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Der schwierige Anfang nach der „Endlösung“ | APuZ 16/1995 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1995 Artikel 1 Erinnerungen an die Frühzeit des Brückenschlags Der schwierige Anfang nach der „Endlösung“ Normalisierung und Einzigartigkeit. Deutschland und Israel drei Jahrzehnte nach dem Botschafteraustausch Die Bedeutung des Palästinenser-Problems für die deutsch-israelischen Beziehungen Die Beziehungen der Europäischen Union zu Israel

Der schwierige Anfang nach der „Endlösung“

Michael Wolffsohn

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Israels Existenz ist ein Störfaktor der deutschen Außenpolitik, der deutschen Politik schlechthin. Sie konfrontiert nämlich die Deutschen nicht nur mit ihrer nationalen, sondern vor allem mit ihrer nationalsozialistischen Geschichte. Normale, das heißt pragmatisch bestimmte staatliche Interessenpolitik wird im Heute durch das gegenwärtige, nicht vergehende Gestern erschwert, manchmal sogar unmöglich. Die Politik von Staaten unterscheidet sich auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur eigenen Vergangenheit: Sie kann versuchen, die Geschichte nicht zu beachten und sich an den Interessen der eigenen Gegenwart orientieren („Tagespolitik“). Die Politik kann aber auch ihre geschichtliche Erfahrung ihrem Handeln voraussetzen, sich mit diesem Handeln auf die eigene Geschichte beziehen („Geschichtspolitik“). Dieser Beitrag beschreibt die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel in den Jahren 1949-1969. Die Nicht-Beziehungen zur DDR werden hier nicht erwähnt. Drei Phasen der frühen bundesdeutsch-israelischen Beziehungen werden dargestellt: -die Periode der Wiedergutmachung von 1949 bis 1953/55; -die Jahre von 1955 bis 1965, in denen die Beziehungen zwischen Geschichts-und Tagespolitik schwankten, sowie -die „Wende“ zur „Normalität“ mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in der Spätphase der Regierung von Bundeskanzler Ludwig Erhard sowie während der Großen Koalition unter Kiesinger und Brandt.

Israels Existenz ist ein Störfaktor der deutschen Außenpolitik, der deutschen Politik schlechthin. Sie konfrontiert die Deutschen nicht nur mit ihrer nationalen, sondern vor allem auch mit ihrer nationalsozialistischen Geschichte. Normale, das heißt pragmatisch bestimmte staatliche Interessenpolitik wird im Heute durch das gegenwärtige, nicht vergehende Gestern erschwert, manchmal sogar unmöglich.

Die Politik von Staaten unterscheidet sich auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur eigenen Vergangenheit: Sie kann versuchen, die Geschichte nicht zu beachten und sich an den Interessen der eigenen Gegenwart orientieren. Wir nennen das im folgenden Tagespolitik. Die Politik kann aber auch ihre geschichtliche Erfahrung ihrem Handeln zugrunde legen, sich mit diesem Handeln auf die eigene Geschichte beziehen. Wir sprechen dann von Geschichtspolitik.

Der Rückgriff auf die Geschichte wird innen-und außenpolitisch wirksam, er bestimmt die Selbstdarstellung und Identität eines Staates sowie seiner Bürger mit Wir beschränken uns auf die Darstel-lung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel. Deshalb werden die Nicht-Beziehungen zur DDR hier nicht erwähnt. Sie sind Gegenstand einer eigenen Untersuchung

I. Wiedergutmachung, 1949-1953/55

In den ersten Jahren bundesdeutscher Existenz war die Begegnung mit der Vergangenheit durch Entschädigung und Wiedergutmachung finanzpolitisch eine Bürde, doch außenpolitisch verlieh sie dem neuen (West-) Deutschland Würde. Das Ansehen der jungen Republik und ihres Kanzlers stieg nicht zuletzt deswegen, weil die Wiedergutmachung freiwillig und ohne amerikanischen Druck geleistet wurde. Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die Gesellschaft der westlichen Staaten in den fünfziger Jahren war eine Folge des Kalten Krieges, nicht das Ergebnis der Wiedergutmachung an Israel und den Juden. Obwohl also keine Eintrittskarte, erleichterte die Bereitschaft zur Sühne diesen Eintritt zumindest atmosphärisch. Die Bundesrepublik Deutschland betrat den Salon der internationalen Gemeinschaft keineswegs im gebückten Gang oder im Büßergewand. Betrachten wir kurz den geschichts-und israelpolitischen Aspekt ihres Eintritts: Im Januar und März 1951 hatte die israelische Regierung die vier Siegermächte wissen lassen, daß sie von West-und Ost-Deutschland materielle Wiedergutmachung verlange. Direkte Verhandlungen mit den Deutschen lehnte sie ab. Die Sowjetunion reagierte (offiziell) gar nicht, und die Westmächte verwiesen Jerusalem an Bonn, das erst aufgewertet und dann aufgerüstet werden sollte; eine geschichtspolitische Provokation des Westens Israel gegenüber. Auch in den folgenden zwei Jahren, bis zur Ratifizierung des Wiedergutmachungsabkommens durch den Bundestag am 18. März 1953, konnte die Bundesregierung erhobenen Hauptes den Israelis und Diasporajuden entgegentreten, denn Interesse und Einsatz der westlichen Regierungen, der Medien und der Öffentlichkeit blieben vor, während und nach den schwierigen Verhandlungen äußerst gering. Vor und nach dem Israel-Vertrag war Westdeutschlands Ansehen so gut, benötigte der Westen das neue Deutschland so sehr, daß es der Wiedergutmachung nicht bedurfte, um gesellschaftsfähig zu werden.

Geschichtslegenden, genährt von einer seltsamen Koalition aus deutschen und arabischen Gegnern der Wiedergutmachung sowie israelischen und einigen disaporajüdischen Historikern, behaupten das Gegenteil: Ihnen zufolge hätten besonders die USA Druck auf Bonn ausgeübt. Doch davon kann keine Rede sein. Washington wußte, daß Westdeutschlands Wiederbewaffnung und die Wiedergutmachung viel Geld kosten würden; Geld, das Bonn möglicherweise nicht aufbringen könnte und das die USA schließlich zahlen müßten. Das wollten die Amerikaner verhindern. Wiederbewaffnung und Wiedergutmachung, so schien es, waren nicht möglich; die Wiederbewaffnung hielten die USA für wichtiger, und deswegen bremsten sie das israelisch-jüdische Wiedergutmachungsdrängen Um das für den Aufbau des Staates dringend benötigte Geld trotzdem zu erhalten, mußte Jerusalem dem Willen der Westmächte entsprechen und sich direkt an Bonn wenden

Als Bedingung für öffentliche und direkte deutsch-israelische Kontakte beharrte die Regierung von Ministerpräsident David Ben-Gurion auf einem öffentlichen Schuldbekenntnis des Bundeskanzlers. Mehr noch: Er sollte sich in bezug auf den Holocaust zur Kollektivschuld der Deutschen bekennen. Das Schuldbekenntnis des bundesdeutschen Regierungschefs erfolgte am 27. September 1951 vor dem Bundestag. Von deutscher Kollektivschuld war darin jedoch nicht die Rede. Um jedes Wort dieser als Adenauer-Initiative verpackten Erklärung hatten Israelis und Deutsche zuvor wochenlang hinter den Kulissen gerungen, und stets hatte sich der Kanzler geweigert, eine deutsche Kollektivschuld anzuerkennen oder gar zu erwähnen. Er setzte sich durch.

Massive und zum Teil polemische Kritik an der Wiedergutmachung kam weniger aus den Reihen der parlamentarischen Opposition als vielmehr aus der Regierungskoalition, denn die SPD-Fraktion im Bundestag unterstützte den Kanzler hierbei vorbehaltlos. CSU, FDP und Deutsche Partei (DP) jedoch zeigten sich mehr als nur reserviert. Besonders wurde auf die begrenzte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Westrepublik hingewiesen: Tagespolitik, nicht Geschichtspolitik bestimmte die Diskussion. Wiedergutmachung, Wiederbewaffung und die Bezahlung der fälligen Auslandsschulden könne man nicht zugleich leisten; die Wiederbewaffnung und das Begleichen der Auslandsschulden, so Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) Anfang 1952 im Kabinett, hätten Priorität und seien außenpolitisch ebenfalls erwünscht.

Man konnte also gegen die Wiedergutmachung polemisieren und stand trotzdem auf der historischen Sonnenseite. Im Zeichen des Kalten Krieges befürworteten die historisch unbelasteten Westmächte Westdeutschlands Wiederaufrüstung, und außerdem sahen sie das Geld der Westdeutschen lieber in der eigenen Staatskasse als im israelischen Säckel; das gaben sie unumwunden den Deutschen und den Israelis gegenüber zu. Als sich Israels Ministerpräsident Ben-Gurion im Frühjahr 1951 darüber beklagte, daß es den Deutschen, dem Volk der Täter, besser gehe als den Israelis, dem Volk der Opfer, entgegnete ihm der Leiter der Deutschlandabteilung im amerikanischen Außenministerium unbeeindruckt: „Das sind unsere Prioritäten.“

Wir sollten die Argumente der Wiedergutmachungsgegner ausführlicher wiedergeben, um Adenauers Leistung besser einordnen zu können. Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) war es ebenso wie Fritz Schäffer gelungen, in brauner Zeit eine weiße Weste zu behalten. Trotzdem (oder gerade deswegen?) hegte er seine Zweifel über eine Bevorzugung der Juden und Israels bei der Wiedergutmachung; sie müsse „allen Wünschen Rechnung" tragen, jüdischen ebenso wie nichtjüdischen. Man könne beispielsweise einen Bauern, der von den Nationalsozialisten enteignet und durch „Arisierung“ entschädigt wurde, nicht dadurch bestrafen, daß man ihm nun das einst jüdische Eigentum im Rahmen der Wiedergutmachung entwende, erklärte er am 26. Februar 1952 im Kabinett.

In seiner Ablehnung der Wiedergutmachung entwickelte Finanzminister Schäffer ebensoviel Phantasie wie mangelndes politisches Fingerspitzengefühl: Da für eine Wiedergutmachung an Israel ohnehin keine Haushaltsmittel zur Verfügung stünden, käme nur eine internationale Dollaranleihe in Frage, eröffnete er am 7. März 1952 Franz Böhm (CDU), dem späteren Leiter der deutschen Delegation bei den Verhandlungen über eine Wiedergutmachung an Israel. Böhm war ein energischer, kämpferischer Befürworter der Wiedergutmachung. Die Aussichten für eine solche Anleihe beurteilte Schäffer als „nicht schlecht“. Die „amerikanischen Juden würden zur Zeit durch Druckmittel aller Art ganz ungewöhnlich stark zu freiwilligen Leistungen 1 für den Aufbau des Staates Israel herangezogen. Diese Kreise würden wahrscheinlich geneigt sein, eine der Bundesrepublik zum Zwecke der Wiedergutmachungsleistungen an Israel zu gewährende Anleihe zu zeichnen, um auf diese Weise ihre Inanspruchnahme durch Israel zu limitieren.“

Zunehmend mehr verkamen die geschichtspolitischen Motive zu rein finanzpolitischem Schachern. Hermann Josef Abs, Bonns Delegationsleiter bei den Verhandlungen über die Auslandsschulden, erklärte am 5. April 1952 in Anwesenheit des Bundeskanzlers, „den Israelen (!) müsse klar gemacht werden, daß ... nicht mehr als zehn bis fünfzehn Millionen Dollar“ jährlich in Frage kämen, „und nicht, wie sie erwarteten, zweihundert Millionen. Die Härte der Enttäuschung werde nur herausgeschoben, aber niemals aufgehoben werden können.“ Vizekanzler Blücher (FDP) befürwortete Wiedergutmachung an Einzelpersonen, nicht aber dem Staat Israel gegenüber. „Nur für das jüdische Problem“ sei bei den bestehenden Forderungen mit zehn Milliarden Mark zu rechnen. Ohne Inflation könne man die auf Westdeutschland zukommenden Ausgaben, von denen die Wiedergutmachung eben nur eine (und für ihn keinesfalls die wichtigste) war, nicht leisten, behauptete er am 20. Mai 1952 im Kabinett. Er sah bereits die „Gefahr eines neuen Antisemitismus“ am politischen Horizont aufziehen. Blücher betrachtete also die Wiedergutmachung nicht als Sühne für, sondern als neuen Auslöser von Antisemitismus, und ähnlich argumentierte Finanzminister Schäffer auf der Kabinettssitzung am 17. Juni 1952.

Die Ergebnisse der bundesdeutschen Umfragen, besonders die heftige Ablehnung der Wiedergutmachung durch die Anhänger der damals eher deutschnationalen FDP, lassen vermuten, daß sich Blücher auf seine eigene politische Klientel bezog. Während 44 Prozent der Bundesdeutschen die Wiedergutmachung für „überflüssig“ hielten, vertraten 57 Prozent der FDP-Anhänger diese Auffassung. An seine eigene Hausmacht dachte auch Verkehrsminister Seebohm (Deutsche Partei, später CDU). Dessen Ja-Aber war eine Mischung aus Weltpolitik, Kirchturmpolitik, Vertriebenen-politik, Antikommunismus, Sühnebereitschaft, Rücksichtnahme auf die eigene Gruppe sowie Empfindungslosigkeit gegenüber fremden Völkern; vor allem aber war es handfeste Realpolitik. Der aus dem Sudetenland stammende Verkehrsminister befürwortete in einem Brief an Böhm im Mai 1952 grundsätzlich die „Notwendigkeit deutscher ausreichender Wiedergutmachungsleistungen an die Judenschaft in der Welt, zu der auch der Staat Israel, aber ebenso andere jüdische Mitmenschen und Vereinigungen gehören“. Er versprach sogar, dies mit aller „zur Verfügung stehenden Kraft“ zu vertreten, hielt allerdings „die Erfüllung einer solchen sittlichen Pflicht“ nur dann für gerechtfertigt, „wenn dadurch nicht anderen Menschen dafür Opfer ähnlicher Art (was er wohl damit meinte? M. W.) auferlegt werden. ... So steht also für mich die Frage der Erfüllungsmöglichkeit der deutschen Verpflichtung gegenüber der Judenschaft in engem Zusammenhang mit der Aufgabe, unser Volk und damit Europa gegen ein weiteres Vordringen bolschewistisch-asiatischer Tendenz zu sichern. Dort, wo diese Aufgabe in ihrer Erfüllung bedroht ist, endet zur Zeit auch die moralische Verpflichtung jeder Wiedergutmachung.“ Das hieß im Klartext: Wiederbewaffnung statt Wiedergutmachung.

Der Verknüpfung mit seinem allgemeinpolitischen Ziel folgte das Interesse des Vertriebenenpolitikers: „Wenn ich jederzeit bereit bin, die sittliche Wiedergutmachungspflicht gegenüber der Judenschaft anzuerkennen, so kann ich das nur tun, wenn auch die übrigen Kräfte in der Welt bereit sind, ihre sittliche Wiedergutmachungspflicht gegenüber den deutschen Heimatvertriebenen zu erfüllen. .. Für mich stehen die Freiheit, die Würde des Menschen und das Recht auf Heimat absolut gleichwertig nebeneinander... Wer einen Menschen in diesen Rechten kränkt oder sie ihm gar nimmt, begeht das schwerste Verbrechen, das überhaupt begangen werden kann..., und es ist gleichgültig, ob am Ende eines Raubes die Auslöschung der physischen Existenz steht, auf die es nicht so ankommt, wie auf den Willen, diese unbedingten Voraussetzungen unbedingten Menschentums für einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen zu vernichten. Die Methoden, die seitens der nationalsozialistischen Führung gegen die Juden angewandt wurden und die wir alle auf das erbittertste verurteilen, stehen deshalb durchaus den Methoden zur Seite, die gegen die deutschen Heimatvertriebenen angewandt worden sind.“ Seebohm setzt Holocaust und Vertreibung gleich, die Leiden werden gegeneinander aufgerechnet und so rhetorisch das eine durch das andere entschärft.

Mit nur fünf gegen vier Stimmen billigte das Kabinett am 11. Juli 1952 den Betrag von 500 Millionen Mark für die verschiedenen, in der „Claims Conference“ zusammengefaßten diasporajüdischen Organisationen. Außer Schäffer opponierten Bundesratsminister Heinrich Hellwege (Deutsche Partei), Justizminister Dehler und der Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser (CDU-Sozialausschüsse, also linke CDU). Adenauer versuchte, die Wiedergutmachungsskeptiker und -gegner, also die Opposition innerhalb der Regierung, mit moralischen und nicht zuletzt auch mit wirtschaftspolitischen Überlegungen zu überzeugen: Die Juden der Welt, besonders die amerikanischen Juden, verfügten über großen wirtschaftlichen Einfluß; ihr Wohlwollen käme auch der deutschen Exportwirtschaft zugute. In den Kabinettsprotokollen und in den Aufzeichnungen über die entscheidenden Sitzungen der jeweiligen Bonner Runden ist dieser Hinweis immer wieder zu finden. Als Finanzminister Schäffer den Kanzler im Kabinett am 17. Juni 1952 darauf hinwies, daß die Wiedergutmachungspolitik unpopulär sei und der Union Wählerstimmen kosten könnte, überhörte Adenauer diese innenpolitische Warnung und erörterte außenpolitische Fragen, wie zum Beispiel die Wiedergutmachungserwartungen der USA, die allerdings viel zurückhaltender geäußert worden waren, als sie vom Kanzler aufgenommen wurden.

Daß die Wiedergutmachung tatsächlich außerordentlich unbeliebt war, ist durch Umfragen belegt; nur elf Prozent der Bundesbürger befürworteten sie, knapp die Hälfte lehnte sie ab. Das fügt sich jedoch zu einem Gesamtbild, wenn man berücksichtigt, daß damals noch rund zehn Prozent der Westdeutschen Hitler für einen bedeutenden Staatsmann hielten.

Adenauer nahm innenpolitische Risiken auf sich, zu denen er außenpolitisch keineswegs gedrängt wurde; demütigen oder pauschal verurteilen lassen wollte er freilich weder die Deutschen noch sich selbst. Eine Mischung aus Sühnebereitschaft und Selbstbewußtsein kennzeichnete seine Geschichtspolitik gegenüber Israel und den Juden. Das zeigt beispielsweise sein Auftreten kurz vor der Unterzeichnung des „Luxemburger Abkommens“ über die Wiedergutmachung. Ursprünglich war vorgesehen, daß nach der Ünterzeichnung Ansprachen gehalten werden sollten. Am Vorabend erhielt der Kanzler den Text der Rede, die Israels Außenminister Scharett zu halten gedachte. Adenauer fand sie, so sein Intimus Blankenhorn, zu „alttestamentarisch“; der Kanzler verlangte Änderungen, die akzeptiert wurden. Schließlich einigte man sich trotzdem darauf, überhaupt keine Reden zu halten.

Nahostpolitische Balanceakte wegen des bevorstehenden Israel-Vertrages zu vollführen, hielt das Kabinett noch am 22. August 1952 nicht für notwendig. Wiedergutmachungsgegner und -befürworter waren sich einig, daß eine „Spende für die arabischen Flüchtlinge aus Palästina“ „unzeitgemäß“ sei. Doch eine Woche später erhob Vizekanzler Blücher in Anwesenheit Adenauers „schwere Bedenken wegen der Rückwirkung des Vertrages auf die arabischen Staaten“. Die gleichen Bedenken äußerten die Vertreter der Koalitionsfraktionen von Brentano (CDU/CSU), Schäfer (FDP) und Merkatz (Deutsche Partei) auf der entscheidenden Sitzung des Bundeskabinetts am 8. September 1952, zwei Tage vor der geplanten Unterzeichnung.

Adenauer -und Staatssekretär Hallstein vom Auswärtigen Amt -schoben diese Bedenken beiseite, und schließlich stimmte außer Finanzminister Schäffer nur noch Arbeitsminister Storch (CDU-Sozialausschüsse) gegen das Wiedergutmachungsabkommen. Nein, versöhnungsunwillig oder gar antisemitisch waren die regierungsinternen Gegner des Wiedergutmachungsabkommens nicht. Sie opponierten manchmal durchaus heftig und nicht selten historisch unsensibel, wilhelminisch-polternd, zumindest germanozentrisch. Man denke nur an Seebohms Gleichsetzung von Vertreibung und Holocaust und Blüchers Forderung nach Wiedergutmachung auch für „Nichtarier“. Ernsthafte Zweifel an der Durchführbarkeit, vor allem an der Finanzierbarkeit der Absichten des Kanzlers standen im Mittelpunkt dieser Kritik. Daß Adenauer die finanzpolitischen Probleme außer acht gelassen hatte, war seine Stärke und Schwäche zugleich. Der Wortführer der Opposition gegen die Wiedergutmachung, Fritz Schäffer, vermied jedwede proarabische Liebedienerei zugunsten der traditionellen deutsch-arabischen Freundschaft. Seine Mitopponenten waren hierbei nicht so konsequent, und nach der Unterzeichnung des Abkommens versuchte Bonn, den guten Willen der Araber durch Wirtschaftshilfen zu erkaufen.

Die arabischen Staaten, die seit Oktober 1952 alle Hebel in Bewegung setzten, um die Ratifizierung des Luxemburger Abkommens durch den Bundestag zu verhindern, ordneten Adenauers Selbstbe9 wußtsein historisch falsch-ein; sie vermuteten dahinter altdeutschen, antiwestlichen Trotz. Sie glaubten außerdem (wie viele Deutsche damals und heute), daß Adenauer nur aufgrund amerikanischen Drucks Wiedergutmachung an Israel leisten wollte. Ihre Delegation, die Bonn damals besuchte, erinnerte daher hinter den Kulissen an deutsch-arabische Gemeinsamkeiten der inzwischen politisch falschen Art: an den gemeinsam gegen den Westen verlorenen Zweiten Weltkrieg, an gemeinsame antijüdische Ressentiments, die nur angedeutet wurden, doch unmißverständlich waren. Die internen Berichte darüber, wie Staatssekretär Hallstein vom Auswärtigen Amt im Auftrag von Bundeskanzler (und Außenminister) Adenauer dieser Abordnung die Tür wies, sind eindeutig und dokumentieren die selbstgezogenen Grenzen der frühen bundesdeutschen Nahostpolitik; sie dokumentieren zugleich die ersten israel-politisch bedingten Probleme bundesdeutscher Außenpolitik.

II. Zwischen Geschichts-und Tagespolitik, 1955-1965

Im Mai 1955 wurde die Bundesrepublik Deutschland souverän, die Verflechtung von Geschichtsund Alltagspolitik wurde bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Jerusalem im Jahre 1965 allerdings noch komplizierter: Diplomatische Beziehungen zu Israel hätten Bonns Anspruch auf die gesamtdeutsche Alleinvertretung gefährdet (Hallstein-Doktrin), denn die arabischen Staaten drohten ihrerseits mit der Anerkennung der DDR; außerdem kündigten sie für diesen Fall einen Boykott der bundesdeutschen Wirtschaft an.

Hinzu kam folgende delikate Situation: Seit Mitte der fünfziger Jahre war der Einfluß der USA, Großbritanniens und Frankreichs in der arabischen. Welt gesunken. Damit der Westen nicht völlig aus dem Nahen Osten verdrängt würde, beknieten diese Staaten die Bundesrepublik geradezu, intakte Beziehungen zur arabischen Welt aufrechtzuerhalten und diese nicht durch die Aufnahme diplomatischer oder die demonstrative Pflege besonderer Beziehungen zu Israel aufs Spiel zu setzen. Bonn sei aufgrund der traditionellen deutsch-arabischen Freundschaft bestens geeignet, die Interessen des Westens in dieser Region zu vertreten.

Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an: Im Auftrag des Westens -also der einstigen Kriegs-gegnerHitlers -stand Westdeutschland auf der Sonnenseite der Tagespolitik und sollte sich dabei auf die Schattenseite der deutschen Geschichte, das heißt auf die einstige Zusammenarbeit von Arabern und Hitler-Deutschland berufen. Durch diesen Persilschein der Westmächte wurden nun auch die meist im Auswärtigen Amt sitzenden Befürworter einer aktiveren Bonner Arabienpolitik legitimiert, die auf Kosten Israels gehen sollte und mußte. Dies versuchte Adenauer, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Auswärtigen Amt, zu verhindern: Er pflegte besondere, seit 1957 insgeheim auch militärische Beziehungen zu Israel, ohne diplomatische aufzunehmen: fast die Quadratur des Kreises. Seinem Nachfolger Erhard, der diese Politik weiterverfolgen wollte, fehlte dann allerdings das Geschick und das Glück „des Alten“.

Daß Israel ein Störfaktor der bundesdeutschen Außenpolitik blieb, zeigte sich erneut 1956/57 in den Monaten der Suezkrise. Israel weigerte sich trotz amerikanischer und sowjetischer Aufforderungen, die im November 1956 eroberte Sinai-Halbinsel zu räumen. Um den Druck auf Jerusalem zu verstärken, wandte sich US-Außenminister Dulles an seinen Freund Adenauer und bat ihn, die Zahlung der Wiedergutmachungsgelder so lange einzufrieren, wie sich Jerusalem sperrte, das besetzte Gebiet zu räumen.

Adenauer lehnte dieses Ansinnen ab: Die Wiedergutmachung sei eine grundsätzliche, die Räumung der Gebiete eine tagespolitische Frage. Er nahm zugunsten seiner Israelpolitik Schwierigkeiten mit dem wichtigsten Bündnispartner, den USA, und dem persönlichen Freund, Dulles, in Kauf. Der Kanzler ließ den geschichtspolitischen Zug immer noch und freiwillig auf dem Gleis der Vergangenheit fahren, obwohl in dieser Situation ein Wechsel auf das Gleis der Gegenwart möglich gewesen wäre. Das ehrt Adenauer zweifellos, doch rein pragmatisch betrachtet, wird unsere These erneut bestätigt. . Israel erwies sich als Störfaktor bundesdeutscher Außenpolitik, wenngleich die Schatten der deutsch-jüdischen Vergangenheit durch diesen geschichtspolitischen Sonnenschein verschwanden -für kurze Zeit. Sie wurden 1959/60 erneut sichtbar: Begonnen hatte es mit der Diskussion über die Rolle von Vertriebenenminister Oberländer bei einer Mordaktion im Zweiten Weltkrieg. Dann schmierten politische Rowdies, einige -doch wahrhaftig nicht alle -von der DDR angeheuert, landauf, landab Hakenkreuze, schändeten jüdische Friedhöfe und lösten besonders im Ausland einen Aha-Effekt aus: So neu, wie es sich gab, war (West-) Deutschland offenbar doch nicht. Unerwartete Hilfe kam ausgerechnet aus dem Nahen Osten, aus Israel: Ministerpräsident David Ben-Gurion erklärte öffentlich allen, die es hören und -in Israel -eher nicht hören wollten, daß er trotz der Kampagne altdeutscher Politmaler an das neue Deutschland glaube. Er war im Januar 1960 sogar bereit, gemeinsam mit Adenauer in Fernsehen und Rundfunk hierüber zu sprechen. Bundes-außenminister von Brentano riet seinem Kanzler ab, da ein derartiges Medienereignis die Beziehungen zur arabischen Welt trüben würde und die Schmierereien ohnehin abnähmen. Der Außenminister hielt die nahostpolitische Last für schwerer als die geschichtspolitische Bürde. Wieder versuchte Adenauer die Quadratur des Kreises: Er verzichtete auf den Medienauftritt, traf sich mit Ben-Gurion am 14. März 1960 im New Yorker Hotel Waldorf Astoria -ohne öffentliche Vorankündigung -und erhielt auf diese Weise trotzdem den geschichtspolitischen Persilschein aus Israel. Diese Entlastung durch Israel war letztlich der Gewinn aus der geschichtspolitischen Investition Adenauers. Und die ganz pragmatische, damals wie heute gültige Lehre daraus: Die Sühne für das Gestern ist keineswegs nur Belastung, sie kann durchaus auch Entlastung im Heute bringen.

Zum Nulltarif war dieser Persilschein jedoch nicht erhältlich. Die beiden alten Herren tauschten in New York nicht nur Freundlichkeiten aus, sie redeten auch Tacheles miteinander. Ben-Gurion erwartete Gegenleistungen, und Adenauer war einverstanden: mit Finanzhilfen und -streng geheim zwei Wochen vorher zwischen Verteidigungsminister Strauß und dem damaligen stellvertretenden israelischen Verteidigungsminister Shimon Peres vereinbart -mit Waffenlieferungen, die, so die beiderseitige Bewertung, die Sicherheit Israels stärken und damit Deutschlands Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Staat entsprechen würden. 1962 wurde auf Betreiben der USA ein umfangreicheres Abkommen über Waffenlieferungen informell, das heißt mündlich, geschlossen.

Adenauer, der Geschichtspolitiker, nicht Brentano, der Tagespolitiker, sollte recht behalten, und der Persilschein erwies sich schon bald als außerordentlich nützlich: Nur zwei Monate nach dem Treffen zwischen Adenauer und Ben-Gurion, im Mai 1960, warf die Vergangenheit erneut ihre Schatten auf die deutsch-israelischen Beziehungen: Die Entführung Adolf Eichmanns erneuerte die innerdeutsche sowie die deutsch-jüdisch-israelische Diskussion über die deutsche Vergangenheit; der einstigen, nach 1945 verordneten, folgte nun erstmals eine zwar umstandsbedingte, aber doch eher freiwillige Vergangenheitsbewältigung:

Intensiver und mit weniger Selbstmitleid betrachtete man die braune Epoche, untersuchte sie wissenschaftlich und weniger beschönigend oder entschuldigend; Gerichtsverfahren gegen nationalsozialistische Verbrecher, zum Beispiel der „Auschwitz-Prozeß“, wurden beschleunigt eingeleitet, und die Theaterwelt setzte sich 1963 mit Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ oder 1965 mit Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ auseinander. Hochhuths Drama geißelte die Rolle des Papstes und damit der Kirche während des Holocaust, und Peter Weiss bearbeitete den Auschwitz-Prozeß für die Bühne. Die Anerkennung der neudeutschen Leistungen durch Ben-Gurion war dabei durchaus hilfreich. Sie widerlegte die Behauptung der Alt-und Neugestrigen, Deutschland könne es trotz Wiedergutmachung Israel und den Juden nie recht machen.

Tatsächlich konnte durch das Verhältnis der beiden alten Herren, Ben-Gurion und Adenauer, manche schwierige Situation aufgefangen werden: die Entführung Eichmanns durch die Israelis im Mai 1960, der Eichmann-Prozeß 1961 und auch die seit 1962 öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung über die Tätigkeit deutscher Raketenexperten in Ägypten. Wie zuvor bei der Wiedergutmachung erwies sich der Bundeskanzler keineswegs nur als reuevoller, sondern auch als selbstbewußt auftretender Deutscher. Er bekundete öffentlich sein Mißfallen an der vom israelischen Geheimdienst „Mossad“ inszenierten Entführung Eichmanns aus Argentinien und zeigte sich verärgert, weil die Israelis den Prozeß im eigenen Land durchführen wollten. In bezug auf die deutschen Raketenexperten in Ägypten weigerte er sich beharrlich, dem israelischen Drängen auf gesetzgeberische Maßnahmen nachzugeben. Ein freier Staat könne seinen Bürgern nicht vorschreiben, wo sie sich aufzuhalten hätten oder betätigen könnten. 1963 traten die beiden großen Politiker von der politischen Bühne ab, das Problem der deutschen Raketenexperten in Ägypten blieb, und Ben-Gurions Nachfolger, Levi Eschkol, versuchte Bonn geradezu ultimativ zu gesetzgeberischen Schritten zu bewegen. Er bemühte die Geschichte als Argument und Instrument, wenn er kritisierte, daß ausgerechnet die deutsche Waffenschmiede Israels Sicherheit gefährdete. In dieser aufgeheizten Atmosphäre des Jahres 1964 galt es, ein heißes Problem zu erörtern und zu entscheiden: die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen. Darüber hinaus verlangte Jerusalem immer heftiger die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und eine Verlängerung finanzieller Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik. Und noch ein weiteres Proll blem kam hinzu: Auf israelischen Wunsch hatte US-Präsident Johnson Bundeskanzler Erhard im Juli 1964 gebeten, die Waffenexporte an Israel zu erhöhen und auch Panzer zu liefern. Rückkehr der Raketenexperten, Verjährung, Waffen, Wiedergutmachung und diplomatische Beziehungen -Israel forderte immer mehr, immer energischer und im Ton, seit Ben-Gurions Rücktritt, immer unversöhnlicher und rauher. Am 1. Oktober 1964 meldete die „Frankfurter Allgemeine-Zeitung“, daß „Israel mit Bonn unzufrieden“ sei, und am 20. Oktober bestritt Ministerpräsident Eschkol „der deutschen Politik die moralische Grundlage“.

Viele Indizien deuten darauf hin, daß Israel 1964 zu hoch gepokert hatte. Bis heute ist unbekannt, wer der „Frankfurter Rundschau“ und der „New York Times“ im Herbst 1964 Einzelheiten über bundesdeutsche Waffenlieferungen an Israel mitteilte. Klar war danach, daß die Waffenlieferungen nicht mehr in gleicher Weise weitergeführt werden konnten. Es ist kaum anzunehmen, daß die Indiskretion von Jerusalem ausging, denn weshalb hätten die Israelis die ihnen so wichtigen Waffenlieferungen erschweren oder verhindern sollen? Manches deutet darauf hin, daß vor allem im Bonner Auswärtigen Amt die Israelpolitik als störend für die bundesdeutsche Arabienpolitik empfunden wurde. Außerdem hatten die israelischen Forderungen, besonders deren Ton, empört. Vergessen wir nicht, daß in Bonn zunehmend, und im Wahlkampf 1965 demonstrativ auch im Kanzleramt, der Geist des „Wir sind wieder wer“ einzog.

Trotz aller Indizien ist Vorsicht in bezug auf die Lokalisierung der Indiskretion angebracht, bleiben offene Fragen und Widersprüche, solange nicht alle Dokumente zugänglich sind. Der damalige Bonner Regierungssprecher von Hase wußte in einem vertraulichen „Informationsgespräch mit Chefredakteuren der CDU-Presse“ am 18. Februar 1965 zwar auch nichts Genaues hierüber, aber er verlegte den Ort der Handlung in den Nahen Osten: Weil Bonn aus dein Waffengeschäft ohnehin aussteigen wollte, könnte Jerusalem die Absicht verfolgt haben, die Fortsetzung der Lieferungen seitens der Bundesrepublik zu „erzwingen“. Durch die Bekanntgabe sollte die Bundesrepublik vor den Arabern bloßgestellt und Bonns „Bruch mit der arabischen Welt“ eingeleitet werden; dadurch hätte Deutschland die Möglichkeit gehabt, Israel ganz offen mit Militärgütern zu versorgen. Aber auch ägyptische Erpressungsabsichten hielt von Hase für möglich: Aus der Drohung, als Vergeltung für bundesdeutsche Waffenlieferungen an Israel die DDR anzuerkennen, ließ sich für Kairo im wahrsten Sinne des Wortes Bonner Kapital schlagen. Bundeskanzler Erhard selbst schloß in einem Hintergrundgespräch mit ARD-Chefredakteuren am 22. Februar die Möglichkeit kategorisch aus, daß der Informant „in Bonn sitzt“.

Wer immer die Indiskretion veranlaßt haben mag, Ende Oktober 1964 erfuhren die Zeitungsleser im Zusammenhang, was sie bei aufmerksamer Lektüre zwischen den Zeilen schon längst wissen konnten, doch, wie die meisten Politiker, nicht wissen wollten: Die Bundesrepublik Deutschland hatte ihre Unschuld in bezug auf Waffenlieferungen in Spannungsgebiete längst verloren. Noch Ende 1957 hatte die Bundesregierung öffentlich -im Zusammenhang mit zutreffenden Gerüchten über Waffenlieferungen an Israel -beteuert, sie liefere keine Rüstungsgüter in Krisenzonen; tatsächlich aber hatte sie seitdem im geheimen anders gehandelt.

Kurzfristig wurde im Herbst 1964 aus dem Problemknäuel ein Chaos; die Regierung Erhard schien nur noch mit dem Reparieren von Pannen, nicht aber mit der Gestaltung ihrer eigenen Nahostpolitik beschäftigt zu sein. Kabinett und Regierungsfraktionen sägten am Stuhl des Kanzlers, der eher einen Zick-Zack-Kurs steuerte als die Richtlinien bestimmte, während Außenminister Schröder genau wußte, was er wollte: keine Waffen mehr an und noch keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Am Ende erreichte Israel nur scheinbar alles, was es wollte: Die Raketenexperten wurden durch Lockangebote zur Rückkehr in die Heimat geködert, die Verjährung der nationalsozialistischen Verbrechen verschoben, diplomatische Beziehungen zwischen Bonn und Jerusalem aufgenommen, die Waffenlieferungen durch die USA fortgesetzt, zinsgünstige bundesdeutsche Darlehen dem jüdischen Staat angeboten. Doch all dies geschah 1965/66 in einer durch die Ereignisse vergifteten Atmosphäre, die sogar Adenauer bei seinem Israelbesuch 1966 zu spüren bekam, als er nicht nur von Ministerpräsident Eschkol geradezu rüde behandelt wurde.

Langfristig bahnte sich seit Oktober 1964 eine entscheidende geschichtspolitische Wende an, die den Zeitgenossen im allgemeinen erst viel später bewußt wurde. In der Zeit des „Wir-sind-wiederwer“ -Geistes ließ man sich weniger denn je bieten. Die kurzfristige Verärgerung war schon 1964/65 unüberhörbar. Von Hase bezeichnete im vertrauten Kreis „die israelische Reaktion“ auf das Bonner Anliegen, die Waffenlieferungen zu beenden, als „insgesamt enttäuschend und ohne einen gewissen Teil von Verständnis für unsere Situation“ der arabischen Welt gegenüber. Selbst der wirklich gutmütige und wohlwollende Ludwig Erhard konnte seine Verärgerung zumindest in dem erwähnten Gespräch mit den ARD-Chefredakteuren am 22. Februar 1965 nicht verheimlichen: „Wenn Herr Eschkol der Meinung ist, daß wir gegenüber dem israelischen Volk eine moralische Verpflichtung hätten, die nicht mit einer Waffenlieferung allein erledigt werden kann, dann hat er völlig recht... Aber wir haben keine ewigen Verpflichtungen, Waffen nach Israel zu liefern.“

Gemeinsam mit Fraktionschef Barzel und Franz Josef Strauß, die ihn israelpolitisch stützten, setzte Bundeskanzler Erhard im Frühjahr 1965 die Entscheidung zugunsten der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jerusalem gegen seinen Außenminister Schröder durch. Der Chef des Auswärtigen Amtes meinte zwar, daß sich die Haltung Deutschlands „angesichts der Vergangenheit... gegenüber dem Judentum“ stets „nach moralischen Prinzipien richten“ müsse, doch die „wichtigste menschliche und moralische Aufgabe“ sei die „Politik der Wiedervereinigung in Freiheit“, mahnte er ausgerechnet den Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kurt Scharf, im Dezember 1964. Daß Ludwig Erhard am 22. Februar auf die israelischen Angriffe nur hinter den Kulissen so ungehalten reagierte, mag darauf zurückzuführen sein, daß Ben-Gurion einige Tage zuvor den Kanzler gegen schwere Anschuldigungen öffentlich verteidigt hatte: Solange Adenauers Politik fortgesetzt werde, bleibe sein Vertrauen zu Bonn unverändert. Auch Erhard sei „kein Hitler“, schleuderte Israels ehemaliger Ministerpräsident seinen skeptischen Landsleuten entgegen.

III. Die „Wende“ zur „Normalität“, 1965-1969

Mit dem Botschafteraustausch wurde ein neues Kapitel eröffnet, das wegen der Wehrmachtsvergangenheit von Botschafter Pauls gereizt begann, dann jedoch dank dessen Charme wie ein Honigmond aussah. Bei näherer und besonders rückblickender Betrachtung wird deutlich, daß Rolf Pauls schon im Sommer 1966 in seinen öffentlichen Reden die politische Diskussion zwischen Bonn und Jerusalem erstmals vom Gleis der Vergangenheit auf das Gleis der Gegenwart und Zukunft lenkte, also auf das, was bald darauf vorsichtig und noch sehr zurückhaltend als Normalisierung bezeichnet wurde.

Die Vorsicht der Bundesregierung, ihre Bitte um israelische Nachsicht bei durchaus zugegebenem nahostpolitischem Opportunismus sowie die angestrebte Normalisierung in Form der Neutralität wurden zu Beginn des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 deutlich. Damals regierte in Bonn die Große Koalition; Kurt-Georg Kiesinger (CDU) amtierte als Kanzler, Willy Brandt (SPD) als Außenminister, und nach der Art Adenauers versuchte man die Quadratur des Kreises -diesmal freilich noch widerspruchsvoller: Brandt sprach von der gebotenen politischen Neutralität Bonns einerseits und von der für Deutsche Israel gegenüber unmöglichen „Neutralität des Herzens“ andererseits. Man war also neutral und war es doch wieder nicht, man betrieb interessenbestimmte Alltags-politik, und doch gab man vor, Geschichtspolitik zu betreiben. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit hingegen -das dokumentieren Umfragen -stand erstmals mit Überzeugung auf der Seite des jüdischen Staates.

Lange hatten Adenauer und Erhard die Bevölkerung vergeblich auf einen geschichtspolitisch begründeten proisraelischen Kurs hinzusteuern versucht; 1967 war dieses Ziel erreicht, und jetzt wurde vorsichtig etwas weggesteuert -kaum merklich zunächst. Diese Zurückhaltung gab die seit Oktober 1969 regierende sozialliberale Brandt-Scheel-Regierung auf, eine Tatsache, die oft wegen ihrer Sühnebereitschaft und Demutssymbolik gegenüber Osteuropäern und Juden -man denke an den Kniefall Brandts im Warschauer Ghetto -übersehen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auf Anmerkungen wird in diesem Beitrag aus Platzgründen weitgehend verzichtet. Der essayistische Charakter des Beitrages sei betont, der auf jahrelangen Archivstudien basiert. Zur weiteren Vertiefung der Thematik sei u. a. verwiesen auf die folgenden Veröffentlichungen: Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, München-Zürich 19935; ders., Deutsch-israelische Beziehungen: Umfragen und Interpretation 1952-1983, München 1986; ders., Spanien, Deutschland und die „Jüdische Weltmacht“. Über Moral. Realpolitik und Vergangenheitsbewältigung, München 1991; ders., Deutsch-israelische Beziehungen im Spiegel der öffentlichen Meinung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/84, S. 19-30; ders., Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Eine Untersuchung bundesdeutscher und ausländischer Umfragen, in: Ludolf Herbst (Hrsg.), Westdeutschland 1945-1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, S. 203-218; ders., Das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von 1952 im internationalen Zusammenhang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36 (1988) 4, S. 691-731; ders., Die Wiedergutmachung und der Westen -Tatsachen und Legenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/87, S. 19-29; ders., German Opinions on Israel, 1949-1986, in: Jerusalem Journal of International Relations, 10 (1988) 4, S. 79-106; ders., Globalentschädigung für Israel und Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1988, S. 161-190.

  2. Vgl. Michael Wolffsohn/Stefan Meining, Gutes Deutschland. Juden, DDR und andere Deutsche, Berlin 1995.

  3. In den erwähnten Aufsätzen sind die Literaturhinweise sowie die Auseinandersetzungen mit den gegenteiligen Thesen enthalten.

  4. Vgl. dazu demnächst: Douglas Bokovoy, Das amerikanisch-deutsch-israelische Dreieck, unveröffentlichte Dissertation, Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Sozialwissenschaften, 1995; Peter Münch, Israel als Störfaktor der europäisch-amerikanischen Beziehungen?, unveröffentlichte Dissertation, Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Sozialwissenschaften, 1993; Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration der Ära Adenauer, Hamburg 1994.

Weitere Inhalte

Michael Wolffsohn, Dr. phil., geb. 1947; Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte Israels, zum deutsch-israelisch-jüdischen Verhältnis und zum Nahen Osten.