Von der grauen zur bunten Stadt Folgen des Umbruchs in Gotha
Lothar Bertels/Ulfert Herlyn
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Zusammenfassung
Unter dem Motto , Von der grauen zur bunten Stadt'werden am Beispiel der thüringischen Mittelstadt Gotha einige Aspekte des sozialräumlichen Wandels auf der Basis einer als Panelstudie angelegten empirischen Untersuchung dargestellt. Insbesondere wird auf den Nutzungswandel in der Innenstadt, den Wandel des Stadtbildes, die Veränderungen der Wohnstandards und die Brüche in den Lebensläufen der Einwohner in der Stadt eingegangen. Die Befunde zeigen, daß der Gleichförmigkeit und dem Grau in den Städten der DDR nach der Wende eine farbige, dynamische Vielfalt in vielen Bereichen gefolgt ist. Doch es ist paradox: Diese Vielfalt entwickelt sich in Richtung einer neuen Gleichförmigkeit. Gotha erscheint mehr und mehr als das Massenprodukt . westdeutsche Stadt'. Besonders das Bild der Innenstadt wird dem Erscheinungsbild westdeutscher Städte dieser Größenordnung immer ähnlicher.
I. Vorbemerkungen
„Grau ist gar kein schlechtes Wort, um ein Hauptentwicklungselement der meisten Städte in den staatlichen Kommandowirtschaften Osteuropas festzuhalten. Es läßt denken an Gleichförmigkeit in der Farbgebung, den Lebensbedingungen, den Gebäudetypen, den Lebensweisen und in den Erwartungen.“ In der Tat waren auch die Städte der DDR in einem desolaten Zustand: Die Infrastruktur war verschlissen, die Innenstädte bis auf einige inselartige Bauensembles von internationalem Rang verfallen und verödet, während die Bewohner zu großen Teilen in neuerstellten Plattenbausiedlungen an der Peripherie lebten. Die marode Stadt war ein Grund für viele Bewohner, der DDR 1989 den Rücken zu kehren und sie war ein schock-artiges Erlebnis für viele Besucher aus Westdeutschland. Aus der umfangreichen territorial-soziologischen Untersuchung in der DDR von 1987 läßt sich entnehmen, daß die Beschaffenheit des Wohnortes von den Befragten ungewöhnlich negativ beurteilt wurde. Eigenschaften wie , langweilig, unsauber, gedrängt , . häßlich , laut erhielten relativ hohe Zustimmung in der Bevölkerung .
Wir wollen in diesem Beitrag prüfen, ob und inwiefern die Stadt und das Stadtleben, die Wohnstandards und Lebensverläufe seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am Oktober 1990 an Vielfalt und Farbe gewonnen haben, d. h., ob und inwiefern die u. a. von Marcuse angesprochene Gleichheit in sozialstrukturellen und Gleichförmigkeit in baulich-räumlichen Dimensionen einer Ausdifferenzierung der Sozialstruktur und einer stadtstrukturellen Verschiedenartigkeit gewichen ist. Auch wenn wir die Farbsymbolik zur Kennzeichnung des Wandels heranziehen, ist unserer Meinung nach grundsätzlich von einer ambivalenten Einschätzung sowohl grauer als auch bunter Farbzuschreibungen auszugehen.
Unseren Ausführungen liegt eine empirische Untersuchung über die Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs für das alltägliche Leben der Menschen in einer mittleren Provinzstadt der DDR zugrunde Die Chance, an einem Ort exemplarisch für die DDR spezifische Entwicklungen und Tendenzen erfassen und ablesen zu können, hat uns veranlaßt, von 1991 bis 1994 den Wandel nach der Wende am Beispiel einer typischen Provinzstadt zu untersuchen. Die Wahl fiel auf Gotha, eine überschaubare und gleichzeitig relativ vielfältige, mittelgroße Stadt (gut 50000 Einwohner) mit gemischter Wirtschaftsstruktur und mit Geschichte.
Im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört, ist die bis heute mittelalterliche Gestalt der Altstadt Gothas weitgehend erhalten geblieben. Im Zentrum -unterhalb des Schlosses -liegt der von Bürgerhäusern aus dem 17. Jahrhundert umsäumte Hauptmarkt, der älteste und wertvollste Platz der Stadt, in dessen Mitte das Renaissance-Rathaus liegt. Gegenüber diesem in den achtziger Jahren sanierten städtebaulichen Denkmal internationalen Rangs verfiel die übrige innere Stadt in den siebziger und achtziger Jahren mehr und mehr, ein typisches Moment der Stadtentwicklung in der DDR.
Die langjährige Vernachlässigung der Altstadtbereiche hat diese unattraktiv als Aufenthaltsort und als Identifikationsobjekt werden lassen. Daß aufgrund der Rückständigkeit in den Stadtzentren grundsätzlich aktivierbare Raumgefüge und -folgen erhalten geblieben sind, die in vielen westdeutschen Innenstädten der radikalen Stadterneuerung der sechziger Jahre zum Opfer gefallen sind, ist letztlich diesen Versäumnissen zu verdanken. „Was sich im Moment augenscheinlich als Verfall äußert, ist systematisch gesehen ein ungeheures Potential an vorfordistischen Stadtstrukturen verschiedenster historischer Schichten.“ Wir werden sehen, inwieweit sich persistente Strukturen im ökonomischen und räumlich-gestalterischen Bereich erhalten und wie sich die Lebensweisen der Bevölkerung entwickelt haben.
II. Struktur-und Funktionswandel der Stadt Gotha
Abbildung 2
Abbildung 1: Einschätzung des Ausmaßes baulicher Veränderungen in Gotha (in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 1: Einschätzung des Ausmaßes baulicher Veränderungen in Gotha (in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.
Im Zuge der Modernisierung verändert sich -so unsere These -die Stadtstruktur nachhaltig, indem einerseits in der bisher vernachlässigten Innenstadt sich Handel und Dienstleistungen auf Kosten von Handwerksbetrieben und Reparaturwerkstätten erheblich ausweiten und andererseits Verbrauchermärkte und Großtankstellen an der Peripherie der Stadt entstehen (werden). Während eine Aktivierung der klassischen ökonomischen Funktionen in der Innenstadt die Reurbanisierung des öffentlichen Lebens auf Straßen und Plätzen unterstützt, gefährdet die Peripherisierung dieser Funktionen die Belebung des in der DDR lange vernachlässigten öffentlichen Stadtraumes.
Schauen wir uns zunächst den Wandel der Gewerbestrukturen in der Gothaer Innenstadt an Wie Tabelle 1 zeigt, zeichnet sich die Nutzung gewerblicher Räume seit 1989 durch eine außerordentliche Dynamik aus.
Allein bei über 60 Prozent der erfaßten Einrichtungen hat sich von 1989 bis 1993 ein Nutzungswandel vollzogen. Fast 40 Prozent behielten die gleiche Nutzung wie vor der Wende, was aber nicht heißt, daß es dort keine Veränderungen gab. Wo Nutzungskontinuität vorliegt, ist häufig eine Privatisierung innerhalb der gleichen Nutzungsart erfolgt, ob nun eine westliche Ladenkette, der frühere Geschäftsführer der staatseigenen Handelsorganisation (HO) der DDR oder der alteingesessene Inhaber, dessen Familienbetrieb zur DDR-Zeit enteignet wurde, das Geschäft übernommen hat.
Gravierend ist der Nutzungswandel dort, wo einstige gewerbliche Einrichtungen heute nicht mehr entsprechend genutzt werden, sondern zumeist leerstehen (insgesamt 14 Prozent), bzw. umgekehrt, wo in ehemals leerstehende Räume nun Gewerbe eingezogen ist (insgesamt 11 Prozent). Zum einen erklärt sich der Leerstand im Jahre 1993 bzw. die Nicht-Nutzung daraus, daß Restaurierungen vorgenommen oder Gebäude wegen einer Neubebauung zum Abriß freigegeben wurden. Ein großer Teil des neuen Leerstandes aber ist die Folge ungeklärter Eigentumsverhältnisse. Die langwierige Bearbeitung der Rückführungsanträge hemmt in erheblichem Maße auch die Gewerbe-entwicklung in der Gothaer Innenstadt. Die Eigentumssituation schlägt sich unmittelbar im Stadtbild nieder: Dort, wo Geschäfte restauriert oder neu gebaut, neu-oder wieder eröffnet werden, sind in der Regel die Eigentumsverhältnisse geklärt; wo jedoch Leerstand herrscht oder in die bestehenden Betriebe nicht investiert wird, sind diese ungeklärt.
Die Veränderungen innerhalb der gewerblichen Nutzungen (16 Prozent) bestehen überwiegend in einer Zunahme von Handelsbetrieben. So hat es nach der Wende bei den -zumeist im Erdgeschoß gelegenen -Handwerksbetrieben oftmals eine Schwerpunktverschiebung von der Werkstatt zum Handel gegeben in den Obergeschossen haben sich vor allem Dienstleistungsbetriebe angesiedelt. Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Entwicklung zunächst an die explosionsartig gestiegenen Mieten für Gewerbe zu denken, die nur durch eine Nutzungsintensivierung aufgefangen werden können. Mit dem neuen und ungewöhnlich reichhaltigen Warenangebot aus Westdeutschland haben sich aber auch die Konsumgewohnheiten der Ostdeutschen geändert. Statt noch vorhandene ostdeutsche Verbrauchsgüter reparieren zu lassen, werden nun entsprechende Westprodukte (neu) gekauft.
Im Bereich der Freizeit-und Vergnügungseinrichtungen ist die befürchtete Ausbreitung von Spiel-hallen und Videotheken ausgeblieben: In Gotha gab es bis 1993 nur vier solcher Einrichtungen. Maßgebliche Ursache dafür ist, daß die Stadt die Ansiedlung von Spielhallen im Altstadtbereich untersagt hat.
Am auffälligsten zeigt sich der Nutzungswandel beim Einzelhandel. Dort hat die Zahl der Betriebe zugenommen. Aber es gab auch Veränderungen innerhalb einzelner Sparten. Nahezu ein Drittel der von uns erfaßten Einzelhandelsbetriebe in der Innenstadt gehörte 1993 einer anderen Sparte an als vor der Wende. Zurückgegangen ist in erster Linie die Zahl der Lebensmittelgeschäfte. Im Wettbewerb unterlagen sie den großflächigen Einkaufsmärkten am Rande der Stadt. Demgegenüber gab es im Einzelhandel einen starken Zuwachs in der Sparte „Bekleidung, Schuhe, Lederwaren“ (von 31 Geschäften im Jahre 1989 auf 48 Geschäfte im Jahre 1993).
Gewissermaßen als die andere Seite der Medaille beherrschten schon bald die großen Verbraucher-märkte mit Massenkonsumangeboten die Peripherie der Stadt. Die sich erst allmählich in ihrer neuen aktiven Rolle zurechtfindenden Stadtplaner mußten sich schon sehr bald mit überzogenen Ansprüchen auseinandersetzen, wie der zuständige Leiter der Stadtplanung im Sommer 1990 im Gespräch verdeutlichte: „Als erstes kommen die Haie, dann kommen die Geier und dann kommen erst die Geschäftsleute. Ich möchte ganz gerne die Haie und die Geier abwarten und dann mit den Geschäftsleuten die Stadt vorantreiben.“ Ein knappes Jahr später, im Frühjahr 1991, war er immer noch skeptisch: „Ich würde das so einschätzen: Wir befinden uns zwischen Haien und Geiern, muß man sagen. Allerdings hat es sich wirklich schon etwas gesetzt. Die, die ich jetzt noch als Haie bezeichne, sind die Händler. Die Händler, die nach wie vor ihre großflächigen Verbrauchermärkte auf der grünen Wiese errichten wollen, gefährlich wie ein Hai und aufdringlich wie ein Aasgeier. “
Bis 1994 hat es in der Innenstadt hinsichtlich der Verkaufsflächen keine gravierenden Veränderungen gegeben. Das Handelsgeschehen wird nun hauptsächlich durch neuerrichtete Verbraucher-märkte außerhalb des Zentrums, insbesondere auf neu ausgewiesenen Sondergebietsflächen am Stadtrand geprägt. Nach der Realisierung der gegenwärtig geplanten Vorhaben wird es in Gotha Einzelhandelseinrichtungen mit einer Verkaufs-fläche von insgeamt 120000 Quadratmetern geben. Der Flächenanteil pro Einwohner beträgt dann nach Auskunft des Amtes für Wirtschaftsförderung 2, 26 qm gegenüber 0, 33 qm zur Wendezeit Es ist zu fragen, ob Verkaufsflächen in diesem Ausmaß für eine Stadt wie Gotha nicht etwas überdimensioniert sind. Der innerstädtische Einzelhandel gerät angesichts dieser Entwicklung unter einen noch größeren Wettbewerbs-druck.
Im Ergebnis unserer Erhebung innerstädtischer Funktionen in Gotha steht eine atemberaubende Tertiärisierung, die die Persistenzhypothese, der zufolge die bisherigen ökonomischen Nutzungen der Innenstadt weiterbestehen, nur zum Teil bestätigt. Vielmehr scheint es so zu sein, daß mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß der fundamentale „Wechsel der Lebensverhältnisse Zug um Zug auch die Stadt auseinandernimmt und neu zusammensetzt“
III. Zum Wandel des Stadtbildes
Abbildung 3
Abbildung2: Ortsbindung in Gotha (in Prozent) Quelle:Eigene Darstellung
Abbildung2: Ortsbindung in Gotha (in Prozent) Quelle:Eigene Darstellung
Die Veränderungen der , grauen Stadt“ verliefen in charakteristischen Schüben. So überfluteten im Frühjahr 1990 fliegende Händler die Märkte und Straßen der Gothaer Innenstadt, was zu einer bis dahin nicht gekannten Lebhaftigkeit auf öffentlichen Straßen und Plätzen führte. Mit der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion am 1. Juli 1990 wurden die Schaufensterauslagen radikal verändert. Entweder paßten sich die ostdeutschen HO-Geschäfte selbst durch das Angebot westdeutscher Waren an die neue Zeit an, oder westdeut-sehe Handelspartner sorgten für eine entsprechende Veränderung des Bildes. Gleichzeitig griff aber auch eine z. T.sehr aggressive Werbung um sich, die als eine quasi neue Zeichenschicht partiell den früher gewohnten Gesamteindruck der Architektur verändert. Werbeschilder, Plakatierungen, Schaufenstervergrößerungen und geänderte Schriftzüge mit greller Leuchtreklame bringen zwar Farbe in die Innenstädte, verstellen aber zugleich den Blick auf bauliche Ensembles Zeitlich deutlich verzögert hierzu beginnt die Modernisierung von Häusern und Fassaden sowie die Erneuerung und Sanierung des Energienetzes der Stadt. In einem umfangreichen Stadterneuerungsprojekt der östlichen Innenstadt ist damit begonnen worden, ein Konzept umzusetzen, das -die traditionelle Parzellenstruktur erhaltend und die historische Bausubstanz achtend -Wohnen und gewerbliche Nutzungen kombinieren will.
Die Bewohner registrieren den Veränderungsschub in ihrer Stadt nach der Wende sehr aufmerksam und im ganzen wohlwollend (vgl. Abbildung!). Die Wahrnehmung hat sich von 1991 bis 1993 grundsätzlich modifiziert. Während 1991 gut jeder fünfte Befragte kaum Veränderungen registrierte, war es zwei Jahre später fast je die Hälfte, für die sich . einiges'bzw. , viel geändert'hatte. Nur knapp die Hälfte der Befragten blieb bei ihrer bisherigen Einschätzung. Bei der Unterscheidung nach verschiedenen Personengruppen fällt auf, daß vor allem die jüngeren Befragten am häufigsten Veränderungen beobachten, was vermutlich auf ihr stärker öffentlichkeitsbezogenes Leben zurückzuführen ist: „Wenn ich mal einen Nachmittag frei habe, gehe ich meistens in die Stadt, um eben auch zu schauen, was sich verändert hat. In Gotha verändert sich nun jede Woche was, das ist ganz fantastisch, wenn man da eben so durchgeht: ach, das kennste ja noch gar nicht. Und da versucht man sich eben dran zu erinnern, wie war das überhaupt“ (Studentin, 23 Jahre, 1991).
Während jüngere Befragte meist auf Veränderungen bei den Geschäften hinweisen, nennen die Älteren überproportional häufig Veränderungen an Gebäuden und Plätzen: „Ah ja, das hat sich natürlich sehr zu seinem Vorteil verändert, würde ich sagen, also Gothas Innenstadt nach einem Jahr ist schon ganz anders geworden. Man sieht mehr als in Leipzig zum Beispiel relativ eingetretene Veränderung. Es ist freundlicher geworden, das Leben ist pulsierender geworden, obgleich man auch abends nach 20 Uhr nach wie vor die Bürgersteige hoch-klappen könnte, weil da kaum noch jemand unterwegs ist“ (Reuter, 68 Jahre, 1991).
Welche Veränderungen ihres Stadtbildes haben die Gothaer Bürger vor allem festgestellt? In den Jahren 1991 und 1993 wurden am häufigsten von je über der Hälfte der Befragten -Renovierung, Restaurierung bestimmter Gebäude und Plätze (62 Prozent), -Straßenerneuerung und Tiefbaumaßnahmen (57 Prozent)
genannt.
Dabei sind es jedoch nicht nur die Veränderungen an der Bausubstanz selbst, sondern auch -und manchmal sogar vorrangig -solche des sozialen Lebens in der Stadt. Es scheint so, als sei eines der Ziele der Stadtentwicklung in der DDR, die Stadt-mitte zum „Ort kommunikativer Zentralität“ zu entwickeln jetzt erreicht worden: „Ich finde den Markt gut, ich finde das einwandfrei. Das ist das einzige, worauf man sich freuen kann, wenn man von der Arbeit kommt, man geht mal über den Markt, überall Stände. Man kriegt teilweise Sachen, die man überhaupt nicht, oder wenn, dann teuer kriegt. Ich find’s gut. Man kann sein Obst kaufen, seine Blumen kaufen, alles so im Vorbeigehen“ (Zahnarzthelferin, 20 Jahre, 1991). Gleichzeitig wird jedoch die Ambivalenz dieser Änderung in schillernden Bewertungen deutlich: Die Mehrheit verbindet mit dem öffentlichen Treiben in der Innenstadt sowohl positive als auch negative Aspekte. Negativ bewertet werden hierbei die Gefährdung durch Diebe, das Gedränge, aufdringliche Markthändler und die geringe Qualität mancher angebotenen Waren. „Das ist schon wenigstens wieder Leben, meine ich. Es hat auch Unannehmlichkeiten, gell, daß man die Taschen festhalten muß oder so. Aber es ist viel schöner. Macht mehr Spaß. Man muß ja nicht alles kaufen, man kann sich ja soviel angucken, man muß es nicht kaufen. Das macht schon wieder Spaß“ (Rentnerin, 65 Jahre, 1991). „In der ersten Zeit, als viele Straßenhändler und ähnliche Leute kamen, da war das interessant. Heute betrachte ich es, und da stimme ich mit vielen anderen überein, mir gefällt’s nicht. Aufdringlichkeit, Lärm, unseriöse Angebote. Ich meine, es hat nichts damit zu tun, wenn mal ein Volksfest ist, dann ist das viel Rummel, aber daß es dreimal in der Woche sein muß, halte ich nicht für gut“ (Betriebsdirektor in Kurzarbeit-Null, 50 Jahre, 1991).
Bei den vielen Veränderungen dürfen die Straßen-namen nicht vergessen werden. Die in 40 Jahren DDR erfolgten Umbenennungen standen schon bald nach der Vereinigung -in einigen Bundesländern mehr (z. B. Thüringen), in anderen weniger (z. B. Brandenburg) -zur Diskussion. Ende 1991 kam es in Gotha zu einer umfangreichen Auswechslung der Namensschilder. Viele Straßen erhielten ihren ursprünglichen Namen wieder (aus der Friedrich-Engels-Straße wurde die alte Helenenstraße, der Leninplatz wurde zum Eckhofplatz) oder wurden nach besonderen Ereignissen und Personen benannt. Bei unserer Befragung im Sommer 1991 war nur ein Fünftel der Wohnbevölkerung gegen Umbenennungen. Die spätere -unserer Meinung nach weit überzogene -Aktion wurde mithin von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen.
Auch wenn es nicht zu einem „Zusammenbruch von Umwelt und Verhaltensstruktur“ (H. P. Bahrdt) gekommen ist, so sind doch die Chancen der Umwelterschließung erschwert, denn mit der alten Umgebung sind auch viele verhaltenssteuernde Symbolträger verschwunden. Die Schwierigkeiten, mit den neuen Bestandteilen der Umwelt fertig zu werden, sie angemessen zu interpretieren, werden jedoch mit der Gewöhnung an die neuen Formen abnehmen.
IV. Veränderungen des Wohnstandards
Es waren vor allem die Wohnhäuser und Wohnungen, die den eingangs beschriebenen grauen Eindruck vermittelten. Welche Veränderungen können nun in diesem Lebensbereich festgestellt werden?
Die Wohnungen sind in Ostdeutschland insgesamt wie auch in Gotha im Vergleich mit Westdeutschland kleiner, älter und schlechter ausgestattet Als Inbegriff für die Sterilität und Uniformität des Wohnens gelten die Plattenbaugroßsiedlungen der DDR. In der Plattenbausiedlung „Gotha-West“ leben ca. 13500 Einwohner. Nach der Wende gingen die staatlichen Wohnungen in den kommunalen Besitz über. In Gotha sind 45 Prozent (1992) in kommunalem Eigentum, 25 Prozent gehören Genossenschaften und 30 Prozent Privatleuten.
Nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 kam es in der DDR bzw. -später -in den neuen Bundesländern sehr bald zu einer Ausdifferenzierung der Mieten. Der durchschnittliche Anteil der Mietausgaben am Haushaltsnettoeinkommen betrug bei unseren Befragten im Jahre 1991 noch fünf Prozent und hat sich bei denselben Haushalten zwei Jahre später mit 20 Prozent vervierfacht. Damit ist das westdeutsche Niveau fast erreicht. Der Prozeß der stärkeren Ausdifferenzierung der Mieten verlief parallel zum Anstieg der Einkommen; so zahlten schon 1993 zwei Drittel eine Miete zwischen 300, -und 600, -DM. Wohngeldzahlungen in Höhe von fast zehn Millionen DM im Jahr 1992 und knapp elf Millionen DM 1993 sind ein Indiz für die zunehmenden ökonomischen Belastungen der Haushalte. Die gestiegenen Mietkosten stehen teilweise im krassen Mißverhältnis zur Qualität der Wohnungen und sind wohl auch -gemessen an westlichem Wohnstandard -zu hoch. Eine 38jährige Frau sagte dazu 1993: „Daß die Mieten steigen, ist eigentlich real, es hilft alles nichts, da können wir noch soviel schimpfen. ... Natürlich muß ich erwarten, daß wenn ich jetzt in einer Wohnung oder in einem Haus wohne und so eine Miete bezahle, wie das jetzt üblich ist... in Westdeutschland..., dann will ich aber auch so wohnen und nicht ... in so einer Purzelbude. “ Der sich allmählich konstituierende Wohnungsund Grundstücksmarkt schuf auch in Gotha die Voraussetzungen für die Eigentumsbildung an Wohnungen und Häusern. In der DDR waren die Wohnungen von den Bewohnern quasi als „ihr Eigentum“ betrachtet und häufig auf eigene Initiative und Kosten saniert und renoviert worden -je nach Möglichkeit, sich mit entsprechendem Material versorgen zu können. Nun wird die Funktion der Wohnung als Ware spürbar, und dies gibt zu Befürchtungen Anlaß, daß die steigenden Mieten nicht verkraftet werden könnten und der angestammte Wohnplatz nicht sicher sei.
Aufgrund des erhöhten Ersatz-wie auch Neubedarfs wird die Nachfrage nach Grundstücks-und Wohneigentum in den nächsten Jahren weiter steigen. Seit geraumer Zeit ist die Eigentumsbildung ein leitendes Motiv; die rasant steigenden Zahlen neuabgeschlossener Bausparverträge weisen auf eine weitere Steigerung hin Dabei orientieren sich die Wohnbedürfnisse der Menschen hinsichtlich Größe und Ausstattung zunehmend an den westdeutschen Mustern. Der hoch-verdichtete Wohnungsbau -wie in Gotha-West -wird nicht nur wegen der maroden Bausubstanz, sondern auch aufgrund der Mängel der infrastrukturellen Versorgung unattraktiver. Immer mehr Bewohner streben danach, die eintönigen Plattenbausiedlungen zu verlassen: „Ich habe die Befürchtung, daß diese Wohnungen einen recht geringen Komfort haben und daß diese Wohnungen hier überall Sozialwohnungen für sozial schwächere Schichten werden. Uns geht’s ja auch schon so, daß uns das Umfeld hier absolut nicht mehr zusagt. In diesen Wohnblocks wohnen einfach Leute, die nichts von Benehmen, von Anstand, von Sauberkeit kennen oder außerhalb ihrer Wohnung nicht mehr kennen wollen, und das geht uns ganz einfach gegen den Strich“ (Gothaerin, 30 Jahre, 1991).
Mit der Entwicklung zur sozial segregierten Stadt westlichen Musters geht jedoch die „größere Uniformität und räumliche Homogenität“ verloren, die zu den sozialen „Errungenschaften“ der grauen, sozialistischen Stadt gerechnet werden Jegliche Ausdifferenzierung von Teilräumen in einer Stadt befördert die Chance, ohnehin Privilegierte zu privilegieren, und geht mit der Gefahr einher, sozial schwache Schichten ins Abseits zu drängen. Das ist bei der künftigen Stadtentwicklungs-und Wohnungspolitik in den neuen Ländern angesichts der zur Zeit noch stark sozial vermischten Wohnquartiere der Städte zu bedenken.
Die tiefe Verunsicherung durch den gesellschaftlichen Wandel hatte eine Abnahme der traditionell hohen Ortsverbundenheit und damit höhere räumliche Mobilität erwarten lassen. Diese Vermutung hat sich nicht bestätigt. Die lokale Bindung ist 1993 noch stärker geworden, lediglich sechs Prozent würden fortziehen. Es gibt einen relativ großen und stabilen Kern, der zu beiden Befragungszeitpunkten (1991 und 1993) angibt, für immer in Gotha bleiben oder Gotha nur ungern verlassen zu wollen (vgl. Abbildung 2).
Die lokale Bindung an Gotha wird in starkem Maß von der Wohndauer beeinflußt: Wer über Jahrzehnte in einer bestimmten Umwelt lebt und sich darin zu Hause fühlt, möchte diese nur ungern verlassen. Schon in der Untersuchung von Bernd Hunger und Fred Staufenbiei aus dem Jahre 1981 zeigte sich die starke Bindung der Gothaer an ihre Stadt und die sie umgebende Landschaft Da von den Befragten fast die Hälfte schon länger als 30 Jahre in Gotha wohnt, ist bereits aus diesem Grund von einer relativ stark ausgeprägten lokalen Bindung auszugehen.
V. Lebensläufe im Umbruch
Die sozialistische Gleichheitsideologie -mit geringen sozialen Unterschieden bei Vermögen, Einkommen, Bildung, Wohnverhältnissen und dem Zugang zu Waren und Dienstleistungen: „Fast alle hatten wenig, aber keiner hatte nichts“ -führte auch zu einer Gleichförmigkeit der Lebensweisen in der DDR. Privilegien gab es nur für eine kleine Führungsschicht, und diese waren, verglichen mit denen der Westdeutschen, eher gering. Auf der anderen Seite fehlten die sozialen Randgruppen weitgehend. Sichtbare Armut gab es nicht.
Mit der Marktwirtschaft wurde das in der DDR geltende Recht auf Arbeit abgeschafft. Die Leistungsgesellschaft brachte den Menschen hohe Arbeitslosigkeit. Die Entwertung beruflicher Qualifikationen und die im Vergleich zu Westdeutschland geringere Bezahlung gleichartiger Tätigkeiten (z. B. Lehrer) sorgten zusätzlich für soziale Spannungen. Andererseits bot der Umbruch nicht nur Risiken, sondern auch neue Chancen, sorgte er doch gleichsam für eine „Entkorkung“ von Lebenswegen. In der Leistungsgesellschaft können Lebenschancen und Lebensstile nun in ganz anderer Weise entfaltet werden, wie dies zum Beispiel bei einer 50jährigen Ärztin der Fall ist: „Wir beabsichtigen, ein Ärztehaus zu bauen und dort einen stabilen eigenen Arbeitsplatz zu haben, der noch einmal so sein soll, wie wir uns das eigentlich ein Leben lang erträumt haben. Da setze ich große Hoffnungen rein und auch viel Energie. Das ist eine große Hoffnung, dieses Haus, in dem wir mit mehreren Kollegen, die sich gut miteinander verstehen, arbeiten werden. “ (1991)
Viele Gothaer Bürger erlebten in den ersten Jahren nach der Währungsunion ein Wechselbad von Auf-und Abstiegen, nutzten oder verpaßten berufliche Chancen und Optionen auf neue Gelegenheiten. Die schnelle Abfolge von Kurzarbeit, Entlassung, Umschulung und erneutem Berufseinstieg (oft an einem anderen Ort) führten vielfach zur Verunsicherung hinsichtlich der eigenen gesellschaftlichen Position und der Lebensperspektiven.
Aber für diejenigen, die ihren Arbeitsplatz behielten, wandelte sich das Klima. , Konkurrenzdenken 1 und , Ellenbogengesellschaft 1 sind die Stichworte für die Spannungen, die eine 22jährige Labor-assistentin 1991 drastisch formuliert: „Jeder versucht, mit seinem Arsch an die Wand zu kommen. Die Jüngeren gegen die Älteren -die Älteren sollen in den Vorruhestand gehen. “
Andererseits ist ein hohes Maß an sozialer Konstanz erkennbar. Nach ihrer Selbsteinschätzung gefragt, meinte zu beiden Erhebungszeitpunkten -1991 und 1993 -nahezu die Hälfe der Bewohner, gegenüber der DDR-Zeit eine unveränderte soziale Position einzunehmen. Auf-und Abstiege werden bei den anderen, den sozial Mobilen, registriert. 1991 und 1993 sieht sich jeweils knapp ein Drittel der Gothaer in einer höheren Position und rund ein Fünftel in einer niedrigeren. Typische Aufsteiger verfügen über ein höheres Einkommen, sind jünger als 35 Jahre; typische Absteiger sind älter, oft im Vorruhestand, haben eine geringere berufliche Qualifikation und neigen häufiger zu einer intoleranten Haltung gegenüber Ausländern.
Betrachten wir die Problematik unter der Frage der Lebensperspektive, so lassen sich altersgruppenspezifische Unterschiede ausmachen. Ältere (über 50 Jahre), Menschen mittleren Alters und Jüngere (bis 35 Jahre) verfügen über jeweils andere, in der DDR aufgebaute ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen.
Die (heute) ältere Generation hatte nach dem II. Weltkrieg in der DDR berufliche Aufstiegs-möglichkeiten für sich nutzen können, oft ohne die normalerweise geforderten Bildungsabschlüsse nachweisen zu müssen. Dies führte zu einer gewissen Zufriedenheit und zur Akzeptanz des SED-Regimes. Die Einbrüche des. Arbeitsmarktes haben für Angehörige dieser Gruppe wenig Bedeutung, da die meisten von ihnen sich schon im Ruhe-bzw. Vorruhestand befinden. Schwerwiegender ist für sie die Frage nach dem Selbstwertgefühl, nach der Sinnhaftigkeit und der sozialen Anerkennung ihrer in der DDR geleisteten Arbeit. Dazu sagt ein Lehrer im Vorruhestand 1993: „Das würde unser Selbstbewußtsein unendlich heben, wenn wir erfahren würden, daß unsere Arbeit durchaus auch gute Seiten gehabt hat. Auch, wenn man jetzt alles hingemacht hat. Darauf kommt es nicht mehr so an, aber ich will erfahren, daß ich nicht vierzig Jahre umsonst gearbeitet habe. “
Diese Verunsicherung wird häufig auch durch das Erlebnis von Arbeitslosigkeit innerhalb der eigenen Familie, zum Beispiel bei den Kindern, verstärkt. Die mittlere Generation ist den stärksten Belastungen ausgesetzt. Noch hat sie das Sozialisationsgepäck der DDR auf dem Rücken, und schon lastet auf ihr das Gewicht der Marktwirtschaft. Dieser „Risikogeneration“ hat die Wende die heftigsten Einbrüche in die bis dahin vorgezeichneten Lebensverläufe beschert. Ihre Situation ist prekär. Für sie als „betrogene Generation“ brach der Staatssozialismus zugleich zu früh und zu spät zusammen Sie sind wegen ihres Alters noch nicht aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, und doch sind sie nicht mehr jung genug, um die Arbeitskrise in Konkurrenz mit den Jüngeren und den „Importen“ aus Westdeutschland erfolgreich bewältigen zu können.
Ungeachtet dieser schlechten Ausgangsbedingungen und der neuen, vielfach höheren Anforderungen gelang es doch vielen, ihre Arbeitsstelle zu behalten oder eine neue zu bekommen: indem sie ihr „kulturelles und soziales Kapital“ aktivierten, d. h. Insiderwissen gewinnbringend einsetzten. Die hohe Flexibilität, die in der Mangelgesellschaft entwickelten , Chaosqualifikationen und das Improvisationsgeschick entpuppten sich als wichtig und konnten die Entwertung der beruflichen Qualifikationen zumindest teilweise kompensieren. Angehörige dieser Generation bejahen häufig die Anforderungen der Marktwirtschaft und stellen sich den neuen Herausforderungen, wagen den Sprung in die Selbständigkeit oder werden Wochenendpendler -weil es weitergehen muß.
Für die jüngere Generation hat die Vereinigung in der Regel keine Beeinträchtigungen mit sich gebracht, die nicht überwunden werden könnten. In einer schlechten Position befinden sich die gering qualifizierten jüngeren Arbeitnehmer, wie auch generell die jungen Frauen. Viele müssen sich umschulen lassen, um eine angemessene Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können, was oft mit einem Wohnortwechsel verknüpft ist.
Die jungen Menschen in Ostdeutschland weisen häufig die gleichen Orientierungen und Wertvorstellungen wie die entsprechende Altersgruppe in Westdeutschland auf. Sie könnten als eine Generation mit vielen beruflichen Optionen, die sich im Übergang zur Konkurrenzgesellschaft befindet, bezeichnet werden. Der Kohäsionskraft des alten DDR-Systems wird scheinbar problemlos durch Zuwendung zu neuen, westlichen Lebenstilen begegnet. Das bisher angesammelte „ökonomische, soziale und kulturelle Kapital“ kann rasch ergänzt oder gar ersetzt werden.
Für alle Altersgruppen -generationsübergreifend -erwiesen sich der familiale Kontext und das Milieu als wichtige Faktoren für die Befindlichkeit. In Zeiten gesellschaftlicher Krisen kommt dem engeren sozialen Umfeld eine Art Rettungs-oder Stabilisierungsfunktion zu. Die Binnenstruktur der Familie ist infolge des gesellschaftlichen Umbruchs gestärkt worden Andererseits kann Familie für die berufliche Entwicklung, etwa bei Umschulungs-oder Umzugsvorhaben, auch als hinderlich empfunden werden.
Die volkseigenen Betriebe der DDR waren eine Art Lebensmittelpunkt, nicht nur Arbeitgeber,, sondern sie hatten zugleich umfassende Versorgungsfunktionen in kulturellen, sozialen und sportlichen Bereichen. Durch den Fortfall dieses „Netzwerkes“ ist eine Lücke entstanden, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nur mit Geld zu schließen ist. Die früher gratis zur Verfügung stehenden Versorgungsleistungen müssen nun mit höherem finanziellem und organisatorischem Aufwand von jedem selbst erbracht werden. Angebot und Nachfrage entscheiden jetzt über den Grad der Versorgung der Gothaer Bürger mit entsprechenden Leistungen. Die weitreichende Aussage von Volker Klotz -„Die Stadt liefert nicht nur die Inhalte, sie steuert auch die Richtungen und Gangarten der verschiedenen Lebensläufe“ -paßt nur zu gut auf die Städte der ehemaligen DDR im Transformationsprozeß.
VI. Resümee
„Jede Gesellschaftsordnung entwickelt letzten Endes eine ihr adäquate Umwelt, eine ihr adäquate Stadtgestalt“ die in ihrer Struktur für die nachfolgende Gesellschaft zugleich Entwicklungshemmnis und -chance darstellt. Der Weg zur grauen Stadt der sozialistischen Kommandowirt-schäft hat durch die Wende im Herbst 1989 ein jähes Ende gefunden. So vermengen sich in Gotha wie auch in anderen Städten Bauten des ehemaligen Herzogtums, des Bürgertums und der Arbeitersiedlungen mit den Plattenbauten der DDR. Während der Erhalt der Altbausubstanz und der Neubau nun nach westdeutschem Standard erfolgen, bleibt immer noch das Problem der Nutzung des „negativen sozialistischen Erbes“. Unverkennbar ist bereits heute die schlechte Bewertung dieser einförmig gestalteten und mit baulichen und sanitären Mängeln behafteten Häuser und Siedlungsanlagen. Demgegenüber gewinnen die Altbauten im Bereich der Innenstadt für die Bevölkerung an Attraktivität. Das gesellschaftliche Interesse an ihnen hat sich gleichsam ins Gegenteil verkehrt. Was in der DDR häufig dem Verfall preisgegeben wurde, wird jetzt -im wesentlichen durch private Eigentümer -instandgesetzt und renoviert. Diese Umwertung im Zuge des System-wandels geht nicht ohne soziale Spannungen vonstatten: Die Aufsteiger, Gewinner der Wende ziehen in die attraktiven Altbauten oder etablieren sich in den Eigenheimen räumlich separierter Siedlungsbereiche, den Verlierern bleiben die Platten-bauten des alten Systems.
Die Dynamik des fundamentalen gesellschaftlichen Wandels zieht unter den Bedingungen der Marktwirtschaft und den damit verbundenen Verwertungsmöglichkeiten einen weitgehenden funktionalen und baulich-räumlichen Wandel nach sich. Dies ist -wie beschrieben -am deutlichsten in der Innenstadt und an Teilen der Stadtperipherie Gothas ablesbar. Insofern neigen wir dazu, trotz Zustimmung zum Entwicklungspotential in den zu DDR-Zeiten vernachlässigten Innenstädten dort weniger persistente materielle und ökonomische Strukturen zu erkennen Vielmehr scheinen gerade hier erhebliche Veränderungen der baulichen und infrastrukturellen Umwelt vonstatten zu gehen, die den Nutzem neue Orientierungsleistungen und Symbolisierungen abverlangen.
Nicht nur die materielle Substanz ist farbenfroher, auch das Leben ist „schöner, bunter, reicher“ geworden. Auffallend war, wie sehr die Bewohner sich den öffentlichen Raum der Straßen und Plätze wieder angeeignet haben, nachdem über 40 Jahre lang die Stadtöffentlichkeit im , Bermuda-Dreieck* von Datsche, Wohnung und Arbeitsplatz verschwunden war Diese Renaissance der lokalen Öffentlichkeit mit ansatzweisen kulturellen und sozialen Inhalten ist ein deutliches Zeichen für eine Befreiung von politischer Kontrolle und sozialen Zwängen, sich staatskonform zu verhalten. Eine Vertreterin des Vereins für Altstadterneuerung sagte 1992 rückblickend, daß früher das Gefühl geherrscht habe, die Stadt schlafe ein, und nunmehr habe man das Gefühl: , Die Stadt lebt wieder*.
Alles zusammengenommen jst das , Grau in Grau* der DDR-Stadt Gotha von vielen Farben im wörtlichen und übertragenen Sinn verdrängt worden. Die thüringische Provinzstadt ist farbenfroher geworden, was allerdings zwei Beobachtungen einschließt:
Erstens: Der neue Farbteppich in der Stadt ist zwar bunt, aber die Webart offenbart die Massenproduktion. Bildhaft sagte eine Gothaer Bürgerin 1993: „Wenn man jetzt Eisenach und Gotha vergleicht, hat man das Gefühl, das ist aus einem Strickmuster, die Anreihung der Geschäfte, die ähneln sich. “ Die sich nach der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion 1990 rapide ansiedelnden Handelsketten und Filialen großer Konzerne -Jürgen Friedrichs spricht von einer , Filialisierung* in der Innenstadt -schaffen trotz aller vordergründigen Buntheit eine neue Uniformität, die treffend mit dem Begriff der „Benettonisierung“ charakterisiert werden kann.
Zweitens: Mit dem Grau der DDR-Städte, von der Peter Marcuse im Kontrast zur kapitalistischen Stadt gesprochen hat, verschwindet mehr als nur ein eintöniges Stadtbild. Die vielfarbige Stadt ist zugleich Ausdruck der Vielfalt der Lebensbedingungen ihrer Einwohner, die nun auch in Gotha an die Stelle der zu DDR-Zeiten kaum vorhandenen Unterschiede getreten ist. Gerade die zunehmende sozialräumliche Differenzierung führt dazu, daß die Lebensumstände und Lebensweisen in ost-und westdeutschen Städten immer ähnlicher werden. Das staatssozialistische Erbe wird nach und nach von der Marktwirtschaft gleichsam überwuchert.
Lothar Bertels, Dr. rer. pol., Dipl. -Ing., geb. 1949; Stadtplaner und Soziologe; wissenschaftlicher Angestellter an der Fernuniversität -Gesamthochschule -Hagen, Fachbereich Erziehungs-, Sozial-und Geisteswissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Neue Nachbarschaften, Frankfurt am Main 1981; Gemeinschaftsformen in der modernen Stadt, Opladen 1990; (Hrsg.) Gesellschaft, Stadt und Lebensverläufe im Umbruch, Bad Bentheim 1994; (Hrsg. zus. mit Ulfert Herlyn) Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1994. Ulfert Herlyn, Dr. disc. pol., geb. 1936; Studium der Soziologie in Göttingen, Köln und Berlin; seit 1974 Professor für Planungsbezogene Soziologie in Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Leben in der Stadt, Opladen 1990; (zus. mit Hans-Ulrich Lakemann/Barbara Lettko) Armut und Milieu. Benachteiligte Personen in großstädtischen Quartieren, Boston 1991; (Hrsg. zus. mit Bernd Hunger) Ostdeutsche Wohnmilieus im Wandel, Basel 1994; (zus. mit Gitta Scheller/Wulf Tessin) Neue Lebensstile in der Arbeiterschaft? Eine empirische Untersuchung in zwei Industriestädten. Opladen 1994; (Hrsg. zus. mit Lothar Bertels) Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1994.
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