die traditionales Denken, „typisch Deutsches“, Gemeinschaftsformen aus der industriellen Frühzeit etc. konservieren halfen. Einiges spricht so dafür, daß es in erster Linie die aus der DDR-Zeit überkommenen und bis heute erhaltenen (gelegentlich sogar verfestigten) Denkweisen sind, die Modernisierungsrückstände oder sogar Hindernisse auf dem Weg in die Modernisierung darstellen.
III. Die zweite Antwort: Zukunftspotentiale
1. Modernisierung in „postindustriellen Gesellschaften“
Wenn in der Soziologie, die es ja in aller Regel mit ziemlich „unordentlichen“ und in ihrer Zukunft ungewissen Strukturen zu tun hat, welche durchaus unterschiedliche Interpretationen und Perspektiven zulassen, in bestimmten Fällen nahezu alle Befunde und Interpretationen übereinstimmend in die gleiche Richtung weisen, so kann es zwar sein, daß die Soziologie diesmal über völlig gesicherte Kenntnisse über ihren Gegenstand verfügt und dieser von ganz und gar homogener Beschaffenheit ist. Viel eher liegt jedoch der Verdacht nahe, daß hier eine einseitige Blickrichtung der Forscher eine (verfälschende) Rolle spielt. Dann ist Mißtrauen angebracht.
In unserem Falle wird dieses prinzipielle Mißtrauen noch bestärkt durch historische Kenntnisse. Sie zeigen, daß längst nicht alle überkommenen Kulturmuster -und seien es auch solche, die aus Opposition oder als Notgemeinschaft entstanden waren -sich beim Übergang in eine weitere Stufe der Modernisierung als hinderlich erwiesen. Historische Erfahrung (z. B. im Hinblick auf ostasiatische Einwanderergruppen in den USA) zeigt vielmehr, daß manch einer überraschend schnell „schwimmen lernte“, der gezwungen war, aus der „warmen“ Atmosphäre von Tradition und Gemeinschaft in das „kalte Wasser“ gesellschaftlicher Modernisierung zu springen.
Das Mißtrauen legt eine kritische Überprüfung des bisher eingenommenen sozialwissenschaftlichen Blickwinkels nahe: Dabei ergibt sich, daß die Ursache für die Perspektive, die nahezu ausschließlich Rückständigkeiten des Denkens und Verhaltens in Ostdeutschland sichtbar macht und künftige Defizite befürchten läßt, nicht in den dargestellten empirischen Befunden liegt. Diese weisen nur auf bestimmte Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland hin. Die Gründe liegen in den theoretisch angeleiteten Interpretationen dieser Ergebnisse, also in den oben skizzierten zugrunde-liegenden Modernisierungstheorien. Betrachtet man diese etwas genauer, so stellt man fest, daß sie im Hinblick auf die „Modernisierung des Denkens“ -anders als es der erste Anschein nahelegt -nicht durchweg zur Interpretation der Rückständigkeit ostdeutschen Denkens zwingen. Sie enthalten nämlich nur die Aussage, das Fortschreiten der Fähigkeit zu individueller Autonomie und die Ausweitung subjektiver Kompetenzen sei notwendiger Bestandteil des Modernisierungsprozesses. Geläufige Modernisierungstheorien besagen nicht, daß die Menschen im Zuge des Modernisierungsprozesses tatsächlich immer individueller und autonomer leben, sich zweckrationaler verhalten, ihre persönliche Subjektivität zum Ausdruck bringen müssen etc.
Offenkundig werden hier unzulässige Vereinfachungen vorgenommen. Deutungen von Modernisierungstheorien, die zum Ergebnis einer tatsächlichen, immer weiter gehenden Anpassung der einzelnen an die steigenden Möglichkeiten zur Entwicklung von Subjektivität und Autonomie münden, übergehen die Eigenständigkeit und die Dialektik soziokultureller Bewegungen, die häufig Gegen-und Korrekturbewegungen im Hinblick auf Modernisierung darstellen. Es sind diese soziokulturellen „Einbahnstraßen-Modernisierungstheorien“, die zu Theorien der „nachholenden“ Modernisierung auch des Denkens und Verhaltens in Ostdeutschland geraten.
Ein genauerer Blick auf diese, in soziokultureller Hinsicht zu schlichten Ausdeutungen von Modernisierungstheorien zeigt, daß sie keineswegs den gesamten Modernisierungsprozeß im Auge haben, sondern im Grunde von einer Analyse der herkömmlichen Industriegesellschaft ausgehen. Sie nehmen Bezug auf den Aufbau zweckrationaler, spezialisierter, per Markt oder Staat verflochtener Großorganisationen, die gerichtet sind auf die Überwindung der Mangelgesellschaft, auf die Herstellung von elementaren „objektiven“ Ressourcen und Lebensbedingungen zur Behebung des Mangels und zur Ermöglichung individueller Autonomie, und vor allem auf die an zweckmäßige Arbeits-und Verwaltungsorganisationen angepaßten „privaten“ Lebensformen. Ausgehend von jenen Abstraktionen der „klassischen“ Industriegesellschaft extrapolieren viele geläufige Modernisierungstheorien und beziehen von daher ihre soziokulturellen Linearitätsvorstellungen. Sie kommen so zum Bild des im Grunde allein agierenden, seine subjektiven Fertigkeiten voll aus-schöpfenden einzelnen.
Nun sind diese Aussagen als generelle, historisch langfristige Beschreibungen faktischer Entwicklungen keineswegs falsch. Was diese soziokulturell deterministischen Interpretationen von Modernisierungstheorien und ihrer Konsequenz, gelebte individuelle Autonomie als „Meßlatte“ der Modernisierung auszugeben, jedoch vermissen lassen, ist die Sensibilität für die besonderen Probleme der Modernisierungsphase einer „postindustriellen Gesellschaft“.
Sie verfügen bezeichnenderweise auch über keinen Begriff von der „postindustriellen Gesellschaft“, sondern fassen diese weitgehend negativ -wie das Verlegenheitspräfix „post“ schon andeutet. Definiert man „postindustrielle Gesellschaft“ jedoch positiv -welcher Name dafür auch angemessen sein mag -und formuliert eine auf die „Modernisierung des Denkens“ in dieser Phase ausgerichtete Modernisierungstheorie, so wird deutlich, daß „postindustrielle Gesellschaften“ -nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Modernisierung -ein widersprüchliches Gemenge von „Weitergehen“ (s. o. die Modernisierungstheorie von Wolfgang Zapf) und Gegenbewegungen, ein Nebeneinander von schon bisher bestehenden, von qualitativ neuen und von revitalisierten älteren Mustern darstellen
Der Grund hierfür liegt darin, daß in dieser Entwicklungsphase nicht nur Erfolge, sondern auch bestimmte Mißerfolge herkömmlicher Industriegesellschaften deutlich werden. Die Erfolge sind nicht zuletzt in Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Mobilität und Freiheitsgraden erkennbar. Die Mißerfolge betreffen unter anderem technologische Risiken, Umweltschäden und Rüstungsbedrohung, inter-und intragesellschaftliche Ungleichheiten und -dies geht die Fragestellung der vorliegenden Veröffentlichung in besonderem Maße an -immer problematischere Defizite an Kohäsion, Gemeinsinn, Gemeinschaftlichkeit, moralischen Grundwerten, subjektivem Sinn, Sekundärtugenden, personaler Identität und Integrität.
Nimmt man eine funktionalistische Perspektive ein und sucht die Gründe für das Be-und Entstehen von Gesellschaftsstrukturen in Funktionen, deren Erfüllung wegen Mangelzuständen dringlich ist, so ist zu erkennen: In „postindustriellen Gesellschaften“ werden vor allem jene Strukturen und Prozesse als Desiderate immer wichtiger und entstehen -jedenfalls in Gesellschaften, die der Selbst-bewegung gesellschaftlicher Kräfte wenig Zügel anlegen -letzten Endes wirklich, die die oben genannten Defizite ausgleichen: So füllen unter anderem Netzwerke und informelle Gruppierungen die soziokulturellen Defizite auf, die die Ausbreitung zweckrational spezialisierter wirtschaftlicher und politischer Großorganisationen in Industrie-gesellschaften hinterlassen hat. Die typisch „postindustrielle“ Expansion von (Hoch-) Kultur wirkt der Expansion der Mittel, der Zweckrationalität und der Erosion vormoderner Wertebestände entgegen, von denen die industriegesellschaftliche Modernisierung lange zehrte. Gemeinschaftliche Unternehmenskultur dient der Einbindung egoistisch kalkulierender Akteure. Die Kultivierung, Stilisierung und betonte Symbolisierung von Lebensstilen sucht Defizite an Gemeinschaft und subjektivem Sinn auszugleichen usw.
Anders als die derzeit gängige Kulturkritik wissen will, stehen den Defiziten an Kohäsion, Gemein-sinn, Sinn und personaler Identität in den „postindustriellen Gesellschaften“ so durchaus Strukturen zur Erfüllung der fehlenden Funktionen gegenüber. Vielleicht sind sie bislang noch häufiger im Entstehen begriffen als schon massenhaft vorhanden. Aber gerade das Aufkommen dieser neuen, kompensatorischen und korrigierenden Gegebenheiten zeichnet „postindustrielle Gesellschaften“ aus. So zeigen zum Beispiel die Ergebnisse der „Wertewandeldebatte“, daß von einem generellen Werteverfall keine Rede sein kann. „Alte“ materielle und Pflicht-Werte bleiben durchaus bestehen und mischen sich in unterschiedlicher Weise mit „neuen“ Werten. Das Aufkommen dieser „neuen“ postmateriellen und Selbstentfaltungs-Werte wird üblicherweise als Sozialisationsergebnis und Reaktion auf veränderte Lebensbedingungen erklärt. Es läßt sich aber auch als Ausgleichsfunktion, möglicherweise sogar als den Menschen durchaus bewußte Aktion zur Kompensation von Funktionsdefiziten deuten. Selbstverwirklichung wirkt der Funktionalisierung von Menschen in modernen Industriegesellschaften entgegen.
Auch die Pluralisierung von Lebensformen -das heißt die Zunahme der Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Alleinerziehender und Singles -, die sorgsam gepflegten Bekanntschaftskreise von Singles und Alleinerziehenden, die allerorten tätigen Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen mit ihren Milieus und Netzwerken stellen mittlerweile unersetzliche Strukturelemente „postindustrieller Gesellschaften“ dar. Es ist offenkundig, daß diese soziokulturellen Strukturen manchen Einseitigkeiten industriegesellschaftlicher Strukturen und deutlichen Funktionsdefiziten sozialstaatlicher, politischer, wirtschaftlicher Organisationen abhelfen. Sie entsprechen gerade nicht den funktional spezialisierten formell organisierten, standardisierten Strukturformen herkömmlicher Industriegesellschaften (wie die „Normalfamilie“, die Volksparteien, die großen Sozialversicherungen).
Hinter dieser Konzeption „postindustrieller Gesellschaften“ als widersprüchlichem Gemenge einerseits weitergehender funktionaler Differenzierung und Rationalisierung auch des individuellen Verhaltens, andererseits von Gegenbewegungen der Gemeinschaftlichkeit und Wertbindung steht die Vorstellung einer Balance. Im Großen bricht sie sich in historischen Pendelbewegungen Bahn, im Kleinen sind es die einzelnen Menschen selbst, die sie austarieren. Lineare Vorstellungen von einer immer weiter gehenden praktizierten Autonomie der Individuen im Zuge des Modernisierungsprozesses geraten durch diese Sicht „postindustrieller Gesellschaften“ in Schwierigkeiten. Denn aus dieser Perspektive gesehen, stehen weiter gehende Prozesse der Autonomisierung (zuweilen auch der Anomisierung) von Individuen gegenläufigen Prozessen der neuen Einbindung und Gemeinschaftlichkeit gegenüber, mithin dem Verzicht auf gelebte Eigenständigkeit und Zweckrationalität. Nicht in Schwierigkeiten gerät dagegen die Vorstellung eines konstanten Zuwachses an subjektiven Fertigkeiten. Denn die Einführung in die freiwilligen, zugangsoffenen und gestaltbaren Gemeinschaften „postindustrieller Gesellschaften“, und erst recht die Zurücknahme individueller Optionen darin, erfordert ein großes Maß an individueller Autonomie und an subjektiven Fertigkeiten. 2. Entdeckung vorhandener moderner Strukturen in Ostdeutschland Falls diese Überlegungen zutreffen, könnten sich einige der bislang „rückständig“ erscheinenden Strukturen im Denken und Handeln der Menschen Ostdeutschlands nunmehr als ganz und gar nicht „zurückgeblieben“ und schon überhaupt nicht als „Modernisierungsbremse“ erweisen. Sowohl die Netzwerke und Gemeinschaften, die noch aus DDR-Zeiten bestehen und gerade heute in Zeiten des Umbruchs wirksam werden, als auch die im Zuge der Transformation gestärkten Wir-Gefühle und regionalen Identitäten könnten sich im Gegen teil sogar als Motor des Modernisierungsprozesses heraussteilen.
So sehr bestimmte, in Ostdeutschland häufige Denkweisen erkennbar ohne Zukunft sind, beispielsweise überzogene Erwartungen an staatliche Absicherungen und Autoritäten oder das Minimieren eigener Verantwortung und das Streben nach Entlastung so sehr dürften sich Investitionen in informelle, gemeinschaftliche Strukturen, auch in das Selbstbewußtsein des Eigenwertes ostdeutscher Traditionen, Besonderheiten und Lebensweisen, für die Zukunft lohnen. Sie könnten den genannten Funktionsmängeln von Industriegesellschaften sogar leichter und frühzeitiger abhelfen als die in ihrer Notwendigkeit spät erkannten und nur mühsam durchzusetzenden Strukturen in Westdeutschland und anderen „entwickelten Industriegesellschaften“. Die Resultate empirischer Sozialforschung können naturgemäß nicht beweisen, daß bestimmte „alte“ Denk-und Verhaltensweisen in Ostdeutschland in Zukunft funktional und „modern“ sein werden. Empirische Ergebnisse können nur illustrativ auf solche Gegebenheiten hinweisen, auf die die eben angestellten theoretischen Überlegungen zielen. Einige Kategorien und Beispiele sollen im folgenden verdeutlichen, was mit den oft als „Altlasten“ verkannten soziokulturellen Zukunftspotentialen in den neuen Bundesländern gemeint ist:
Als Beispiel Gemeinschaftsbezogene Einstellungen:
für die in Ostdeutschland weiter als in Westdeutschland verbreiteten gemeinschaftlichen Einstellungen mögen die Ergebnisse einer qualitativen empirischen Untersuchung zur Unternehmenskultur ostdeutscher Arbeitgeber dienen Der Habitus vieler ostdeutscher Unternehmer, vor allem derjenigen, die auch in Zeiten der DDR schon Leitungsfunktionen ausübten, ist hiernach kollektiver als der westdeutscher Arbeitgeber. Die folgenden Zitate befragter Unternehmer aus Ostdeutschland zeigen, wie sich dies in Einstellungen und Verhaltensweisen äußert, die vergleichsweise weitgehend dem Gemeinsinn und der Belegschaft verpflichtet sind. Dergleichen Haltungen werden durchaus mit Selbstbewußtsein vertreten, unter Hinweis auf Moral, aber auch auf betriebswirtschaftlichen Erfolg. Es sind diese überkommenen Bestrebungen hin zu Gemeinschaftlichkeit in Unternehmen, die geeignet sind, in „postindustriellen Gesellschaften“ der Funktionalisierung von Mitabeitern und dem dysfunktionalen Zerfall in egoistisch kalkulierende Akteure entgegenzuwirken: „Und hier in dem Betrieb wollte ich das eben ein bißchen anders, daß die Leute sich hier angesprochen fühlen. Ich wollte das eigentlich so machen, wie ich das damals so gelernt habe in den Zeiten der PGH, wo es uns eigentlich gutging. “ „Und das möchte ich auch organisieren. Die Betriebsverbundenheit, die darf nicht bloß über das Geld sein, über das Geldverdienen. Das muß mehr sein. Das bindet nämlich viel mehr. Wenn die sich in einem Kollektiv wohlfühlen -ich sage immer wieder Kollektiv, weil mir ein besserer Ausdruck jetzt nicht einfällt; Teamwork, das ist mir zu... “, 2. „Chaosqualifikation“ und Hartnäckigkeit: Westdeutsche, die die Produktionsbedingungen in der DDR in den achtziger Jahren kennenlernten, „waren sprachlos, nicht selten entsetzt: Dreck, Unordnung, zerfallende Gebäude, chaotische Fertigungsabläufe, verbaute Produktionshallen, verschlissene Maschinen, fehlende Ersatzteile, stokkende Materialflüsse, schlechte Materialqualität, schlampig ausgeführte Reparaturen ... Wie ließ sich unter solchen Bedingungen überhaupt etwas produzieren? Das düstere Bild scheint eindeutig. Dennoch hatte es eine lichte Kehrseite, die westlicherseits nur allzuleicht ... übersehen wird.“ „Wer tagein, tagaus unter solchen Verhältnissen arbeitete, erwarb ein Gut, dessen Wert sich schwerlich unterschätzen läßt: Er häufte Chaos-qualifikation an.“ Chaosqualifikation war in Zeiten der DDR der Not geschuldet und oft defensiv ausgerichtet. Es diente nicht zuletzt der Aufrechterhaltung eigener Autonomie angesichts der Zumutungen von Planern, Akademikern und Leitern. Ganz ähnlich flexible Fähigkeiten, nun aber offensiver Art, da zur Bewältigung großenteils positiver Entwicklungen geeignet, sind aber auch in „postindustriellen Gesellschaften“ mit ihrem rapiden technischen und sozialen Wandel erforderlich. Die Computerwelt und der Zwang zur Gestaltung auch „schräger“ Lebensformen liefern täglich Beispiele. 3. Ökonomische Beziehungsnetze: Je weiter Funktionsmängel um sich griffen, desto mehr geriet die „Planwirtschaft“ vieler ehedem sozialistischer Ge-Seilschaften zur „Beziehungswirtschaft“. Dies betrifft das Wirtschaften von Unternehmen ebenso wie das Wirtschaften privater Haushalte. Wer sich genügend „soziales Kapital“ verschaffen konnte, erhielt Baumaterial für die eigene Datscha ebenso wie Handwerker zur Reparatur von Drehbänken. Ökonomische Beziehungsnetze entstanden jedoch nicht nur als Notgemeinschaften. Sie wurden, wie z. B. die Betriebs-und Nachbarschaftsmilieus von privilegierten Facharbeitern, auch gezielt durch die offizielle Politik der DDR gefördert.
Ganz sicher ist es weder die Knappheit von Waren und Dienstleistungen noch das Chaos von Organisationsstrukturen, derentwegen man in „postindustriellen Gesellschaften“ Beziehungsnetze braucht. Dennoch gewinnen sie an Gewicht, und zwar wegen der Fülle: der Qualifikation (zur Ermittlung geeigneter Bewerber), der Informationen (zur Aussonderung des wirklich Wichtigen), der Produkte und Innovationen (zum Austausch von Erfahrungen), der Umbrüche (zur gegenseitigen Stützung), der ökonomischen Globalisierung (zur Anbahnung von Geschäftsverbindungen) etc. Es war eine der Fehlprognosen im Gefolge der herkömmlichen Industriegesellschaft, daß immer leistungsfähigere Organisationen und Einrichtungen der Massen-kommunikation persönliche Beziehungen und Erfahrungen obsolet machen würden. Nicht bedacht wurde, daß die „Geister, die man rief“ -die Steigerung von Effektivität und Effizienz, die Erhöhung von Komplexität -, dann auch informelle Instanzen der Komplexitätsreduktion, der Sichtung, der Erprobung, Hilfe und Verläßlichkeit notwendig machen würden. Hierzu geeignete Instanzen sind in Ostdeutschland zum Teil (noch) erhalten.
So hatten die oben erwähnten Netzwerke der in der DDR privilegierten und selbstbewußten Facharbeiter anläßlich der Betriebsstillegungen und Massenentlassungen des Jahres 1991 im Kohlerevier von Espenhain vorteilhafte Auswirkungen: Die „in ihrer sozialen Kohäsion lockeren neueren Arbeitermilieus wurden vofl den engeren Netzen der werksverbundenen Kohlearbeiter und Leiter verdrängt. Das wurde durch die Umstrukturierungen in der Braunkohleindustrie noch deutlicher. Unter dem Druck des entstehenden marktwirtschaftlichen Systems verloren die Kohlearbeiter vollends ihre Lobby. Während die neuen Arbeiter-milieus diesen Entwicklungen abwartend und chancenlos gegenüberstanden, verteidigten die werks-verbundenen Kohlearbeiter mit außerordentlicher Zähigkeit ihre Arbeitsplätze.“ 4. Private Netzwerke: Gerade diejenigen, die in „postindustriellen Gesellschaften“, in „neuen“ Lebensformen leben, z. B. Alleinerziehende und Singles, pflegen nachweislich relativ große Netzwerke Dies ist in Ostdeutschland nicht anders. Allerdings handelt es sich dabei in hohem Maße um Hilfsnetzwerke (in denen beispielsweise Allein-erziehende sich gegenseitig unterstützen) während in Westdeutschland Kommunikations-und Erlebnisnetzwerke vorherrschen. Wer allerdings in eine Tradition von Hilfsnetzwerken eingebettet ist, dem sollte der Aufbau und die Pflege „postindustrieller“ Netzwerke leichter fallen als demjenigen, der, aus einer mehr oder minder isolierten Klein-familie kommend, dies erst lernen muß. 5. Sozialpolitische Netzwerke: Private Kontakt-netze wie die, die in Ostdeutschland teilweise noch vorhanden sind, aber auch „funktionierende“ Nachbarschaften, werden in „postindustriellen Gesellschaften“ zur unerläßlichen sozialpolitischen Stütze Wir brauchen sie nicht nur aus „feingeistigen“ Gründen des subjektiven Sinns und des Gemeinschaftserlebens, sondern auch zu ganz handfesten Zwecken: zur Pflege von kinderlosen Alten; zur Ergänzung einer Sozialpolitik, deren zweck-rational spezialisierte Großorganisationen angesichts der Herausforderungen durch Drogen, AIDS, Ausländerintegration, Familienprobleme etc. immer hilfloser werden; zur Betreuung eigener und fremder Kinder; zur Bewältigung von Weiterbildung und technischem Wandel und für viele andere Zwecke mehr. 6. Regionales Wir-Gefühl: In zahlreichen Regionen und Bundesländern Westdeutschlands wurde viel Zeit, Mühe und Geld aufgewendet, regionale Zusammengehörigkeitsgefühle (wieder-) herzustellen. Die Identitätsdefizite und die regionalen Eigeninteressen in den immer segmentierteren „postindustriellen Gesellschaften“ drängten gleichermaßen dazu, diese Investitionen vorzunehmen. Oft segelten sie unter der Flagge „Wir in ...“. Es scheint so, daß eine gemeinsame Vergangenheit und gemeinsam erlebte Transformationsprobleme regionale Wir-Gefühle in Ostdeutschland, und damit hilfreiche Vorbereitungen auf „postindustrielle“ Erfordernisse, viel schneller als in Westdeutschland zuwege bringen. Wenn auf diese Weise überkommene Einstellungen und Verhaltensweisen (auch) in Ostdeutschland wieder zukunftsreich und „modern“ werden sollten, dann läßt sich Modernisierung in der Phase der „postindustriellen Gesellschaft“ nicht als lineare Entwicklung verstehen, genausowenig wie der Modernisierungsprozeß im ganzen als „geschlossener Fortschritt“ oder als „konkrete Utopie“ (Karl Mannheim) zu begreifen ist. Um-und Rückwege erweisen sich demnach unter Umständen als weiterführender als das „Weitergehen“. Wie der „Endzustand“ einer modernen Gesellschaft aussehen wird, ist ungewisser denn je. Ob z. B.der „vollmobile Single“ (Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim) die dominierende Sozialfigur der vollendeten Modernisierung darstellt, kann man durchaus bezweifeln. Modernisierung stellt sich vielmehr als widerspruchsreiche, gebrochene, ungleichzeitige Entwicklung mit wechselnden, im voraus unbestimmbaren Institutionen, Denkweisen und Verhaltensformen dar. Was den Weg der Modernisierung dann noch von „Abwegen“ unterscheidet, die uns von Modernisierungspfaden entfernen, bemißt sich weniger an konkreten, im vorhinein durch Kennziffern oder Institutionen festzulegenden Veränderungen als an abstrakten, seit der Renaissance vorgedachten, seit der Aufklärung politisch geforderten und seit Beginn der Industriegesellschaft gesellschaftlich durchgesetzten Zielsetzungen, insbesondere an der Zielsetzung, subjektive Kompetenzen zu stärken. Dazu gehört auch die Kompetenz, das Ausleben der eigenen Subjektivität eingrenzen zu können.
Dieser Modernisierungsmaßstab der subjektiven Kompetenz, anders ausgedrückt der Mündigkeit, reicht weiter als die Meßlatte bestimmter gesellschaftlicher Einrichtungen, die in geläufigen Modernisierungstheorien Anwendung findet: Talcott Parsons evolutionäre Universalien sind weitgehend erreicht. Selbst Wolfgang Zapfs Basis-institutionen lassen nur noch mäßige Innovationen erwarten. Nimmt man diese evolutionären Universalien oder Basisinstitutionen als Maßstab, so ist die Modernisierung weitgehend abgeschlossen. Demgemäß könnten wir uns mangels Zielvorstellungen in postmodernem Historizismus und Eklektizismus, in Plan-und Perspektivlosigkeit ergehen. Das abstrakte Projekt der „Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (so hat Immanuel Kant bekanntlich Aufklärung definiert und damit das ausgedrückt, was hier mit wachsender subjektiver Autonomie gemeint ist) gelangt jedoch keineswegs an sein Ende.
Um dieser Zielvorstellung näherzukommen, könnten sich einige der scheinbar rückständigen Kultur-muster Ostdeutschlands als zukunftsorientiert erweisen. Inwieweit diese zukunftstauglichen Denk-und Verhaltensweisen allerdings belebt und genutzt werden, hängt von deren Pflege ab, auch von der sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für sie.