I.
Die besondere Intensität des deutsch-israelischen Verhältnisses stellt für beide Länder ein bedeutsames Element der Nachkriegsgeschichte dar. Wenn wir am 12. Mai 1995 den 30. Jahrestag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen begehen, so gilt es sich darüber im klaren zu sein, daß die Entwicklung weiter zurückreicht und daß die Verbindung über das Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen von 1952, bereits sieben Jahre nach Kriegsende, aufgenommen worden war. „Im Anfang war Auschwitz“ also, so der Titel des wichtigen Buches von Frank Stern, der über den zeitlichen Bezug natürlich weit hinausreicht.
In der Tat hat die Dichte des Verhältnisses der beiden Länder und Völker unmittelbar mit dem zu tun, was man die „Vergangenheit“ zu nennen pflegt, der Katastrophe, die 1933 mit der „Machtergreifung“ einsetzte und im Krieg zum Holocaust führte. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihr besitzen unsere Beziehungen eine besondere, unvergleichliche Qualität, die sich in ihrem quantitativen Ausmaß ebenfalls niederschlägt. Das ist auch und gerade heute noch so.
Enge Verbindungen zu Israel und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen machen für uns einen Teil des Bemühens aus, für das nach wie vor Unbegreifliche einzustehen, das in den schlimmen zwölf Jahren durch Deutsche und im deutschen Namen den Juden angetan worden war. Die Deutung der israelischen Motive ist schwieriger als die der deutschen, von denen im wesentlichen die Rede sein soll. Das hat damit zu tun, daß das Verhältnis der beiden Länder durch die aus der Vergangenheit herrührende spezifische Ungleichgewichtigkeit in der moralischen Dimension gekennzeichnet ist, die es stets im Auge zu behalten gilt.
Das Luxemburger Abkommen war bekanntlich sowohl in Israel als auch in der Bundesrepublik Deutschland umstritten. Wenn moralische Gesichtspunkte auf beiden Seiten evidenterweise zugunsten einer „Wiedergutmachung“ ins Feld geführt wurden, so operierte man in Israel (und bei der Judenheit weltweit) seitens einer starken Opposition damals gerade mit moralischen Argumenten dagegen, sich mit dem „Amalek“ (dem Todfeind Israels) überhaupt an einen Verhandlungstisch zu setzen. Die Regierung in Jerusalem entschloß sich jedoch dazu, weil dem jungen Staat mit seinen gewaltigen Aufgaben wirtschaftlich das Wasser bis zum Halse stand und man auf materielle deutsche Unterstützung unbedingt angewiesen war. In Deutschland spielten solche interessenpolitischen Erwägungen nicht nur bei den Gegnern eine Rolle (Sorge vor Präzedenzwirkungen, Verhältnis zu den Arabern usw.), sondern sie waren -neben der überwiegenden moralischen Motivation -auch Konrad Adenauer und den anderen Verfechtern einer substantiellen Hilfe für Israel nicht fremd, denn das Abkommen stellte ja eine Art „Rentrebillet in die (internationale) Gesellschaft“ dar.
Trotzdem wäre es verfehlt, die Beziehungen unserer Länder, wie sie sich durch die Jahrzehnte -positiv -entwickelt haben, ausschließlich im Lichte der skizzierten vergangenheitsbestimmten Kategorien zu beurteilen. Sie haben, wie mir scheint, darüber hiraus einen Wert an sich gewonnen, dem man sich dort und hier auch in einer Zeit verpflichtet fühlt, in der Wiedergutmachungsansprüche auf der einen und internationales Legitimationsbedürfnis auf der anderen Seite längst nicht mehr die gleiche Relevanz besitzen wie zu Beginn. Die moralische Dimension bleibt indessen weiter präsent -wie könnte es anders sein? Sie läßt sich auch nicht scharf trennen von dem, was man als Staatsräson bezeichnet. Diese ist für das kleine, nach wie vor gefährdete Israel insoweit wohl ein triftigeres Kriterium als für uns -etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, im Hinblick auf die traditionelle Unterstützung seiner Anliegen durch Deutschland in Brüssel bei der gewünschten engeren Anlehnung an die Europäische Union (EU) und allgemein an Europa.
II.
Das Verhältnis unserer beiden Länder ist in seiner Entwicklung und in seinen einzelnen Bereichen vor fünf Jahren anläßlich des 25. Jahrestags der Aufnahme der offiziellen diplomatischen Kontakte in dieser Zeitschrift in systematischer Weise ausführlich dargestellt worden An der historisch bedingten Einmaligkeit des komplexen Beziehungsgeflechts liegt es, daß dieses sich -in unvergleichbarer Weise -nicht nur mit den Maßstäben eigentlicher Außenpolitik messen und bewerten läßt. Es ist vielmehr, über die Außenpolitik im engeren Sinne hinaus, in den verschiedensten Feldern durch eine typische, unverwechselbare Zweiseitigkeit gekennzeichnet.
Diese besitzt zum Teil amtlichen Charakter und schlägt sich deutscherseits in Aktivitäten der Exekutive, Legislative und sogar Judikative auf Bundes-, Länder-und Gemeindeebene nieder. Mannigfache Beispiele bieten sich dafür an, etwa bei der Zusammenarbeit von Ministerien und sonstigen Behörden sowie der Gewerkschaften, bei den vielen Städtepartnerschaften, den Aktivitäten der vier politischen Stiftungen in Israel und vielem mehr. Hier spielen aber bezeichnenderweise auch und nicht zuletzt private Einrichtungen eine Rolle. Von kultureller Kooperation, Tourismus und Handel einmal ganz abgesehen, die im Verhältnis unserer Länder auch historisch sehr bedeutsam sind, gehören dazu u. a. das Engagement zahlreicher Gremien von privaten Stiftungen und vieler einzelner Bürger zur Förderung israelischer pädagogischer und sonstiger Institutionen. Besondere Erwähnung verdienen die Deutsch-Israelische Gesellschaft und die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die sich nach wie vor durch erhebliche Aktivität auszeichnen. Mischformen sind häufig, wie etwa beim Jugendaustausch oder -leider viel zu wenig bekannt -bei der wissenschaftlich-technologischen Partnerschaft. An diesem „besonderen Bilateralismus" wirken zum guten Teil Eliten mit, was dem Phänomen, von dem in der Literatur erstaunlicherweise wenig die Rede ist, in der Tat zusätzliche Bedeutung gibt.
Die Intensität der Zusammenarbeit läßt sich in manchen Bereichen unschwer quantifizieren. Dabei wird deutlich, daß beide Länder im internationalen Vergleich häufig -absolut oder, angesichts der Bevölkerungszahlen, jedenfalls relativ -weit an der Spitze liegen. Das gilt zum Beispiel für den Jugendaustausch, die Städteverbindungen und die Wissenschaftskooperation, die bereits sechs Jahre vor der Akkreditierung der Botschafter begann. Hebräische Literatur wird in keine andere Sprache so häufig übersetzt wie ins Deutsche, das Interesse an dessen Erlernung ist in Israel in den letzten Jahren ständig gewachsen. All das ist auch deshalb bemerkenswert, weil in Deutschland ja leider nur noch eine kleine, wenn auch wieder wachsende jüdische Gemeinschaft lebt.
III.
Die eigentliche Außenpolitik bleibt für das Verhältnis der beiden Staaten gleichwohl wesentlich. Das gilt erst recht nach der Vereinigung unseres Landes mit seinem dadurch längerfristig wachsenden Gewicht. Die Existenz Israels in gesicherten Grenzen und unter den von seiner Bevölkerung gewünschten Lebensbedingungen in gefährdeter Lage besitzt für uns seit jeher sehr hohe Priorität. Die amtliche deutsche Israel-Politik hat vielfältige Aspekte: allgemeine Nahostpolitik, bilaterale regierungsseitige Zusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen von Meteorologie, Fernmeldetechnik und Grundlagenforschung über Entwicklungshilfe und Naturschutz bis hin zum militärischen Erfahrungsaustausch und Nachrichtenwesen, weiter Rüstungsexport-Kontrollpolitik, Handelspolitik und vieles andere mehr.
Sie ist seit langem auf wichtigen Gebieten in diejenige der anfangs sechs und nunmehr fünfzehn EU-Partner eingebunden, sowohl in deren Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) als auch, über die EU-Verbindung Israels, in die Politiken der Union als solcher. Das gilt zunächst für die allgemeine Nahostpolitik, die bei der GASP (vor dem Maastrichter Vertrag noch EPZ genannt) von Anbeginn im Jahr 1970 an im Lichte der zunehmenden Bedeutung des Mittelmeerraums für die Gemeinschaft, an den heute vier Mitgliedstaaten unmittelbar angrenzen, von erheblicher Bedeutung war. Die Fixierung gemeinsamer Standpunkte schränkt die deutschen Aktionsmöglichkeiten zwar ein, bietet anderseits jedoch die Chance, auf Konzeption und Politiken der Partner Einfluß zu nehmen. Wir haben die Interessen Israels in diesem Rahmen denn auch, wann immer möglich, geltend gemacht.
Eine ausgewogene Nahostpolitik der EU-Länder liegt durchaus im Interesse Israels -nicht nur zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Stärkung westlichen Einflusses in den arabischen Staaten besonders wichtig war. Damals stieß sie indessen israelischerseits auf Skepsis oder, als unerbetene Einmischung, sogar auf Ablehnung, wobei die Erklärung der Neun von Venedig 1980 besondere Kontroversen auslöste. Heute wird das anders gesehen: Die seit Juli 1992 amtierende „israelische Regierung ermutigt nachdrücklich eine gewichtige europäische Rolle“ (Shimon Peres)
Auch bei der EU als solcher machen wir uns traditionell zum Anwalt der Interessen Israels. Das ist für das Land, das gegenüber der EU ein zunehmend kritisches Handelsbilanzdefizit aufweist und dessen Verbindungen zu ihr immer wichtiger werden, von ganz erheblicher Relevanz. Angesichts der Fortschritte im nahöstlichen Friedensprozeß, die sich allgemein auf das israelische Image günstig ausgewirkt haben, beabsichtigt die EU, das bisherige Kooperationsabkommen von 1975, das die schrittweise Errichtung einer Freihandelszone vorsieht, durch ein neues, wesentlich erweitertes abzulösen. Die Verhandlungen konnten während der deutschen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1994 weitgehend abgeschlossen werden, und die wenigen noch offenen Fragen eher technischer Natur gelingt es hoffentlich bald zu lösen. Das gleiche gilt für das neue Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, mit dem wir eine weitgehend gleichberechtigte Behandlung Israels durchzusetzen vermochten. Bei beiden Vereinbarungen drängen wir auf einen schnellen endgültigen Abschluß.
Beim Europäischen Rat in Essen im Dezember 1994 gelang es Bundeskanzler Helmut Kohl in sehr persönlichen, intensiven Bemühungen, in den Schlußfolgerungen des Vorsitzes eine Erklärung zu verankern, der zufolge „Israel ... im Verhältnis zur Europäischen Union einen privilegierten Status erhält“. Eine entscheidend wichtige Weg-marke.
IV.
Aus den positiven Entwicklungen im Friedensprozeß, der trotz allen -häufig unterschätzten -gewaltigen Schwierigkeiten unumkehrbar geworden ist, erwachsen der europäischen Politik neue Herausforderungen. Gerade auch Deutschland bemüht sich darum, hier eine nützliche Rolle zu spielen Das gibt dem Verhältnis der beiden Länder eine zusätzliche bedeutungsvolle Dimension, die angesichts ihrer Aktualität etwas eingehender dargestellt sei.
Stabilität im Nahen Osten wird für Europa immer wichtiger. Die EU, deren Mittelmeerpolitik eine allgemeine Partnerschaft mit den anderen Anliegerstaaten zum Ziel hat, und ihre Mitglieder sind deshalb entschlossen, einen angemessenen Beitrag zum Frieden zu leisten. Zwar dürfen die Europäer auch heute ihre Möglichkeiten realistischerweise nicht überschätzen, denn der Prozeß selbst kann von außen, mit Ausnahme allenfalls der Vereinigten Staaten, nur beschränkt beeinflußt werden. Trotzdem kommt ihnen bei flankierenden Maßnahmen mit allgemein stabilisierenden Auswirkungen eine nicht zu unterschätzende Aufgabe zu.
Sie vermögen bilateral ebenso wie über die EU hilfreich zu sein, und zwar sowohl politisch als auch mittels finanzieller Unterstützung. Nicht zuletzt aber auch durch die Stärkung des flächen-und bevölkerungsmäßig kleinen Israel, um es der einzigen Demokratie westlichen Zuschnitts im Mittleren und Nahen Osten zu ermöglichen, trotz ihrer nach wie vor bestehenden längerfristigen Gefährdung Kompromisse einzugehen und den erwarteten Beitrag zur wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung der Region zu leisten.
Hier soll in erster Linie vom bilateralen deutschen Beitrag die Rede sein. Er wird durch denjenigen an die EU aber ergänzt: 28 Prozent der von dieser mittels der „Gemeinsamen Aktion zur Unterstützung des nahöstlichen Friedensprozesses“ vom 19. April 1994 beschlossenen Hilfe an die Palästinenser in Höhe von 500 Mio. ECU (rd. 900 Mio. DM) für den Zeitraum 1994 bis 1998 werden von uns als dem größten Beitragszahler aufgebracht. Wir dringen darauf, daß die Gelder zügig abfließen und daß sie für die Bevölkerung, die ohnehin überzogene Erwartungen auf eine sofortige Besserung der Verhältnisse hegt, bald spürbar werden. Das von deutscher Seite bilateral geplante und in Teilen bereits verwirklichte Programm zur Förderung des Friedensprozesses wurde am 23. September 1993 durch Außenminister Klaus Kinkel im Bundestag vorgestellt. Es umfaßt politische und wirtschaftlich-finanzielle Maßnahmen, die in enger Wechselwirkung stehen.
Was die ersteren anbelangt, so wurde der Dialog mit der PLO intensiviert. Wir hatten dieser gegenüber, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Einstellung des Terrorismus, stets strenge Maßstäbe angelegt, und die Kontakte Bonns hielten sich im Vergleich zu anderen Ländern an der untersten Grenze. Arafat wurde im Dezember 1993 erstmals in Bonn empfangen. Die dortige PLO-Vertretung wertete man als „Palästinensische Generaldelegation“ -indessen ohne diplomatischen Status -auf. Unsere Kontakte zur palästinensischen Autonomieverwaltung werden nunmehr über das „Representative Office“ in Jericho gepflegt, dessen Aufgabenbereich und rechtliche Stellung (weder Botschaft noch Konsulat) auf dem Kairoer Abkommen von 4. Mai 1994 beruhen. Mit der Eröffnung des Büros Anfang August 1994 spielten wir, mit Israel abgestimmt, den Vorreiter.
Der Außenminister setzt sich für den Friedenspozeß auch bei seinen Kritikern nachdrücklich ein. Im zweiten Halbjahr 1994 von der deutschen EU-Präsidentschaft entworfene Erklärungen der Zwölf haben die Terroraktionen radikaler Gruppierungen scharf verurteilt. Weitgehend erfolgreich haben wir uns bei mehreren Gelegenheiten erneut für die Aufhebung des arabischen Israel-Boykotts verwendet. Gegenüber Israel wurde andererseits vor allem die Frage der Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgegriffen. Deutschland beteiligt sich an allen fünf Arbeitsgruppen der auf der Madrider Konferenz vereinbarten multilateralen Friedensverhandlungen und wirkt besonders eingehend an der unter europäischem Vorsitz stehenden Gruppe für regionale Wirtschaftsentwicklung, deren letzte Tagung im Januar in Bonn ausgerichtet wurde, und an derjenigen für Wasserprobleme mit. Der ohnehin seit jeher dichte politische Dialog mit Israel ist im Zuge des Friedensprozesses hochrangig weiter intensiviert worden. Daß die erste gemeinsame Auslandsreise israelischer und jordanischer Staatsmänner gerade nach Bonn führte, wo Shimon Peres und Kronprinz Hassan mit dem Bundeskanzler und anderen deutschen Politikern unter Beteiligung des Vizepräsidenten der EU-Kommission, Manuel Marin, Mitte März 1995 Wasserfragen der Region erörterten, ist in der Tat bemerkenswert.
Im wirtschaftlich-finanziellen Bereich hatte Deutschland schon vor der Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung vom 13. September 1993 in der Westbank und dem Gaza-Streifen Hilfe geleistet, die vor allem über kommunale Träger abgewickelt wird. Schwerpunkte waren und bleiben Wasserversorgung, Abwasser-und Abfallentsorgung sowie berufliche Bildung. Neu hinzugekommen sind nunmehr Beratungsmaßnahmen zum Aufbau der palästinensischen Autonomieverwaltung und die Entwicklungsförderung der privaten Wirtschaft. Mit der Unterzeichnung des Protokolls vom 3. September 1994 zwischen dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde die Hilfe für die palästinensischen Gebiete verstärkt und auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt. Die amtliche Unterstützung des BMZ wurde und wird ergänzt durch Vorhaben der politischen und anderer Stiftungen sowie sonstiger nichtamtlicher Stellen, vor allem der beiden Kirchen. Sie konzentrieren sich auf die Fortbildung von Fachkräften, die berufliche Ausbildung von zurückgekehrten Flüchtlingen und von Journalisten sowie auf Krankenhäuser und Demokratisierungsmaßnahmen. Insgesamt leisteten wir hier bis einschließlich 1993 Hilfe im Wert von 209, 2 Mio. DM. Hinzu kommen seitens des Auswärtigen Amts Mittel für den Aufbau der palästinensischen Polizei, die Vorbereitung der Wahlen in den palästinensischen Gebieten und humanitäre Hilfe. Zunehmend engagieren sich hier auch die Bundesländer. Das vorbildliche, kürzlich für den Friedensnobelpreis vorgeschlagene jüdisch-arabische Gemeinschaftsdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam wird seit vielen Jahren deutscherseits u. a. durch eine besonders aktive Freundesgesellschaft unterstützt.
V.
Ein wesentlicher Grundsatz unserer Nahostpolitik ist es, in die arabischen Länder und den Iran keine Rüstungsgüter zu exportieren. Um so skandalöser war die Belieferung Iraks und Libyens seitens einiger -weniger -deutscher Unternehmen mit chemischen und anderen Produkten, die sich für die Herstellung von A-und C-Waffen eigneten. Sie erfolgte zwar gegen das Gesetz, doch muß sich die Verwaltung wohl den Vorwurf mangelnder Sorg-falt bei der Überwachung gefallen lassen, so schwierig diese angesichts der vielfachen Verwendbarkeit derartiger Erzeugnisse und des damaligen Mangels genügend griffiger gesetzlicher Bestimmungen auch gewesen sein mag.
Dies führte während des Golfkriegs zu einer erheblichen Verschlechterung des Deutschlandbilds in der israelischen öffentlichen Meinung, und das schlimme Wort vom „deutschen Gas“ in irakischen Mittelstreckenraketen, vor dem man sich in den Luftschutzkellern fürchten zu müssen glaubte, beleuchtete erneut schlaglichtartig, auf welch dünnem Eis sich unsere Beziehungen -„vergangenheitsbedingt“ -noch bewegen. Hinzu kamen die Demonstrationen nach dem Motto „Kein Blut für Öl“, die fälschlicherweise als gegen Israel gerichtet empfunden wurden. Die damals noch in der Bildung befindliche Bundesregierung hat, von der Opposition ganz zu schweigen, während der heißen Phase des Golfkriegs keine überzeugende Figur gemacht, und es ist auch kein Geheimnis, daß die verspäteten Besuche deutscher Politiker in Jerusalem und Tel Aviv ebenso wie die überhastet wirkende Präsentierung der dabei übermittelten Solidaritätsbekundungen und -leistungen in Israel zwiespältige Gefühle auslösten. Auch daß man in Bonn unseren enormen finanziellen und logistischen Beitrag zum Krieg noch lange glaubte nach außen verschweigen zu müssen, hinterließ keinen guten Eindruck.
Der Golfkrieg kann als Paradebeispiel dafür gelten, daß es im Verhältnis der beiden Länder für die Perzeption der Öffentlichkeit manchmal nicht so sehr auf die eigentlichen Fakten, sondern auf die Art und Weise ihrer Darstellung ankommt. Hier sind Fingerspitzengefühl und Takt gefragt, wobei wir Deutsche uns nun einmal besonders exponiert finden.
VI.
Das Verschlechterte deutsche Image hat sich in Israel seither offenbar nicht wesentlich erholt Das dürfte vor allem an den fremdenfeindlichen Übergriffen liegen, die sich in den letzten Jahren, wenn auch ganz überwiegend von einer sehr kleinen Minderheit frustrierter Jugendlicher begangen, hierzulande abspielen und die auf komplizierte Weise nicht zuletzt mit der Vereinigung unseres Landes Zusammenhängen. Diese führte auch in Israel zunächst zu negativen Reaktionen, doch setzte sich bald die Erkenntnis durch, daß es sich nur günstig auswirken konnte, wenn die DDR -deren Machthaber, den Weisungen des Kreml gehorchend, jahrzehntelang eine ausnehmend israel-feindliche Politik geführt hatten -nunmehr Teil eines befreundeten Staates geworden war. Nicht nur die Regierung in Jerusalem vertrat diese positive Einschätzung, sondern beachtlicherweise wird gegen die Vereinigung, wie Meinungsumfragen belegen, auch von der Öffentlichkeit mehrheitlich nichts eingewendet. Das schlechte Image scheint also nicht etwa mit unserem Zuwachs an politischem Gewicht zusammenzuhängen. Die Tatsache, daß rechtsradikale oder -extremistische Parteien bei den verschiedenen letzten Wahlen trotz aller Unkenrufe bei uns keine Chancen hatten und wir im europäischen Vergleich insoweit besonders gut abschneiden, hat auf das Image offenbar keine Auswirkungen.
Moshe Zimmermann betont die Diskrepanz zwischen der eher günstigen Einschätzung der deutschen Politik und der überwiegend kritischen der Deutschen als solche, wobei sich das israelische rechte Parteienspektrum und noch mehr die religiös Orthodoxen als besonders ablehnend erweisen. Er vertritt die Auffassung, daß mit dem Wegfall der „Feindbilder“ der Sowjetunion und (im Falle des erfolgreichen Abschlusses des Friedens-prozesses) auch der Araber das gegen die -mit der Schoah (Katastrophe) den Antisemitismus schlechthin verkörpernden -Deutschen gerichtete Feindbild übrigbleiben und sich so sogar noch verstärken könnte. Das wäre folgenschwer, denn die Bilder, die zwei Staaten sich voneinander machen, haben wechselseitige Wirkungen. Der gefährliche „sekundäre“ (nicht zu verwechseln mit dem „latenten“) Antisemitismus in Deutschland -so etwa nach dem Motto „Wenn Du mich nicht magst, mag ich Dich auch nicht“ -scheint hier von Belang. Einen möglichen Circulus vitiosus gilt es tunlichst zu vermeiden. In Demokratien bedarf gute Politik auf Dauer eines allgemeinen Konsenses.
VII.
Abschließend ein Wort zur immer wieder gestellten Frage nach der „Normalität“ der deutsch-israelischen Beziehungen -was auch immer unter diesem Begriff im einzelnen verstanden werden kann. Der demoskopische Befund in Israel lautete 1994: 58, 2% bejahten, 24, 6% verneinten sie (1982 noch 31, 3 bzw. 30, 0%; am günstigsten war das Verhältnis 1990 mit 62, 5 bzw. 21, 8%). Im Zeitverlauf haben sich die Motivationsmuster gewandelt und differenziert. Die Zeit heilt, so heißt es. Das hat gewiß auch im vielschichtigen Beziehungsrahmen unserer beiden Staaten und Völker Gültigkeit, doch muß es ständig hinterfragt werden.
Es ist eine Tatsache, daß heute nur noch eine kleine Minderheit der Deutschen in die Geschehnisse der Nazizeit verstrickt sein kann. Verstrickung bedeutet ja nicht notwendigerweise „Schuld“, doch hatten die meisten der damaligen Erwachsenen in verschiedenen Abstufungen jedenfalls durch Nichtstun dem gnadenlosen Regime so oder so Vorschub geleistet. Und ohne einen relevanten Antisemitismus wäre der Holocaust auch als „Nacht-und-Nebel“ -Aktion nicht möglich geworden. Das hatte Helmut Kohl mit dem -im übrigen gar nicht von ihm selbst, sondern von Günter Gaus stammenden -Wort von der „Gnade der späten Geburt“ gemeint, für das er zu Unrecht gerügt worden ist. Kritik wäre nur angebracht gewesen, wenn er damit gemeint hätte, das Geschehene sei unvermeidlich, sozusagen schicksalsbedingt gewesen, oder wenn er daraus den Schluß hätte ziehen wollen, die Spät-geborenen brauchten für die Väter nicht einzustehen. Kohl hat beides nie gesagt oder sagen wollen -ganz im Gegenteil, wie zahlreiche seiner Äußerungen belegen. Für die jüngeren Deutschen ist es einfacher, der historischen Wahrheit ins Auge zu sehen, als für die alten, und sie vermögen sich mit ihr mangels persönlicher Verstrickung unbefangener auseinanderzusetzen. Die wegweisende Rede Richard von Weizsäckers vom8. Mai 1985 hätte Theodor Heuss als erster Bundespräsident so nicht halten können. Das ist -für alle Beteiligten -jedenfalls auf Dauer wohl das wichtigste „heilende“ Element, um auf das zitierte Axiom zurückzukommen.
Bei den Juden andererseits leben immer weniger der Katastrophe unmittelbar Entronnene oder solche, die engste Verwandte in den Todeslagern verloren haben. Die Jüngeren sind nicht mehr in der gleichen Weise persönlich involviert wie die Älteren mit all ihren Traumen. Gleichwohl sind in Israel demoskopisch hinsichtlich des allgemeinen Deutschland-oder besser: des Deutschenbilds bei den Nachwachsenden keine wesentlichen Unterschiede im Vergleich zur Opfergeneration feststellbar, übrigens auch nicht bei den aus dem Orient stammenden Juden, die von der Schoah nur marginal betroffen waren. Das muß denen zu denken geben, die einer endlichen völligen „Normalisierung“ das Wort reden. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß unser Verhältnis zu weiten Teilen der amerikanischen Judenheit allgemein noch erheblich weniger „normal“ ist als zu Israel
Wesentliche Voraussetzung dafür, daß die heilende Wirkung der Zeit als allgemein gültige menschliche Erfahrung dem Verhältnis unserer beiden Völker zugute kommt, ist, nur vordergründig paradoxerweise, daß das Gedenken des Geschehenen auch bei uns lebendig bleibt. Die Juden sind stärker ihrer -überwiegend traumatischen -Geschichte verhaftet als andere. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch von Staatspräsident Yitzhak Navon mit deutschen Schülern 1982 in Jerusalem, bei dem er, belustigt und ernst zugleich, erzählte, seine kleine Tochter habe ihm Vorhaltungen gemacht, weil er mit dem italienischen Botschafter zu Mittag gegessen habe, und das sei von ihr mit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer begründet worden.
Das Wachhalten der Erinnerung ist für die Juden ein Anliegen von hochrangiger Bedeutung, das wir verstehen müssen. Inwieweit es sich angesichts des Holocausts allgemein -noch -gegen uns als Deutsche richtet, hängt entscheidend davon ab, wie wir uns der Vergangenheit stellen. Ein wesentliches Kriterium hierfür ist unser Verhältnis zum Staat Israel. Es hat sich im Zeitablauf und durch das, was in jahrzehntelangen Bemühungen aufgebaut werden konnte, in vielem normalisiert, was vor allem im Abbau gegenseitiger Befangenheit zum Ausdruck kommt. Es wird jedoch auf absehbare Zeit kein „normales“ Verhältnis sein können. Wir Deutsche sollten dies auch deshalb nicht anstreben, weil uns ja durchaus daran liegt, die -„besonders“ gewachsene -Intensität unserer Beziehungen aufrechtzuerhalten. Je gelassener wir diese Besonderheit anerkennen, desto stärker werden sich die Verbindungen im täglichen Miteinander weiter normalisieren.