Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungsund Abrüstungspolitik | APuZ 6/1995 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6/1995 Sicherheitspolitik und Machtgestaltung in Europa Peacekeeping im Jugoslawienkonflikt und die Folgen für die sicherheitspolitische Kooperation in Europa Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungsund Abrüstungspolitik Globale Herausforderungen deutscher Sicherheit. Neue Dimensionen der Sicherheitspolitik Allgemeine Dienstpflicht als sicherheits-und sozialpolitischer Ausweg?

Für eine wirksamere atomare Nichtverbreitungsund Abrüstungspolitik

Alfred Dregger

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1995 wird der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NPT) 25 Jahre in Kraft sein. In einer Überprüfungskonferenz im Frühjahr dieses Jahres werden seine Ergebnisse analysiert und die Chancen für die Nichtverbreitungspolitik auf dieser Grundlage bewertet werden. Die Vertragsstaaten müssen dabei über eine Verlängerung des Vertrages entscheiden. Die beiden Ziele des Vertrages -die Nichtverbreitung von Atomwaffen und die atomare Abrüstung -gehören zu den Schicksalsfragen der Menschheit. Sie stellen sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu. Sind die Atomwaffen nach der Überwindung des Ost-West-Konfliktes noch ein geeignetes Mittel der Kriegsverhinderung? Akzeptieren die Länder der Dritten Welt auch künftig die für Atomwaffenstaaten und Nicht-Atomwaffenstaaten unterschiedlichen Kontrollregime der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), die sie bei der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie behindern könnten? Nordkorea hat im Vorfeld der Überprüfungskonferenz gezeigt, daß sich die Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in der Vertragsgemeinschaft politisch instrumentalisieren läßt. In derselben Zeit haben Nachrichten über den Schmuggel von waffenfähigem Material aus ehemals sowjetischen Beständen die Welt aufgeschreckt. Es entsteht die Gefahr, daß Atomwaffen in falsche Hände geraten. Der Autor plädiert für eine neue und wirksamere Nichtverbreitungspolitik der Weltgemeinschaft über die Regelungen des NPT hinaus. Er fordert dafür eine Neubewertung des politischen und militärischen Zwekkes der Atomwaffen und ihrer Kontrolle. Seine zentrale Forderung ist die nach einer internationalen Kontrolle aller Atomwaffen und des waffenfähigen Materials sowie nach einer für Atomwaffenstaaten und Nicht-Atomwaffenstaaten gleichen Kontrolle ihrer atomaren Anlagen im Auftrag der Weltgemeinschaft.

I. Eine unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages?

Vom 17. April bis 12. Mai 1995 findet in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (Nonproliferation Treaty, NPT) statt. Auf dieser Konferenz muß gleichzeitig über eine Vertragsverlängerung entschieden werden und darüber, ob diese befristet oder unbefristet sein wird.

Die Vorbereitungen für diese Konferenz laufen seit geraumer Zeit. Ein Vorbereitungsausschuß der Vertragsstaaten, das sind zur Zeit 166, hat bisher (Stand Dezember 1994) dreimal getagt und soll im Januar 1995 seine Arbeit abschließen. Ziel und Inhalt seiner Arbeit ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß mindestens eine deutliche Mehrheit der Vertragsstaaten am 12. Mai 1995 die unkonditionierte und unbefristete Vertragsverlängerung beschließt. Das ist auch die gemeinsame Position der Europäischen Union. Eine lediglich befristete Verlängerung wäre nur ein halber Erfolg.

Die unbefristete Verlängerung wäre ein großes Ziel, das nur zu erreichen sein wird, wenn die Vertragspartner, die in Atomwaffenbesitzer bzw. Nichtbesitzer geschieden sind, noch ein gutes Stück Weges aufeinander zugehen und auf diesem Weg liegende Hindernisse abräumen oder umgehen können. Entscheidend dafür wird der gute Wille aller Beteiligten sein, die bisherige Nichtverbreitungspolitik nicht nur fortzusetzen, sondern im Sinne der ursprünglichen Zielsetzung des Vertrages zu verbessern und die atomare Abrüstung energischer voranzubringen.

Auch das politische Umfeld wird für die mögliche Vertragsverlängerung von großer Bedeutung sein, z. B. substantielle Fortschritte bei der Genfer Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen. Dort geht es besonders um einen umfassenden Teststopp, die Einstellung der Produktion von kern-waffenfähigem Material sowie um Sicherheitsgarantien für die Nicht-Atomwaffenstaaten.

Möglicherweise haben die Atomwaffenstaaten, die NP-Vertragspartner sind -und das sind ja nicht alle -, die Gefahr eines Scheiterns der Überprüfungs-und Verlängerungskonferenz unterschätzt und geglaubt, wie bisher weitermachen zu können. Inzwischen ist aber deutlich geworden: Nur wenn die Atomwaffenstaaten zu größeren Zugeständnissen bereit sind, wird es eine Chance für eine unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages geben.

Der Nichtverbreitungsvertrag hat in der Vergangenheit nicht gehalten, was er versprach. Er hat weder die „horizontale“ noch die „vertikale“ Proliferation verhindert. Es gibt heute mehr Atomwaffenstaaten als bei seinem Inkrafttreten 1970 und weitaus mehr Atomwaffen als damals. Zudem gibt es inzwischen mehrere Schwellenländer, also potentielle Atomwaffenstaaten, und „verdeckte“ Atomwaffenstaaten, von denen man aus gutem Grund annehmen kann, daß sie über Atomwaffen verfügen. Gerade diese werden am wenigsten geneigt sein, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten.

Die atomare Abrüstung, zu der sich die Atomwaffenstaaten im Vertrag verpflichtet haben, steckt noch immer in den Anfängen. Gewiß, es gibt nach zunächst lange erfolglosem Verhandeln zwischen den ehemals antagonistischen Supermächten nun weitreichende Abrüstungsverträge. Doch selbst wenn die darin enthaltenen Verpflichtungen in die Tat umgesetzt sein werden, wird es auf der Welt immer noch mehr Atomsprengköpfe geben als 1970. Außerdem gibt es diese Verträge bislang nur zwischen den beiden atomaren „Supermächten“ USA und Sowjetunion bzw.deren Nachfolgestaaten. Und es hat lange gedauert, bis diese alle bereit gewesen sind, den START-I-Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffenpotentiale zu ratifizieren, der auch Grundlage ist für die weitergehenden Verpflichtungen in START II.

Doch in 20 von 25 Jahren der Laufzeit dieses Nichtverbreitungsvertrages haben die Atomwaffenbesitzer ihre Verpflichtung zur Abrüstung nicht erfüllt; sie haben im Gegenteil auf-statt abgerüstet. Dies muß den Eindruck erwecken, als hätteihnen der Vertrag lediglich zur Festigung und Verstetigung ihrer privilegierten Stellung gegenüber den Nicht-Atomwaffenstaaten gedient. Möglicherweise haben sie nicht rechtzeitig erkannt, daß die Zeit vorbei ist, da die Welt eingeteilt werden konnte in Supermächte, Atomwaffenstaaten und atomare „Habenichtse“.

Wer Atomwaffen besitzt, trägt vor allen anderen für deren Nichtverbreitung und für deren Abrüstung Verantwortung. Deshalb müssen die Atommächte selbst auf dem Wege zu einer erfolgreicheren Nichtverbreitungspolitik vorangehen und dafür die Initiative ergreifen. Bisher sind zwar außerordentliche Anstrengungen besonders der USA zu beobachten, Nicht-Atomwaffenstaaten bei der Stange zu halten bzw. zum Vertragsbeitritt zu bewegen, aber kaum Initiativen, die auf eine Selbstbeschränkung der Atommächte zielen. Großbritannien z. B. will im Jahr der möglichen Vertragsverlängerung sein Trident-Programm ungerührt fortsetzen.

Wenn den Atomwaffenbesitzern bewußt würde, daß der Besitz von Atomwaffen zwar eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden begründet, aber keine Privilegien mehr und keinerlei politische Vorteile einbringt, würden sie möglicherweise eher zu einer solchen Selbstbeschränkung bereit sein.

II. Die Entwicklung im Vorfeld der Verlängerungskonferenz

Manche der Nicht-Atomwaffenstaaten haben mittlerweile das vertragskonforme bzw. nichtvertragskonforme Verhalten als Mittel der Politik entdeckt. Auch die Androhung eines -jederzeit möglichen -Austritts aus der Vertragsgemeinschaft und die Bereitschaft bzw. Nichtbereitschaft zur Vertrags-verlängerung lassen sich politisch instrumentalisieren. Wer wollte es diesen „Habenichtsen“ verdenken, daß sie im Vorfeld einer so weitreichenden Entscheidung wie der über die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung dieses Vertrages über eine Zwei-Klassen-Gemeinschaft ihre Position verbessern und ihre Interessen gewahrt sehen wollen?

Der Erfolg Nordkoreas in seinem Spiel mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltmacht USA, in dem es Vertragsbruch, Austritt, Wiedereintritt und schließlich begrenzte Kontrollrechte der IAEA als Trümpfe nacheinan-der ausgespielt hat, könnte auch andere Nicht-Atomwaffenstaaten dazu reizen, ihre Interessen vor der Vertragsverlängerung durchzusetzen. Es erscheint paradox -aber offensichtlich hat die latente Drohung Nordkoreas, sich in den Besitz von Atomwaffen zu setzen, seinem Regime, einem Relikt aus der kommunistischen Steinzeit, mehr Nutzen gebracht, als atomwaffenbesitzende Staaten möglicherweise aus diesen Waffen zu ziehen vermöchten.

Nordkorea ist nicht mehr isoliert. Es ist Vertragspartner der USA. Diese haben ihren „Sicherheitspartner“ Südkorea in diesem Zusammenhang düpiert und dafür nicht mehr erzielt als die -diesmal schriftliche -Zustimmung der nordkoreanischen Führung zu Sonderkontrollen der IAEA zu gegebener Zeit; genauer, wenn die dann mit US-Unterstützung zu liefernden und zu bauenden Leichtwasserreaktoren in Betrieb genommen sein werden. Wahrlich, mehr Gewinn läßt sich kaum aus dem Nichtbesitz von Atomwaffen ziehen.

Warum sollte ein Land wie Ägypten, das große Energieversorgungsprobleme für seine stetig wachsende (Über-) Bevölkerung hat, nicht auch seine Chance suchen? In der Verlängerungskonferenz könnten sich andere mit vergleichbaren Problemen belastete Länder der Dritten Welt, wie etwa Nigeria und Mexiko, ihm anschließen. Überdies hat Ägypten Sicherheitsprobleme mit seinen unruhigen und z. T. schwer berechenbaren Nachbarn, die im Besitz von weitreichenden Waffen sind oder diese zu erwerben trachten. Warum sollte sich ein solches Land auf Dauer einem Überwachungsregime der IAEA unterwerfen, das ihm möglicherweise wirtschaftliche Nachteile bringen könnte, und das angesichts der Tatsache, daß ein verdeckter Atomwaffenstaat in seiner Nachbarschaft als Nicht-NP-Vertragspartner keinerlei Kontrollen dieser Art zuläßt? Wären nicht ausformulierte Sicherheitsgarantien der Atomwaffenstaaten für Ägypten und dessen vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit mit der „Atomwirtschaft“ dieser Staaten zur Verbesserung seiner Energieversorgung dafür die mindeste Voraussetzung?

Es bleiben ohnehin genügend Fragen offen; z. B. die, welchen Wert denn eine Sicherheitsgarantie für Ägypten habe in Anbetracht der Tatsachen, daß einer seiner Nachbarn vermutlich über Atomwaffen verfügt (Israel), ein anderer sich ein Arsenal von Chemiewaffen schaffen wollte (Libyen) und ein dritter, obwohl NP-Vertragspartner, alles daran gesetzt hat, um beides zu erwerben: Atom-und Chemiewaffen (Irak).Und um ein drittes Beispiel zu nennen: Welche Vorteile könnte der Iran in einer unkonditionierten und unbefristeten Verlängerung des NPT und des mit der IAEA vereinbarten Kontrollregimes sehen? Saddam Hussein -ein NP-Vertragspartner also -hat den Iran jahrelang mit Krieg überzogen und dabei westliche Unterstützung erfahren. Gleichzeitig hat er alles versucht, den Sperrvertrag zu umgehen. Wenn es die israelischen Bomben auf den Reaktor in Osirak nicht gegeben hätte, hätte der Irak möglicherweise schon vor 1991 über Atomwaffen verfügt, obwohl er vorher dem Sperrvertrag als Nicht-Atomwaffenstaat beigetreten war.

Der Iran fühlt sich von Atomwaffenstaaten umringt und ist es auch; von solchen, die dem Sperrvertrag beigetreten sind, und solchen, die dies nicht sind und es aller Voraussicht nach nicht tun werden. Dennoch hat er sich bisher nicht die Bombe verschafft. Seine Atomanlagen wurden regelmäßig von der IAEA inspiziert. Deren Berichte bestätigen, daß der Iran nicht in der Lage ist, Atomwaffen herzustellen, und daß die Nutzung der Atomenergie in diesem Land nur friedlichen Zwecken dient. Doch dafür braucht der Iran die beste verfügbare Technik, d. h. die Unterstützung der Staaten, die eine fortschrittliche Kernenergiewirtschaft betreiben, und zwar nicht nur Rußlands und Chinas, die mit ihm in dieser Hinsicht zusammenarbeiten wollen.

Wäre es dann nicht recht und billig, daß der Iran nach einer ähnlichen vertraglich vereinbarten Unterstützung verlangt für eine möglichst ökonomische Nutzung der Kernenergie wie Nordkorea? Auch hier wird das Gebot lauten müssen, wenn der Iran dieser unbefristeten Verlängerung zustimmen soll: Zusammenarbeit und nicht Ausgrenzung.

In der Ukraine hat es im Sinne der atomaren Abrüstung und Nichtverbreitung in jüngster Zeit beträchtliche Fortschritte gegeben. Präsident Kutschma hat die Ratifizierung des START-I-Vertrages in der Rada durchgesetzt. Außerdem billigte das ukrainische Parlament den Beitritt zum NPT als Nicht-Atommacht, ein Status, zu dem sich die Führung des Landes bereits 1992 im Lissaboner Protokoll, das auch die Unterschrift des amerikanischen und russischen Außenministers trägt, verpflichtet hatte.

Noch kurz zuvor hatte es völlig anderslautende Erklärungen aus der Ukraine gegeben, die immer noch über eine große nukleare Masse (das drittgrößte Potential der Welt) aus dem sowjetischen Erbe verfügt, wenn auch ohne „operative Kontrolle“ über diese Waffen. Unter der Überschrift „Die nukleare Pest breitet sich trotz NPT weiter aus“ hatte der Vorsitzende des Obersten Rates der Ukraine, Olexandr Moros, statt des NPT ein neues „universelles Abkommen“ unter der Ägide der UNO gefordert, in das die Positionen des NPT übernommen werden könnten. Dieses müsse im Unterschied zum NPT für alle Staaten der Weltgemeinschaft bindend und wirksam sein. Sicherheitsgarantien der Atommächte für die Ukraine vorausgesetzt -militärische, wirtschaftliche und die der territorialen Integrität -, sei sein Land dann dazu bereit, einem solchen neuen Abkommen beizutreten.

Präsident Kutschma hat nun von den USA die Zusage weiterer Unterstützungen für sein Land erhalten als Lohn für dessen konstruktives Verhalten. Die Ukraine wird jetzt nach Israel, Ägypten und Rußland zum viertgrößten amerikanischen Hilfeempfänger. Die von Präsident Kutschma geforderten Sicherheitsgarantien der Atommächte -besonders der USA, Rußlands und Großbritanniens -, um deren Formulierung derzeit noch gerungen wird, scheinen ebenfalls auf einem guten Wege zu sein.

Noch während seines Besuches in den USA ist die Geheimaktion „Saphir“ bekanntgeworden, in der die USA für mehrere Millionen Dollar Kasachstan eine größere Menge waffenfähiges Material abgekauft haben, das bisher unter nur minimalen Sicherheitsvorkehrungen in einem Depot auf dessen Atomversuchsgelände lagerte. Die Amerikaner, die einen Zugriff von Waffenhändlern, Terroristen oder interessierten Staaten befürchteten, haben in monatelangen zähen Verhandlungen sowohl mit der kasachischen als auch mit der russischen Regierung diese Aktion vorbereitet.

Kasachstan hat von Anfang an eine positive Rolle gespielt bei der Bewältigung der nuklearen Altlasten der ehemaligen Sowjetunion. Wahrscheinlich hat seine Führung erkannt, daß deren nukleares Erbe mehr Last als Gewinn ist. Dazu mag die Tatsache beigetragen haben, daß auf kasachischem Territorium mehr als 500 atomare Sprengsätze versuchsweise gezündet wurden, und das zum Teil unter wenig stringenten Sicherheitsbedingungen. Unter den Spätfolgen wird das Land noch lange zu leiden haben.

Kasachstan hat sich auch aus anderen Gründen innerhalb der GUS Rußland am nächsten angeschlossen und mit ihm eine gemeinsame Sicherheitspolitik vereinbart, einschließlich einer engen Zusammenarbeit im atomaren Bereich und im Weltraum. Eine andere Politik wäre angesichts der Tatsache, daß 40 Prozent seiner Bevölkerung Russen sind, nur schwer vorstellbar.

Aus Sorge um die atomare Proliferation hat Kasachstan im Oktober 1994 zu einer eigenen Konferenz über den Atomwaffensperrvertrag nach Alma Ata eingeladen, an der auch die IAEA teilgenommen hat. Dabei ging es der kasachischen Führung einerseits um die Sorge, daß die Zahl der Staaten, die dem NPT nicht angehören wollen, mangels zuverlässiger Sicherheitsgarantien durch die Atomwaffen-Staaten (wieder) ansteigen könnte, aber auch andererseits um den „diskriminierenden Charakter“ dieses Vertrages, der „die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie in den Nicht-Atomwaffenstaaten bremsen könnte“. Sorgen macht sich Kasachstan zusätzlich wegen der Tatsache, daß China seine Atomversuchsserie in Lop Nor nahe seiner Grenze fortsetzt.

Diese Übersicht über einige „Kristallisationskerne“ der Diskussion um die künftige Nichtverbreitungspolitik soll abgeschlossen werden mit einem Blick auf den indischen Subkontinent. Auf diesem gibt es zwei verdeckte Atommächte, Pakistan und Indien, deren Verhältnis zueinander historisch belastet und von andauernder Rivalität bestimmt ist. Pakistan hat die „islamische Bombe“. Mit ihr wird Pakistan sich nicht nur gegen Indien, sondern auch gegen China rückversichern wollen. Auch Indiens Verhältnis zu China ist alles andere als gut. Das alles sind schlechte Voraussetzungen dafür, daß die beiden zerstrittenen Nachbarn auf dem indischen Subkontinent dem Atomwaffensperrvertrag beitreten könnten. Ein atomarer Rüstungswettlauf zwischen beiden ist wahrscheinlicher. Dem gilt es entgegenzuwirken. Indien hat angesichts der Testserie in China im Oktober 1994 den Nichtverbreitungsvertrag als „kraftlos, schwach und unzureichend“ qualifiziert. Der Vertrag sei nicht geeignet, eine kernwaffen-freie Welt zu schaffen. Abgesehen von seinem diskriminierenden Charakter könne er weitere Staaten nicht daran hindern, eine Atommacht zu werden, und die Atomwaffenstaaten nicht daran, sowohl die Qualität als auch die Quantität ihrer Waffen zu verbessern.

Indien hat vor der UNO-Vollversammlung am 3. Oktober 1994 bekräftigt, daß es diesen Vertrag nicht unterschreiben werde, und hat statt dieses Vertrages eine weitere UN-Sondertagung vorgeschlagen, auf der die gesamte Palette der nuklearen Abrüstung zu analysieren sei. Dabei hat Indien sich zu einer Nichtverbreitungspolitik bereit erklärt, die die Kriterien „nicht diskriminierend, überprüfbar, umfangreich und universell“ erfülle, und in diesem Zusammenhang seine Bereitschaft bekundet, einem Vertrag über ein umfassendes Testverbot zu schließen. Man sollte Indien beim Wort nehmen.

III. Vom Sinn und Zweck der Atomwaffen

Wer also atomare Nichtverbreitung und Abrüstung will, muß über eine wirksamere Nichtverbreitungspolitik nachdenken, über den NPT hinaus! Dieses Nachdenken könnte auch die unbefristete Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages selbst befördern. Es muß bei den Atommächten beginnen. Diese sollten sich zunächst die Frage stellen, welchen Sinn Atomwaffen in Zukunft noch haben könnten.

In der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Kommunismus haben die Atomwaffen zur Verhinderung des großen allgemeinen Krieges beigetragen, besonders in Europa. Die Geschäftsgrundlage dafür war das gemeinsame Interesse am Überleben. Das war der kleinste gemeinsame Nenner im Verhältnis zwischen den beiden politischen Systemen. Auf dieser Grundlage und in dieser Konstellation konnte die atomare Abschreckung einen realistischen Beitrag zur Kriegsverhinderung leisten.

Doch diese zweipolige Konstellation ist Geschichte. Sind die Atomwaffen in Zukunft dennoch ein wirksamer Beitrag zur Kriegsverhinderung, bzw. welchen anderen Sinn könnten sie nun haben? Sie sind keine Waffen des militärischen Sieges, keine Waffen der Schlacht. Sie gehören erst recht nicht auf das Gefechtsfeld. Auf dem eigenen Territorium könnten sie zu Selbstmord-waffen werden. Haben sie dennoch, wenn sie schon militärisch keinen Wert haben, noch eine Bedeutung als „politische Waffe“?

Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß nach den Erfahrungen von Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl kein verantwortungsbewußter Staatsmann diese Waffen zur Durchsetzung der politischen Interessen seines Landes einsetzen wird. Es gibt keine politischen Ziele (und erst recht keine militärischen), die den Einsatz dieser Waffen rechtfertigen würden, jedenfalls nicht unter Beachtung des ethisch und rechtlich gebotenen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ihr einzig legitimer Zweck ist daher die Abschreckung eines Einsatzes von Atomwaffen in den Händen von politischen Führern und anderen, die möglicherweise nicht verantwortungsbewußt handeln. Denn niemand kann ausschließen, daß Regime, die jeder inneren Verfassungsordnung und jeglicher demokratischen Kontrolle entbehren, diese Waffen erwerben. Auch könnten Desperados undTerroristen sich solcher Waffen bemächtigen und diese dann einsetzen bzw. mit ihrem Einsatz drohen. Das ist die wohl größte Gefahr.

Nach Schätzungen der amerikanischen Regierung könnte es bald 15 bis 20 Staaten auf der Erde geben, die offen oder heimlich über Atomwaffen verfügen. Ob für sie jene „Geschäftsgrundlage“ der atomaren Abschreckung, jener gemeinsame Wille zum Überleben, überhaupt gilt, kann bezweifelt werden. Teilweise folgen sie völlig anderen Wertvorstellungen, möglicherweise Wahnvorstellungen, die den eigenen Untergang als Folge ihres Handelns bewußt in Kauf nehmen würden.

Auch das wäre nicht neu in der Geschichte. Vergessen wir nicht: Saddam Hussein hat seine „Mutter aller Schlachten“ gegen eine Koalition von Staaten geführt, von denen nicht weniger als drei atomar bewaffnet waren. Es gibt folglich keine atomare Sicherheit mehr, wohl aber atomare Unsicherheit. Es gilt darum, zu verhindern, daß an die Stelle der früheren atomaren Stabilität im Weltmaßstab nunmehr ein ebenso globales nukleares Chaos tritt. Dagegen -und nur dagegen -bleibt atomare Abschreckung das Gebot! Nennen wir dies „Minimalabschreckung“.

Es ist übrigens zu vermuten, daß keiner der Atomwaffenstaaten allein diese Aufgabe erfüllen könnte oder wollte, es sei denn, er wäre direkt bedroht. Das wiederum ist wenig wahrscheinlich. Wahrscheinlicher wäre, daß Nicht-Atomwaffenstaaten zu Adressaten solcher atomaren Drohungen würden. Deshalb muß auch diesen ein verläßlicher Schutz geboten werden. Das aber könnte nur die Weltgemeinschaft leisten, und diese nur, wenn die Atomwaffenstaaten ihr dabei helfen.

Der politische Nutzen der Atomwaffen ist fragwürdig geworden. Sie schaffen Probleme, aber sie lösen keines. Sie schaffen nur scheinbar Sicherheit. Die von den Atomwaffen ausgehenden Gefahren sind ungleich größer als der Nutzen, den sie stiften könnten.

IV. Eine neue, wirksamere Nichtverbreitungspolitik

Es bedarf daher einer großen Anstrengung, um die drohenden Gefahren zu bannen. Bevor alle, die es angeht, -und das sind nicht nur die Atomwaffen-staaten, doch diese zuvörderst -dazu bereit sind, müßten sie ihre Politik einer gründlichen Revision unterziehen. 1. Dabei müßten sie von der Erkenntnis ausgehen, daß bei dem jetzigen Stand der Dinge niemand mehr seine äußere Sicherheit auf den Besitz von Atomwaffen gründen könnte, selbst wenn er das wollte. Es kann und darf daher keine militärische Strategie und keine militärische Doktrin mehr geben, die -und sei es auch nur im Sinne einer Ultima ratio -den Einsatz von Atomwaffen zur eigenen Sicherheit und zur eigenen Verteidigung voraussetzt. Sicherheit und Verteidigung müssen, wenn sie funktionieren sollen, mit Waffen gewährleistet werden, die im Bedarfsfall auch militärisch gebraucht werden können. 2. Atomwaffen sollten nur noch zum Zweck der „Minimalabschreckung“ bereitgehalten werden gegen Desperados, die sich der Völkerrechtsgemeinschaft entziehen. Dafür werden nur wenige gebraucht. Die Begrenzung auf diesen Zweck würde eine weltweite Abrüstung auf einen Minimalbestand -weit über den in den bisherigen Verträgen abgesteckten Rahmen hinaus -ermöglichen. 3. Solche „Minimalabschreckung“ gegen den Mißbrauch von Atomwaffen und anderer Massenvernichtungsmittel durch unverantwortliche Kräfte läge im Interesse der gesamten Menschheit. Die dazu notwendigen Vorkehrungen sollten daher innerhalb der UNO als der kollektiven Weltsicherheitsorganisation vereinbart, geregelt und kontrolliert werden. 4. Dementsprechend sollten alle Atomwaffen samt ihren Trägern und ebenso alle atomaren Anlagen im Auftrag der UNO einer internationalen Kontrolle unterstellt werden -und zwar alle der gleichen Kontrolle, zusätzlich zur nationalen Überwachung. Privilegien für die „klassischen“ Atommächte darf es in diesem Rahmen nicht mehr geben, weil daran das Ganze scheitern würde. Eine solche Neuordnung könnte und sollte den heutigen Schwellenländern weitgehend den Anreiz für eine atomare Aufrüstung nehmen. 5. Flankierend zu der wünschenswerten Verlängerung des NPT, möglicherweise auch als deren Voraussetzung, sollten in der Genfer Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen Vereinbarungen getroffen werden über einen umfassenden Teststopp, die sofortige Einstellung der Produktion von waffenfähigem Material und die kontrollierte Registrierung dieses Materials und seiner Lagerstätten durch die Internationale Atomenergiebehörde. 6. Alle NP-Vertragspartner sollten mit Unterstützung der Internationalen Atomenergiebehördeund unter den vollen Sicherheitsbestimmungen der IAEA ungehinderten Zugang haben zum jeweiligen Stand der Technik für die Atomenergiewirtschaft. Niemand sollte wirtschaftliche Nachteile befürchten müssen aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NP-Vertragsgemeinschaft. 7. Umgekehrt muß die Internationale Atomenergiebehörde ermächtigt werden, Reaktorbetreibern verbindliche Auflagen zur Einhaltung der internationalen Sicherheitsstandards zu machen und widrigenfalls Reaktoren im Auftrag der UNO abzuschalten.

Vorbild für eine neue Nichtverbreitungspolitik dieser Art könnte der „Baruch-Plan“ von 1947 sein. Damals haben die USA unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki das Einmalige, das Besondere der Atomwaffen erkannt. Damals waren die USA bereit, ihre Atomwaffen der internationalen Kontrolle der UNO zu unterstellen. Gleichzeitig sollte die UNO sich im Interesse der gesamten Menschheit stärker um die friedliche Nutzung der Atomenergie kümmern. Heute ticken in bezug auf die entfesselte Atomenergie zwei Zeitbomben: die Atomwaffen und die unsicheren Atommeiler, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Es war die Sowjetunion, die den „Baruch-Plan“ damals abgelehnt hat, weil Atomwaffen ihrer expansiven Politik die entscheidende Stütze geben sollten. Da heute kein sowjetisches Veto mehr zu erwarten ist, sollte die Staatengemeinschaft einen neuen Anlauf nehmen.

Wenn die Atomwaffenstaaten zu einer solchen Politik bereit wären, dann wären nicht nur die größten Hindernisse aus dem Weg geräumt für eine unbefristete Verlängerung des NPT; dann gäbe es auch die große Chance, daß die führenden Länder der Dritten Welt nicht nur Mitglieder dieser Vertragsgemeinschaft blieben, sondern ihrerseits dafür würben, daß andere wichtige Länder diesem Vertrag beiträten, vor allem weitere Atomwaffenstaaten, die -wie Indien -bisher die Chance hatten, unter Hinweis auf den diskriminierenden Charakter des Vertrages sich aus lauteren oder scheinbar lauteren Motiven der Vertrags-gemeinschaft fernzuhalten.

Mit einer gemeinsamen Initiative der dem Nichtverbreitungsvertrag angehörenden Atomwaffen-staaten in der UNO könnten diese den Weg ebnen für eine neue und wirksamere Nichtverbreitungspolitik über die Bestimmungen und die Reichweite des bisherigen NPT hinaus. Sie müssen begreifen, daß es in der zusammenwachsenden einen Welt nur noch eine Nutzungsart der Atomenergie geben kann, auf die die Menschheit aus ökologischen und ökonomischen Gründen nicht verzichten kann: ihre friedliche Nutzung, und dies in ausreichender Sicherheit.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Alfred Dregger, Dr. jur., geb. 1920; 1956-1970 Oberbürgermeister der Stadt Fulda; 1965-1970 Präsident bzw. Vizepräsident des Deutschen Städtetages; 1967-1982 Landesvorsitzender der CDU in Hessen; 1982-1991 Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion; seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages.