I. Ein verdrängtes Thema
Nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen sind derzeit weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht Nachrichten über Vertreibungen und Völkermord erreichen uns längst nicht mehr nur von fernen Kontinenten. Seit Beginn der neunziger Jahre sind durch die serbische Aggression auf dem Balkan Flucht und Vertreibung auch in Europa wieder brutale Wirklichkeit geworden. Die Zahl der Opfer dieses europäischen Kriegsschauplatzes geht bereits in die Hunderttausende.
Die Bilder des Schreckens von Vertreibung, Massentötungen, systematischen Vergewaltigungen und anderen Gewaltverbrechen gegen die Zivilbevölkerung rufen bei Millionen vertriebenen Deutschen traumatische Erinnerungen wach. Sie denken dabei nicht nur an persönlich erlittenes Leid, sondern auch an die tiefen kulturhistorischen und zivilisatorischen Wunden, die Deutschland und Europa mit der Vertreibung von Deutschen zum Ende des Zweiten Weltkrieges zugefügt worden sind. Daß dies oft aus Gleichgültigkeit vielen West-und Mitteldeutschen unbekannt ist, verletzt deutsche Heimatvertriebene. Was weiß man eigentlich über das Schicksal der über zwölf Millionen geflüchteten und vertriebenen Deutschen, was will man überhaupt noch wissen? Waren es damals tatsächlich nur Flucht und Evakuierung, wie die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen der siebziger Jahre es beschreiben? Handelte es sich bei den Grausamkeiten nur um gelegentliche, fast entschuldbare spontane Vergeltungsmaßnahmen der Vertreiber?
Die Unwissenheit über die Verbrechen an Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen offenbart die Versäumnisse von Lehrern, Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten, die es unterlassen haben, dies, aber auch Leistung und Schicksal des geschichtlichen Ostdeutschlands, des Sudetenlandes und anderer Vertreibungsregionen zu vermitteln.
Ein für die Situation bezeichnendes Urteil über den Umgang mit dem Thema „Vertreibung in Film und Literatur“ enthält ein Gutachten, das Heinz Nawratil in seinem Buch „Vertreibungsverbrechen an Deutschen“ in folgendem Auszug veröffentlichte: „Man fragt sich unwillkürlich, weshalb ein so dramatisches, einschneidendes und so viele betreffendes historisches Ereignis wie der Verlust der ehemals deutschen Ostgebiete weder in der ernst-zunehmenden deutschen Literatur noch in deutschen Filmen -unter welchen politischen und unpolitischen Aspekten auch immer -ein irgendwie bemerkenswertes und dem Faktum angemessenes Echo gefunden hat. Gesetzt den Fall, ein ähnliches Schicksal hätte Frankreich, Italien oder England getroffen -wäre es da denkbar, daß französische, italienische oder englische Filmemacher einen derartig spektakulären und sozial äußerst folgenschweren Vorgang in ihrem Land jahrzehntelang einfach ignorierten oder sich gar durch opportunistische Selbstzensur (was wird wohl das Ausland dazu sagen?) an einer freimütigen Behandlung dieses so ungemein reichhaltigen Stoffgebietes hindern ließen?“
Seit Beginn der fünfziger Jahre bemühte sich immerhin das damalige Bundesministeriun für Vertriebene, die Lücken der geschichtlichen Überlieferung dadurch zu schließen, daß großangelegte Recherchen durchgeführt wurden, in deren Rahmen Niederschriften (z. B. Erlebnisberichte, Tagebücher, Briefe) von Tausenden Betroffenen aus allen Vertreibungsgebieten gesammelt wurden. Eine Auswahl aus diesem Material hat die Bundesregierung 1953 bis 1961 in der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ herausgegeben. Diese Dokumentation ist erst -nachdem sie über zwei Jahrzehnte nicht mehr erhältlich war (und dies auch aus politischen Gründen) -im Mai 1984 neu aufgelegt worden
Im Bundesarchiv in Koblenz lagern mehr als 40000 solcher Zeugnisse von Vertriebenen. Jahrelang wurde ein wissenschaftlicher Bericht zu diesen Unterlagen von den Bundesregierungen unter Verschluß gehalten. Erst seit Dezember 1982 sind diese Dokumente zur publizistischen und wissenschaftlichen Nutzung freigegeben worden, nachdem vorher nur einige kleine Teile davon an die Öffentlichkeit gelangen konnten
Die Literatur, die sich mit der Vertreibung auseinandersetzt, ist inzwischen auf einen stattlichen Bestand an ausführlichen Dokumentationen, kommentierenden und analysierenden Büchern angewachsen. Dennoch ist die Vertreibung nach wie vor fast alleiniges Thema der Vertriebenen selbst geblieben Im englischen Sprachraum hat sich der Historiker Alfred M.de Zayas im Hinblick auf die Verbreitung des Wissens um die Vertreibung verdient gemacht
Als einer der seltenen Versuche, auch im Fernsehen über das Thema der Vertreibung zu informieren, muß die am 3. November 1985 im ZDF ausgestrahlte, von Ekkehard Kuhn zu verantwortende Fernsehsendung „Das deutsche Nachkriegs-wunder. Leid und Leistung der Vertriebenen“ genannt werden. In seinem zwei Jahre später erschienenen Buch „Nicht Rache, nicht Vergeltung. Die deutschen Vertriebenen“ zieht Kuhn jedoch die ernüchternde Bilanz: „Die Solidarität, das Mitgefühl mit Opfern der Vertreibung, den Toten, den Verletzten, den Entehrten, den Folgegeschädigten ist heute unter uns Deutschen gering oder so gut wie nicht mehr vorhanden.“
Obwohl jeder vierte Einwohner der ehemaligen DDR entweder selbst vertrieben wurde oder aus einer Vertriebenenfamilie stammt, war das Thema der Vertreibung unter den Kommunisten selbstverständlich ebenfalls tabuisiert Bereits am 8. Oktober 1945 verfügte die sächsische Landesregierung, daß nur noch von „Umsiedlern“ gesprochen werden sollte. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden die Vertriebenen in der DDR im offiziellen Sprachgebrauch der SED-Diktatur beschönigend als „Neubürger“ bezeichnet
Im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950 hatten die Moskauer Satellitenregime in Warschau und OstBerlin die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze zwischen der damaligen DDR und der Volksrepublik Polen festgelegt In der Folgezeit fand das den strategischen Zielen des Sowjetimperiums zuwiderlaufende Thema der Vertreibung in den Medien, Schulen, der Wissenschaft und Literatur der DDR nicht mehr statt. Indirekt an die Vertreibung erinnert wurde in der DDR jedoch ständig durch die endlosen Revanchismuskampagnen gegen die Landsmannschaften der Vertriebenen im Westen, denen in der Feindbildpropaganda der Kommunisten eine große Rolle zukam.
Erst in den sechziger Jahren gab es in der DDR erste literarische Arbeiten, in denen die ostdeutsche Herkunft der Autoren zum Ausdruck kommt. Später waren es u. a. Christa Wolf, Ursula Höntsch und Armin Müller, die durch Romane Aufsehen erregten, in denen sich ostdeutsche Flucht-und Vertreibungsschicksale widerspiegeln An diesen Veröffentlichungen entzündete sich jedoch keine Diskussion über kulturelle, soziale oder politische Aspekte der Lage der Vertriebenen in der DDR.
Auch nach der Auflösung der SED-Herrschaft steckt die wissenschaftliche Erforschung des Schicksals der Vertriebenen in der DDR noch in den Anfängen. Seit Beginn der neunziger Jahre wurde jedoch an den Hochschulen in Berlin und Magdeburg eine Reihe von entsprechenden Forschungsprojekten in Auftrag gegeben In dem Abschlußbericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ wird dieses Thema nur sehr am Rande behandelt Ungeachtet dieser geringen öffentlichen bzw. politischen Aufmerksamkeit haben sich die Vertriebenen in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in starken Verbänden zusammengeschlossen. Der Bund der Vertriebenen (BdV) und einzelne Landsmannschaften verfügen in den neuen Bundesländern über erhebliche Mitgliederzahlen (Ende 1994 rd. 200000)
II. Die politische Vorgeschichte der Vertreibung
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg warf die Vertreibung ihre Schatten voraus, wurde Ost-und Sudetendeutschen das versprochene Selbstbestimmungsrecht vorenthalten. Durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 und den Vertrag von St. Germain mit Österreich vom 10. September 1919 wurde das erst wenige Monate vorher vom amerikanischen Präsidenten Wilson feierlich ausgerufene Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Deutschen nicht angewandt: Das Memelgebiet wurde abgetrennt, der überwiegende Teil der Provinz Posen, weite Gebiete Westpreußens und ein Drittel Oberschlesiens gerieten unter polnische Herrschaft; das sogenannte Hultschiner Ländchen und die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens wurden ungefragt der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen.
Hier bereits erfolgten die politischen Weichenstellungen, die Europa in noch größere Tragödien stürzen sollten. Hinzu kamen aufgrund des umstrittenen Kriegsschuldartikels hohe, nicht erfüllbare Reparationsforderungen. Diese sowie die umfangreichen Gebietsabtretungen raubten der Weimarer Demokratie mit der Wirtschaftskraft auch die politische Stabilität. Eine demokratische Westorientierung der ersten deutschen Republik war durch Versailles selbst verhindert worden. Revisionistische Tendenzen und Volksgruppenprobleme bildeten somit den fruchtbaren Boden für die nationalsozialistische Propaganda und letztlich den Weg zum Zweiten Weltkrieg
Von dem Leid, das durch Nationalsozialismus und Krieg von Deutschen den Juden, Polen, Russen, Tschechen und anderen zugefügt wurde, darf nichts geleugnet werden, und es wird auch nichts verschwiegen. Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus füllt mittlerweile nicht nur ganze Bibliotheken, sie ist auch -zu Recht -Bestandteil unserer demokratischen politischen Kultur geworden. Daß es auch in Deutschlands östlichen Nachbarvölkern Verbrecher und Kriegstreiber gegeben hat macht die Bürde der Schuld der Deutschen nicht geringer. Jedoch kann Unrecht nicht das Begehen neuen Unrechts rechtfertigen.
Schon während des Krieges fanden wichtige Entscheidungen der künftigen Siegermächte über die territoriale Neuordnung Mitteleuropas nach dem Kriege statt. Allerdings bekannten sich am 14. August 1941 die Alliierten in der „Atlantik-Charta“ dazu, „daß nach Kriegsende keine territorialen Veränderungen Platz greifen sollen, die nicht mit dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen der Völker übereinstimmen“. Auch die polnische Exilregierung, der tschechoslowakische Exil-Präsident Edvard Benesch und die Sowjetunion unterzeichneten diese Charta Dabei kann man davon ausgehen, daß dies sowohl für Benesch wie für Stalin lediglich eine taktische Maßnahme war. So gehörte Benesch seit dem Münchener Abkommen zu den Befürwortern einer Vertreibung von Sudetendeutschen, und ihm gelang es auch als erstem, grundsätzlich die Zustimmung nicht nur Stalins, sondern auch der amerikanischen und britischen Regierung zur Vertreibung der Sudetendeutschen zu erreichen
Stalin hatte zu dieser Zeit bereits als Folge seines Paktes mit Hitler und entsprechender sowjetischer Gebietsokkupationen Zwangsaussiedlungen zugestimmt, die keinen Zweifel daran ließen, daß er an seinen zu Kriegsbeginn geplanten Gebietsaneignungen festhalten wollte. Nur 14 Tage nach der Verabschiedung der Atlantik-Charta erließ Stalin am 28. August 1941 das Dekret „Über die Umsiedlung der Deutschen des Wolgagebietes“, was einem Todesurteil für die nationale, kulturelle und religiöse Selbständigkeit dieser Volksgruppe gleichkam
In den Verhandlungen der Siegermächte während des Krieges kam es Stalin und den später von ihm mit an den Verhandlungstisch gebrachten moskau-treuen polnischen Kommunisten darauf an, eine Westverschiebung Polens zu Lasten Deutschlands durchzusetzen und diese Grenzveränderungen durch Zwangsumsiedlungen der deutschen Bevölkerung unumkehrbar zu machen Nicht zuletzt durch eine Reihe von Täuschungsmanövern gelang es Stalin, die Zustimmung der westlichen Regierungen sowohl zur Vertreibung der Ost-und Sudetendeutschen nach Westen, wie auch auf der Konferenz von Jalta ihr Einverständnis zur Verschleppung von Deutschen zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager zu erreichen Obwohl die amerikanische und die britische Regierung -sowohl was das Ausmaß der späteren Westverschiebung Polens wie auch der Vertreibung von Deutschen anbelangt -sich weitergehenden Planungen Stalins entgegenstellten, muß festgehalten werden, daß auch Staatsmänner der westlichen Demokratien damals der Vertreibung das Wort geredet haben.
Auf der Konferenz von Teheran, Ende 1943, stellte der damalige britische Premierminister Winston Churchill seinen später zur Vertreibung führenden Vorschlag einer Westverschiebung Polens vor. Westliche Politiker stimmten damals der Vertreibung von Deutschen zu, auch wenn sie später auf deren Umfang und brutale Durchführung keinen Einfluß mehr hatten und sich amerikanische und britische Politiker über das Ausmaß der seit Kriegsende an den Ost-und Sudetendeutschen begangenen Verbrechen entrüsteten.
Angaben zum damaligen unabhängigen national-polnischen Standpunkt in der Oder-Neiße-Diskussion findet man in einem Interview, das der Ministerpräsident der Londoner Exilregierung Polens, Thomasz Arciszewski, am 17. Dezember 1944 der „Sunday-Times“ gegeben hat. Danach sollte das Vorkriegs-Polen wiedererstehen. „Amputationen“ im Osten zugunsten Stalins lehnte er ab. Dafür erhob er im Westen Anspruch auf das industriereiche Oberschlesien, auf die bis 1939 Freie Stadt Danzig sowie auf Ostpreußen und Teile von Pommern. Arciszewski lehnte es ab, Gebiete mit acht bis zehn Millionen Deutschen zu verlangen. Wörtlich sagte er: „Wir wollen weder Stettin noch Breslau.“ Ebenso lehnte der militärische Führer des polnischen Exils, General Wladislaw Anders, zu weitgehende Annexionen deutschen Gebietes ab.
Entgegen den in Jalta getroffenen Vereinbarungen, die endgültige Regelung der polnischen Grenzen einer Friedenskonferenz vorzubehalten, übertrug die Sowjetregierung nach der militärischen Besetzung die Gebietshoheit über den deutschen Osten mit Ausnahme des Gebietes rings um Königsberg der von ihr abhängigen pol-nisch-kommunistischen Regierung in Warschau. Diese errichtete noch vor Kriegsende am 14. März 1945 in den Oder-Neiße-Gebieten vier Wojewodschaften (Bezirksverwaltungen), denen am 20. März als fünfte die Wojewodschaft Danzig folgte.
Nicht nur gegenüber den Deutschen versündigten sich die westlichen Siegermächte an ihren eigenen Zielsetzungen der Atlantik-Charta, sondern auch dadurch, daß sie in der Folgezeit die demokratischen Repräsentanten Polens -sowohl die Exilregierung in London wie den polnischen Widerstand -zunehmend ignorierten und an deren Stelle die Marionetten stalinscher Macht-politik in Warschau akzeptierten. Zu spät erkannten die Westmächte, daß sie unter irrigen Voraussetzungen Stalins Politik der Westverschiebung Rußlands und Polens unterstützt hatten. Der sowjetische Einfluß reichte nun bis zur Elbe und die innerhalb dieses Raumes erfolgende Neugestaltung der politischen Verhältnisse entzog sich der Einflußnahme des Westens
III. Die Vertreibung der Deutschen
Als die Alliierten im Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945 „die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, ... in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ beschlossen, waren bereits seit Monaten mörderische Vertreibungen in Ostdeutschland, dem Sudetenland und den zahlreichen Siedlungsgebieten der Deutschen in den östlichen Nachbarstaaten Deutschlands im Gange. Entrüstete Berichte in der westlichen Öffentlichkeit und Appelle westlicher Politiker, die mehr Humanität bei der „Zwangsumsiedlung“ anmahnten, hatten kaum Einfluß auf Art und Umfang der im sowjetischen Machtbereich durchgeführten Vertreibungsaktionen.
In den östlichen Flucht-und Vertreibungsgebieten befanden sich mehr Zivilisten als zu Beginn des Krieges. Dafür waren folgende Faktoren maßgeblich -Die „Endsieg“ -Propaganda der Nationalsozialisten sowie militärisch-polizeiliche Maßnahmen verhinderten oft bis zuletzt Fluchtbewegungen aus diesem Raum.
-In den letzten Kriegsjahren strömten Hunderttausende von Evakuierten aus dem mittleren und westlichen Reichsgebiet, vor allem auch aus dem zerstörten Berlin, in die ländlichen Gegenden Ostdeutschlands.
-Während der Kriegszeit waren Hunderttausende von Deutschen aus anderen osteuropäischen Regionen in Polen angesiedelt worden
Insgesamt lebten bei Kriegsende in den Reichs-gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie 9, 75 Millionen Deutsche. Hinzugerechnet werden müssen jene 2, 14 Millionen Deutsche, die damals in Danzig, im Memelland und in Polen lebten, so daß fast zwölf Millionen Deutsche, die zum Kriegsdienst eingezogenen ostdeutschen Männer nicht eingerechnet, in diesem Raum in das Vertreibungsgeschehen verwickelt wurden.
Das Unheil kündigte sich an, als es der Roten Armee im Herbst 1944 gelang, die deutsche Ostfront aufzubrechen und für eine kurze Frist ostpreußisches Gebiet zu besetzen. Was die deutschen Soldaten in Nemmersdorf und anderen Gemeinden nach dem Zurückschlagen der Sowjets vorfanden, überstieg bei weitem die erwartete Gewalt. Unter diesem Schock begann man allmählich nachzuvollziehen, was deutsche SS-Einsatzgruppen in Rußland angerichtet hatten. Nach dem Bekanntwerden der Greueltaten setzten erste Flüchtlings-ströme ein. Mit dem näherrückenden Kriegsende verließen immer mehr Menschen in langen Flüchtlingstrecks hungernd, frierend und feindlichen Luftwaffenangriffen ausgesetzt ihre Heimat in der Hoffnung, in den Ostseehäfen die Rettung übers Meer zu finden. Kaum einer rechnete damit, daß es ein Abschied für immer werden sollte. Insgesamt retteten damals in der größten Rettungsaktion in der Geschichte der Schiffahrt 672 Handels-und 409 Kriegsschiffe etwa 2, 4 Millionen Menschen über die Ostsee. Beim Untergang von Schiffen fanden 33082 Flüchtlinge den Tod. Nur dem unermüdlichen Einsatz der Rettungsmannschaften war es zu verdanken, daß sich die Zahl der Opfer „in Grenzen“ hielt Dennoch gelang es den Sowjets mit ihren völkerrechtswidrigen Angriffen gegen Flüchtlingsschiffe, die mit Abstand größten Schiffstragödien überhaupt herbeizuführen. Es wurden von sowjetischen Torpedotreffern und Bombern in den Monaten vor Kriegsende versenkt: die „Goya“ mit 6666 Opfern, die „Wilhelm Gustloff", die über 5000 Menschen, darunter etwa 3000 Kinder, mit in die Tiefe riß, und die „Steuben“ mit 3 608 Opfern. Britische Bomber versenkten die „Cap Arcona“, wobei 5 594 Menschen ums Leben kamen -fast ausschließlich evakuierte KZ-Häftlinge. Zum Vergleich: Beim weltweit bekannten Untergang der „Titanic“ im Jahre 1912 starben 1513 Menschen. Auch jene verschwiegenen und vergessenen Schicksale sowie die im folgenden genannten Vertreibungsverbrechen an Millionen von Menschen sollten also mitbedacht werden.
Bei den Übergriffen vorrückender Rotarmisten gegen die ostdeutsche Zivilbevölkerung handelte es sich keineswegs nur um spontane Racheaktionen von außer Kontrolle geratenen Soldaten. Eine Fülle von vorliegenden Flugblättern, Hetzparolen in Soldatenzeitungen oder Briefen von Rotarmisten belegen, daß die Gewalt gegen Deutsche im Osten erklärtes Ziel kommunistischer Politik war. Wie kein anderer schürte der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg mit dem Aufruf „Töte“ und zahlreichen ähnlichen Appellen in der Roten Armee blindwütigen Haß auf die Deutschen Andere russische Schriftsteller wie Alexander Solschenyzin und Lew Kopelew wurden als Angehörige der vorrückenden Roten Armee Zeugen der brutalen Ausschreitungen gegen deutsche Zivilisten. Es hat diese beiden Russen viele Jahre ihres Lebens in den Konzentrationslagern des Archipel Gulag gekostet, daß sie sich mit diesem Terror und Mord nicht abfinden wollten.
Etwa ein Viertel aller deutschen Vertriebenen stammt aus Schlesien. Zu Anfang des Jahres 1945 lebten hier noch etwa 4, 7 Millionen Deutsche. Nachdem in den folgenden Monaten Krieg und Vertreibung auch auf Schlesien Übergriffen, wurde die Bevölkerung folgendermaßen auseinandergerissen: -In der Heimat zurückgeblieben oder auf der Flucht eingeholt, sind etwa 1, 6 Millionen Schlesier der Roten Armee in die Hände gefallen; -ungefähr 1, 6 Millionen Schlesier konnten in die Tschechoslowakei flüchten; -weitere 1, 5 Millionen Schlesier gelangten auf direktem Weg in westliche Gebiete des Deutschen Reiches.
Zusammenfassend heißt es dazu in der Dokumentation des Vertriebenenministeriums: Vertreibung und Flucht in Schlesien erhielten dadurch einen besonderen Charakter, daß, anders als die westpolnischen Gebiete und die übrigen ostdeutschen Regionen, Schlesien nicht im Handstreich von der Roten Armee überrollt werden konnte. Außerdem blieb bis zuletzt für die schlesische Bevölkerung die Möglichkeit zur Flucht auf dem relativ unbehinderten Weg nach Böhmen und Mähren offen. „Die Überrollung von Trecks, die Einschließung in Kessel und die Versperrung der Fluchtwege, die in so vielen Fällen das Fluchtschicksal der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und den polnischen Gebieten besiegelte, ist auch in Schlesien oft genug vorgekommen, hat aber dort nicht in gleicher Weise den Verlauf der Fluchtbewegung bestimmt. Die Evakuierung bzw.
Flucht der schlesischen Bevölkerung verlief in einzelnen aufeinanderfolgenden Wellen, die, vom Vordringen der Russen bestimmt, jeweils verschiedene Landesteile ergriffen.“
Als die sowjetischen Truppen Mitte Februar 1945 den Ring um das zur Festung erklärte Breslau geschlossen hatten, waren noch etwa 200000 Zivil-personen in der Stadt, von denen in den folgenden schlimmen Monaten der Belagerung bis zur Kapitulation am 6. /7. Mai 1945 ca. 40000 umgekommen sind Besonders arg traf es auch die Bevölkerung kleinerer Städte, die zum Kampfgebiet wurden, zum Beispiel Striegau, südwestlich von Breslau. Als am 15. Februar die sowjetischen Soldaten die Stadt eroberten, war noch die Hälfte der Einwohner, 15000 Menschen, dort. Bei der kurzzeitigen Rückeroberung der Stadt durch deutsche Truppen im März 1945 konnten von den zurückgebliebenen Einwohnern nur noch die Getöteten gefunden werden. Die anderen waren in rückwärtige, sowjetisch besetzte Gebiete verschleppt worden
Von den schlesischen Flüchtlingen, die nach Sachsen aufgebrochen waren, gerieten Mitte Februar 1945 ungezählte Tausende in die schweren Bombenangriffe auf Dresden und kamen darin um. Denn nicht allein Russen, Polen, Tschechen und Jugoslawen bestimmten den Leidensweg der Ver-triebenen. Am 13. und 14. Februar 1945 eröffneten anglo-amerikanische Luftangriffe ein Flächenbombardement auf das militärisch völlig irrelevante, aber mit Flüchtlingen überbevölkerte Dresden. Dies bedeutete die Vernichtung einer großen alten Kulturstadt sowie den Massenmord an mindestens 30000 Menschen. Es geht bei diesen und anderen Feststellungen keineswegs um den Versuch einer Aufrechnung, sondern darum, daß ein Verbrechen auch so genannt werden muß.
Besonders schlimm erging es auch Hunderttausenden, die in die sudetendeutschen Gebiete und weiter nach Böhmen oder Mähren geflohen waren und dort nach Kriegsende dem Haß von Tschechen ausgeliefert waren, die oft noch gewalttätiger vorgingen als die Rotarmisten.
Bereits Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges übertrug die Sowjetunion den moskau-treuen polnischen Kommunisten die Verwaltungshoheit über die eroberten ostdeutschen Regionen, mit Ausnahme des Königsberger Gebietes. Am 5. Februar 1945 gab der polnische KP-Führer Boleslaw Bierut für die provisorische Regierung der Polnischen Republik bekannt, daß Polen die Zivilverwaltung in den deutschen Gebieten östlich der Oder/Neiße übernommen habe. Bis zum 20. März hatten die polnischen Kommunisten in Ostdeutschland und Danzig bereits fünf Wojewodschaften eingerichtet. Am 24. Mai 1945 wurde das Dekret „Betreffend die Verwaltung der wiedergewonnenen Gebiete“ erlassen, welches formell die polnisch-kommunistische Machtbefugnis über den größten Teil Ostdeutschlands bestätigte. Dennoch kam es ständig zu Reibereien zwischen russischer Militär-und polnischer Zivilverwaltung hinsichtlich der Erbeutung und Demontage deutschen Besitzes sowie der Behandlung der „vogelfrei“ gewordenen deutschen Bevölkerung.
Die überlebenden Deutschen wurden nach Plünderungen und Mißhandlungen oft wie Sklaven gehalten, in sowjetische Arbeitslager deportiert, und zum Teil wurden ganze Dorfbevölkerungen in von den Nazis übernommene oder neu eingerichtete Konzentrationslager gebracht Aufgrund des bereits am 2. März 1945 erlassenen „Dekrets über aufgegebene und verlassene Vermögen“ konnten sich Polen die deutsche Habe beliebig aneignen. Vom eigenen Haus oder Hof vertriebene Deutsche wurden zu um ihr Leben zitternden Bettlern und vom Abfall lebenden Vagabunden.
Bereits Ende Juni/Anfang Juli 1945 begannen auf einem 100 bis 200 Kilometer breiten Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie ebenso schnell wie brutal durchgeführte Austreibungen der Deutschen. 200000 bis 300000 Schlesier, Pommern und Brandenburger wurden in Fußmärschen unter Mißhandlungen durch Rotarmisten oder die polnische „Miliz“ nach Westen eskortiert. Sie waren froh, wenn sie zwar ohne jede Habe, aber noch lebendig mitteldeutschen Boden erreichten. Obwohl noch kein Ausweisungsplan vorlag, wurden in den Wochen nach der Potsdamer Konferenz vor allem in Oberschlesien viele Deutsche in Lagern zusammengefaßt, um sie anschließend in geschlossenen Transporten nach Westen zu bringen. Schon ab dem 1. Juni waren alle Brücken über Oder und Neiße für heimwärts strebende deutsche Flüchtlinge gesperrt worden. Nur während der Potsdamer Konferenz waren auf Druck der Westmächte die wilden Vertreibungsaktionen vorübergehend eingeschränkt worden. Härter noch als die Vertreibung der Ostdeutschen war das überwiegend von der Einweisung in Arbeitslager gekennzeichnete Schicksal der deutschen Volksgruppe in Polen, die fast völlig vernichtet wurde
IV. Vertreibung und Aussiedlung nach der Potsdamer Konferenz
Die Vertreibung aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien Die Phase der „kontrollierten“, aber keinesfalls humanen, sondern völkerrechtswidrigen Vertreibung begann mit der Verabschiedung eines Ausweisungsplanes des Alliierten Kontrollrates am 17. Oktober 1945. Hunderttausende von Deutschen, insbesondere auch aus dem russisch verwalteten nördlichen Ostpreußen, mußten sich kurzfristig auf Sammelplätzen einfinden, um dann in Richtung Westen abgeschoben zu werden. Es durfte nur soviel Gepäck mitgenommen werden, wie man tragen konnte. Die Aktion wurde angesichts der öffentlichen Empörung in der westlichen Welt über die bisherigen Begleitumstände der Vertreibung zeitweilig unterbrochen. Auf west-und mitteldeutschen Bahnhöfen trafen unangekündigt mit Vertriebenen vollgepferchte Güterzüge ein.
Im Westen war man auf die Aufnahme so vieler Menschen nicht vorbereitet. Es kamen insgesamt bis 1950 mehr als doppelt so viele Menschen im Westen an, als der vereinbarte Ausweisungsplan vorsah, weil wesentlich mehr Menschen vertrieben wurden, als die Westmächte angenommen hat-ten Oft wurden die Vertriebenen unter unmenschlichen Bedingungen tage-und wochenlang in Güterwagen planlos von einem Ort zum anderen abgeschoben. Durch die Vertreibungsaktion kamen allein im Jahr 1946 etwa zwei Millionen verzweifelte und auch körperlich angegriffene Menschen nach Westdeutschland, wo sie überwiegend nur in provisorischen Flüchtlingslagern untergebracht werden konnten.
Die systematische Vertreibung umfaßte nun alle Gebiete Ostdeutschlands mit Ausnahme von Teilen Oberschlesiens und des niederschlesischen Waldenburger Berglandes, wo man noch deutsche Arbeitskräfte benötigte. Übergriffe und Plünderungen der Vertreiber ließen erst im Sommer 1946 nach. 1947 wurden in einer letzten großen Vertreibungsaktion nochmals zahlreiche Ostdeutsche nach Westen verbracht, darunter viele, die man bisher noch als Facharbeiter benötigt hatte.
Nur in Masuren, im südlichen Ostpreußen, und vor allem in Oberschlesien konnte die angestammte deutsche Bevölkerung in einigen geschlossenen Siedlungsgebieten verbleiben, wofür wohl zwei Gründe ausschlaggebend waren: Erstens benötigte man -zumal im oberschlesischen Industriegebiet -weiter deutsche Fachkräfte, und zweitens hätte eine komplette Austreibung der Deutschen der polnischen Propaganda von der „Rückkehr in uralte Piastengebiete", die auch als „wiedergewonnene Gebiete“ bezeichnet wurden, allzu offenkundig widersprochen. Diese Deutschen, die als „Autochthone“ im Lande verbleiben durften, waren in den folgenden Jahrzehnten vielen Diskriminierungen und versuchter Zwangspolonisierung ausgesetzt.
Noch im Sommer 1945 war bereits mit der Aus-siedlung polnischer Vertriebener aus den von den Russen annektierten ostpolnischen Gebieten begonnen worden. Dennoch trifft die weitverbreitete Annahme nicht zu, daß die deutschen Ostprovinzen nach 1945 mehrheitlich von polnischen Vertriebenen aus Ostpolen besiedelt worden sind. Nach offiziellen Angaben der polnischen Kommunisten lebten am 1. Januar 1949 in den polnisch-verwalteten Oder-Neiße-Gebieten 1, 2 Millionen „Autochthone“ und „anerkannte Deutsche“, 2, 4 Millionen Umsiedler aus Zentralpolen, 200000 vor allem aus Frankreich und Belgien eingewanderte Auslandspolen („Reemigranten“) und 2, 1 Millionen „Repatrianten“ aus den ostpolnischen Gebieten Neben Oberschlesien und Masuren gab es im Waldenburger Bergland und in der ostpommerschen Kaschubei noch kleine deutsche Siedlungsinseln.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen Die Vertreibung der über drei Millionen Sudetendeutschen aus ihrer angestammten Heimat war das erklärte Ziel der tschechoslowakischen Exilregierung unter Präsident Benesch in London. Als im Frühsommer 1945 die Rote Armee zusammen mit der tschechischen Befreiungsarmee die deutsche Wehrmacht aus dem Sudetenland verdrängte, wurde unverzüglich mit der Austreibung der Deutschen begonnen. Auftakt der Gewalt gegen die Sudetendeutschen war der Prager Aufstand am 5. Mai 1945. Durch Hetzparolen und Schmähschriften entfesselte Tschechen sowie in der Sowjetunion ausgebildete Einheiten von General Svoboda und Partisanen fielen über die Deutschen her Zwar wird auch von Gewalttaten von Rotarmisten berichtet, doch Hauptakteure waren Tschechen. Im Anschluß an den Prager Aufstand wurden die Deutschen an vielen Orten in Lager gebracht oder in „wilden Ausweisungen“ zur Grenze getrieben. Ortschaften wurden systematisch abgeriegelt, die Bewohner kurzfristig zum Verlassen der Häuser aufgefordert und in Fußmärschen zur deutschen Grenze verbracht. Frauen, Alte, Kranke und Kinder konnten froh sein, wenn sie ausgeplündert, aber noch lebend deutsches Gebiet erreichten. Später wurde die Vertreibung der Sudetendeutschen von den örtlich eingerichteten Nationalausschüssen organisiert, die sich ein wenig mehr an die humanitären Vorgaben des Potsdamer Protokolls hielten als das tschechische Militär oder Milizionäre. Dennoch wurden in vielen Fällen Väter von ihren Familien getrennt, weil man sie noch als Arbeitskräfte benötigte.
Trotz der Aufforderung der Potsdamer Konferenz, die Austreibungen einzustellen, wurden weiter Transporte mit vorwiegend alten und kranken Leuten über die Grenze geschickt. Zehntausende saßen unterernährt in überfüllten Lagern, wo es wegen der primitiven sanitären Verhältnisse zu Epidemien kam, die unter den entkräfteten Menschen viele Opfer forderten. Die Dokumentation des Bundesarchivs berichtet von 1215 Internierungslagern, 846 Arbeits-und Straflagern und 215 Gefängnissen, in denen 350000 Deutsche festgehalten worden waren. Schlechte Ernährung, unhygienische Verhältnisse und Mißhandlungen führten vor allem bei Kindern und älteren Menschen zu einer hohen Todesrate.
Es kann hier nicht detailliert auf die schier endlose Zahl von Grausamkeiten und Verbrechen eingegangen werden. Erinnert sei wenigstens an das Massaker von Aussig, wo Hunderte von Deutschen erschlagen und in die Elbe geworfen wurden. oder an den berüchtigten „Todesmarsch“ der Brünner Deutschen: Am 30. Mai 1945 wurden über 20000 Menschen zur österreichischen Grenze getrieben
Von den 3, 45 Milhonen Deutschen, die bei Kriegsende in der Tschechoslowakei lebten, wurden im Verlauf der ersten Austreibungswelle 700000 bis 800000 aus dem Osten und Norden des Sudetenlandes vertrieben. Am 19. Januar 1946 begann die zweite Austreibungswelle, die durch das Potsdamer Abkommen sanktioniert war; sie dauerte bis in den Herbst 1946 und erfaßte 1859541 Sudetendeutsche
Die Vertreibung aus Südosteuropa Trotz Evakuierungsappellen deutscher Stellen flüchteten im Herbst 1944 von den etwa 500000 Ungamdeutschen nur knapp zehn Prozent vor den in Ungarn vorrückenden Rotarmisten. Zwar kam es auch hier beim Einmarsch der sowjetischen Truppen zu Plünderungen, Schikanen und späterer Zwangsarbeit von Deutschen, aber nicht zu ähnlichen massenhaften Greueltaten wie in Ostdeutschland, Polen, Jugoslawien oder im Sudetenland. Insgesamt wurden etwa 60000 Deutsche, davon etwa je zur Hälfte Zivilisten und Kriegsgefangene, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt
Nach dem Krieg gewannen deutschfeindliche ungarische Nationalisten an Einfluß, und es setzte eine systematische Unterdrückung und Verfolgung der Deutschen ein. Während Ungarn ursprünglich nur exponierte Nationalsozialisten ausweisen wollte, wurde durch den Druck der madjarischen Nationalisten dann doch die Ausweisung von etwa Prozent der Ungamdeutschen beschlossen. In zwei Etappen wurden 1946 170000 Ungamdeutsche nach Baden-Württemberg in die amerikanische und 1947/48 50000 in die sowjetische Besatzungszone umgesiedelt. Etwa 270000 konnten in der Heimat verbleiben. Ähnlich dem Schicksal der Deutschen in Polen spielte sich auch das Leben der Volksdeutschen in Jugoslawien nach der Machtübernahme der Tito-Partisanen und der Roten Armee nur noch in Lagern ab 40. Als im Herbst 1944 in weiten Teilen Jugoslawiens Partisanenverbände die Macht übernahmen, befanden sich von den ursprünglich 800000 dort lebenden Deutschen noch mehr als 200000 im Lande. Die Mehrzahl wurde in Lager eingewiesen, wo es schon bald zu Massenerschießungen kam. In den sogenannten Vernichtungslagern starben nach den zugänglichen Informationen mindestens 67000 Deutsche. Insgesamt sind bei der Vertreibung aus Jugoslawien mehr als 80000 Deutsche umgekommen.
In Rumänien verlief der Einmarsch der Roten Armee ähnlich wie in Ungarn verhältnismäßig diszipliniert. Auch hier hat es nur in sehr begrenztem Umfang rechtzeitige Evakuierungen von Deutschen gegeben. Nicht die Rotarmisten, sondern Rumänen plünderten schutzlose Deutsche aus. Obwohl Rumänien kein sowjetischer Feindstaat war, forderte Moskau Arbeitskräfte für den Wiederaufbau in der Sowjetunion an, wozu im wesentlichen die arbeitsfähige deutsche Bevölkerung herangezogen wurde. 80000 Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen wurden zur Zwangsarbeit verschleppt Vertreibungen aus Rumänien nach Deutschland waren im Potsdamer Abkommen nicht vorgesehen und haben auch nicht stattgefunden. Erst wegen der unerträglichen Lebensbedingungen unter den neuen kommunistischen Machthabern begann in den späteren Jahren die Aussiedlung der Deutschen aus Rumänien nach Westdeutschland.
V. Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Wie die beiden regierungsamtlichen Dokumentationen aus den fünfziger und siebziger Jahren berichten. gingen die vorrückenden russischen Truppen mit kaum vorstellbarer Grausamkeit gegen deutsche Frauen vor, die ihnen in die Hände fielen. In der .. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ wird zum Einmarsch der Roten Armee in Ostdeutschland zusammenfassend festgestellt: .. Bei den zahlreichen Erlebnisberichten, die vom Einzug der Roten Armee handeln, gibt es kaum einen, der nicht von Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen zu berichten weiß; in vielen wird sogar in aller Offenheit von selbsterlittenen Vergewaltigungen erzählt. Es kann auch bei kritischster Prüfung dieser Berichte kein Zweifel sein, daß es sich bei den Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch sowjetische Soldaten und Offiziere um ein Massenvergehen im wahren Sinne des Wortes handelt, keineswegs um bloße Einzelfälle. Darauf deutet schon hin, daß förmliche Razzien auf Frauen unternommen wurden, daß ferner manche Frauen in vielfacher Folge nacheinander mißbraucht wurden und daß die Vergewaltigungen oft in aller Öffentlichkeit vor sich gingen. In gleicher Weise befremdend und Entsetzen erregend wirkte es auf die deutsche Bevölkerung, daß von den Vergewaltigungen auch Kinder und Greisinnen nicht verschont wurden.“ In der Dokumentation des Bundesarchivs in Koblenz heißt es:
„Es handelt sich bei den Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen durch sowjetische Soldaten nicht etwa um Einzelfälle, sondern um Massen-vergehen. Sie sind als eine der grauenhaftesten völkerrechtswidrigsten Gewalttaten zu verzeichnen. Sie haben in massenhaftem Ausmaße bei und nach der Eroberung der östlichen Reichsgebiete stattgefunden, auch in den Kreisen, die erst nach der Kapitulation der Wehrmacht besetzt wurden.“ In seinem Buch „Anmerkungen zur Vertreibung“ zitiert Alfred M.de Zayas aus dem Bericht eines Beamten des amerikanischen Außenministeriums: „Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, sondern von den neuen Besitzern übernommen worden. Meistens werden sie von polnischer Miliz geleitet. In Swientochlowitz (Ostoberschlesien) müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu Tode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zum Hals in kaltem Wasser stehen, bis sie sterben. In Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die Schreie der Opfer dringen.“
In Oberschlesien wurde z. B. das frühere Kriegsgefangenenlager Lamsdorf in ein Internierungslager für Deutsche umgewandelt. In diesem Lager kamen von August 1945 bis zum Herbst 1946 insgesamt 6430 Deutsche, darunter 623 Kinder, ums Leben Die Täter von Lamsdorf oder Swientochlowitz leben noch, sind namentlich bekannt und befinden sich im Rechtsprechungsbereich polnischer Richter
Die Dokumentation des früheren Bundesvertriebenenministeriums weist darauf hin, daß in solche Lager im Laufe der Zeit fast alle Deutschen in Polen eingewiesen worden sind, und berichtet über die dort herrschenden KZ-ähnlichen Zustände: „Durch die Internierungslager und die schrecklichen Formen der Zwangsarbeit wurde das Schicksal der Deutschen im polnischen Staatsgebiet noch schwerer als das der Deutschen in den östlichen Provinzen des Reiches... Deutsche Frauen mußten, den rohen Schikanen der polnischen Miliz ausgesetzt, von russischen Soldaten belästigt und vergewaltigt, bei völlig unzureichender Verpflegung Leichen bergen, Tierkadaver begraben, Munition und Kriegsgerät fortschaffen, Straßen und Wege freilegen und Häuser säubern... Es erschien das Leben der Alten, Kranken und Kinder geradezu hoffnungslos, die -als Arbeitskräfte verschmäht -Jahr um Jahr in den Internierungslagern verbringen mußten. Ihr Leiden überschritt alles Maß. Sie konnten den quälenden Schikanen und der oft sadistischen Grausamkeit der Bewachungsmannschaften nicht entrinnen... Durch totale Entkräftung hilflos geworden, ohne Medikamente, von Ungeziefer geplagt, ohne Möglichkeit, auch nur die primitivsten Bedürfnisse der Körperpflege zu befriedigen, siechten sie dahin... Planmäßiges Erschießen von Alten und hilflosen Kranken, wie es beispielsweise im Lager Kaltwasser geschah, Gewalttaten und Mißhandlungen der Wachmannschaften, oft geleitet von dem Bestreben, Behandlungsmethoden nationalsozialistischer Konzentrationslager zu imitieren, erhöhten die Zahl der Todesopfer.“ Wie hoch die Zahl derjenigen sei, die in der Zeit von 1945 bis 1950 in den polnischen Internierungslagern gestorben sind, werde sich wohl nie mehr feststellen lassen, heißt es in dieser Vertreibungsdokumentation. Die Lagerleitungen hätten die Zahl der toten Deutschen geheimgehalten, Massengräber seien z. T. wieder eingeebnet und Grabstätten unkenntlich gemacht worden. Wie die Dokumentation des Vertriebenenministeriums berichtet, wurden bereits seit Dezember 1944 in den südosteuropäischen Staaten Rumänien, Ungarn und Jugoslawien Zehntausende von Deutschen zumeist in die russischen Industriegebiete am Donez und Don, in den Ural und nach dem Kaukasus zur Zwangsarbeit verschleppt. Als die Westmächte auf der Konferenz von Jalta (4. bis 11. Februar 1945) der Sowjetunion das Recht einräumten, nach dem Sieg über Deutschland als einen Teil der ihr zugesprochenen Reparationen deutsche Arbeitskräfte nach Rußland zu schaffen, waren die Deportationen in den deutschen Ostprovinzen bereits in vollem Gange und die Verschleppungen aus Südosteuropa nahezu abgeschlossen
In der Dokumentation des Bundesarchivs wird zusammenfassend festgestellt, daß die Anzahl der in die Sowjetunion als „Reparationsverschleppte“ sowie „Vertragsumsiedler“ gewaltsam verbrachten Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße mehr als 400000 Menschen betragen habe, „wovon nur 55 Prozent überlebten. Demnach wären in den Lagern der Sowjetunion und auf Transporten ca. 200000 verstorben.“
Die genaue Zahl der deutschen Zivilpersonen, die auf der Flucht, bei Deportationen oder sonstigen Vertreibungsverbrechen ums Leben kamen, wird wohl nicht mehr festzustellen sein. Für die Beurteilung des Gesamtvorganges sollte es auch unerheblich sein, daß in der Fachliteratur unterschiedliche Angaben hinsichtlich der Gesamtzahl der Opfer zu finden sind.
Erstmals hat im Jahre 1958 das Statistische Bundesamt eine umfassende Studie zum Ausmaß der Vertreibung sowie der Vertreibungsverbrechen vorgelegt. In einer Aktualisierung des damals veröffentlichten Zahlenmaterials kommt Heinz Günter Steinberg zu dem Schluß, daß jeder siebte Heimatvertriebene -insgesamt also 1, 710 Millionen Deutsche -bei Flucht, Vertreibung, Verschleppung oder in Lagern ums Leben gekommen sind. Danach wurden allein in den Ostgebieten des Deutschen Reiches 882000 Zivilisten umgebracht, was nahezu zehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung entsprach Davon starben etwa 311000 in Ostpreußen. Die relativ größten Zivilverluste mit mehr als einem Drittel der Vorkriegsbevölkerung waren in Ostbrandenburg und in Jugoslawien zu verzeichnen
Von den Schlesiern, die mit über 4, 5 Millionen Menschen den größten der vertriebenen deutschen Volksstämme darstellen, sind den Angaben Stein-bergs zufolge über 450000 und von den Sudetendeutschen etwa 273 000 bei der Vertreibung ums Leben gekommen
Einschließlich der Kriegsverluste sind von über zwölf Millionen Deutschen, die beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in den späteren Vertreibungsgebieten lebten, insgesamt nach der Darstellung Steinbergs 2, 810 Millionen umgekommen, so daß jeder sechste Ost-, Südost-und Sudetendeutsche im Krieg oder bei der Vertreibung sein Leben verloren hat Dabei wird in den Angaben des Statistischen Bundesamtes und auch Steinbergs nicht das Schicksal der Rußlanddeutschen erfaßt, von denen ebenfalls seit 1941 Hunderttausende bei der Verschleppung oder in den östlichen Verbannungsgebieten ums Leben gekommen sind.
Heinz Nawratil nennt in seiner Untersuchung „Vertreibungsverbrechen an Deutschen“ die Zahl von 350000 Rußlanddeutschen, die ihre Verschleppung nach Osten nicht überlebt haben. Nawratil verweist auf eine umfassende Analyse des Kirchlichen Suchdienstes, die 1963 zu dem Ergebnis gekommen ist, daß bei der Vertreibung der Deutschen 2, 3 Millionen Menschen umkamen -eine Angabe, die auch vom Bundesinnenministerium verwendet worden sei. Hinzu rechnet er die Verluste der Rußlanddeutschen mit 350000 Opfern und von den mindestens zwei Millionen zugezogenen Menschen, zum Beispiel Bomben-flüchtlinge aus Berlin oder dem Westen, etwa 220000 Tote. Das ergebe, so Nawratil, eine Zahl von mindestens 2, 8 Millionen Todesopfern der Vertreibung
VI. Ankunft und Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen
Knapp acht Millionen Vertriebene wurden in Westdeutschland, fast vier Millionen auf dem Gebiet der späteren DDR und etwa 200000 in der damals noch ungeteilten deutschen Hauptstadt Berlin aufgenommen. Die hohe Zahl der Opfer und die verbrecherischen Begleitumstände der Vertreibung dürfen nicht den Blick für die Tragik und Bitterkeit des Verlustes der Heimat an sich verstellen. Für den einzelnen Überlebenden bedeutete dies bedrohliche körperliche und vor allem seelische Erschütterung und Erschöpfung, Verlust der meisten persönlichen Bindungen mit ihren Kennzeichen kultureller und landschaftlicher Eigenart. Besonders für viele alte Menschen war die Vertreibung aus ihrer Heimat unfaßbar. In den zertrümmerten west-und mitteldeutschen Großstädten fand sich für die Fremden -so wurden sie von den Einheimischen empfunden und so empfanden sie sich auch selbst -oft keine halbwegs zulängliche Unterkunft, und auf dem Lande war man auf die Aufnahme so vieler Menschen nicht eingestellt.
Lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland zu Zeiten relativen Wohlstandes 39 Millionen Menschen, so galt es sechs Jahre später in dem gleichen, jedoch jetzt vom Krieg weitgehend zerstörten und ausgezehrten Landesteil 47, 5 Millionen Menschen -neben den Vertriebenen noch Hunderttausende ausländische Flüchtlinge aus dem sowjetischen Machtbereich -zu versorgen Millionen der Flüchtlinge und Vertriebenen mußten viele Jahre lang in Lagern leben.
Die Konfrontation zwischen Einheimischen und Vertriebenen steigerte sich, als sich die Lage der Westdeutschen nach dem Krieg ebenfalls verschlechterte: Anhaltender Wohnraummangel, Arbeitslosigkeit und knappe Lebensmittel förderten die Spannungen zwischen den Deutschen verschiedener landsmannschaftlicher Herkunft. Wie schwer das Schicksal der Arbeitslosigkeit über viele Jahre auf den Heimatvertriebenen lastete, mag folgende Zahl verdeutlichen: Von einer Gesamtzahl von 1, 66 Millionen Arbeitslosen Ende Februar 1951 waren nicht weniger als 557000 Heimatvertriebene. Bei einem Anteil an der Bevölkerung von rund 16, 5 Prozent erreichte ihr Anteil an der Zahl der Arbeitslosen 33, 5 Prozent
Die Aufnahme so vieler Millionen heimatlos gewordener Menschen erschien unter den katastrophalen Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre unlösbar. Erschwerend wirkte sich zudem aus, daß es in den Westzonen keine systematische Verteilung des großen Zustroms von Flüchtlingen und Vertriebenen gegeben hatte -nicht zuletzt eine Folge des allgemeinen Nachkriegs-Chaos. So stauten sich die Vertriebenen in den für sie nächst erreichbaren Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern. Auch die Politik der Westmächte verhinderte eine sinnvolle Aufteilung. Unter Verweis darauf, daß Frankreich das Potsdamer Abkommen nicht unterzeichnet habe, sperrten sich die Franzosen generell gegen eine Aufnahme von Vertriebenen in ihrer Besatzungszone. In der britischen Zone wurden die Ost-und Sudetendeutschen willkürlich und unzweckmäßig von der Besatzungsmacht verteilt. Am besten funktionierte die Aufteilung noch in der US-Zone, wo sie auf Anordnung der Amerikaner von deutschen Stellen vorgenommen wurde.
Diese ungleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen über die westdeutschen Regionen gehörte damals zu den drängendsten Problemen, weil dort, wo die Menschen zumeist notdürftig untergebracht waren, oft weder ausreichend Wohnungen noch Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden waren. Über eine Million Vertriebene wurden daher auf freiwilliger Basis und mit öffentlicher Unterstützung in den Jahren von 1949 bis 1963 innerhalb des Bundesgebietes umgesiedelt Insgesamt haben durch Umzüge und Umsiedlungen in diesen Jahren rund 3, 4 Millionen Vertriebene ihren Wohnsitz von einem Bundesland in ein anderes verlegt. Hinzu kommen noch die Wanderungen innerhalb der Bundesländer
Grundlegende Gesetze für die soziale Eingliederung der Millionen Heimatvertriebenen konnten erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erlassen werden. Nach Beginn des Kalten Krieges war klargeworden, daß die Vertreibung keinesfalls eine kurze Episode sein würde. Das Schlagwort, unter dem die soziale Integration der Vertriebenen konzipiert wurde, lautete daher „Lastenausgleich". Es wurde ein Gesetzeswerk geschaffen, das sowohl die Eingliederung wie eine individuelle Entschädigung von Vertriebenen und Flüchtlingen in einem bundesweit einheitlichen Verfahren ermöglichte, ohne jedoch die fort-geltenden Eigentumsrechte der Betroffenen zu verletzen Nachdem bereits 1949 ein lediglich auf Eingliederungshilfen abzielendes Soforthilfegesetz (SHG) und für die vertriebenen Bauern das Flüchtlingssiedlungsgesetz verabschiedet worden waren, trat am 1. September 1952 das Entschädigung leistende umfassende Lastenausgleichsgesetz (LAG) in Kraft. Mit dem Bundesvertriebenengesetz vom 19. Mai 1953 wurde die Eingliederung der Vertriebenen bundesweit einheitlich geordnet. Nun gab es für alle westdeutschen Bundesländer die gleichen Begriffe, Regelungen und Behörden. Durch die Einrichtung, von Beiräten der Vertriebenen bei den zentralen Dienststellen von Bund und Ländern wurde die Effizienz dieses Gesetzes erheblich erhöht. Das Bundesvertriebenengesetz bildet bis heute die Grundlage für die Aufnahme von deutschen Aussiedlern aus den Herkunftsgebieten der Vertriebenen, von denen seit 1950 über drei Millionen nach Deutschland gekommen sind § 96 des Bundesvertriebenengesetzes beinhaltet den gesetzlichen Auftrag an Bund und Länder, das deutsche Kulturerbe der Vertreibungs-und Siedlungsgebiete im Osten und Südosten Europas zu bewahren sowie im Bewußtsein des deutschen Volkes und des Auslands lebendig zu halten. In diesem Sinne fördert der Bund unter anderem Kultureinrichtungen wie Museen, Kulturwerke und Stiftungen sowie die kulturelle Breitenarbeit der Vertriebenenverbände.
Durch die politischen Veränderungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist es auch wieder möglich geworden, kulturhistorische Zeugnisse in den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge und Vertriebenen zu erhalten und zu pflegen. Vorhaben, die dieser neuen Aufgabe dienen, werden von der Bundesregierung unterstützt. Entsprechende Projekte in den Heimatgebieten, die im Geiste der Verständigung gemeinsam von Vertriebenen mit Vertretern der heute dort lebenden Nachbarvölker durchgeführt wurden, stellen zum Beispiel die 450-Jahr-Feier der Universität Königsberg am 27. September 1994 oder die Wiedererrichtung des Eichendorff-Denkmals im oberschlesischen Ratibor am 4. September 1994 dar.
Wenn der Weg Westdeutschlands nach dem Kriege nicht in Anarchie und Chaos endete, sondern in gemeinsamer Anstrengung ein einzigartiges, weltweit geachtetes, friedliches Aufbauwerk geleistet wurde, so ist dies auch ein Verdienst der deutschen Vertriebenen. Sie haben sich nicht zum politischen Extremismus oder gar Terrorismus entschlossen, wie so viele andere Flüchtlingsgruppen in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, sondern sie haben tatkräftig am Wiederaufbau mitgearbeitet. Ein naheliegendes Kalkül Stalins, mit der Vertreibung von Millionen Ost-und Sudetendeutschen einen die Festigung demokratischer Strukturen unmöglich machenden sozialen Sprengsatz in Westdeutschland zu installieren, war nicht aufgegangen, weil die Landsmannschaften der deutschen Vertriebenen sich von Beginn an für eine gewaltfreie, demokratische Politik entschieden hatten. So gehört die 1950 verabschiedete und durch Jahrzehnte friedfertiger Verbandsarbeit glaubwürdig bezeugte Charta der deutschen Heimatvertriebenen zu den herausragenden, allerdings weithin unbekannten demokratischen Traditionen unseres Volkes, auf die alle Deutschen stolz sein könnten, wenn sie davon wüßten. Nicht ohne Grund hat der frühere bayerische Ministerpräsident Strauß zu Beginn der achtziger Jahre, die deutschen Vertriebenen wegen ihrer entschiedenen Friedenspolitik für die Ehrung mit dem Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
VII. Ausblick
Zu einer zukünftigen europäischen Friedensordnung, die diesen Namen verdient, muß es gehören, daß auch mit den deutschen Vertriebenen und den in deren Heimat verbliebenen Landsleuten nach den Grundsätzen von Recht und Wahrheit umgegangen wird. Gerade die über Jahrzehnte hinweg in ihrer Existenz bedrohten ostdeutschen Volks-gruppen müssen einen zentralen Bestandteil des Fundamentes des vielbeschworenen gemeinsamen europäischen Hauses ausmachen, wenn dieses Europa nicht auf dem Sand von Geschichtslügen und Unrecht gebaut werden soll.
Genauso wie die vertriebenen Ostdeutschen nach dem Krieg für den Wiederaufbau in Westdeutschland ihren großen Beitrag geleistet haben, kommt den Millionen Vertriebenen und deren noch daheim lebenden Landsleuten heute beim Wiederaufbau des ost-, südost-und ostmitteleuropäischen Raumes, natürlich vor allem in den angestammten Heimatgebieten, eine Schlüsselrolle zu. Die in vielen Reden vor Vertriebenen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder beschworene Brücken-funktion zu den östlichen Nachbarvölkern stellt heute eine der wichtigsten Optionen und Fundamente einer sich nach Osten hin orientierenden europäischen Politik dar. Das Potential der Ver triebenen und ihrer in den Heimatgebieten gebliebenen Landsleute in eine realistische Ost-und Europapolitik einzubringen war deshalb auch Thema einer Entschließung des Deutschen Bundestages vom 27. Mai 1993.
Das Bemühen um historische Wahrheit als Grundlage einer realistischen Verständigungspolitik, aber auch die Würde der Opfer und ihr Vermächtnis, Vertreibungen für alle Zeit als Mittel der Politik zu ächten, sollten Deutsche und ihre östlichen Nachbarvölker dazu anhalten, sich sachlich mit dem lange verdrängten Kapitel der Vertreibung der Deutschen zum Ende des Zweiten Weltkrieges auseinanderzusetzen.
Zu Recht fragt Johann Georg Reißmüller in einem Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 23. Januar 1995: „Wie kann man behaupten, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation sei normal, da die große Mehrheit des Volkes, angeführt von der großen Mehrheit der politisch Wirkenden, von allen Opfern der Staats-Unmenschlichkeit auf unserem Kontinent im 20. Jahrhundert eine Kategorie nicht einmal zur Kenntnis nehmen will: Diejenigen Deutschen, die in der östlichen Hälfte Europas in den Jahren 1944, 1945, 1946 völkermordartigen Vernichtungsaktionen anheimfielen?“ Reißmüller weiter: „Wer an sie erinnert, dem schlägt in Deutschland sogleich der Vorwurf entgegen, er wolle , aufrechnen 4. Das ist eine als Anspruch ans Gewissen zurechtgemachte Unwahrheit. Den Völkermord an den Juden, die von Deutschen verübten Massenmorde an Polen, Tschechen, Russen bemäntelt nicht und die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg verkleinert nicht, wer möchte, daß im Gedächtnis der Nation auch die ungezählten Deutschen einen Platz haben, die am Ende des Krieges und nach dem Krieg von massenmordender Hand starben. Doch es sind wenige unter unseren Politikern, die zu solchem Gedenken aufrufen.“
Die Vertreibung und die damit zusammenhängenden Probleme können heute nicht mehr so verdrängt werden, wie es noch vor wenigen Jahren zu Zeiten der kommunistischen Diktaturen im ehemaligen Ostblock der Fall war. Auch mit Blick auf das aktuelle Vertreibungsgeschehen auf dem Balkan haben die deutsche und die europäische Politik allen Grund, ihre bisherige Haltung gegenüber den berechtigten Forderungen vertriebener Deutscher zu überdenken. Dies gilt besonders für die östlichen Nachbarstaaten, wo die Offenlegung der eigenen Schuldverstrickung in die damalige Vertreibung der Deutschen jetzt erst möglich geworden ist. Prag und Warschau sollten die historische Chance nutzen, nach dem Überwinden der kommunistischen Diktatur sich endlich einem freien und versöhnenden Dialog sowie einem in die Zukunft gerichteten Miteinander mit den vertriebenen Ost-und Sudetendeutschen zu öffnen.
Es hat ja in der Vergangenheit schon eine Reihe von guten Vorstößen gegeben, an die bei entsprechenden Bemühungen angeknüpft werden könnte. Erinnert sei an die Botschaft der polnischen Bischöfe an den deutschen Episkopat „Wir gewähren Vergebung -wir bitten um Vergebung“ vom 18. November 1965 1991 begingen vertriebene schlesische und polnische Katholiken gemeinsam die Feierlichkeiten aus Anlaß der Überführung Kardinal Bertrams in den Breslauer Dom. Die mutige Schrift Jan Jozef Lipskis „Zwei Vaterländer -zwei Patriotismen“ hat viele Vertriebene sehr bewegt, weil hier wie bereits in einer im Herbst 1984 in deutscher Sprache erschienenen Sonderausgabe der „Kultura" -der führenden Zeitschrift des damaligen polnischen Exils, die auch als Sprachrohr der demokratischen Opposition in der Volksrepublik Polen angesehen werden konnte -das bis dahin in Polen totgeschwiegene Thema der Vertreibung der Deutschen aufgegriffen wurde Eine ähnlich wegweisende Geste stammt vom tschechischen Präsidenten Vaclav Havel, der noch vor seiner Wahl am 21. Dezember 1989 erklärte, daß die Tschechen sich bei den Sudetendeutschen für den „Akt sehr harter Trennung einiger Millionen Menschen von ihrer Heimat“ entschuldigen sollten Hier sind Fundamente für einen schwierigen, aber unter Demokraten möglichen und notwendigen Dialog gelegt worden.
In den früheren Heimatgebieten gibt es bereits eine Fülle von Beispielen konkreter Zusammenarbeit zwischen vertriebenen Deutschen und heute dort lebenden Polen oder Tschechen, die Politiker in Prag und Warschau zu einem entsprechenden Dialog mit den führenden Repräsentanten der deutschen Vertriebenen ermutigen sollten.