I.
Zeitgebundenheit charakterisiert die Arbeit der Politiker wie der Historiker. Müssen die einen selbst auf dem Gipfel des Erfolgs schmerzlich die Flüchtigkeit von Zeit und Ruhm erfahren, so die anderen die Flüchtigkeit der Erkenntnis. Ist im Augenblick die Dauer stets enthalten, so auch der Wandel -nie ist ein geschichtlicher Augenblick bloß zuständlich. Doch ist es nicht allein diese Ambivalenz, die der historischen Interpretation zu schaffen macht, vielmehr relativiert die Bindung geschichtswissenschaftlicher Aussagen an ihre jeweils eigene Zeit die historische Interpretation; gerade die großen Wendepunkte der Vergangenheit erfahren aus ihrer sich unaufhörlich wandelnden Wirkungsgeschichte eine unterschiedliche, ja manchmal gegensätzliche Bewertung.
Ist Geschichtswissenschaft also ein höchst dubioses Geschäft, das Sicherheit und Dauer der Erkenntnis aus methodischen Gründen nicht zuläßt? Erklären sich hieraus Kontroversen, ist der Streit der Historiker also zwangsläufig, wenn es um die großen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts geht? Gibt jeder nur seine Eindrücke, seine Meinungen für historische Erkenntnis aus?
So beliebig ist die Arbeit des Historikers keineswegs. Vielmehr führt die Rekonstruktion ereignisgeschichtlich strukturierter Zusammenhänge aufgrund der Quellen und ihrer methodisch sorgfältigen Auswertung meist zu gesicherter Erkenntnis. Und auch die historische Interpretation ist alles andere als beliebig, wenngleich sie weit größere Spielräume zuläßt.
Sie ergeben sich in der Regel aus der Komplexität geschichtlichen Lebens, die auch Epochenjahren innewohnt. Der Nicht-Historiker erwartet eindeutige Antworten, der Historiker kann sie oft nicht geben, weil die Realität so eindeutig nicht war, weil sich in einem historischen Augenblick durchaus gegensätzliche Elemente verbinden können oder in unaufhebbarer Spannung bleiben. Schlichte Alternativen verfehlen diese mangelnde Eindeutigkeit der historischen Wirklichkeit nahezu immer, so verführerisch sie auch sein mögen. So war der 8. Mai 1945 weder eine „Stunde Null“ noch ausschließlich eine Niederlage. Und ebenso-wenig trifft die meist verwendete Charakterisierung als „Befreiung“ die Vielschichtigkeit des Problems, das mit diesem Datum symbolisiert werden soll.
Obwohl sich der Topos „Befreiung“ geradezu verselbständigt hat, zeigt erst das Jahr 1989 -das tatsächlich ein Jahr der Befreiung wurde -die Ambivalenz des 8. Mai 1945: Es war ein Tag der Befreiung und der Niederlage, ein Tag des Endes und des Aufbruchs, ein Tag der Vernichtung und der Hoffnung. Die Verkürzung der Perspektive, die die Gedenkreden des Jahres 1985 -und auch die berühmteste unter ihnen -charakterisiert, legt die Problematik jeglicher zeitgeschichtlichen Betrachtung bloß, sofern sie über die Rekonstruktion von Tatsachen und Zusammenhängen hinausgeht und zu Wertungen fortschreitet: Eine zureichende Interpretation der Zeitgeschichte kann erst erfolgen, wenn die Folgen epochaler Ereignisse vor Augen liegen. Diese Wirkungsgeschichte kann von unterschiedlicher Dauer und Intensität sein; sie kann unmittelbar sichtbare Elemente enthalten wie 1945 das definitive Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Katastrophe des Nationalstaats, die Besatzungsherrschaft in Deutschland oder die sich in wenigen Jahren herauskristallisierende Teilung Deutschlands und der Welt.
Gegenüber der beherrschenden Erinnerung an das Ende des barbarischsten und grauenhaftesten Krieges der Weltgeschichte, an unvorstellbares Massenmorden jenseits jeglicher völkerrechtlich sanktionierten Form der Kriegführung, gegenüber der Erinnerung an die große Teile Europas in Schutt und Asche legenden Zerstörungen dieses nach dem Willen seiner Urheber „totalen Krieges“, der in Form enthemmter und bis zum Äußersten fanatisierter Heilserwartung im Diesseits geführt wurde, verblassen zunächst alle anderen Komponenten des Jahres 1945. Gleichwohl reflektierte die intellektuelle Öffentlichkeit bereits unmittelbar nach Kriegsende die existentielle Frage, welcher Stellenwert der nationalsozialistischen Diktatur im weiteren Zusammenhang der deutschen Geschichte zukomme: Gab es in ihr Elemente der Kontinuität und Ursächlichkeit, ja der Verantwortlichkeit und Schuld? Oder stellte der Nationalsozialismus die absolute Diskontinuität dar, die Verneinung aller rechtsstaatlichen und humanen Traditionen eines dem eigenen Anspruch nach abendländisch-christlichen Kulturstaates? Wie konnte es zu einer solch verbrecherischen Diktatur kommen, wie könnte man sie künftig verhindern? Mußte man das Jahr 1945 als Ende und Endpunkt der deutschen Geschichte ansehen, oder erlaubte diese Katastrophe, die an die letzten Tage der Menschheit gemahnte, einen neuen Aufbruch?
Einstweilen wurde der politische Widerspruch des Jahrhunderts zwischen Demokratie und Diktatur als Resultat des Krieges auf deutschen Boden verlegt, der Riß ging durch die Nation selbst, die europäische Mittellage Deutschlands schien sich in der Zweiteilung einer westlichen und östlichen Orientierung zu lösen; beide Teile beendeten, in feindliche Blöcke einbezogen, alle deutschen „Sonderwege“.
Doch das Schicksal des deutschen Nationalstaats schien den meisten Deutschen 1945 keineswegs endgültig besiegelt zu sein; die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder sträubten sich noch im Sommer 1948 hartnäckig gegen den Weg in die Zweistaatlichkeit. In den beiden letzten Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung, in den siebziger und achtziger Jahren, fand sich hingegen eine Mehrheit der Deutschen und ihrer Meinungsführer mit der Teilung ab, sah sie als unwiderruflich oder gar als wünschbar an. Plötzlich jedoch überrumpelte die sich immer mehr beschleunigende Auflösung kommunistischer Diktaturen und des sowjetischen Herrschaftsbereichs die Mehrzahl der Politiker, Journalisten und Sozialwissenschaftler, die sich allesamt als ebenso schlechte Diagnostiker wie Prognostiker erwiesen hatten. Sogar den „Experten“ muß eine völlige Verkennung der DDR-Realität im besonderen und der Entwicklungspotentiale kommunistischer Diktaturen im allgemeinen attestiert werden.
Die Historiker, die vorschnell die Kategorie der Nation und des Nationalstaats auf den Müllhaufen überlebter Vergangenheit geworfen hatten, wurden eines Besseren belehrt. Nicht wenige derjenigen, die aufgrund ebenso fundamentaler wie zeitweilig fataler Irrtümer eigentlich in Sack und Asche hätten gehen müssen, flüchteten sich nun in die Metapher vom „real existierenden Sozialismus“, der tatsächlich gescheitert sei, während es aber noch einen „wirklichen“ gebe, der Zukunft beinhalte. Dieses Modell ist nicht neu; Nachdem Stalin als massenmörderischer Diktator entlarvt worden war, wurde Lenin inner-und außerhalb der Sowjetunion als Hoffnung kommunistischer Heilserwartung wiederbelebt, bis er als Begründer des totalitären bolschewistischen Terrorsystems erkannt wurde und ebenfalls vom Sockel stürzte: Aus Leningrad wurde wieder Sankt Petersburg -enthüllt sich so die Dialektik des Fortschritts oder aber die Ironie der Geschichte?
Die intellektuelle Selbstimmunisierung, die darin liegt, der historischen Erfahrung auszuweichen und an Stelle des nicht mehr zu verteidigenden „realen“ einen „idealen“, also wahren Sozialismus zu konstruieren, schafft in der Tat Unangreifbarkeit, weil sie wieder einmal die Welt auf den Gedanken, d. h. auf den Kopf stellt: Es gibt eben Prämissen, die nie für die Praxis, immer aber für die Theorie taugen.
II.
Das Ende der kommunistischen Diktaturen seit 1989/1991 verändert die Perzeption des Jahres 1945, nicht aber den historischen Gehalt selbst, doch ist dieser ohne die sich wandelnde Wahrnehmung nicht gegenwärtig. Vielmehr erlaubt erst die nachträgliche historische Erfahrung, die volle Ambivalenz des 8. Mai 1945 zu erfassen, weil nun weitere Schichten der Wirkungsgeschichte der das 20. Jahrhundert bestimmenden unversöhnlichen Feindschaft beider totalitärer Ideologien -der kommunistischen und der nationalsozialistischen -gegenüber der Demokratie bloßliegen. Die politische Notwendigkeit und Plausibilität des antitotalitären Grundkonsenses aller Demokraten der westlichen Welt in den Nachkriegsjahren -die seit den sechziger Jahren verloren gegangen war -gewinnt nun erst ihre empirisch analysierbare historische Evidenz. Über einen Vergleich kommunistischer und nationalsozialistischer Diktaturen, über die diesen Regimen gemeinsame totalitäre Herrschaftselemente kann seit 1989/1991 wieder sachlich diskutiert werden, nachdem mehr als zwei Jahrzehnte lang die komparative Analyse totalitärer Herrschaft als Produkt des Kalten Krieges von der Mehrzahl der Historiker und Politikwissenschaftler verworfen worden war. Stalin, der 1924/1926 an die Macht gekommen war, und Hitler, der 1933 die Diktatur durchsetzte, werden im Hinblick auf terroristische Herrschaftstechnik, Skrupellosigkeit, Ausmaß undGrauenhaftigkeit ihrer Verbrechen, schließlich ihr durch ideologischen Fanatismus aufgeladenes Hegemoniestreben als die beiden vergleichbaren Pole personifizierter Inhumanität des 20. Jahrhunderts erkannt, zwischen denen zeitweilig die demokratischen Rechtsstaaten Mittel-und Osteuropas zerrieben wurden.
Die Tatsache, daß beide Diktaturen gegensätzliche bzw. einander feindselig gegenüberstehende Ideologien verfochten, verdeckt nicht mehr länger ihre Gemeinsamkeiten und ihre historische Bezüglichkeit. Diese Erkenntnis bedeutet jedoch weder Relativierung im ethischen Sinn noch Apologie der einen durch die andere Diktatur. Vielmehr handelt es sich hierbei um zwei unterschiedliche Argumentationsebenen: Die komparative, auf die wechselseitige Ursächlichkeit und die Entstehungsbedingungen rekurrierende Interpretation verfährt geschichtswissenschaftlich, sie „historisiert“ ihren Gegenstand. Diejenige Richtung, die sich gegen eine komparative Historisierung wendet, fürchtet aus gegenwartsbezogenen, politisch-moralischen Gründen einen solch historisierenden Vergleich, hält ihn sogar in gewissem Sinne für „volkspädagogisch“ gefährlich. Historisches „Verstehen“ (was nicht Entschuldigen bedeutet), Einordnen und Analysieren der nationalsozialistischen Diktatur ist ihre Sache nicht; sie hält demgegenüber ihre permanente Beschwörung für notwendig, um jede moralisch verwerfliche und politisch problematische „Verdrängung“ der Vergangenheit aus dem Bewußtsein der Deutschen zu verhindern.
Verdrängung steht naturgemäß im Gegensatz zu jeglicher geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit -insofern besteht in dieser Frage gar kein Gegensatz, so verständnislos sich auch sonst beide Richtungen gegenüberstehen mögen. Nur gilt die wissenschaftliche Analyse zunächst prinzipiell ihrem (historischen) Gegenstand, nicht ihrer aktuellen, appellativen Verwertung: Der „Nutzen“ der Wissenschaft ist stets indirekt, die Absicht direkter Verwertung verfälscht nahezu immer die wissenschaftliche Erkenntnis, wie ihre Indienstnahme für gesellschaftspolitische Zwecke in Diktaturen beweist. Die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft und Kunst hat hierin ihren Grund und sollte nicht durch einen wie auch immer gearteten Druck der „öffentlichen Meinung“ unterlaufen werden. Innovative Fragestellungen und durch Zuwachs an zeitgeschichtlicher Erfahrung sich vollziehende Erkenntnisschübe würden so behindert; wissenschaftliches Fragen kann sich nicht an der Popularität ausrichten, nicht an der Bequemlichkeit gesellschaftlicher Akzeptanz.
III.
Das Jahr 1945 brachte keineswegs eine endgültige Entscheidung, sondern nur einen Teilsieg der Demokratien mit einer der totalitären Ideologien über die andere; es brachte auch die sich bald als illusionär erweisende Tendenz zur Koexistenz, ja zu einer neuen Form der Appeasementpolitik, bis solche Träume im Kalten Krieg erfroren. Erst das Jahr 1989 leitete die Endphase dieser grundlegenden Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts ein. Doch anders als 1939 bis 1945, anders auch, als es die mehr als zwei Jahrzehnte der ideologischen Konfrontation nahelegen könnten, handelte es sich letztlich nicht mehr um einen Kampf. Vielmehr gingen die kommunistischen Regime -trotz aller materiellen Hilfen, die sie im Interesse der dort lebenden Menschen von den westlichen Industriestaaten erhalten hatten -an ihrer mangelnden ökonomischen Leistungsfähigkeit, an ihrem inneren Widerspruch zwischen postulierter Humanität und realisierter Inhumanität sowie an Altersschwäche zugrunde. Ökonomische Überlegenheit der westlichen Industriestaaten, Festigkeit der NATO in der Nachrüstung, zunehmende Delegitimierung menschenrechtsverachtender Regime durch die KSZE, wachsende Opposition im Inneren, die beispielsweise in den Kirchen Halt fand, wiederauflebende nationale Bewegungen gegen den sowjetischen Spätimperialismus -dies alles waren zweifellos Faktoren, die gemeinsam mit der ständig enttäuschten Reformerwartung zur Destabilisierung kommunistischer Herrschaft beitrugen.
Die Niederlage des Kommunismus machte im übrigen auch die Bewegung des Jahres 1968, sofern sie marxistisch war, endgültig zur Vergangenheit, da sie nun zum bekämpften, vermeintlich bloß „formaldemokratischen“ und „spätkapitalistischen“ System keine Alternative mehr darstellte: In Kuba verwelkt derzeit der letzte spät-marxistische Blütentraum, in China ist er längst entzaubert, in Korea -einst wesentlicher Anstoß zur Verstärkung der westlichen Verteidigungsbereitschaft -läßt sich der kommunistische Personenkult offenbar immer schwerer vererben und muß paradoxerweise im Verborgenen zelebriert werden.
Dieser rasante historische Wandel, der in deutlichem Kontrast steht zur scheinbaren Stabilität und jahrzehntelangen Stagnation der bipolaren Welt, wie sie sich 1945 herausgebildet hatte, bringt zwangsläufig einen Zuwachs an historischer Erfahrung, der die Wirkungsgeschichte des 8. Mai 1945sehr viel komplexer erscheinen läßt als bis zum Jahre 1989. Hieraus ergeben sich -jenseits der für den Historiker normalen Auswertung bis dahin nicht genutzter oder unbekannter Quellenbestände, die beispielsweise in bezug auf die Geschichte der DDR und der sowjetischen Deutschlandpolitik erst in den Anfängen steht -neue Fragen und neue Beurteilungsmaßstäbe. Die Wahrheit von Goethes Diktum, jede Generation schreibe ihre Geschichte neu, erweist sich heute einmal mehr.
Dies heißt nicht zwangsläufig, daß frühere Interpretationen allesamt falsch seien; oftmals erweisen sie sich im Lichte späterer historischer Erfahrung lediglich als einseitig oder nur partiell zutreffend -unterliegt doch auch gegenwärtiges Urteilen und Deuten spezifischen Grenzen: Der gegenwärtige historische Augenblick erschließt und verschließt zugleich den vergangenen; erst die Vielfalt der sich überlagernden Zeitschichten eröffnet das volle Bedeutungsspektrum vergangener Augenblicke, Situationen und Konstellationen. Man kennt eine Geschichte nur, wenn man ihr Ende kennt: Geschichten haben ein Ende, Geschichte nicht.
IV.
Zu solch prinzipiellen methodischen Problemen historischer Urteilsfähigkeit gesellen sich weitere. Da sind zum einen die nationalen Differenzen historischen Erinnerns, zum anderen aber die national differierenden Möglichkeiten historischer Erforschung. Wenngleich der 8. Mai 1945 für die meisten europäischen Staaten das Symbol der Befreiung von der nationalsozialistischen Barbarei und Unterjochung darstellt, so sind doch selbst in diesem europäischen Maßstab außerordentliche Unterschiede zu beobachten.
Tatsächlich brachte die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches am 7. /9. Mai 1945 zwar Europa das definitive Kriegsende, nicht aber Asien; Japan kapitulierte erst am 2. September 1945. Und auch innerhalb Europas wurde der Krieg in Etappen beendet. So ist für Frankreich der 25. August 1944 der Tag der Befreiung, als General Charles de Gaulle an der Spitze französischer Truppen in Paris einrückte, nachdem sich der deutsche Stadtkommandant General Dietrich von Choltitz geweigert hatte, Hitlers wahnwitzigen Befehl zur Zerstörung von Paris auszuführen. Die anglo-amerikamsche Offensive hatte seit dem 6. Juni in der Normandie bzw. in Südfrankreich die deutschen Truppen in die Knie gezwungen. In Italien kapitulierte die deutsche Besatzung am 2. Mai 1945, nachdem die 8. britische Armee Triest eingenommen hatte. Für andere Teile Europas, insbesondere Osteuropas, endete die deutsche Besatzungsherrschaft noch wesentlich früher, wurde hier aber in der Regel durch eine sowjetische ersetzt: Befreiung von der „großdeutschen“ Herrschaft bedeutete also keineswegs für alle Nationen Freiheit.
Und ebenso verhielt es sich für die 14 Millionen Deutschen, die aus ihrer Heimat, insbesondere aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches oder anderen mittel-bzw. osteuropäischen Staaten vertrieben wurden: „umgesiedelt“, wie einer der Termini aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ des 20. Jahrhunderts lautet. Mehr als zwei Millionen von ihnen verloren dabei ihr Leben, fast alle Heimat, Hab und Gut. Zwangsumsiedlung und Vertreibung bedeuteten einen Verstoß gegen das Völkerrecht, der nur deshalb nicht neue Konflikte provozierte, weil die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft überraschend schnell gelang. Dieser Prozeß stellt angesichts der Masse der Flüchtlinge in einem kriegszerstörten Land eine der großen Friedensleistungen unseres Jahrhunderts dar -eines Jahrhunderts erzwungener Völkerwanderungen, die mit der Flucht aus dem bolschewistischen Rußland seit 1917 auf einen ersten Höhepunkt gelangten.
Die 17 Millionen Deutschen der sowjetischen Besatzungszone wurden ebensowenig befreit, sondern von der Roten Armee erobert und einer erneuten und anderen, jedoch ebenfalls totalitären Herrschaft unterworfen, deren humanitäre Deklamationen nichts an der inhumanen Realität änderten. Die Weiterverwendung des bis dahin nationalsozialistischen Konzentrationslagers Buchenwald als kommunistisches bzw. sowjetisches Konzentrationslager ist für diesen Machtwechsel zweier totalitärer Regime ein schauriges Symbol -und nicht das einzige.
Wie kann man angesichts solcher Vorgänge guten Gewissens allein von „Befreiung“ sprechen?
Und wiederum gab es eine Analogie bei der Etablierung der Diktatur: Wenngleich die NS-Herrschaft eine autochthone und die der SED eine abgeleitete, aus der sowjetischen Besatzungsherrschaft hervorgehende war, so hatten doch beide Diktaturen ihren Massenanhang, es gab also nicht allein Opfer, sondern wiederum auch Täter und Mitläufer. Seit 1989 stellte sich -wie nach 1945 -die Frage, was mit ihnen zu geschehen habe. Natürlich ist es kein Zufall, daß diese erneute zeit- geschichtliche Erfahrung mit der personellen Hinterlassenschaft einer Diktatur abermals die Frage provozierte, ob der Umgang mit dieser Erbschaft nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen war oder nicht. Gerade dieses Beispiel beweist ein weiteres Mal, in welchem Maße spätere Erfahrung die historische Urteilsbildung beeinflußt bzw. verändert.
So sehr die Argumente gegen die undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Befreiung“ betont werden müssen, weil sie in der veröffentlichten Meinung kaum repräsentiert sind, so deutlich muß andererseits gesagt werden, in welchem Sinn der 8. Mai 1945 tatsächlich auch ein Symbol der Befreiung darstellt und darstellen muß. Für die Bewohner der drei westlichen Besatzungszonen und des Westteils von Berlin bedeutete das Kriegsende zwar ebenfalls Besatzungsherrschaft und insofern nicht im strengen Sinne Befreiung, aber doch den entscheidenden Schritt in diese Richtung.
Die Erfahrung dieses nun beginnenden schrittweisen, sich über einige Jahre erstreckenden Befreiungsprozesses bewirkte zwar bei den wenigsten unmittelbar ein Gefühl der Freiheit, doch war andererseits wohl den meisten Deutschen klar, wie sehr sich die westliche von der sowjetischen Besatzungsherrschaft unterscheiden würde. Die millionenfache Flucht nach Westen vor der herannahenden Roten Armee hatte genau dieses Motiv und zeigte zugleich, daß sich die Deutschen von den westlichen Demokratien mehr versprachen, sie also das Unterscheidungsvermögen nicht gänzlich verloren hatten. Faßt man also die Beseitigung der NS-Diktatur, die Wiederherstellung der Menschenrechte und das schrittweise Zugeständnis der Bürgerrechte mit der zunehmenden Selbstbestimmung der Westdeutschen in den Besatzungsjahren zusammen, so ist der Begriff „Befreiung“ für Westdeutschland durchaus angemessen.
Befreit wurden vor allem die Überlebenden des grauenhaften nationalsozialistischen Terrorsystems in den Vernichtungslagern der von Deutschen besetzten Länder Osteuropas, allen voran die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Sowjetarmee, wenngleich noch viele der restlichen, ungefähr 5 000 nicht evakuierten Insassen an Entkräftung und Krankheiten unmittelbar nachher starben und die Befreiung des Lagers den einzelnen oft in neue Schwierigkeiten stürzte, wie Primo Levi erschütternd dargestellt hat. Befreit wurden ebenfalls die überlebenden Insassen der in Deutschland befindlichen Konzentrationslager wie Bergen-Belsen und Dachau, um nur diese zu nennen; befreit wurden schließlich andere Opfer nationalsozialistischer Willkür oder Unterdrückung.
Und nicht zuletzt wurden zahlreiche Deutsche, die nun erst das Ausmaß der Verbrechen erfuhren oder begriffen, von Verblendung und Blindheit befreit und manche auch von Fanatismus. Aus der Schuld und Verantwortung, aus der Verstrickung in die eigene Geschichte konnte man sich freilich nicht befreien. Zu „bewältigen“ ist eine solche Vergangenheit, vor allem der Mord an mehr als sechs Millionen Juden, nicht. Bis heute hat niemand erklärt, was mit diesem ebenso vagen wie sinnlosen Begriff eigentlich gemeint sein soll.
Und nicht zu vergessen: Befreit wurden alle Völker und Staaten, denen nach dem Ende der nationalsozialistischen Okkupation eine rechtsstaatliche und demokratische Verfassung und Regierungsform gegeben wurde. Auch dies bedeutete aber zugleich, daß die Freiheit 1945 nur für einen Teil der Nationen kam; für einen anderen, den mittel-und osteuropäischen, kam sie erst seit 1989.
Für eine historische Betrachtung sind solche Schlußfolgerungen eher selbstverständlich -fragt sie doch stets nach einzelnen Nationen, nach einzelnen sozialen Gruppen, nach einzelnen Personen. Aus solch spezifizierter und individualisierter Analyse ergeben sich zwangsläufig weitere Differenzierungen.
V.
Der internationale Vergleich zeigt auch, daß die Erfahrungen seit 1989 bereits wieder die Fragwürdigkeit vieler Urteile erwiesen haben, die unmittelbar nach der Öffnung der Berliner Mauer, der Befreiung ost-und mitteleuropäischer Staaten sowie dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion erfolgten. Dabei demonstrierte der Zerfall des Sowjetimperiums, daß dieses tatsächlich nur durch eine habituell oder notfalls zur terroristischen Unterdrückung greifende Diktatur zusammengehalten werden Konnte. Für viele überraschend, aber nach der Entwicklung der achtziger Jahre zu erwarten, lebten nahezu alle Nationalitätenkonflikte und Minoritätenprobleme der vorbolschewistischen Herrschart mit unverminderter Schärte wieder auf.
Erschienen der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen und das Auseinanderbrechen der Sowjetunion zunächst noch als Sieg der Demokratie über die Diktatur, so wurde bald offenbar, daß die Jahre 1989 bzw. 1991 nicht einfach die zweite Etappe eines Sieges bedeuteten, dessen erste Etappe 1945 die Niederwerfung des NS-Regimes gewesen war. Schuf der Kalte Krieg zwischen West und Ost ein scheinbar stagnierendes Gleichgewicht des Schreckens und damit eine duale Ordnung des internationalen Systems, dem die innere politische Ordnung der Staaten entsprach, so hinterließ die Sowjetunion bis heute ein Machtvakuum, dessen Konsequenzen bisher alles andere als klar sind.
Ebensowenig ist der innenpolitische Weg der meisten Völker und Staaten erkennbar, die sich aus sowjetischer Umklammerung befreien konnten. Gingen die Nationalbewegungen seit dem 19. Jahrhundert in der Regel eine Symbiose aus nationaler Emanzipation, zunehmender Konstitutionalisierung, Parlamentarisierung und schließlich Demokratisierung mit den modernen Staatsbildungsprozessen ein, so ist diese Verbindung nur in einem Teil der ehemaligen Ostblockstaaten evident, nur ausnahmsweise in den Staaten der GUS. Die nationale Emanzipation aus sowjetischer Hegemonie brachte keineswegs auch eine Gleichberechtigung der Minoritäten, die in fast allen dieser Staaten leben, und stellt insofern auch keine konsequente Demokratisierung dar, an der es den meisten dieser staatlichen Neubildungen ohnehin gebricht. Demgegenüber schreitet die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in den mittel-und osteuropäischen Staaten außerhalb der GUS sehr viel entschiedener voran, wenngleich überraschend oft in den reformsozialistischen Nachfolgeparteien die ehemaligen Kommunisten regieren und diese sich um die Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen, also antisozialistischen Wirtschaftsordnung bemühen. Personelle Kontinuität aus der reformerischen Schlußphase einzelner kommunistischer Regime bedeutet also nicht zwangsläufig eine Fortsetzung der politischen Zielsetzung mit anderen Mitteln -Ungarn ist dafür ein positives Beispiel.
In der Staatenwelt der GUS, die nicht allein in Rußland durch eine Verschärfung der Nationalitätenproblematik charakterisiert ist, steht vorerst nicht fest, ob die kleineren, selbständig gewordenen staatlichen Gebilde oder die nach Autonomie strebenden Minoritäten die staatsbildende Kraft überhaupt aufbringen werden, die Voraussetzung einer dauerhaften Konsolidierung ist. Auf der anderen Seite sind alle im 20. Jahrhundert erprobten Modelle, das Nationalitätenproblem zu lösen, gescheitert: Dies gilt für das Modell des autokratischen Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn ebenso wie für die Versailler Ordnung seit 1919, für die sowjetische Unterdrückung ebenso wie für die nationalsozialistische.
Die innen-, außen-und militärpolitische Destabilisierung im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich läßt also bis heute keine sichere Prognose zu; sie bleibt in jedem Falle äußerst brisant und ist folglich allein durch die Stabilität des westlichen, von den USA geführten Militärbündnisses einer Wertegemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten zu kompensieren. Diese Konsequenz des Jahres 1945 war vor 1989 in keiner Weise erkennbar, weil jegliche Außen-und Militärpolitik von der bipolaren Struktur der internationalen Ordnung ausgehen mußte. Der seit 1945 sich abzeichnende weltpolitische Bedeutungsverlust Europas und seiner ehemaligen Großmächte, der mit allmählicher De-kolonialisierung einherging, gelangte seit 1989 an sein vorläufiges Ende, weil nur noch eine der 1945 übriggebliebenen Weltmächte existiert.
VI.
Eine Folge der sich seit 1945 herausbildenden Zweiteilung der Welt liegt in den komplexen Divergenzen, die auch nach 1989/1991 fortbestehen und die nicht allein in der ökonomischen Leistungsfähigkeit erkennbar werden. In West und Ost hat sich der Stellenwert nationalen Selbstverständnisses fundamental geändert: Die nationalsozialistische Herrschaft hat jeglichen Nationalismus in Deutschland diskreditiert, aber auch in anderen Staaten zu der Einsicht geführt, daß eine dauerhafte europäische Friedensordnung nur aufgrund supranationaler Lösungen und immer engerer zwischenstaatlicher Kooperation möglich ist. Seit den Montanverträgen und den Römischen Verträgen von 1957 ist die Integration Westeuropas immer weiter fortgeschritten; die Verflechtungen zwischen den EU-Staaten sind heute derart, daß ihre Auflösung ausgeschlossen ist. Zugleich schlug die erzwungene Zusammenarbeit unter sowjetischer Hegemonie im Osten seit dem Ende der Sowjetunion in ihr Gegenteil um. Der Internationalisierung und Integration des Westens steht zunächst eine Nationalisierung und Desintegration des Ostens gegenüber. Die historische Entwicklung würde in einem völlig gegenläufigen Rhythmus verlaufen, wenn sich nicht die ehemaligen Staaten des Ostblocks immer stärker an die EU und die NATO anlehnten. Zugleich bewirkt dies insofern eine Zweiteilung Osteuropas, als sich die Desintegration innerhalb der GUS verstärkt. Die Zweiteilung der europäischen Staatenwelt während des Kalten Krieges ist also einer Dreiteilung seit 1989/1991 gewichen.
VII.
Am Ende des 20. Jahrhunderts erscheint die internationale Konstellation also unübersichtlicher und weit offener als 1945. Dieses Jahr symbolisiert seit 1989 nicht mehr Ende und Anfang allein, sondern es ist kaum weniger Zwischenstation für die globale Neuordnung. Gruben sich im Ersten Weltkrieg der klassische europäische Imperialismus und Nationalismus selbst das Grab, so trat mit dem weltrevolutionären Anspruch der bolschewistischen Revolution und der faschistischen Machtergreifung in Italien 1922 der Kampf zwischen bürgerlichem Rechtsstaat und liberaler Demokratie auf der einen und diktatorisch-totalitären Ideologien auf der anderen Seite in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Die nationalsozialistische Revolution verschärfte seit 1933 für einen immer größeren Teil Europas diese Auseinandersetzung in vorher nicht geahnter Form; der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 schien diese Zweiteilung der Welt in bürgerlich-demokratische Rechtsstaaten und totalitäre Diktaturen zu bestätigen. Gegenüber ihrem terroristischen Imperialismus schien die fundamentale Feindschaft zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Ideologie sekundär zu werden, bis der Angriff des nationalsozialistischen Großdeutschland auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 diese Konstellation wiederum veränderte und Stalin bis 1945 an die Seite der westlichen Demokratien gegen Hitler führte. Über die Widersprüchlichkeit dieses ausschließlich negativ akzentuierten „antifaschistischen“ Bündnisses konnte man sich nur solange täuschen, bis der gemeinsame Feind besiegt war: Dies ist die doppelte Botschaft von 1945, deren volle Tragweite sich erst seit 1989 enthüllt.
Erneut stellt sich die Frage nach dem Ort des > Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte.
Aus dem Jahr 1989 resultiert langfristig aber ein weiterer Historisierungsschub, der sich zeigen wird, wenn alle Gedenkfeiern des Jahres 1995 vorbei sein werden. Und aus dieser weiteren geschichtlichen Perspektive wird auch die Debatte über Kontinuität und Diskontinuität der Jahre 1933 und 1945 wieder aufleben. Dabei wird es eine entscheidende Rolle spielen, daß die Bundesrepublik Deutschland heute ein Staat ist, dessen einer Teil nach der „orientalischen Despotie“ -um einen von Karl Marx verwendeten Begriff aufzunehmen -in eine schon historisch bewährte parlamentarische Demokratie zweifelsfrei westlichen Typs integriert wurde, die durchaus auch auf eigene Traditionen deutscher Geschichte zurückgriff. Die doppelte Perspektive der Jahre 1945 und 1989/1991 beweist einmal mehr die Dialektik von innerer und äußerer Politik im 20. Jahrhundert, die die Notwendigkeit ihrer historischen Erforschung demonstriert, wenngleich dieser neuerliche „Paradigmenwechsel" in Politik und Wissenschaft die politische Befindlichkeit der Westdeutschen einstweilen noch stärker trifft als die der Ostdeutschen. Diese Differenz zeigt, daß letztere trotz mancher verwandter Probleme in der Bewältigung der kommunistischen Erbschaft von der Entwicklung Mittel-und Osteuropas weiter entfernt sind, als es nach vierzig Jahren gemeinsamen Schicksals als Teil des Ostblocks scheinen könnte. Doch ist diese Abkoppelung von weltpolitischen Entwicklungen für die Deutschen heute ebensowenig möglich wie 1945 und 1989, gibt es doch noch andere Probleme als ihre eigenen -und diese gesamteuropäischen sind vermutlich gravierender.
Die Paradoxie der heutigen Konstellation liegt darin, daß das Ende auch der zweiten geschichtsmächtigen totalitären Diktatur die transitorische Bedeutung des Jahres 1945 erwiesen hat, doch eine Lösung der Probleme dieses Jahrhunderts im Osten Europas noch immer aussteht, da weder die innere Demokratisierung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, noch die Konsolidierung eines neuen Staatensystems ans Ziel gelangt ist. Auch dieser historische Augenblick birgt Dauer und Aufbruch, Untergang und Übergang.