Die frühen Jahre des israelisch-deutschen Verhältnisses -wobei der Begriff „früh“ unterschiedlich verwendet werden kann -standen im Zeichen fehlender offizieller Beziehungen. Die einzige Ausnahme ergab sich aus dem Abkommen, das Konrad Adenauer 1952, nicht ohne Widerstand in seiner Regierung und Partei, mit Israels Außenminister Moshe Sharett in Luxemburg unterzeichnete, als Zeugnis moralischer Sühne für die Naziverbrechen an den Juden, die keine materielle Entschädigung „wiedergutmachen“ kann. Die Durchführung des Abkommens erstreckte sich auf zwölf Jahre und erforderte die Anwesenheit einer Vertretung von israelischen Fachleuten auf deutschem Boden. Sie wurde 1953 in Köln errichtet, mit der Anweisung an ihre Mitarbeiter, nur solche Verbindungen einzugehen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötig waren. Zurückhaltung war die Losung auch im privaten Rahmen, und Abweichungen waren selten. Von gewissen unverzichtbaren amtlichen Kontakten abgesehen, war der großen Mehrheit der Israelis jeder Gedanke an Beziehungen mit Deutschland -und Deutschen -fremd. Dies galt uneingeschränkt auch für unsere Auslandsvertretungen. Die Diplomaten der Bundesrepublik „existierten“ für ihre israelischen Kollegen nicht. Ein gelegentliches Kopfnicken bei protokollarischen Anlässen des Gastlandes war die Grenze des Erlaubten; was darüber hinausging, von gesellschaftlichem Verkehr ganz zu schweigen, bedurfte der vorherigen Bestätigung Jerusalems. Daß sich die scharfen Vorschriften in der Praxis nicht lange so aufrechterhalten ließen, erscheint heute selbstverständlich. Doch auch, als sie sich allmählich entschärften, unterlag der mehr oder weniger normale Verkehr noch geraume Zeit der Genehmigung der Zentrale, und nicht selten wurde sie verweigert, wenn die Begründung des Gesuchs nicht überzeugte.
Von dem Sonderfall Köln abgesehen, kam die Kontaktinitiative in den ersten Jahren fast immer von deutscher Seite. Meist war sie nicht die Folge einer Weisung aus Bonn, sondern spiegelte den ehrlichen Wunsch wider, mit Israelis ins Gespräch Beitrag aus; Recht und Wahrheit bringen Frieden. Festschrift aus Israel für Niels Hansen, hrsg. von Shmuel Bahagon, Bleicher Verlag, Gerlingen 19944. zu kommen. Keineswegs alle, an die sich der Wunsch richtete, bemühten sich um die erforderliche Erlaubnis, sei es, weil sie die Schrecken der Nazizeit am eigenen Leibe oder in ihrer Familie erfahren hatten, sei es, weil sie, wie viele Bürger, nichts mit Deutschland zu tun haben wollten.
Was für die behutsame, allmähliche Enttabuisierung den Ausschlag gab, war vor allem die Erkenntnis, daß die wachsende wirtschaftliche Bedeutung und zunehmende Integration der Bundesrepublik auf dem Kontinent ein Mindestmaß an Kontakten unentbehrlich machte, wenn Israel den „Anschluß“ an Europa nicht verpassen wollte. Die Israel-Mission in Köln, der ich selbst Ende der fünfziger Jahre als stellvertretender Leiter kurz zugeteilt wurde, war der erste „Nutznießer“ der politisch richtigen Erkenntnis, aber sie begann mit der Zeit auch andere Gefilde einzubeziehen. Doch der Weg war lang und mühsam. Der Zufall wollte es, daß ich an dieser Entwicklung dreimal, noch vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1965, beteiligt war, ohne die Zeit in Köln zu rechnen, auf die ich ebenfalls kurz zu sprechen kommen werde.
Die Türkei war mein erster Auslandsposten. Vom Frühjahr 1952 bis zum Herbst 1954 war ich Erster Sekretär an unserer Gesandtschaft in Ankara und amtierte oft als Geschäftsträger, manchmal über sehr lange Zeitspannen. Während meines ersten Jahres hatte die Bundesrepublik noch keine Vertretung in Ankara. Der riesige Komplex der deutschen Botschaft am Atatürk-Boulevard lag verwaist, seit die Türkei 1944 die Beziehungen abgebrochen hatte. Den Wert einer Sehenswürdigkeit hatte er als Schauplatz der zur Legende gewordenen Spionage-affäre „Cicero”, die auch noch nach zehn Jahren die Phantasie vieler beflügelte. In der zweiten Hälfte meiner Amtszeit änderte sich das Bild mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und der Ernennung von Dr. Wilhelm Haas als erster Nachkriegsbotschafter -und mit dem Staatsbesuch Konrad Adenauers in Ankara.
Zum Empfang der türkischen Regierung für den Bundeskanzler wurden auf deutschen Wunsch auch die Vertreter Israels geladen, obwohl wir keine Beziehungen unterhielten. Da es sich um Konrad Adenauer handelte, erteilte Jerusalem die Zustimmung -die wir vor allem ersucht hatten, um das Gastland nicht zu verletzen unterstrich aber zugleich, daß sie eine einmalige Ausnahme darstellte und nicht etwa einen Freibrief für diplomatischen „Cocktail-Verkehr”. Mir war das nicht nur klar, sondern auch sehr genehm. Zwar hielt ich das Wiedergutmachungsabkommen, das in Israel die wohl größte öffentliche Debatte seit Bestehen des Staates ausgelöst hatte, moralisch und politisch für richtig, aber ich hatte nicht die Absicht, daraus Konsequenzen im persönlichen Bereich zu ziehen.
Doch so einfach war das nicht. Ankara war damals keine Millionen-Metropole, sondern eine eher ruhige Regierungsstadt, in der sich die Mitglieder der nicht sehr großen „Diplomatenkolonie”ununterbrochen über den Weg liefen. Man lebte sozusagen „inzestuös“. Das Angebot an Theater und Musik war spärlich, und so traf man sich ab 18 Uhr, bis spät in die Nacht, oft zwei-bis dreimal am selben Abend bei zahllosen Empfängen, Parties und ähnlicher „Geselligkeit“, mit denen man sichfaute de mieux die Zeit vertrieb.
So begegnete ich auch Botschafter Haas ziemlich oft. Da wir über seine „reine Weste“ unterrichtet waren, hielt ich es für erlaubt und richtig, gelegentlichem Händeschütteln und dem Austausch unverbindlicher Höflichkeiten nicht demonstrativ aus dem Wege zu gehen. Eher widerwillig bestätigte mir Jerusalem nachträglich den eigenmächtigen Beschluß. Aber dabei blieb es nicht. Ein Anlaß, der mir nicht mehr geläufig ist, führte zu einem sachlichen Gespräch, dem in kurzen Abständen noch ein oder zwei folgten. Bei einem der letzten teilte ich Haas mit, daß ich Ankara sehr bald verlassen würde. Am Tag danach rief er an und sagte, daß er und seine Gattin uns mit einem kleinen Essen in der Residenz verabschieden möchten: Wäre das möglich? Die Frage löste reges, mit Rückfragen gespicktes telegraphisches Hin und Her mit Jerusalem aus. Ich hätte die erwartete abschlägige Antwort protestlos befolgt. Überraschenderweise war sie es nicht, und somit betrat ich zum ersten Mal seit 1933 „deutschen Boden”. Die Gastgeber -und wir -sahen nicht voraus, daß ihr Sohn „Bill“ dreißig Jahre später deutscher Botschafter in Israel sein würde.
Die nächste Station war Washington, wo ich fünf Jahre blieb, zunächst als Erster Sekretär, dann als Botschaftsrat. Im Gegensatz zu Ankara traf man sich hier nur, wenn man es plante, um so mehr als ich nicht mehr zweiter (zeitweise sogar erster), sondern anfangs vierter, später dritter Mann war. Mein Aufgabenbereich war klar abgesteckt: Department of State und andere diplomatische Vertretungen „auf Arbeitsebene”. Die weitgehende Unabhängigkeit der türkischen Jahre war vorbei; Instruktionen bezog ich nicht mehr direkt, sondern von Botschafter Abba Eban und dem Gesandten Reuven Shiloah, zwei herausragende Persönlichkeiten auf dem Schachbrett israelischer Außenpolitik. Eines Tages beauftragte mich Shiloah, mit einem Kollegen an der deutschen Botschaft Kontakt aufzunehmen, der, neben anderem, Verbindungen mit jüdischen Persönlichkeiten und Organisationen in den USA pflegte, an denen wir natürlich interessiert waren. So lernte ich Botschaftsrat Rolf Pauls kennen. Wir entwickelten ein gutes Verhältnis und kamen ziemlich häufig zusammen, mit der Zeit auch gesellschaftlich. Die deutsche Botschaft in Washington hatte damals eine ausgesucht elitäre Besetzung. Dort lernte ich auch Axel, von dem Bussche kennen, der die Öffentlichkeitsarbeit versah (und dem ich in Bonn, Jahre später, wieder im Hause Weizsäcker begegnete).
Während die „diplomatischen Beziehungen“ mit Deutschen in Ankara bei aller Freundlichkeit eher steif waren, zum Teil auch wegen der Rang-und Altersunterschiede, machte ich in Washington erstmals die Erfahrung der Möglichkeiten praktischer Zusammenarbeit, zu der die aufgeschlossene Herzlichkeit des Ehepaars Pauls einen wichtigen Beitrag lieferte. Als die Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1965 vereinbart wurde, war ich Gesandter in Paris. Irgendwann im Frühjahr erhielt ich ein persönliches Telegramm aus Jerusalem, das meine Meinung über Rolf Pauls erbat. Der Sinn der Anfrage war mir natürlich auch ohne Begründung klar; ich antwortete ausführlich und hörte bald danach zu meiner großen Freude, daß ihm das Agrüment erteilt worden war.
Viele Israelis, unter ihnen Golda Meir, hatten erwartet, daß die Bundesregierung ihre Botschaft in Israel einem „Nicht-Diplomaten” anvertrauen würde, um den besonderen Charakter der Beziehungen zu unterstreichen. Die Erwartung war verständlich, aber die Wahl von Pauls war ausgezeichnet. Er hat die für einen (und vor allem für den ersten) deutschen Botschafter ungemein schwierige Aufgabe mit einem Höchstmaß an Einfühlungsvermögen und Takt bewältigt. Doch ich sprenge die chronologische Folge.
Von Washington wurde ich 1959, sehr gegen meinen Wunsch, an die Kölner Vertretung als „politischer Stellvertreter“ des Missionsleiters versetzt. Neben persönlichen Einwänden -unsere Kinder sollten nach sieben Jahren der Entwurzelung endlich einmal die Heimat kennenlernen -hegte ich Zweifel, ob politische Arbeit ohne formale Bezie-B hungen in dem Sinne möglich war, der meiner Ernennung zugrunde lag. Meine Kölner Zeit habe ich anderswo schon ausgiebig beschrieben, und ich will mich mit ihr hier, neben der erneuten Feststellung, daß sich die Zweifel vollauf bestätigten, nur ganz kurz befassen.
Nach den positiven Erfahrungen, die ich mit deutschen Kollegen an drittem Ort gemacht hatte, schockierte die demonstrative Zurückhaltung, die mir die Vortragenden Legationsräte und Ministerialdirigenten des Auswärtigen Amtes bei meinen behutsamen Versuchen bezeugten, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die Bemühungen, sie für unsere Anliegen an den damals noch kleinen Klub von Rom, die spätere EG, zu gewinnen (das war eine der Überlegungen für meine Ernennung), stießen auf unfreundliche, um nicht zu sagen grobe Reaktionen, wie etwa: „Da wir ja keine Beziehungen haben, sind wir auch nicht in der Lage...“ usw. usw. Zu dem Zeitpunkt war das Fehlen diplomatischer Beziehungen allein deutschen Befürchtungen zuzuschreiben, das Verhältnis mit der arabisch-moslemischen Welt zu gefährden.
Am erstaunlichsten war, daß das Nahostreferat im AA einem aus dem Ruhestand zurückgeholten „Ribbentropler" anvertraut war, dessen Qualifikationen -neben unbestrittenen Kenntnissen des Arabischen -darin lagen, daß er vor dem Krieg der letzte Konsul des Dritten Reichs in Jerusalem gewesen war. Meine Berichte über ein oder zwei Begegnungen mit Herrn Heinz Voigt genügten, um auch Jerusalem von der Sinnlosigkeit meines Aufenthalts in Köln zu überzeugen und zu meiner Abberufung nach einem knappen Jahr zu führen.
In den nächsten drei Jahren war ich Leiter des Ministerbüros von Golda Meir und lag in der israelisch-deutschen Thematik sozusagen brach, von gelegentlichen Meinungsbefragungen abgesehen, die sich vor allem auf das enttäuschende Kölner Intermezzo bezogen. Es waren Jahre, in denen sich, trotz Bedenken im Bonner Auswärtigen Amt, die Aufnahme von Beziehungen in nicht allzu ferner Zukunft langsam abzuzeichnen begann.
Als ich 1963 als Gesandter nach Paris ging, waren Kontakte mit bundesdeutschen Diplomaten bereits zur Norm geworden. Karl-Heinz Knoke, mein Gegenüber an der dortigen Botschaft, war ein freundschaftlicher, wenn auch etwas introvertierter Gesprächspartner (er selbst pflegte sich als , schwerblütig 1 zu bezeichnen), mit dem ich mich gern traf. Nach einigen Jahren wurde er Botschafter im Haag.
Gute Beziehungen unterhielt ich auch mit Ulrich Sahm, Gesandter bei der NATO, die damals ihren Sitz in Paris hatte. Sein zum Judentum übergetretener Sohn lebt seit langem in Jerusalem. Ebenso verband mich ein angenehmes Verhältnis mit dem stellvertretenden Leiter des NATO-Colleges, General Graf Wolf von Baudissin, einem Schwager Knokes, der als Reformator eine große Rolle in der Geschichte der Bundeswehr spielte. In meinen späteren Bonner Jahren trafen wir uns wieder von Zeit zu Zeit.
Knoke wurde nach Pauls der zweite deutsche Botschafter in Israel, und wieder wurde ich vor Erteilung des Agrements nach meiner Meinung gefragt. Auch diesmal konnte ich nur Gutes über einen alten Freund sagen, und da ich zu dem Zeitpunkt wieder in der Zentrale arbeitete und der Europa-Abteilung vorstand, hatte ich auch die Genugtuung, mit ihm erneut enge Kontakte pflegen zu können.
Bei sehr verschiedenem'Naturell verstanden die beiden ersten Botschafter zutiefst die Einzigartigkeit, die die Geschichte unserem Verhältnis auferlegt. Ohne ein solches Verstehen kann kein deutscher Botschafter seine Aufgabe in Israel erfüllen.