I. Einleitung
Der Zeitpunkt, zu dem die Amtszeit Präsident Clintons ihr drittes Jahr erreicht hat, scheint geeignet, eine vorläufige Bilanz seiner innenpolitischen Arbeit zu ziehen. Dafür spricht auch der Erdrutschsieg der Republikanischen Partei bei den mid-term elections (zur Halbzeit des Präsidentschaftszyklus) vom 8. November 1994, der die Mehrheitsverhältnisse in der Legislative der Vereinigten Staaten auf den Kopf gestellt und den Zustand der „geteilten Regierung“ (divided government unter umgekehrten Vorzeichen wiederhergestellt hat . Darüber hinaus drücken die für eine Zwischenwahl außergewöhnlich hohen Verluste der Demokraten einen Einstellungswandel in der Wählerschaft aus, der für die Fortsetzung der Clinton-Präsidentschaft von zentraler Bedeutung sein wird
II. Politische Prioritäten und Rahmenbedingungen der Clinton-Präsidentschaft
Bereits im Wahlkampf wurde deutlich, daß der künftige Präsident die Innenpolitik als seine Hauptaufgabe betrachtet. Für die „Erneuerung der Vereinigten Staaten“ hatte sich Bill Clinton viel vorgenommen. Aus seinem ambitionierten gesetzgeberischen Kalender ragten mindestens fünf Projekte hervor: eine Richtungsänderung in der Wirtschafts-, Haushalts-und Steuerpolitik, die Gesundheitsreform, die Neuordnung des Fürsorgesystems, eine Verbesserung der Ausbildungssituation und eine effektivere Verbrechensbekämpfung. Sämtlichen Großprojekten lag eine Problemdiagnose zugrunde, die den sinkenden Lebensstandard breiter Mittelschichten an den Ausgang ihrer Überlegungen stellte. Die Ursache dieser Fehlentwicklung verortete das Clinton-Team nicht in kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen und Wachstumstälern, sondern im langfristigen Verlust qualifizierter Arbeitsplätze und in den im Vergleich zu den späten siebziger Jahren zu geringen Wachstumsraten vor allem in Zukunftsindustrien. Rückläufige Produktivitätszuwächse gefährdeten unter Bedingungen globaler Märkte und internationalisierter Produktion die Wettbewerbsfähigkeit der USA, was unweigerlich Wohlstandseinbußen zur Folge hatte. Statt einen Boom privater Investitionen nach sich zu ziehen, wirkten sich die Steuersenkungen, die budgetären Ausgabenverlagerungen und das sich auftürmende Haushaltsdefizit der Reagan-BushÄra nach Clintons Ansicht investitionshemmend aus. Im Vergleich zu ihren globalen Wettbewerbern -hier wurden vor allem Japan und die Bundesrepublik Deutschland genannt -litten die USA an einem Defizit privater und öffentlicher Zukunftsinvestitionen Griffig kündigte das Team Clinton/Gore an, „den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“ Der Schlüsselbegriff ihrer Reformstrategie lautete „Investitionen“: Durch Haushaltsumschichtungen, Einsparungen und Steuererhöhungen für Spitzenverdiener sollten Reserven für öffentliche Investitionen in Bildungsprogramme, Infrastrukturmaßnahmen (Datenautobahn und der Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen) und Technologieförderung freigesetzt, durch selektive Steuersenkungen private Investitionsanreize geschaffen werden. Die Gesundheitsreform und die Sicherung des Rentensystems dienten dazu, die mittleren Einkommensbezieher vor der weiteren Erosion ihrer Lebensgrundlagen zu schützen.
Die Einordnung der politischen Philosophie des Präsidenten bereitet Schwierigkeiten. Seine mehrfach dokumentierte Bereitschaft, die staatlichen Machtinstrumente zu Eingriffen in das Wirtschafts-und Marktgeschehen zu nutzen, stellt ihn in die sozial-und interventionsstaatliche Tradition der Demokratischen Partei der dreißiger und sechziger Jahre unter ihren Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson. Gleichzeitig präsentierte sich Clinton als „neuer Demokrat“ und distanzierte sich nachdrücklich von der Mentalität des „Besteuerns und Ausgebens“ (tax and spend), von Staatsgläubigkeit und dem Hang zur Berücksichtigung minoritärer Sonderinteressen. „Unsere politischen Ziele sind weder (sozial) liberal noch konservativ, weder demokratisch noch republikanisch. Sie sind neu. Sie sind anders. Wir sind zuversichtlich, daß sie umsetzbar sind.“ Vieles spricht dafür, daß diese Distanz zu wohlfahrtsstaatlichem Gedankengut mehr war als bloße Rhetorik und nicht nur vordergründig als „eine symbolische Geste an weiße Mittelschichtwähler oder Reaktion auf Angriffe von konservativer Seite“ verstanden werden sollte Clinton entstammt dem zentristischen Parteiflügel der Demokraten und half als Gouverneur von Arkansas bei der Gründung des „Democratic Leadership Council (DLC)“, einer Vereinigung wirtschaftsorientierter Funktionsträger, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Partei durch programmatische Kurskorrekturen für neue Wählerschichten zu öffnen. Die Denkfabrik des DLC, das in Washington (D. C.) ansässige „Progressive Policy Institute“, zeichnete für weite Teile des innenpolitischen Programms Clintons verantwortlich und ist seit dem Amtsantritt personell eng mit dem Beraterstab des Präsidenten im Domestic Policy Council des Weißen Hauses verquickt
Statt klare Prioritäten mit integrativen Themen zu setzen, verzettelte sich Clinton zunächst in Neben-kriegsschauplätzenund symbolischer Politik. Die geplante Aufhebung der Verbannung Homosexueller aus den Streitkräften erwies sich als Minenfeld und no-win-issue, da der pragmatische Kompromiß des „don’t ask, don’t teil“ keine der Konfliktparteien zufriedenstellte. Weitere Maßnahmen im hochsensitiven Bereich der Sozialthemen machten den ungedienten Präsidenten zur Reizfigur der religiösen Rechten und erzkonservativer Radiomoderatoren: Er entband die aus Bundesmitteln geförderten Einrichtungen der Familienplanung vom bisher bestehenden Verbot, die Option der Abtreibung im Beratungsgespräch zu erwähnen, und stellte bei der Kabinettsbildung die ethnische und geschlechtliche Ausgewogenheit in den Vordergrund. Als Gouverneur von Arkansas, einem der solidesten von Demokraten regierten Einzelstaaten der Union, brachte Clinton wenig Erfahrung im Umgang mit Republikanern mit. Statt die Einbindung gemäßigter Republikaner in sein Reformprojekt voranzutreiben, suchte Clinton den polarisierenden Schulterschluß mit der unpopulären Führungsriege der Kongreß-Demokraten. Das nach wenigen Wochen dem Kongreß vorgelegte Paket zur Konjunkturankurbelung (Stimulus package) bestand überwiegend aus maßgeschneiderten Geschenken („pork“) an demokratische Wahlkreise und fiel verdientermaßen einem Senats-Filibuster der Opposition zum Opfer. Schließlich offenbarten die ersten hundert Tage Clintons Vorliebe für das Regieren durch Kommissionen: Eine aus mehreren hundert Mitarbeitern bestehende Task Force unter dem Vorsitz der First Lady, Hillary Rodham Clinton, widmete sich dem Jahrhundertprojekt der Gesundheitsreform, ein unwesentlich kleinerer Ausschuß unter der Leitung Vizepräsident Al Gores wurde damit beauftragt, Vorschläge zur Reform des öffentlichen Dienstes zu erarbeiten.
Nicht nur bei Europäern, sondern auch bei der republikanischen Opposition galt das hochqualifizierte Clinton-Team als Anhänger eines als „europäisch-etatistisch" empfundenen Glaubens an die Fähigkeit des Staates, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fehlentwicklungen durch Staatstätigkeit korrigieren zu können Im anti-gouverne-mentalen politischen Klima der USA der neunziger Jahre war die Deutung Clintons als „Neuerfinder des Interventionsstaats“ jedoch fatal. Nach einer Serie peinlicher und vermeidbarer Pannen fiel Clintons Popularitätsrate im Juni 1993 auf 35 Prozent. Kommentare sprachen bereits von einer weiteren gescheiterten Präsidentschaft.
Die Deutung Clintons als eines Verfechters gouvernementaler Lösungen (big government) wird der komplexen Realität jedoch nur zum Teil gerecht. Tatsächlich war Clintons Strategie von Mehrdeutigkeit geprägt; mal gab er sich linksliberal, mal populistisch als Kritiker der Bürokratie, mal zeigte er sich konziliant, dann wieder kämpferisch Hinter der zweifellos vorhandenen Freude der jungen Administration am politischen Gestalten und an der Vorliebe des Präsidenten für die Details der Politik verbirgt sich dennoch ein anders akzentuiertes Staatsverständnis als das europäische. Bei genauerer Betrachtung liegen die programmatischen Vorstellungen des Clinton-Zentrismus weder auf der Linie der von den Republikanern offen betriebenen Rückkehr zum Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts noch auf der Wellenlänge einer sozialdemokratisch-europäischen Illusion des Fürsorgestaates. Vordenker der Administration wie Arbeitsminister Robert Reich umreißen ein Staatsverständnis, das die Rolle des Staates als die eines Animateurs und Tonangebers oder eines Reiseleiters und Spielertrainers versteht Die Regierungstätigkeit der Zukunft ist nicht länger in der Lage, die Menschen vor den Härten eines verschärften internationalen Wettbewerbs auf der Ebene nationalstaatlicher Politik zu schützen, etwa durch Protektion. Die politisch relevante Frage lautet nicht länger „Was kann der Staat gegen diese oder jene Entwicklung tun?“, sondern „Wie kann der Staat Dir Hilfe zur Selbsthilfe leisten, um die Herausforderungen eines veränderten Kapitalismus zu meistern?“ Der Staat hat in den Vorstellungen Reichs die primäre Aufgabe, dem durch
Weltmarktentwicklungen besonders bedrohten Teil der Bürgerschaft bei der Anpassung an eine Wirtschafts-und Sozialordnung Hilfe zu leisten, die geprägt sein wird von einer nachindustriellen und computergesteuerten Produktionsweise mit schlanken und wandlungsfähigen Unternehmen, in der individualisierte Konfliktlösungsmechanismen traditionelle Gewerkschaftsarbeit weitgehend ersetzen. Der Staat des 21. Jahrhunderts verlangt von seinen Bürgern Flexibilität und Eigenverantwortung und bietet als Gegenleistung lebenslange Bildungsinvestitionen in Erstausbildung, Umschulung und kontinuierliche Weiterbildung sowie subsidiäre Gesundheitsfürsorge und Altersabsicherung
Tatsächlich beeinflussen Entscheidungen der internationalen Finanzwelt sowie globale wirtschaftliche Entwicklungen die Innenpolitik der fortgeschrittenen Industrienationen in bislang nicht bekanntem Maße. Auch der vermeintlich führungsstarke Präsident der USA ist dem Diktat anonymer weltwirtschaftlicher Prozesse unterworfen. Gleichzeitig berauben Veränderungen der Medienlandschaft, insbesondere die Zuschauerzuwächse der nach Sparten aufgeteilten Kabelfernsehsender, den Präsidenten seiner effektivsten Machtressource: des direkten Appells an das televisionäre Massenpublikum Das einst lautstarke Megaphon des Präsidenten konkurriert heute mit einer Vielzahl verstärkter Lautsprecher einer atomisierten Medienkultur der Kabelanbieter, Satellitensender und Multimediaangebote. Clintons Kommunikationsstrategie trägt den Realitäten einer diversifizierten Medienlandschaft Rechnung: Seine Kommunikationsberater raten ihm zu einer Vielzahl „kleinerer“ Auftritte in Morgenmagazinen, Radio-Talkshows, Spartensendern wie MTV und Lokalsendern anstelle weniger „nationaler“ Redetermine und Pressekonferenzen. Die Distribution von Video-und Audiokassetten, „direct mail“ -Initiativen, die Einrichtung gebührenfreier Telefonnummern und der Versand elektronischer Post vervollständigen das Instrumentarium der postmodernen präsidentiellen Kommunikationsstrategie. Kommunikationsberater sehen den postmodernen Präsidenten nicht länger in der Rolle des leitenden Dirigenten eines Symphonieorchesters, sondern in der Funktion eines Jazzmusikers, der lediglich die Taktfrequenz seiner Mitspieler vorgibt. Trifft dies zu, müßte sich der Hobby-Saxophonist Clinton den neuen Anforderungen des Amtes besonders gewachsen zeigen
Zur Hälfte seiner ersten Amtszeit sieht sich Bill Clinton jedoch mit entmutigenden Umfragedaten konfrontiert. Jeder zweite befragte Amerikaner ist der Ansicht, daß die beiden ersten Jahre seiner Präsidentschaft ein Fehlschlag waren, lediglich 44 Prozent hielten sie für einen Erfolg. Für 53 Prozent der Amerikaner leistete Clinton weniger, als sie erwarteten, nur bei 29 Prozent übertraf er die in ihn gesetzten Erwartungen Möglicherweise hat Clinton das Instrumentarium der „persönlichen Präsidentschaft“ phasenweise zu sehr beansprucht. Sein ständiges Erscheinen in der Öffentlichkeit, sein Drang nach medialer Omnipräsenz, das Zurschaustellen von Emotionen und geschmacklicher Vorlieben (etwa die Beantwortung der Frage nach der bevorzugten Unterwäsche) in Talk-Shows und in elektronischen Bürgerversammlungen weckt nicht zuletzt unerfüllbare Erwartungen in der Bevölkerung, erhöht damit aber die Verwundbarkeit des Präsidenten und trivialisiert letztendlich das Amt des Staatsoberhaupts.
III. Clinton und der 103. Kongreß in der Gesetzgebung
Die negativen Bewertungen in Medien und Öffentlichkeit stehen in einem bemerkenswerten Kontrast zu (politik) wissenschaftlichen Befunden über die innenpolitischen Leistungen Clintons und des Kongresses. Rein statistisch betrachtet, ist Clinton ein im Umgang mit dem Kongreß höchst erfolgreicher Präsident. Sowohl 1993 als auch 1994 stimmte der Kongreß bei Gesetzesvorhaben, zu denen der Präsident einen Standpunkt erklärt hatte, in 86, 4 Prozent der Abstimmungen mit dem Präsidenten Der Erfolg innenpolitischer Gesetzgebung läßt sich jedoch nicht allein an der Zahl gewonnener Abstimmungen, verabschiedeter Gesetze oder am jeweiligen Anteil gescheiterter Gesetzentwürfe messen. Maßgebend ist vielmehr die Wirkung der getroffenen Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen auf das Leben der Bevölkerung. Journalistische wie akademische Experten der amerikanischen Innenpolitik halten ein Gesetzeswerk in der Regel dann für „wichtig“, wenn es von ihrer Zunft als „innovativ“, „richtungweisend“ oder „folgenreich“ angesehen wird und möglichst häufige Erwähnung in der Kongreßberichterstattung der Medien findet. Im Nachkriegsdurchschnitt verabschiedete jeder Kongreß etwa ein Dutzend solcher Gesetze. Für die beiden ersten Amtsjahre der Clinton-Präsidentschaft erfüllen nach heutigem Stand etwa zehn verabschiedete Gesetze diese Qualitätskriterien. Sie seien im folgenden kurz umrissen.
IV. Wichtige innenpolitische Gesetzesvorhaben in ausgewählten Politikfeldern
1. Die Wirtschafts-, Haushalts-und Steuerpolitik Defizitabbau im Haushaltsgesetz für 1994: Clinton widmete der Wirtschafts-und Steuerpolitik das erste Halbjahr seiner Präsidentschaft. Wenige Wochen nach seiner Wahl am 3. November 1992 versammelte er namhafte Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler, führende Wirtschaftspolitiker, Gewerkschafter und Unternehmer zu einer Wirtschaftskonferenz in Little Rock und lenkte somit als frisch gewählter Präsident die öffentliche Aufmerksamkeit auf das als schwierig angesehene Thema der Wirtschafts-und Haushaltsfragen. Im Beisein des Präsidenten und eines Großteils seines späteren Kabinetts erläuterten die führenden Köpfe der amerikanischen Wirtschafts-und Sozialwissenschaft einer breiten Öffentlichkeit vor laufenden Kameras die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Mißverhältnis eines Anstiegs der Staatsausgaben und sinkenden • Staatseinnahmen einerseits und mangelnden Investitionsrücklagen, Investitionsmängeln und sinkendem Lebensstandard andererseits Ohne einen Konsens in den konkreten Rezepturen zur Defizitbekämpfung zu erreichen, waren sich Politiker und Sachverständige darüber im klaren, daß ein ernsthaftes Bemühen um einen ausgeglichenen Haushalt Opferbereitschaft bei Bürgern aller Schichten verlangte. In seiner Ansprache zur Amtseinführung am 20. Januar 1993 griff Bill Clinton den Gedanken der Opferbereitschaft auf, nicht ohne gleichzeitig deren sozialverträgliche Abstufung zu verlangen. Clintons am 17. Februar 1993 vor dem Kongreß dargelegter Budgetvorschlag setzte sich zum Ziel, das Haushaltsdefizit bis 1997 von zu erwartenden 346 Milliarden auf 206 Milliarden US-Dollar zu reduzieren. Das Sanierungspaket sah Haushaltseinsparungen in einem Gesamtvolumen von 496 Milliarden US-Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren (1994-1998) vor. Zur Finanzierung waren zu etwa gleichen Teilen Ausgabenkürzungen sowie die Erhöhung von Steuern und Abgaben geplant. Bei den Kürzungen stand eine drastische Verringerung der Verteidigungsausgaben im Vordergrund. Darüber hinaus standen Mittelkürzungen für die Bundesverwaltung durch Stellenabbau und Gehaltseinfrierungen sowie die Begrenzung des Anstiegs der Bundesausgaben im Gesundheitswesen auf der Tagesordnung. Die Einführung einer Energiesteuer, die höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen (Körperschaftssteuer) und von Sozialleistungen für wohlhabende Senioren (Krankenhausversicherungssteuer) sowie die Anhebung der Einkommenssteuer für Spitzenverdiener (Verheiratete mit einem Jahreseinkommen über 140000 US-Dollar) dienten nach den Vorstellungen des Weißen Hauses zur Entlastung des Haushalts auf der Einnahmenseite.
Während der Sommermonate 1993 verabschiedete der Kongreß Clintons Haushaltsentwurf in leicht verwässerter Form mit der denkbar knappsten Mehrheit von jeweils einer Stimme in beiden Häusern Erwartungsgemäß stieß die Energiesteuer auf den Widerstand der Petroleumindustrie und anderer Wirtschaftsverbände, aber auch auf die Ablehnung von (demokratischen) Senatoren aus öl-und energieproduzierenden Bundesstaaten des amerikanischen Westens. Der verabschiedete Budget-Kompromiß enthielt statt einer Energieabgäbe die leichte Anhebung der Benzinsteuer um umgerechnet 1, 8 Pfennige pro Liter. Dagegen fielen die Konzessionen des Präsidenten im Bereich der Einkommenssteuererhöhungen moderat aus. Das verabschiedete Haushaltsgesetz enthielt sowohl die vorgesehene Steuererhöhung für „Besserverdienende“ -inklusive eines „Topzuschlags“ für Spitzeneinkommen ab 250 000 US-Dollar pro Jahr -als auch die Beibehaltung des Spitzensteuersatzes von 28 Prozent auf Kapitalerträge. Marginale Korrekturen gab es lediglich bei der Körperschaftssteuer und der Sozialversicherungssteuer für Senioren. Die Verabschiedung des Haushalts-gesetzes ist von Kommentatoren zu Recht als politischer Erfolg Clintons bewertet worden Gemessen an der budgetären Verantwortungslosigkeit Reagans und der Untätigkeit der Bush-Administration waren Clintons Anstrengungen zum Abbau des Haushaltsdefizits ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch entzündete sich berechtigte Kritik an der Tatsache, daß mehr als die Hälfte des Defizitabbaus nicht durch Ausgabenkürzungen im binnenstaatlichen Bereich, sondern lediglich über Einsparungen im Verteidigungshaushalt und durch zusätzliche Steuereinnahmen erreicht werden sollte
Reform des Bankenwesens: Mit dem Interstate Banking-and Branching-Gesetz werden alle bisherigen Beschränkungen für bundesweit operierende Banken beseitigt. Ab 1997 dürfen Banken Filialen in allen Bundesstaaten eröffnen und bisher getrennt operierende Gesellschaften in den verschiedenen Bundesstaaten zu einem Unternehmen zusammenfassen. Parallel zu diesem vom Finanz-gewerbe nachgefragten Gesetz insistierten die Demokraten auf der Schaffung eines „Entwicklungsfonds für innerstädtische Kommunen“, der Kredite an unterprivilegierte Communities und Nachbarschaften vergeben soll, aus denen sich die kommerziellen Institute zurückgezogen haben
Ratifikation handelspolitischer Verträge: Zwei der langfristig bedeutsamsten Erfolge Clintons seien an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt, da sie nicht zur Innenpolitik im engeren Sinne zählen: die Ratifikation der handelspolitischen Verträge zur Schaffung einer Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA, d. h.der Abbau der Zollschranken mit Mexiko und Kanada, und zum Abschlußprotokoll der Uruguay-Runde des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT). Da Clinton bei der Durchsetzung dieser folgenreichen Handelsgesetze in hohem Maße auf die Hilfe der Republikaner angewiesen war, schärften sie sein Image als „neuer Demokrat“. 2. Die Sozial-und Bildungspolitik Family and Medical Leave Act: Er verpflichtet Arbeitgeber, ihren Angestellten bei Garantie des Arbeitsplatzes unbezahlten Urlaub bis zu sechs Monaten zu gewähren, insbesondere zur Kindererziehung und zur Pflege Angehöriger. Das von Präsident Bush mehrmals mit dem Veto blockierte Vorhaben war das erste von Clinton unterzeichnete Gesetz des 103. Kongresses. National Service: Die Einführung eines freiwilligen Sozial-und Gemeinschaftsdienstes (National Service) gehörte zu den Kernstücken des Regierungsprogramms Clintons. Als Gegenleistung zu freiwilliger Gemeinde-und Sozialarbeit erhalten die Zivildienstleistenden die Teilfinanzierung eines anschließenden oder bereits absolvierten Hochschulstudiums. Das Programm passierte den Kongreß nur in erheblich gekürztem Umfang. Goals 2000: Educate America Act: Das bildungspolitische Gesetz „Goals 2000“, mit einem Gesamtvolumen von 400 Millionen US-Dollar, etabliert zum ersten Mal in der Bildungsgeschichte der USA bundeseinheitliche Erziehungs-und Ausbildungsstandards und erweitert das erfolgreiche Programm Head Start für unterprivilegierte Vorschüler und Kindergartenkinder. Das Gesetz ist Teil der Clintonschen Zukunftsinitiative zur Investition in Humanressourcen. 3. Rechtspolitik und innere Sicherheit Brady Bill: Nach siebenjähriger Debatte und in zähem Ringen mit der Schußwaffenlobby verabschiedete der Kongreß ein Schußwaffenkontrollgesetz, das eine fünftägige Warteperiode und eine Überprüfung des Käufers beim Kauf einer Handfeuerwaffe vorsieht. Das Gesetz trägt den Namen Bill Bradys, des ehemaligen Pressesprechers Ronald Reagans, der beim Attentat auf den Präsidenten im März 1981 schwere dauerhafte Verletzungen davontrug und sich seitdem für die stärkere Kontrolle des Schußwaffengebrauchs einsetzte Crime Bill: Das Gesetzespaket zur Verbrechensbekämpfung sieht verschärfte Strafen (u. a. die Ausweitung der Todesstrafe), eine Ausweitung vorbeugender Maßnahmen (Ausbildungs-und Sportprogramme wie „midnight basketball" in Kommunen und Stadtbezirken mit hoher Kriminalitätsrate), den Bau weiterer Gefängnisse, die Anstellung von 100000 zusätzlichen Polizeibeamten sowie das Verbot von Angriffswaffen (19 automatische Waffentypen) vor und hat einen Umfang von 30, 2 Milliarden US-Dollar. Das Gesetz wurde nach langem Tauziehen von einer überparteilichen „Zentrumskoalition“ gegen den starken Widerstand konservativer Republikaner und Südstaatendemokraten sowie linksliberaler Demokraten in der Schlußphase des 103. Kongresses verabschiedet
Motor Voter Registration: Um in den USA an Wahlen teilnehmen zu können, muß man sich in eine Wählerliste eintragen lassen. Mit dem Gesetz der „motorisierten Wahlregistrierung“ vereinfacht 'Washington das Verfahren erheblich, indem es erlaubt, die Registrierung „in einem Gang“ bei der Ausstellung oder der (zweijährigen) Erneuerung des Führerscheins, der KFZ-Zulassung und bei einigen anderen Stellen vorzunehmen. Von der Vereinfachung der Wählerzulassung erhoffen sich die Demokraten, die Wahlbeteiligung ihnen wohlwollend gesonnener Wähler aus sozial schwachen Schichten zu erhöhen 4. Gescheiterte oder aufgeschobene Gesetzesinitiativen Trotz der hinter den Erwartungen zurückgebliebenen legislativen Bilanz, die primär durch die Mißerfolge des zweiten Amtsjahres entstand, wäre es irreführend und verkürzend, Clinton als einen Präsidenten des Politikstaus zu betrachten, Clintons legislativer Aktivismus zeigt sich an einer Reihe gescheiterter oder mit großer Verspätung eingebrachter Gesetzesvorhaben, denen das Attribut „wichtig“ zweifelsohne gebührt. Zu diesen Vorhaben gehören die Reform der Wahlkampffinanzierung, die Einschränkung der Lobbyismus-Aktivitäten, die rasche Sanierung von Giftmülldeponien, die Deregulierung der Telekommunikationsindustrie sowie die Gesetzentwürfe zur Gesundheitsreform und zur Neuordnung der Sozialhilfe.
Mit der Gesundheitsreform scheiterte durch die Vertagung des Kongresses am 26. September 1994 das Herzstück der innenpolitischen Reforminitiativen des Präsidenten.. Der unter Vorsitz Hillary Rodham Clintons erarbeitete Plan sah die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung für alle in den USA ansässigen Menschen vor. Die Hauptkosten sollten zu etwa 80 Prozent die Arbeitgeber übernehmen. Gleichzeitig war geplant, den Verbrauchern mehr Mitsprache einzuräumen und die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu dämpfen. Unter dem jetzigen System besitzt ein einkommensschwacher Teil von zirka 15 Prozent der Bevölkerung -das sind knapp 36 Millionen Menschen -keine Krankenversicherung Im Krankheitsfall müssen sie oft wählen zwischen finanziellem Ruin oder einer unzureichenden Behandlung. Da die Versicherungen weiterer 24 Millionen Menschen aus verschiedenen Gründen unzureichend sind, lebt Prognosen zufolge ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung unter dem bestehenden System mit dem Risiko, ihre Krankenversicherung während der kommenden fünf Jahre zumindest vorübergehend zu verlieren Das zweite Problem besteht in einer enormen Kostenexplosion. Keine Nation der Welt verwendet einen höheren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen als die USA: 1991 betrug der Anteil 14 Prozent, für das Jahr 2000 erwartet man einen Anstieg auf 18 Prozent. Zum Vergleich: In europäischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich oder Großbritannien betrug der Anteil der Gesundheitsaufwendungen am Bruttoinlandsprodukt im Vergleichsjahr 1991 zwischen 8 und 9 Prozent.
Angetrieben durch eine mächtige Allianz aus Ärzteverbänden, Pharmaindustrie und Versicherungswirtschaft kam es im Kongreß zu heftigem Widerstand einer überparteilichen Koalition gegen Clintons Reformplan. Erwartungsgemäß warnten die Republikaner vor Einschränkungen der medizinischen Wahlmöglichkeiten und der daraus folgenden Unterminierung des (unstrittig) hohen Standards des gegenwärtigen Gesundheitswesens. Gescheitert ist Clintons Initiative letztendlich an der Uneinigkeit der regierenden Demokraten. Konkurrierende Gesetzentwürfe verschiedener Ausschüsse stritten sich um die Höhe des Arbeitgeberanteils, um den Zeitraum, innerhalb dessen das Ziel eines allgemeinen Versicherungsschutzes erreicht werden sollte, um Ausnahmeregelungen für Kleinbetriebe sowie um die Frage staatlicher Versicherungsträger.
Obgleich sich die Kongreßmehrheit längst für eine eher punktuelle Veränderung des Gesundheitswesens ausgesprochen hatte, insistierten die Autoren des Clinton-Plans, allen Voran die First Lady, weiterhin auf einer Globalreform. Dabei unterschätzten die Reformkräfte nicht nur den politischen Druck der opponierenden Interessenverbände, sondern verkannten ebenso klar den reformskeptischen Trend in der öffentlichen Meinung. Zwar sprachen sich selbst im August 1994 noch 57 Prozent der Bevölkerung für eine Erneuerung des Gesundheitssystems aus, jedoch fiel die Zustimmung für Clintons Vorschlag von 59 Prozent bei der Vorstellung im September 1993 auf 40 Prozent im Sommer 1994. Zu diesem Zeitpunkt bevorzugten 58 Prozent eine langfristig angelegte Beseitigung der Schwachstellen eines für die Bevölkerungsmehrheit höchst leistungsfähigen Systems statt der sofortigen Verabschiedung eines umfassenden Reformgesetzes
Ein weiteres Wahlkampfversprechen hatte Clinton über Monate zurückgestellt, um die Gesundheitsreform nicht zu gefährden: den Umbau des Sozialfürsorgesystems. In den USA erhalten derzeit zirka 14 Millionen Menschen in fünf Millionen Haushalten Sozialhilfeleistungen des Bund-Länder-Programms Aid to Families with Dependent Children (AFDC) -unter ihnen ein hoher Anteil an sehr jungen alleinerziehenden Müttern mit Kleinkindern. Das Anrechtsprogramm (entitlement) AFDC hat derzeit ein Gesamtvolumen von 25 Milliarden US-Dollar mit steigender Tendenz. Seit Jahren experimentierte der Gesetzgeber mit Versuchen, Wohlfahrtsempfänger zu Arbeitsleistungen heranzuziehen. An diesem Prinzip des „workfare“ knüpft Clintons lange angekündigter Vorschlag an, „das Wohlfahrtssystem, wie wir es kennen, zu beenden“ Er sieht eine zeitliche Begrenzung des Leistungsbezugs auf zwei Jahre vor. Während dieser Zeit sind die Leistungsempfänger zur Teilnahme an Umschulungs-und Weiterbildungsmaßnahmen unter staatlicher und privater Trägerschaft verpflichtet. Nach Ablauf der Zwei-jahresfrist sollen die Leistungsempfänger in den Arbeitsmarkt integriert werden, vorzugsweise im privaten Sektor und -wenn nötig -in staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Unterstützungszahlungen werden im Regelfall eingestellt. Um die gewaltigen Kosten der Umschulungs-und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Grenzen zu halten, soll das Programm stufenweise eingeführt werden: Während der ersten Phase gelten die Regelungen nur für Leistungsempfänger(innen), die nach 1971 geboren wurden. Dies entspräche 1997 etwa einem Drittel der gesamten Zielgruppe. Der Reformansatz ist populär, da er auf Arbeitstugenden zielt, das Prinzip der Zukunftsinvestition auch auf sozial benachteiligte Schichten anwendet und den Übergangscharakter der Sozialhilfe als temporäres Sicherheitsnetz betont. Mit der verspäteten Vorlage der Initiative beraubte sich Clinton der Chance, von der verantwortungsvollen Reform eines unpopulären Sozialprogramms zu profitieren. Im neuen Kongreß bestimmen dagegen unterschiedliche Versionen republikanischer Radikal-reformen die sozialpolitische Tagesordnung.
Die Ursachen für Clintons legislative Mißerfolge sind vielschichtig. Mitarbeiter demokratischer Kongreßabgeordneter beklagten die Überladung des Gesetzgebungskalenders und die mangelnde Konzentration des Weißen Hauses auf wenige Prioritäten. Ebenso zutreffend ist die Aussage, wonach die geschickte Ausnutzung weitverbreiteter „Washington-Verdrossenheit“ in der amerikanischen Öffentlichkeit durch die Republikaner den Präsidenten ausmanövriert habe. Aber besteht in der Verschärfung der parteipolitischen Auseinandersetzung nicht die Aufgabe einer Opposition? Die vielerorts gehegte Hoffnung auf einen im Vergleich zum Politikstau der Bush-Administration beschleunigten Gesetzgebungsprozeß unter Clinton ging von falschen institutionellen Voraussetzungen aus: Die Kontrolle des Weißen Hauses und des Kongresses durch dieselbe Partei (unified government) garantierte Bill Clinton im hochgradig fragmentierten Regierungssystem der USA keine reibungslose Unterstützung seiner politischen Ziele. Der Kongreßforscher David W. Rhode charakterisiert die politische Konstellation zwischen Exekutive und Legislative während des 103. Kongresses als „semi-unified government“. Clintons legislative Mißerfolge des zweiten Amtsjahres können nicht allein dem Präsidenten angelastet werden, sondern lassen sich auch auf grobe strategische Fehler der Fraktionsführung der Demokraten zurückführen. Ein nach legislativen Erfolgen im ersten Amtsjahr leichtsinnig gewordener Präsident ließ sich von der demokratischen Kongreßführerschaft fälschlicherweise davon überzeugen, bei seiner Reformgesetzgebung auf die Einbindung gemäßigter Republikaner verzichten zu können. Dabei war die „Konsensverweigerung demokratischer Abgeordneter“ entscheidend für die Niederlagen Präsident Clintons Angesichts eines im Vergleich zu parlamentarischen Demokratien geringen Anteils von Abstimmungen, die strikt entlang der Parteigrenzen verlaufen, insbesondere während des zweiten Amtsjahres, muß man davon ausgehen, daß die zeitraubende und sachorientierte Bildung zerbrechlicher Ad-hoc-Koalitionen eine Konstante des Regierens in Amerika bleiben wird, ungeachtet geeinten, geteilten oder semi-geteilten Regierens.
Eine Reihe erfolgloser Gesetzesinitiativen allein taugt nicht als hinreichendes Indiz für eine gescheiterte Präsidentschaft. Man übersieht dabei die themensetzende Funktion dieser Vorhaben. Im günstigsten Fall können „gescheiterte“ Gesetzentwürfe als wertvolle Vorarbeiten zur späteren Lösung komplexer innenpolitischer Problemlagen betrachtet werden. Auch die Mehrzahl der legislativen Erfolge Clintons entstand nicht „über Nacht“ im Weißen Haus, sondern knüpfte an langjährige Vorarbeiten von Regierungskommissionen, Kongreßausschüssen und Politiknetzwerken an. Clinton war dort am erfolgreichsten, wo er sich um Detailreformen bemühte (Verbrechensbekämpfung, Schulgesetz), die parteiübergreifende Kooperation suchte (NÄFTA und GATT) und „geerbte Gesetz-entwürfe“ auf den Weg brachte (Family Leave, Motor Voter, Brady Bill). Betrachtet man die Schwerpunktthemen seines Wahlkampfes, so konnte er sein Vorhaben, stärker in die Human-ressourcen der Amerikaner zu investieren, in beachtlichem Maße in gesetzgeberische Realität umsetzen. Das Credo des Clinton-Teams, staatliche Leistungen als vorausschauende Investitionen in das Entwicklungspotential der Menschen zu entwerfen und als Hilfe zur individuellen Selbsthilfe zu verstehen, bleibt auch nach der Verschiebung der parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im Kongreß gesellschaftlich mehrheitsfähig und dürfte auch über die USA hinaus wirksam werden.
V. Amerikas Innenpolitik nach der „Republikanischen Rückwende“
Schon jetzt erhalten die Zwischenwahlen vom 8. November 1994 zu Recht das Etikett „historisch“. Sie beendeten die seit 1954 anhaltende Kontrolle des Kongresses durch die Demokratische Partei Im 104. Kongreß verfügen die Republikaner zum ersten Mal seit 40 Jahren über komfortable Mehrheiten in beiden Häusern. Das parteipolitische Kräfteverhältnis verschob sich auch in den bevölkerungsreichsten Bundesstaaten und in wichtigen Kommunen zugunsten der Grand Old Party. Die dramatische Niederlage der Demokraten kann nicht alleine dem Ansehensverlust Präsident Clintons oder den gegen ihn erhobenen Vorwürfen wegen angeblich unlauteren Geschäftsgebarens (Whitewater-Affäre) zugeschrieben werden. Auch die niedrige Wahlbeteiligung von 38, 5 Prozent und der schwer operationalisierbare Fak-tor „Politikverdrossenheit“ reichen als Erklärung für das Debakel der Demokraten, speziell bei den Gouverneurswahlen, nicht aus, denn abgewählt wurden nicht die Mandatsträger als solche, sondern lediglich Amtsinhaber der Demokratischen Partei. Wichtiger sind Einstellungsveränderungen und Wählerverschiebungen in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft. Die Demokraten wurden im wesentlichen auf ihren traditionellen Wähler-stamm aus Schwarzen, Senioren und gewerkschaftsnahen Arbeitnehmern zurückgeworfen. Von allen Einkommensgruppen, die noch 1992 für Clinton gestimmt hatten, blieb den Demokraten mehrheitlich nur noch die Gruppe der Armen. Dagegen liefen ihnen männliche, durchschnittlich gebildete Mittelschichtwähler in Scharen davon. Zu dieser Gruppe gehören nicht nur die sogenannten Reagan-Demokraten, sondern auch zwei Drittel der Anhängerschaft Ross Perots, des unabhängigen Präsidentschaftskandidaten aus dem Jahre 1992. Umgekehrt gelang es den Republikanern, die christlichen Fundamentalisten in hohem Maße zu mobilisieren und sich vor allem im Süden zum ersten Mal als geschlossene Programmpartei zur Rettung der Familie, der Moral, der Staatsfinanzen und des ehrlichen Steuerzahlers zu profilieren. Was sich auf der Ebene von Präsidentschaftswahlen seit dem Sieg Richard Nixons 1968 abzeichnete, vollendeten die Republikaner 1994 nun auf der Ebene der Kongreßwahlen: die elektorale Eroberung der Südstaaten. Zum ersten Mal seit dem Ende des Bürgerkriegs vor 130 Jahren entsenden die Staaten der „alten Konföderation“ mehr Republikaner als Demokraten in den Kongreß.
Langfristig könnte die parteipolitische Machtverschiebung in den Südstaaten die politische Landschaft der Gesamtnation am nachhaltigsten verändern und die alte These von der „heraufziehenden republikanischen Wählermehrheit“ in den USA bestätigen. Die Strategie der Republikaner, einen themenbezogenen Wahlkampf auf nationaler Ebene auszutragen, erwies sich als scharfsinnig, da sie es auf diese Weise vermochten, den lokalen Organisationsvorsprung vieler Demokraten auf Wahlkreisebene zu neutralisieren und die zentral-staatsfeindliche Grundstimmung in der Bevölkerung in einen Vorteil umzumünzen. Herzstück der nationalen Kampagne der Republikaner war der „Vertrag mit Amerika“, ein Zehn-Punkte-Programm, das u. a. vorsah, den Budgetausgleich in der Verfassung zu verankern sowie eine Reihe von Kongreßreformen in Angriff zu nehmen, und Gesetze zur drastischen Reduzierung staatlicher Ausgaben und Steuersenkungen ankündigte
Unter der geschickten Regie des neuen Sprechers des Repräsentantenhauses und „innenpolitischen Gegenpräsidenten“, Newt Gingrich aus Georgia, hatten die Autoren den in der Populärpresse publizierten „Contract“ werbewirksam in blumig-pathetischer Prosa formuliert: Ein Gesetzespaket zur verschärften Verbrechensbekämpfung erhielt den Titel „Gesetz über die Rückeroberung unserer Straßen“, die simple Idee eines Kinderfreibetrags für Mittelschichtamerikaner wurde zum „Gesetz zur Wiederherstellung des amerikanischen Traums“, der Vorschlag, minderjährige Mütter künftig von der Sozialhilfe auszuschließen und die Gelder für Sozialhilfeprogramme drastisch zu kürzen, wurde euphemistisch mit „Gesetz zur Förderung der persönlichen Verantwortung“ umschrieben Die plakative Botschaft des Vertrags lautet: „Weniger Staat, mehr Eigenverantwortung und Rückkehr zu traditionellen Werten.“ Da sich die 300 Unterzeichner des Vertrags -ausschließlich Kongreßabgeordnete und Mandatsanwärter der Republikanischen Partei -zur gesetzgeberischen Umsetzung des „Contract with America“ während der ersten 100 Tage der neuen Legislaturperiode verpflichtet haben, orientieren sich die Gesetzgebungsinitiativen der neuen Mehrheit zunächst an diesem Programm. Bei der gesetzgeberischen Umsetzung des „Vertrags“ konnten die Republikaner bereits Erfolge verbuchen, mußten aber Anfang März 1995 den ersten Rückschlag hinnehmen. Bereits am ersten Sitzungstag des 104. Kongresses verabschiedete das Repräsentantenhaus lange überfällige institutionelle Reformen zur größeren inneren Transparenz des Kongresses. Im Senat knapp gescheitert ist jedoch der vom Haus verabschiedete Verfassungszusatz zur Vorlage ausgeglichener Bundeshaushalte bis zum Jahr 2002, der einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedurft hätte. Die zum Haushaltsausgleich unumgänglichen Kürzungen im Bereich der staatlichen Altersfürsorge erschienen einigen zustimmungswilligen Demokraten letztendlich zu unpopulär. Mehr Aussicht auf Erfolg könnte dagegen dem sogenannten „line-item“ -Veto beschieden sein, das es dem Präsidenten ermöglichen würde, gegen einzelne Posten aus Haushaltsbewilligungsgesetzen Einspruch einzule-gen. Derzeit kann der Präsident diese Gesetze nur im Ganzen annehmen oder durch sein Veto blokkieren. Die Verabschiedung des Einzelvetos würde zu einem deutlichen Machtgewinn des Präsidenten im Regierungssystem der USA führen.
Die Novemberwahl hat das gemäßigte, zur politischen Mitte tendierende Lager beider Parteien ausgedünnt. Zu erwarten ist daher eine schärfere innenpolitische Polarisierung insbesondere in den Reihen des Repräsentantenhauses. Nach 40 Jahren in der parlamentarischen Minderheit, während deren sie die zum Teil diskriminierende Behandlung durch die Demokratische Mehrheit erdulden mußten, ist das Verlangen Republikanischer Amtsinhaber nach radikaler Veränderung ebenso groß wie der Hunger der zahlreichen Kongreßfrischlinge nach Verwirklichung des „Vertrags mit Amerika“ und der Ersetzung des „Wohlfahrtsstaates“ durch eine „Chancengesellschaft“ (opportunity society) Dabei sind Fehler vorprogrammiert, denn nicht wenige der neuen republikanischen Abgeordneten aus dem Süden und dem Westen des Landes verstehen sich eher als Teil einer revolutionären konservativen Bewegung, die angetreten ist, „die amerikanische Zivilisation“ aus den Gemeinden und Einzelstaaten heraus zu erneuern und die Bundesinstitutionen in Washington zu entmachten, denn als Teil einer Regierungspartei. Daher wird der Senat in stärkerem Maße die Funktion des legislativen Bremsers ausüben müssen. Ein knappes Dutzend erfahrener republikanischer Senatoren wird das parteiinterne Rennen um die Präsidentschaftsnominierung 1996 aufnehmen und ist daher gehalten, präsidiabel zu erscheinen
Präsident Clinton, der sich nun in einer ähnlichen institutionellen Ausgangsposition der „geteilten Regierung“ befindet wie sein Vorgänger George Bush, reagierte auf die durch den Kongreßwahlsieg der Republikaner entstandene Herausforderung mit der Rückkehr zur „New Democrat" -Programmatik seiner erfolgreichen Präsidentschaftskampagne von 1992. In seiner Ansprache zur Lage der Nation am 24. Januar 1995 schlug er gegenüber der neuen Kongreßmehrheit konziliante Töne an, was auf die Bereitschaft zu parteiübergreifenden Kompromissen in wichtigen Politikfeldern und damit auf eine inhaltliche „Republikanisierung“ der Clinton-Präsidentschaft hindeutete. Ob dies auch für den Fall gilt, daß die vor Selbstbewußtsein strotzenden Gingrich-Republikaner zwar die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten suchen, Kompromisse in der Sache jedoch barsch zurückweisen, bleibt abzuwarten.
Um 1996 wiedergewählt zu werden, muß Clinton einen Großteil der weißen Mittelschicht zurückgewinnen, die der Wirtschaftsaufschwung nicht erreicht hat und die 1994 aus Enttäuschung zu den Republikanern gegangen war. Schon im Dezember 1994 zog er Konsequenzen und kündigte ein Steuersenkungspaket für Familien mittleren Einkommens an. Für Clinton, aber auch für die Republikaner geht es um viel: Nur wem es gelingt, den Lebensstandard der Mittelschicht zu erhöhen, deren Frustrationen über die Gegenwart zu beseitigen und ihr die Angst vor der Zukunft zu nehmen, bleibt mehrheitsfähig. Der Kampf um die Seele der Mittelschicht, so Arbeitsminister Reich, hat bereits begonnen Derzeit befinden sich die Republikaner in einer günstigen Ausgangsposition, ist es ihnen doch bereits gelungen, dem Weißen Haus die Meinungs-und Themenführerschaft zu entreißen. Bei einer deutlichen Wählermehrheit hat sich mittlerweile ein reduziertes Verständnis von staatlicher Verantwortung durchgesetzt. Eine nochmalige Fehleinschätzung der Stimmungslage kann sich Präsident Clinton nicht leisten, will er nicht in die innenpolitische Bedeutungslosigkeit abgleiten und in die Gefahr geraten, daß seine Versuche, die Debatten um Gesundheits-und Wohlfahrtsreform, um Steuersenkungen und Reformen des politischen Prozesses in seinem Sinne zu beeinflussen, ins Leere laufen, ignoriert werden oder gar Züge des Tragischen annehmen
Soweit muß es nicht kommen: Um sich für 1996 Mut zu machen, greifen manche Demokraten weit in die Geschichte zurück. 1946 verloren die Demokraten unter Präsident Truman 54 Sitze und damit die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Truman suchte daraufhin die Konfrontation mit dem republikanisch beherrschten Kongreß und machte diesen für den folgenden politischen Stillstand verantwortlich („Do-nothing-Kongreß“). Zwei Jahre später gewannen die Demokraten mehr als 70 Sitze zurück und der schon totgesagte Truman schlug den favorisierten republikanischen Herausforderer Thomas Dewey. Verfügt Bill Clinton über die Kämpfernatur eines Harry Truman?