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Die Außenpolitik Kanadas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts | APuZ 17/1995 | bpb.de

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APuZ 17/1995 Die Innenpolitik der USA unter Präsident Clinton zwischen Reform und Gegenreform Die US-Außenpolitik zwischen Kontinuität und Neubestimmung Hat der kanadische Nationalstaat eine Zukunft? Aktuelle Probleme und Herausforderungen kanadischer Innenpolitik Die Außenpolitik Kanadas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Die Außenpolitik Kanadas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Ralf Borchard

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag charakterisiert drei Phasen kanadischer Außenpolitik zwischen 1945 und 1993: die Ära St. Laurent/Pearson, die Ära Trudeau und die Ära Mulroney. Anschließend wird untersucht, welche Konsequenzen sich aus der wirtschaftlichen Kontinentalisierung für den Handlungsspielraum kanadischer Außenpolitik ergeben und welche Auswirkungen der kanadische Truppenrückzug auf die europäisch-kanadischen Beziehung hatte. Anhand der Ende 1994 und Anfang 1995 veröffentlichten Weißbücher für Verteidigung und Außenpolitik wird die Zielsetzung der jetzigen Regierung verdeutlicht. Europa und Nordamerika haben sich in wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Hinsicht voneinander entfernt. Für die kanadische Politik ist der Atlantik breiter, der Pazifik dagegen schmaler, der eigene Kontinent über die USA hinaus wichtiger geworden. Dennoch zeigt Kanada seit dem Regierungswechsel zu Chretien verstärkt Interesse, neue Brücken über den Atlantik zu schlagen, auch nach Deutschland.

I. Die doppelte Zäsur für Kanadas Außenbeziehungen

Das Jahr 1989 steht in der kanadischen Außenpolitik für einen zweifachen Einschnitt. Es markiert nicht nur das Ende des Ost-West-Konflikts und versetzte Kanada zum ersten Mal seit 50 Jahren in die Lage, die Sicherheit Westeuropas von der Liste außenpolitischer Prioritäten zu streichen. Anfang 1989 trat zudem das US-amerikanisch-kanadische Freihandelsabkommen in Kraft. Mit dem bilateralen Free Trade Agreement (FTA) hat sich Kanada mit einem umfassenden Vertragswerk an sein einziges, von der Bevölkerung und wirtschaftlichen Produktionskraft her zehnfach überlegenes Nachbarland gebunden -ein Schritt, den alle vorherigen kanadischen Regierungen nach 1945 vermieden hatten Diese beiden Zäsuren -auf globaler Ebene und primär sicherheitspolitischer Natur die eine, auf kontinentaler Ebene und in erster Linie wirtschaftspolitischer Natur die andere -bilden die wesentlichen Ausgangspunkte für Kanadas Außenpolitik der neunziger Jahre. Hinzu kommt auf nationaler Ebene die dramatische Staatsverschuldung. Inzwischen hat Kanadas Schuldenstand fast die Höhe seines Bruttosozialprodukts erreicht. Jedes innen-wie außenpolitische Vorgehen wird zudem auf subnationaler Ebene durch die kräftezehrende Debatte um Verfassungsreformen beeinflußt. Der Streit mündet im Sommer 1995 in Quebec voraussichtlich in ein neues Referendum über eine Abspaltung

Vor diesem Hintergrund ist Kanada 1990 der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) beigetreten, hat ab 1991 Verhandlungen über das North American Free Trade Agreement (NAFTA) einschließlich Mexikos geführt und seine wirtschaftliche Aufmerksamkeit parallel dazu auf den pazifischen Raum gerichtet sowie 1993/94 seine in Baden-Württemberg stationierten NATO-Truppen vollständig zurückgezogen. Obwohl sich Ottawa im Gegenzug mit umfangreichen Blauhelmtruppen im ehemaligen Jugoslawien engagiert und mit Wirtschaftshilfen den Reformprozeß in Osteuropa unterstützt, bedeutet die doppelte Zäsur von 1989 mit ihren Folgen: Kanada hat sich nach langem Zögern langfristig an die Vereinigten Staaten gebunden, und mit den lateinamerikanischen Ländern als potentiellen künftigen Freihandelspartnern wird der eigene Kontinent über die USA hinaus „entdeckt“; das traditionell enge Verhältnis zu Europa wird distanzierter, der Atlantik wird breiter; der Handel mit Asien rückt als wirtschaftspolitisches Ziel näher, der Pazifik wird schmaler. Dies sind nach dem Rücktritt des konservativen Regierungschefs Brian Mulroney und der kurzen Übergangszeit unter Kim Campbell 1993 auch die Handlungsprämissen für die neue liberale Bundesregierung unter Jean Chretien.

II. Die drei Nachkriegs-Phasen kanadischer Außenpolitik

Die kanadische Außenpolitik nach 1945 läßt sich in Verbindung mit den Namen der dominierenden Regierungschefs bis Ende 1993 in drei Haupt-phasen einteilen: die Ära St. Laurent/Pearson, die Ära Trudeau und die Ära Mulroney Auch für die mit dem Regierungswechsel zu Chretien eingeleitete vierte Phase bleibt es sinnvoll, sich die Besonderheiten der kanadischen Existenz in Erinnerung zu rufen.

Das zweitgrößte Land der Erde ist von drei Meeren begrenzt und nur entlang der Grenze zu den USA einigermaßen dicht besiedelt. Der relative Rohstoffreichtum war stets gleichbedeutend mit einer hohen Abhängigkeit vom Außenhandel. Dabei ist die Dominanz der USA als Handelspartner stetig gestiegen; heute gehen über 80 Prozent der Exporte dorthin, 75 Prozent der Importe kommen von dort. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten wurde die späte Gründung des kanadischen Bundesstaats 1867 und die aus dem Westminster Statute von 1931 hervorgegangene vollständige politische Unabhängigkeit von Großbritannien durch Evolution statt Revolution erreicht Aus der vielfältigen Geschichte der Ureinwohner, der französischen und dann britischen Kolonisation sowie der nachfolgenden Einwanderung aus aller Welt sind ein multikulturelles Gesellschaftsmosaik, ein stark dezentralisiertes föderales politisches System und die auf Bundesebene gesetzlich verankerte Zweisprachigkeit hervorgegangen. Einerseits begründen diese Besonderheiten ein überdurchschnittliches internationales Engagement, das die inneren Prinzipien von Kompromiß und Toleranz im Eintreten für Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz nach außen zu tragen versucht. Andererseits begrenzen der ständige Schatten der USA und der innergesellschaftliche Sprengstoff den Handlungsspielraum kanadischer Außenpolitik

In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte Kanada aufgrund der vorübergehenden Schwäche europäischer und asiatischer Länder eine überdurchschnittlich aktive Rolle beim Aufbau multilateraler Organisationen wie UNO, NATO, GATT und IWF spielen. Einerseits mit Großbritannien und dem Commonwealth, andererseits mit den USA eng verbunden, sicherte sich Ottawa seinen Platz am Tisch der globalen Entscheidungsträger und versuchte als Mittelmacht, zwischen kleinen und großen Mächten, Ost und West sowie Nord und Süd zu vermitteln Symbolischer Höhepunkt der ersten Nachkriegsphase, des „goldenen Zeitalters“ kanadischer Diplomatie, war der Plan des damaligen Außenministers und späteren Premierministers Lester Pearson zur Beilegung der Suez-Krise von 1956, für den er im Jahr darauf den Friedensnobelpreis erhielt. Seitdem haben Blau-helm-Einsätze ihren zentralen Platz in Kanadas Außenpolitik. Die außenpolitischen Grundzüge der Ära St. Laurent/Pearson wurden auch durch das Zwischenspiel der konservativen Regierung Diefenbaker von 1957 bis 1963 nicht wesentlich verändert.

Entscheidend für den Übergang zur zweiten Nachkriegsphase kanadischer Außenpolitik war ein Generations-und Persönlichkeitswechsel. Nach 1968 versuchte Pierre Trudeau, den veränderten globalen, kontinentalen und subnationalen Bedingungen Rechnung zu tragen: der wiedererstarkten Wirtschaftskraft Europas und Asiens, dem deutlich gewachsenen Einfluß der USA auf Kanada -wirtschaftlich durch US-amerikanische Direktinvestitionen, gesellschaftlich-kulturell durch die Massenmedien -sowie dem auflebenden franko-kanadischen Nationalismus im Zuge der „Stillen Revolution“ in Quebec Die liberale Regierung zielte darauf ab, die Außenpolitik stärker am nationalen Interesse zu orientieren. Ottawa reduzierte Kanadas NATO-Truppen drastisch, suchte Quebecs neues Selbstbewußtsein durch die Mitarbeit in der Frankophonie aufzufangen, führte staatliche Kontrollen ausländischer Direktinvestitionen ein, verstaatlichte wichtige Teile des Energiesektors und versuchte vor allem, sich stärker nach Europa und Asien zu öffnen. Doch diese Politik der „third Option“ der vorsichtigen Distanzierung von den USA, scheiterte. Das Interesse der Asiaten und Europäer, die sich ihrerseits verstärkt der kontinentalen Integration zuwandten, blieb zu gering. Dazu kamen innerkanadische Widerstände vor allem in den stark vom Handel mit den USA abhängigen Regionen und Industrien. Am Ende der Ära Trudeau überwog die Einsicht, daß die wachsende wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung mit den USA nicht aufzuhalten sei

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1984 setzte Premierminister Mulroney im Gegensatz zu den ursprünglichen Zielen Trudeaus und in auffallender Übereinstimmung mit den US-Präsidenten Reagan und Bush auf innenpolitische Deregulierung, beseitigte die staatlichen Kontrollen im Energie-und Investitionsbereich und reduzierte den außenpolitischen Apparat sowohl in Ottawa als auch im Ausland. Der eindeutige Schwerpunkt seiner Regierungszeit lag auf der in erster Linie wirtschaftlichen, in der Folge aber auch politischen und kulturellen Festigung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten Mit der Initiative für Verhandlungen über ein bilaterales Freihandelsabkommen fällte die kanadische Regierung 1985 die wichtigste wirtschaftspolitische Entscheidung der Nachkriegszeit, „wenn nicht die wichtigste Entscheidung einer kanadischen Regierung in diesem Jahrhundert überhaupt“ Die bereits zuvor weit fortgeschrittene wirtschaftliche Integration wurde vertraglich fixiert und damit weiter vorangetrieben. Noch entscheidender war jedoch der politische Traditionsbruch. Keine kanadische Nachkriegsregierung hatte bis dahin eine vertraglich festgeschriebene wirtschaftliche Anbindung an die USA akzeptiert. Die Gefahren für Kanadas nationale Identität und Unabhängigkeit waren immer als zu groß angesehen worden. Der bilaterale Freihandel als Politikziel Nummer eins hatte nicht nur zu einer emotionalen, fast sämtliche politischen Energien absorbierenden innenpolitischen Debatte geführt, sondern verschärfte im Ergebnis auch die regionalen, sozialen und politischen Spannungen Zudem traten für ein knappes Jahrzehnt alle Möglichkeiten, Kanadas Außenbeziehungen etwa in Richtung Europa zu diversifizieren, völlig in den Hintergrund.

III. Die Auswirkungen der kontinentalen Freihandelsstrategie

Kanada hat sich mit FTA und NAFTA einem kontinentalen Regelwerk für die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit von Gütern, Dienstleistungen und Kapital unterworfen. Die kontinentalen Spielregeln betreffen so unterschiedliche Bereiche wie den Gütertransport, finanzielle Transaktionen, Telekommunikation, Lebensmittelkontrolle und Gesundheitsstandards, also verschiedenste Aspekte der Wirtschafts-, Sozial-und Umweltpolitik, und lassen damit kaum einen Bereich des öffentlichen Lebens unberührt. Mit dem bilateralen FTA, das Anfang 1994 mit dem Einschluß Mexikos in das trilaterale NAFTA überging, beseitigt Kanada zunächst bis 1999 die verbliebenen Zoll-barrierenim Handel mit den USA und bis 2004 mit Mexiko. Auch im Dienstleistungssektor, also etwa für Banken und Versicherungen, entsteht schrittweise ein gemeinsamer Markt. Noch wichtiger sind die Regelungen im Investitionsbereich. Jeder der drei NAFTA-Partner verpflichtet sich, Investoren aus den beiden anderen Ländern grundsätzlich uneingeschränkt auf dem heimischen Markt agieren zu lassen. Kanadische Bundesregierung und die Provinzregierungen dürfen heimische Produzenten grundsätzlich nicht mehr durch unfaire Subventionen fördern, durch spezielle technische Standards schützen oder bei der Vergabe von Staatsaufträgen bevorzugen

Zwar entsteht keine Nordamerikanische Union nach europäischem Vorbild, vor allem fehlen vergleichbare politische Institutionen. Aber auch ohne gemeinsame Außenzölle wird der Zugang zum NAFTA-Markt von außen erschwert. Europäische und asiatische Anbieter genießen die innerhalb des NAFTA-Raums bestehende Zollfreiheit nur, wenn sie ihre Waren zu einem bestimmten Prozentsatz in Nordamerika produzieren. In der Automobilindustrie beträgt dieser regionale Fertigungsanteil nach einer mehrjährigen Übergangszeit 62, 5 Prozent. Auch ohne nordamerikanisches Währungssystem sind die drei Landes-währungen stark aneinander gebunden. Vor allem verringert das NAFTA als marktorientiertes Regelwerk die Möglichkeiten der kanadischen Bundesregierung, in das Spiel der Marktkräfte im nationalen Interesse einzugreifen; es bindet Ottawa und die Provinzregierungen mehr denn je an Washington als wichtigstes wirtschaftspolitisches Entscheidungszentrum für ganz Nordamerika. Eine umfassende staatliche Investitionskontrolle wie zu Zeiten der Foreign Investment Review Agency unter Trudeau ist langfristig ausgeschlossen. Die Kompetenz kanadischer Behörden, beispielsweise des Canadian Wheat Board im Agrarbereich, wurde wesentlich eingeschränkt. Der mit dem FTA eingerichtete und im NAFTA erweiterte Streitschlichtungsmechanismus hat zwar der kanadischen Seite in zahlreichen bilateralen Handelsdisputen recht gegeben, doch die Verfahren sind langwierig und schließen neue protektionistische Schritte von US-amerikanischer Seite nicht aus. Die NAFTA-Zusatzabkommen zu den Bereichen Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte sind in weiten Teilen Absichtserklärungen und bisher ohne wirksame Durchsetzungsverfahren Gerade weil in Nordamerika formelle politische Institutionen auf kontinentaler Ebene fehlen, kann die informelle Dominanz Washingtons im „Nordamerika der drei“ höher gewertet werden als etwa die deutsche oder französische Stimme im Europa der EU-Mitgliedstaaten.

Die Kontinentalisierung der achtziger Jahre hat in Kanada vor allem zweierlei bewirkt: Sie hat die politische Steuerungsfähigkeit der Bundesregierung langfristig reduziert. Außerdem wurde die kanadische Volkswirtschaft einem erhöhten wirtschaftlichen Konkurrenzdruck ausgesetzt, der allerdings auch ohne FTA auf Dauer nicht zu vermeiden gewesen wäre. Freihandelsbefürworter verweisen unter anderem auf die vielversprechende Kombination kanadischer Rohstoffe, US-amerikanischer Technologie und billiger mexikanischer Arbeitskraft im globalen Wettbewerb mit den Wirtschaftsräumen Westeuropa und Südostasien. Doch auch in Kanada ist die Bedeutung des reinen Rohstoffexports stark zurückgegangen. Vor allem die traditionell im heimischen Markt gut geschützten kleinen und mittelgroßen kanadischen Unternehmen haben sich mit solcher Wucht dem kontinentalen Wettbewerb ausgesetzt, daß in den Jahren 1989 bis 1993 in Kanada rund 500000 Arbeitsplätze verlorengingen, die Mehrzahl davon nicht konjunkturell bedingt, sondern dauerhaft. Mit dem FTA wurde in Kanada ein tiefgreifender innerer Umstrukturierungsprozeß in Gang gesetzt, in dem die am stärksten betroffenen Arbeitnehmer kaum durch staatliche Unterstützungsprogramme aufgefangen wurden 15. Erst nachdem der Kurs des kanadischen Dollar nach einem exporthemmenden Höhenflug gegenüber dem US-Dollar wieder gesunken ist und sich die allgemeine wirtschaftliche Erholung bemerkbar macht, ist die Arbeitslosenrate von deutlich über elf auf unter zehn Prozent gesunken.

Die Gefahren, die durch den Freihandel für die nationale kanadische Einheit entstanden, wurden offensichtlich unterschätzt. Nur mit Hilfe der exportorientierten Westprovinzen, voran Alberta, und mit der Unterstützung Quebecs, dem im Gegenzug verfassungspolitisches Entgegenkommen zugesagt wurde, konnte Mulroney die vom Thema Freihandel dominierten Wahlen 1988 -denkbar knapp -gewinnen und somit die Außenpolitik der Kontinentalisierung fortsetzen. Die ohnehin stärkeren kanadischen Wirtschaftsregionen profitieren davon, die schwächeren haben zusätzliche Probleme. Für die exportstarke Provinz British Columbia etwa ist die als Cascadia bezeichnete grenzübergreifende Wirtschaftsregion einschließlich der US-Bundesstaaten Washington und Oregon längst wichtiger als der innerkanadische Handel Die Verfassungsreform als innenpolitisches Gegenstück zum Freihandel als außenpolitischem Primärziel schlug fehl, auch in diesem Bereich war Kanada am Ende der Regierungszeit Mulroney stärker fragmentiert als zu Beginn der achtziger Jahre. Die Bundesregierung steht heute unter dem doppelten Druck, weitere Kompetenzen nach außen im kontinentalen Rahmen und nach innen an die Provinzen abzugeben. Güter-, Dienstleistungs-und Kapitalströme fließen infolge des kontinentalen Freihandels immer weniger in Ost-West-Richtung zwischen den kanadischen Provinzen und immer mehr in Nord-Süd-Richtung über die nationale Grenze zu den USA hinweg. Auf den nationalen Zusammenhalt bedachte Maßnahmen wie der innerkanadische Finanzausgleich fallen immer schwerer.

Im Rückblick blieb Kanada jedoch trotz aller entstandenen Probleme keine andere Wahl, als sich Mitte der achtziger Jahre dem Trend zur Bildung kontinentaler Wirtschaftsräume anzuschließen. Die Europäer verstärkten ihrerseits die kontinentale Integration, der GATT-Prozeß stockte. Der Anteil der USA am kanadischen Gesamtexport war von 65 Prozent im Jahr 1970 auf 78 Prozent 1985 gestiegen. Gleichzeitig machte den kanadischen Exporteuren wachsender US-amerikanischer Protektionismus zu schaffen. Vor dem Regierungswechsel 1984 hatten die Freihandelspläne auch in der Liberalen Partei immer mehr Anhänger gefunden. Wichtige Teile der Wissenschaft, vor allem aber die Mehrheit der Unternehmer drängten auf ein umfassendes Abkommen mit den USA. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Regierung Mulroney bei der Umsetzung der Freihandelspläne nicht zu einseitig auf die Kräfte des Marktes und die Partnerschaft mit den USA gesetzt und die innenpolitischen Probleme damit unnötig verschärft hat.

IV. Die Folgen des Truppenrückzugs aus Europa

Die konservative Regierung hatte die Verteidigungsausgaben nach 1984 zunächst erhöht und in ihrem verteidigungspolitischen Weißbuch von 1987 noch die Rolle der NATO im Spannungsfeld zwischen Ost und West betont Durch den Fall der Mauer in der DDR im Herbst 1989, das Ausemanderbrechen der Sowjetunion und das Ende des Warschauer Pakts wurde diesen Ansätzen die Grundlage entzogen. Unter dem gleichzeitigen Druck des wachsenden Haushaltsdefizits kündigte Ottawa Ende Februar 1992 den Abzug der kanadischen Truppen aus Lahr und Baden-Söllingen innerhalb der folgenden beiden Jahre und damit das faktische Ende ihres traditionellen NATO-Engagements in Europa an. Die an sich nachvollziehbare Entscheidung führte vor allem deshalb zu Spannungen innerhalb der Allianz, weil die Bündnispartner vorher nicht konsultiert worden waren und die künftige Rolle Kanadas in der NATO ungeklärt blieb

Kanadas Internationalismus während des Kalten Kriegs hatte drei wesentliche Motive. Erstens stand die Konfrontation der Supermächte im Hintergrund, die indirekt auch Kanada in seiner nationalen Sicherheit bedrohte. Zweitens wurde ein transatlantisches Gegengewicht zur immer engeren Anbindung an die USA gesucht. Drittens wollte sich Kanada durch sein globales Engagement im Rahmen von NATO und UNO international Gehör verschaffen und erhoffte sich davon rückwirkend positive Einflüsse auf die nationale Souveränität und Identität. Damit hatte Kanadas Internationalismus stets eine kontinentale, eine euro-atlantische und eine globale Dimension Die kontinentale Bindung wurde 1958 verfestigt durch die Verträge über die nordamerikanische Verteidigungsgemeinschaft NORAD, das euro-atlantische Engagement ab Beginn der siebziger Jahre ergänzt durch die kanadische Beteiligung am KSZE-Prozeß die globale Dimension vertieft durch den Grundsatz, an sämtlichen Blauhelmaktionen der UNO teilzunehmen.

Zwar waren die in Europa stationierten kanadischen Truppen von der Quantität her stets nachrangig, qualitativ bildeten sie jedoch aus europäischer Sicht eine wichtige Ergänzung des US-amerikanischen Engagements. Kanadische Pläne für eine Truppenreduzierung verstanden die Europäer stets als negatives Signal. Als besonders gefährlicher Präzedenzfall wurde die entsprechende Ankündigung der Regierung Trudeau 1968 gesehen. Sie fiel in eine Zeit starker isolationistischer Tendenzen in den USA aufgrund erster Handelsdefizite und des Vietnamkriegs. Ebenso erschien es aus europäischer Sicht in den siebziger Jahren paradox, daß die kanadische Regierung gleichzeitig die wirtschaftlichen Bindungen an Europa stärken und die militärischen reduzieren Wollte. Nachdem Bundeskanzler Schmidt Trudeau den wirtschaftlich-strategischen Gesamtzusammenhang der Beziehungen verdeutlich hatte, kennzeichnete der Kauf von über 100 deutschen Panzern „den Beginn eines neuen, mehr oder weniger erzwungenen Interesses für die NATO“

In Verbindung mit der Herausbildung kontinentaler Wirtschaftsblöcke ergab sich aus dem 1992 angekündigten kanadischen Truppenrückzug eine ähnliche Problematik. Wie 1968 wurden die Verbündeten vorab nicht von Ottawa konsultiert, wiederum stärkte die kanadische Entscheidung die Logik eines amerikanischen Rückzugs. Vor allem fehlte von nordamerikanischer wie europäischer Seite ein schlüssiges Konzept zur Neuorientierung der transatlantischen Partnerschaft, obwohl deren integrative Funktion grundsätzlich von allen Seiten auch für die Zukunft als notwendig erachtet wurde. Für Kanada schwächte der Rückzugsbeschluß zudem die Aussichten, nach der durch NAFTA-Vertragsabschluß und OAS-Beitritt verfestigten Kontinentalisierung neue handelspolitische Initiativen in Richtung Europa glaubhaft zu machen. Eine gemeinsame Strategiediskussion und ein etwas späterer Rückzug der Kanadier hätten viele dieser Probleme mildern können.

Zwar hat Kanada im Gegenzug zum Abzug der NATO-Truppen sein Engagement im Rahmen der UNO ausgeweitet. Einige Truppenteile wurden direkt aus Baden-Württemberg ins ehemalige Jugoslawien verlegt. Seitdem stellt Kanada durchschnittlich das drittstärkste Blauhelmkontingent in Bosnien und Kroatien, 1994 mit etwa 2000 Mann. Ebenso blieb Ottawa trotz der enormen Ausweitung des UNO-Engagements in aller Welt dem Grundsatz treu, sich an sämtlichen Blauhelmeinsätzen zu beteiligen, und unterstützte alle 15 nach 1989 gestarteten Aktionen Doch die Kanadier haben ihren Einsatz auf dem Balkan erst nachträg-lieh als direkte Ausgleichsmaßnahme für den Abzug der NATO-Truppen und Beweis ihres weiteren Engagements in Europa präsentiert. Vielerorts wird zudem gerade der verstärkte UNO-Einsatz als Lockerung der Bindungen an die NATO verstanden. Das UNO-Motiv sei in Ottawa in Wirklichkeit schon immer das primäre gewesen und habe nur zu Zeiten des Ost-West-Konflikts hinter dem NATO-Motiv zurückstehen müssen, so die Argumentation

Die kontinentale wirtschaftspolitische und globale sicherheitspolitische Zäsur der kanadischen Außenpolitik wirkt auf das transatlantische Verhältnis in der gleichen Richtung: Die Bindungen werden einer Belastungsprobe ausgesetzt. Mit der Entscheidung für den kontinentalen Freihandel hat sich Kanada als amerikanische Nation identifiziert, mit dem Truppenabzug aus Europa die euro-atlantische Dimension der Sicherheitspolitik geschwächt. Wie schon unter Trudeau in den siebziger Jahren wurde auch unter Mulroney zu Beginn der neunziger Jahre der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekten nicht ausreichend berücksichtigt. Doch hier ist umgekehrt auch Kritik an den Europäern anzubringen. Die Chance, Kanada etwa in der Bosnien-politik stärker in die Entscheidungsprozesse einzubinden, wurde vertan. Obwohl Ottawa bei aller innenpolitischen Problematik sein Engagement auf dem Balkan aufrechterhalten, Washington dagegen keine Bodentruppen stationiert hat, sitzt Kanada nicht als Mitglied in der Bosnien-Kontakt-gruppe und war nur indirekt an den Entscheidungen über NATO-Luftangriffe auf serbische Stellungen beteiligt Auch von europäischer Seite gibt es nach wie vor kein überzeugendes Konzept, wie die rivalisierenden Organisationen UNO, NATO, WEU und OSZE sinnvoll unter einen Hut zu bringen sind. Aus kanadischer Perspektive stellt sich gerade in der Bosnienpolitik die Frage, warum sich Kanada engagieren soll, wenn den Europäern selbst die Entschlossenheit zu einer gemeinsamen Strategie fehlt.

V. Die Außenpolitik der Regierungder Chretien

Seit dem Regierungswechsel Ende Oktober 1993 haben die Liberalen deutliche außenpolitische Akzente gesetzt. Wie schon in den Jahrzehnten zuvor wurden diese allerdings in der deutschen Öffentlichkeit zumindest in ihrer Bedeutung für Kanada kaum wahrgenommen. Vier Themenkomplexe erscheinen beispielhaft für den künftigen außenpolitischen Kurs. Erstens hat Chretien das von seiner Partei einst heftig kritisierte nordamerikanische Freihandelsabkommen als Handlungsgrundlage akzeptiert, mit Jahresbeginn 1994 ist das NAFTA in Kraft getreten. Gemäß der Abschlußerklärung des Amerika-Gipfels von Miami im Dezember 1994 soll NAFTA bis zum Jahr 2005 zu einer den gesamten Kontinent umfassenden Freihandelszone, der Free Trade Area for the Americas (FTAA), ausgebaut werden, erster Beitrittskandidat ist Chile. Nachdem Ottawa den Verhandlungen mit Mexiko nur unter Zugzwang zugestimmt hatte, betreibt es jetzt offensiv die Erweiterung der Freihandelszone, um das Übergewicht Washingtons zu mildern 25. Mit der Krise des mexikanischen Peso und der von den USA getragenen finanziellen Rettungsaktion wurde offensichtlich, daß der NAFTA-Raum inzwischen als kontinentale Schicksalsgemeinschaft begriffen wird. Auch Kanada hat sich trotz der eigenen prekären Haushaltslage mit 1, 5 Milliarden US-Dollar am Hilfspaket für Mexiko beteiligt. Chretien setzt aus innenpolitischen Gründen formell auf Distanz zu Washington, die informellen Kontakte werden aber weiter ausgebaut Zweitens versucht die kanadische Regierung mit allen Mitteln, verunsicherte ausländische Investoren zu beruhigen. Nach der Etablierung des Bloc Quebecois als Oppositionspartei in Ottawa haben die Separatisten mit dem Wahlsieg des Parti Quebecois in Quebec im September 1994 weiteren Auftrieb erhalten. Zur politischen Unsicherheit vor dem erwarteten Referendum kommt die Staatsverschuldung. Da der Anteil der ausländischen Gläubiger besonders hoch ist -die Auslandsverschuldung macht knapp die Hälfte der Gesamtverschuldung aus -, sieht sich Kanada an den Rand seiner Kreditwürdigkeit gebracht Der Ende Februar vorgestellte Sparhaushalt sieht in der Folge unter anderem vor, 45000 Staatsangestellte zu entlassen und die Entwicklungshilfe in den nächsten drei Jahren um 21 Prozent zu kürzen Den dritten Schwerpunkt hat neue Premierminister mit seiner Asienreise im November 1994 gesetzt. Die größte kanadische Handelsdelegation aller Zeiten, die als Team Canada die Premiers sämtlicher Provinzen mit Ausnahme Quebecs und über 300 Unternehmer mit einschloß, brachte vor allem in China Verträge in Milliardenhöhe unter Dach und Fach. In Indonesien bekräftigte Chretien das Ziel der 18 in der Asia Pacific Economic Cooperation (APEC) zusammengeschlossenen Staaten, bis zum Jahr 2020 eine transpazifische Freihandelszone zu schaffen Viertens erhielt schließlich das traditionell positive Image der kanadischen Blauhelmtruppen einen schweren Schlag, als im Januar 1995 das Eliteregiment der Armee aufgelöst wurde, nachdem schwere Vergehen einzelner Soldaten beim UNO-Einsatz in Somalia bewiesen worden waren -dies zu einer Zeit, in der der Verteidigungshaushalt nachhaltig nach Einsparmöglichkeiten durchforstet wird

Auch die langfristigen Strategiepapiere der Regierung Chretien machen deutlich, daß die Schwerpunkte künftiger kanadischer Außenpolitik thematisch im Bereich Wirtschaft und geographisch in Amerika und Asien liegen. Anfang Dezember 1994 hat die Regierung ihr neues Verteidigungsweißbuch vorgelegt Danach wird die Gesamtzahl der regulären Streitkräfte bis 1999 von 72 000 auf 60000, die Zahl des Zivilpersonals von 33000 auf 20000 reduziert. Der Beitrag zur allgemeinen Infrastruktur der NATO wird verringert, bilaterale Projekte mit lateinamerikanischen und südostasiatischen Staaten sollen dagegen mehr Beachtung finden. Selbst im Bereich der UNO-Friedensmissionen kündigt sich eine neue Bescheidenheit an. Zwar sollen die Kapazitäten für Blauhelmeinsätze ungeschmälert aufrechterhalten werden, doch Ottawa will erstens eine strengere Auswahl treffen und zweitens im Fall einer Beteiligung auf stärkere Mitspracherechte pochen.

Noch deutlicher wird die Zielsetzung mit dem im Februar 1995 als Weißbuch veröffentlichten außenpolitischen Gesamtkonzept In klarer Abstufung werden die drei Hauptziele staatlicher Außenpolitik formuliert: „The promotion of prosperity and employment; The protection of our security...; The projection of Canadian values and culture." Die Förderung von Handel und Investitionen rangiert mit Abstand an der Spitze. Dabei versteht sich der kanadische Staat ausdrücklich als Partner der Exportwirtschaft. Der Sicherheitsbegriff wird neu definiert und auf Probleme wie Migration, internationaler Terrorismus und Drogenhandel erweitert. Der Schutz der Menschenrechte wird zwar mehrfach hervorgehoben, muß aber gegenüber der Handelsförderung deutlich zurückweichen. Eine Aufwertung innerhalb der dritten Themengruppe erfährt dagegen die Kulturpolitik, was vor allem auf einen weiteren Ausbau der in diesem Bereich gut fundierten deutsch-kanadischen Beziehungen hoffen läßt

VI. Neue Brücken über den Atlantik?

Die Regierung Chretien sieht Kanada ohne Zweifel in erster Linie als amerikanische und an zweiter Stelle als pazifische Nation. Doch sie zeigt auch Interesse, neue Brücken über den Atlantik zu schlagen, die Atlantische Gemeinschaft durch neue Institutionen wiederzubeleben. Im wirtschaftlichen Bereich steht dabei das Projekt eines „neuen NAFTA“, eines North Atlantic Free Trade Agreement, im Mittelpunkt, wie es Chretien unter anderem Anfang Dezember in Paris vorgeschlagen hat Von europäischer Seite haben die Verteidigungsminister Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik auf der Wehrkundetagung im Februar 1995 in München davon gesprochen, die NATO zu einer amerikanisch-europäischen Problemlösungsgemeinschaft fortzuentwickeln, deren Aufgaben weit über den traditionellen militärischen Bereich hinausreichen sollen Die genauen Konturen des angestrebten Grundlagenvertrags, der auf den transatlantischen Erklärungen von 1990 aufbauen soll, sind allerdings noch unklar. Die Absichtserklärungen auf beiden Seiten zeigen zwar, daß die Gefahr der Entfremdung ernst-genommen wird, konkrete Schritte zur Problemlösung lassen allerdings auf sich warten. Zudem ist für die Europäer Washington der erste Adressat, nicht Ottawa. Doch hier zeigt sich einmal mehr das ungenutzte Potential der deutsch-kanadischen Beziehungen: Für Deutschland im traditionellen Spannungsfeld zwischen den USA einerseits und Europa, vor allem Frankreich, andererseits könnte Kanada in der Nordamerikapolitik ein nützliches Bindeglied sein. Umgekehrt ließe sich für Kanada auf diesem Weg prüfen, ob der Integrationsschritt NAFTA den außenpolitischen Handlungsspielraum verkleinert, oder ob Ottawas Stellenwert steigt und die kontinentale Einbindung so neue Möglichkeiten eröffnet.

Die kanadische Seite hat in den vergangenen beiden Jahren wiederholt betont, nach der Konzentration auf den NAFTA-Abschluß müsse Europa wieder stärker ins Blickfeld rücken, dabei spiele Deutschland eine zentrale Rolle. Kanadas Handelsminister Roy MacLaren bezeichnet die Bundesrepublik immer wieder als „Powerhouse“ der Europäischen Union und als Basis für die Erschließung der osteuropäischen Märkte Kanadas Botschafter in Bonn, Paul Heinbecker, wird nicht müde, sein Land als den für deutsche Bedürfnisse am besten, geeigneten Investitionsstandort innerhalb des nordamerikanischen Wirtschaftsraums zu präsentieren Doch bei allen gutgemeinten Absichtserklärungen bleibt deutlich: Die Beziehungen zwischen den kontinentalen Handelszentralen Brüssel und Washington, zwischen Finanzzentren wie Frankfurt und Toronto, zwischen wirtschaftlichen Partnerregionen wie Bayern und Quebec oder Baden-Württemberg und Ontario sind mindestens ebenso wichtig geworden wie das Verhältnis Bonn-Ottawa. Der Nationalstaat hat strukturell enorm an Bedeutung verloren, er steht stärker als je zuvor in Konkurrenz zu zahlreichen anderen Akteuren, staatlichen wie nichtstaatlichen

Der Atlantik ist nicht nur im kanadischen und amerikanischen, er ist auch im deutschen und europäischen Bewußtsein breiter geworden. Doch gerade 1995 lohnt der Blick nach Kanada mehr denn je, nicht nur weil in Halifax Mitte Juni der G-7-Gipfel der führenden Industrienationen stattfindet und voraussichtlich im gleichen oder einem der folgenden Monate das Unabhängigkeitsreferendum in Quebec. Kaum ein anderes Land spiegelt so modellhaft die Veränderungen der Weltpolitik wider. In Kanada ist die Staatsverschuldung bedrohlicher, die Herausforderung durch ethnisch-regionale Fragmentierung größer, der Sog kontinentaler Integration kräftiger, die Frage nach der verbleibenden globalen Verantwortung drängender als in vergleichbaren OECD-Staaten. Ein (nach wie vor unwahrscheinliches) Auseinander-brechen des Nationalstaats Kanada würde zwar keineswegs zwangsweise ähnliche Entwicklungen in Westeuropa anstoßen. Dazu ist Kanada zu sehr Sonderfall. Dennoch gilt: Ob Ottawa die staatliche Verschuldung in den Griff bekommt, ob sich Kanada trotz regionaler Sonderansprüche als Bundesstaat behaupten kann, ob trotz mexikanischer Billiglohnkonkurrenz neue zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstehen, in welchem Maße die Kanadier Umweltschutz, Entwicklungshilfe, die Verteidigung der Menschenrechte und UN-Blauhelmmissionen weiterhin als Verpflichtung begreifen -all dies wird ein charakteristisches Licht auf die Problemlösungskapazität des Nationalstaats von morgen werfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur kanadischen Beurteilung der Zäsur von 1989 vgl. Fen Osler Hampson/Christopher J. Maule, After the Cold War, Ottawa 1991; ebenso die Folgebände der jährlich erscheinenden Reihe Canada Among Nations, zuletzt Maureen Appel Molot/Harald von Riekhoff (Hrsg.), A Part of the Peace, Ottawa 1994.

  2. Zur Analyse kanadischer Politik nach einem Vier-Ebenen-Modell mit globalen, kontinentalen, nationalen und subnationen Handlungsbedingungen vgl. Ralf Borchard/Frank W. Semrau, Kanadische Fragmente in der kontinentalen Gemeinschaft, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, 23 (1993) 1, S. 23-40.

  3. Vgl. das einleitende Kapitel in Josef Becker/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Im Spannungsfeld des Atlantischen Dreiecks: Kanadas Außenpolitik nach dem 2. Weltkrieg, Bochum 1989.

  4. Vgl. Seymour Martin Lipset, Continental Divide. The Values and Institutions of the United States and Canada, New York-London 1990.

  5. Vgl. Kim Richard Nossal, The Politics of Canadian Foreign Policy, Scarborough 19892.

  6. Vgl. J. King Gordon, Canada’s Role as a Middle Power, Toronto 1966.

  7. Zum wachsenden US-amerikanischen Einfluß vgl. Rainer-Olaf Schultze, Kanada und die Vereinigten Staaten -Ungleiche Nachbarn in Nordamerika, (Institut für Kanada-Studien -Analysen und Berichte 3), Augsburg 1989; zur Revolution tranquille vgl. Udo Kempf (Hrsg.), Quebec. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik, Bochum 1994.

  8. Trudeaus Außenminister Mitchell Sharp grenzte diese Option ab gegen die „first Option“ einer fallbezogenen Adhoc-Strategie und die „second Option“ einer engeren Anbindung an die USA, vgl. Government of Canada, Department of External Affairs, Canada-U. S. Relations: Options for the Future, International Perspectives, Ottawa, Herbst 1972.

  9. Vgl. Jack L. Granatstein/Robert Bothwell, Pirouette: Pierre Trudeau and Canadian Foreign Policy, Toronto 1990; Stephen Clarkson, Canada and the Reagan Challenge, Toronto 1985.

  10. Anfang der achtziger Jahre gewann die selbstbewußte Einschätzung Kanadas als Hauptmacht im internationalen System an Einfluß, vgl. David Dewitt/John Kirton, Canada as a Principal Power, Toronto u. a. 1983.

  11. John G. H. Halstead, Kanadas Rolle in einer sich wandelnden Welt, Augsburger Universitätsreden 25, Augsburg 1994, S. 21.

  12. Den besten Einblick in die kanadische Freihandelsdebatte geben Bruce Doern/Brian W. Tomlin, Faith and Fear: The Free Trade Story, Toronto 1991. .

  13. Das über 2000 Seiten umfassende NAFTA enthält allerdings wie jedes Handelsabkommen zahlreiche Ausnahme-regelungen, vgl. Government of Canada, Department of Finance, The North American Free Trade Agreement, An Economic Assessment from a Canadian Perspective, Ottawa 1992.

  14. Vgl. Frank W. Semrau, Die grüne Seite eines speziellen Verhältnisses. Umweltbeziehungen zwischen Kanada und den USA, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, 25 (1995) 1 (i. E.).

  15. Vgl. Duncan Cameron/Mel Watkins (Hrsg.), Canada Under Free Trade, Toronto 1993.

  16. Vgl. Welcome to Cascadia, in: The Economist vom 21. 5. 1994, S. 52.

  17. Auszüge aus dem Verteidigungsweißbuch sind dokumentiert in Arthur E. Blanchette (Hrsg.), Canadian Foreign Policy 1977-1992, Selected Speeches and Documents, Ottawa 1994.

  18. Vgl. Paul Letourneau, Kanada: Weg von der NATO?, in: Europa-Archiv, (1992) 11, S. 303-312.

  19. Vgl. Allen G. Sens, Canadian Defence Policy after the Cold War: Old Dimensions and New Realities, in: Canadian Foreign Policy, 1 (1993) 3, S. 7-27.

  20. Vgl. Wilhelm von Bredow, Zwischen Empathie und Eigeninteresse. Kanada und der KSZE-Prozeß am Ende des Ost-West-Konflikts, in: Zeitschrift für Kanada-Studien, 21 (1992) 1, S. 137-152.

  21. P. Letourneau (Anm. 18), S. 309.

  22. Zwischen 1948 und 1988 gab es 21 Blauhelmmissionen, vgl. Jack L. Granatstein, Peacekeeping: Did Canada Make a Difference? And What Difference Did Peacekeeping Make to Canada?, in: John English/Norman Hillmer (Hrsg.), Making a Difference? Canada’s Foreign Policy in a Changing World Order, Toronto 1993, S. 222-236.

  23. Vgl. Günther Gillessen, Zwischen UN und NATO, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 3. 1993, S. 18.

  24. Vgl. Canada ponders Bosnia options, in: The Globe and Mail (Toronto) vom 21. 4. 1994, S. 8.

  25. Vgl. Southern Exposure, in: Maclean’s (Toronto) vom 28. 11. 1994, S. 56f.

  26. So hat Chretien einen offiziellen Besuch in Washington bisher vermieden. Clintons Antrittsbesuch in Ottawa fand Mitte Februar 1995 erst nach über zweijähriger Amtszeit statt. Dabei gab der US-Präsident dem Premierminister allerdings vor allem in der Qubec-Frage demonstrativ Rücken-deckung, vgl. Clinton Makes Plea For Canadian Unity, in: International Herald Tribune vom 25. /26. 2. 1995, S. 3.

  27. Vgl. Mexiko des Nordens, in: Die Zeit vom 3. 2. 1995, S. 27.

  28. Vgl. Shrinkage, in: The Economist vom 4. 3. 1995, S. 55.

  29. Vgl. Trading on Trust, in: Maclean’s vom 28. 11. 1994, S. 28f.

  30. Vgl. Kanadische Eliteeinheit wird aufgelöst, in: Süddeutsche Zeitung vom 25. 1. 1995, S. 8.

  31. Vgl. Government of Canada, Department of National Defence, 1994 Defence White Papier, Ottawa, 1. 12. 1994.

  32. Vgl. Government of Canada, Department of Foreign Affairs and International Trade, Canada in the World, Ottawa, 7. 2. 1995.

  33. Die Gesellschaft für Kanada-Studien hat in Deutschland, Österreich und der Schweiz über 700 Mitglieder. Vergangenes Jahr wurde mit Unterstützung der kanadischen Regierung eine deutsche Stiftung für Kanada-Studien eingerichtet, die den wissenschaftlichen Austausch fördern soll.

  34. Der Fischereistreit zwischen Kanada und der EU zeigt, wie notwendig transatlantische Koordinationsmechanismen im Handelsbereich wären. Vgl. Strafen der EU gegen Kanada," in: Süddeutsche Zeitung vom 11. /12. 3. 1995, S. 6.

  35. Vgl. An Atlantic Community, in: International Herald Tribune vom 14. 2. 1995, S. 8.

  36. Vgl. Interview im Handelsblatt vom 14. 3. 1994, S. 21.

  37. So in der von der Bundesregierung mitherausgegebenen Zeitschrift Deutschland, Februar 1995, S. 32f.

  38. Wenn hier die Phaseneinteilung kanadischer Außenpolitik an Regierungswechseln und Premierministern orientiert ist, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß staatliche Außenpolitik immer stärker von nichtstaatlichen Akteuren beeinflußt wird und sich auf die Kooperation mit ihnen stützt. Die kanadische „business Community“ hatte an der Durchsetzung des Freihandelsabkommens mit den USA entscheidenden Anteil, die Entscheidungen über Arbeitsplätze in Kanada fallen großenteils in den Zentralen multinationaler US-Konzerne, in der internationalen Menschenrechtspolitik übernehmen kanadische Non-Governmental Organizations (NGOs) zunehmend die Führungsrolle.

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Ralf Borchard, M. A., geb. 1962; Redakteur beim Bayerischen Rundfunk in München; 1994 Forschungsaufenthalt an der Carleton University, Ottawa, und der University of British Columbia, Vancouver. Veröffentlichungen u. a. zum nordamerikanischen Freihandelsabkommen, zur kanadischen Außenpolitik und zur Theorie der Internationalen Beziehungen.