I. Einleitung
Der Abzug der letzten russischen Soldaten aus dem Osten Deutschlands Ende August und der Abzug der letzten Soldaten der Westalliierten aus Berlin am 8. September 1994 werfen gewichtige Fragen nach der Sicherheitsordnung in Europa auf, nachdem also die Nachkriegszeit übereinstimmenden Kommentaren zufolge endgültig zu Ende gegangen ist. Welchen Bedrohungen sehen sich die Staaten West-und Mitteleuropas heute gegenüber? Kann die NATO die gleiche Stabilitätsrolle übernehmen wie vor 1989/90? Wieweit kann eine noch unbestimmte supranationale „Sicherheitsgemeinschaft“ den Zustand der Abwesenheit von Krieg nach Ostmitteleuropa, ja nach Osteuropa ausdehnen -gewissermaßen Stabilität „transferieren“? Oder ist etwa eine streng defensive Haltung, die ein Überschwappen der Krisen und Konflikte aus den tiefen Räumen Osteuropas verhindert, das Gebot der Stunde? Kommt es gar zu einer Renationalisierung der Außen-und Sicherheitspolitik, zu einer neuen Hierarchie der Mächte in Europa?
Es gehört zu den oftmals abgewandelten Gemein-plätzen, davon zu sprechen, daß die Bedrohung des Friedens in Europa nach 1989/90 zwar abgenommen habe, die Gefahren hingegen gestiegen seien. Der Zusammenbruch des bipolaren Antagonismus hat zwar die eine große Schachpartie beendet, indem die Schachfiguren in die Luft geschleudert worden sind dafür hat man es aber neben alten zugleich auch mit neuen Spielern zu tun, die an wiederaufgestellten Brettern jeweils Simultan-partien spielen. Die Gegner sind darüber hinaus nicht allein Mächtegruppen, Staaten und Völker, sondern alles das, was man zusammenfassend mit „neuen Bedrohungen und Gefährdungen“ bezeichnen kann. Darunter fallen sehr reale Bedrohungen, wie etwa die atomare Proliferation oder der internationale Terrorismus, aber auch nicht unmittelbar wirksame Gefährdungen, die etwa aus der Verknappung an Nahrungsmitteln und strategischen Rohstoffen, aus Flüchtlings-und Asylan-tendruck, Verelendung und Konfliktimport entstehen. Die daraus resultierenden Konsequenzen für die nationale bzw. internationale Sicherheit dürfen als bekannt vorausgesetzt werden Welche Perzeptionen und Lösungsansätze insbesondere im Lichte der neuerdings geforderten „Konfliktprävention“ sind hier auszumachen? Wie kann eine Sicherheitspolitik mit ihren herkömmlichen Institutionen und Instrumenten diese Konfliktprävention gewährleisten?
II. Geteilte oder ungeteilte Sicherheit in Europa?
Betrachtet man die aktuellen Analysen und Überlegungen, so plädiert eine Vielzahl von Autoren angesichts der geänderten Sicherheitslage für eine Verlagerung staatlicher Sicherheitspolitik auf supranationale Einrichtungen, gewissermaßen also für eine Internationalisierung der Sicherheitspolitik., So soll etwa der „Stabilitätspakt“ der Europäischen Union vom Dezember 1993 -der auf dem „Balladur-Plan“ beruht -dazu dienen, den Sicherheitsbedürfnissen der Staaten Ostmitteleuropas entgegenzukommen. Auch die „Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik“ der Europäischen Union (EU) gilt als Hoffnungsträger hinsichtlich der Errichtung einer immer wieder zitierten europäischen „Sicherheitsarchitektur“
So logisch und bestechend der Vorschlag erscheint, staatliche Befugnisse an supranationale Gemeinschaften oder Institutionen abzutreten, um die grenzüberschreitenden Probleme der Sicherheit staatenübergreifend zu lösen, so dürftig sinddie bisherigen Ergebnisse der Friedenssicherung und Krisendiplomatie ausgefallen. Wenn man sich zu Max Webers Postulat bekennt, „verstehend zu erklären“, so fällt es leicht, die bisherigen Mißerfolge -etwa die der UNO und der KSZE im ehemaligen Jugoslawien -auf die für die Friedens-wahrung unzureichenden Kompetenzen und Instrumente zurückzuführen. So führte etwa der österreichische Bundeskanzler vor kurzem den bildhaften Vergleich an, wonach die KSZE derzeit noch „Milchzähne“ besäße, so daß man erst den Ausfall dieser Milchzähne abwarten müsse, um Erfolge zu sehen
Es erscheint auch verständlich, den bisher üblichen Umgang mit Krisen in Europa bis 1989/90 mit einem Konfliktregelungsmechanismus zu umschreiben, der im wesentlichen im gegenseitigen Abtasten der beiden Paktgruppen bestand, wobei sich eine voraussehbare und einschätzbare Konfliktrationalität herausbildete. Diese „Abtastkonflikte“ prägten die Konfliktaustragung zwischen den beiden Pakten bzw.den beiden Weltmächten nach 1945 und folgten einem ganz bestimmten Verlaufsmuster. In Verfolgung der beiderseitigen Interessen wurde versucht, unter stillschweigender Voraussetzung der Gleichrangigkeit von USA und Sowjetunion Verhandlungslösungen zu erzielen, die nicht auf einer einseitigen Zuordnung der Gewinne und Verluste beruhten; das hieß, daß zwischen dem Gewinn des einen und dem Verlust des anderen nur ’ ein ganz bestimmter, tolerierbarer Spielraum sein durfte. (Der Begriff des „Gleichgewichts“ wird aus grundsätzlichen und methodischen Überlegungen vermieden.) Auf jeden Fall sollte -z. B. im Bereich der Rüstungskontrolle -durch Herstellung möglichst gleichwertiger militärischer Optionen ein gewisses Maß an Sicherheit und damit an strategischer Stabilität erreicht werden.
Aber erst der Vertrag über die Eliminierung der atomaren Mittelstreckenwaffen vom Dezember 1987 wich vom Prinzip der Gleichbehandlung ab, indem er die eindeutig überlegene Seite verpflichtete, „asymmetrisch“, d. h. zu ihren Ungunsten, abzurüsten. Doch blieb auch diese Verhandlungspraxis, die sich auf das Meßbare, Zählbare und Wägbare, also auf die Herstellung von zahlenmäßiger Parität beschränkte, nur so lange brauchbar, solange die bipolare Konfrontation bestand. Ihren letzten großen Erfolg feierte sie mit dem Ab
Schluß des KSE-I-Vertrages vom 19. November 1990 in Paris. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes hat die bisher geübte Konfliktlösungspraxis ihre Inhalte jedoch zum größten Teil verloren. Mit den zahlreichen seither entfachten Konflikten geht nicht nur ein Lernprozeß, sondern auch ein neues Verständnis von „Sicherheit“ einher
Neben dem traditionellen Verständnis von Sicherheit als Funktion der Außen-und Verteidigungspolitik treten die sich immer mehr erweiternden Bereiche der Innenpolitik, der „inneren Stabilität“
im Sinne von Krisenfestigkeit und schließlich diejenigen Sparten der Wirtschaftspolitik in Erscheinung, die auf die Bereitstellung von wichtigen Rohstoffen, insgesamt auf die Verringerung der Abhängigkeit vom Ausland ausgerichtet sind. Daß gerade im Anstieg der Wertschätzung von „persönlicher Sicherheit“ seitens vieler Staatsbürger nicht nur in Mittel-und Westeuropa sich eine sehr problematische Dimension der Sicherheitswahrnehmung eröffnet hat, zählt zum einschlägigen Repertoire der Soziologen, zieht jedoch Konsequenzen nach sich, die das vorliegende Thema nicht unberührt lassen Die Einsicht, daß zahlreiche Faktoren (ökonomische, soziale, ökologische usw.) für die Stabilität eines Staates oder einer Groß-region mitbestimmend sind, verstärkt den Ruf nach Instrumentarien und Einflußnahme durch die „stabilen“ Staaten West-und Mitteleuropas zur Herstellung solcher Verhältnisse in Ostmittel-und Osteuropa, die ein gedeihliches, berechen-und steuerbares Zusammenleben ermöglichen. Hand in Hand damit ergeht der Ruf nach Stärkung der internationalen Organisationen und Einrichtungen sowie nach Handlungsinitiativen, um Krisen und Konflikten schon präventiv zu begegnen. Hierbei gilt es, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, daß die Sicherheitspolitik nur ausreichende Machtmittel zur Sanktionierung unerwünschten Verhaltens, also militärische Gewalt, bereithalten müsse Damit ist eine Hauptposition der aktuellen Sicherheitspolitik, aber auch eine Denkschule kurz skizziert, die auf die konflikteindämmende Wirkung von internationalen Organisationen, Institutionen, Regeln und Verträgen, somit auf die Stabilisierung durch Kooperation und „Verregelung" setzt. Dem steht eine Position gegenüber, die viele Gemeinsamkeiten mit der „neorealistischen Schule“ besitzt: Diese weist den neuen Institutionen und Instrumenten der friedlichen Konfliktregelung wenig Kraft und Wirksamkeit zu. Bestimmend seien nämlich neue Gefährdungen, Bedrohungen und Konflikte, die sich den Versuchen der Demokratisierung, Disziplinierung, also der „Verregelung“ entzögen. Die Akteure versuchten gemäß ihren Interessen vielmehr wie bisher, ihre Position innerhalb der internationalen Machthierarchie zu verbessern. Der „Traum vom neuen Denken“ dürfte demnach bald ausgeträumt sein
Im Rahmen dieser kontroversen Sicht der Dinge bewegt sich derzeit die Auseinandersetzung über die Frage, welche Art und welches Ausmaß von Sicherheit den Staaten Europas angeboten werden kann. Diejenige Auffassung, wonach es in Europa keine geteilte Sicherheit geben dürfe, um nicht Zonen unterschiedlicher Stabilität entstehen zu lassen, die gleichsam zum Nährboden für künftige Konflikte würden, stellt die wachsende Verantwortung der Europäischen Union, der Westeuropäischen Union (WEU) und der NATO für den Frieden in den Mittelpunkt der Erörterung. Man verweist zu Recht auf die großen, noch unbewältigten Herausforderungen, die von den Kriegs-handlungen und „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien ausgehen; man verweist auf die zahlreichen gewaltsamen, ja bürgerkriegsähnlichen dem Boden GUS-Staaten, auf der die es beizulegen, zumindest einzudämmen gilt, will man nicht ein Ausufern dieser Konflikte riskieren.
Der „Balladur-Plan“ und die im Januar 1994 angebotene „Partnerschaft für den Frieden“ der NATO bieten gewiß brauchbare Bausteine zur Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Staaten östlich von Oder und Neiße. Dennoch bilden die wirtschaftliche und soziale Konsolidierung der „Reformstaaten“ Ostmitteleuropas, des weiteren die Konsolidierung Rußlands und der Ukraine das Hauptanliegen der betroffenen Staaten, die immer wieder die massive Unterstützung des Westens einfordern. Es wird argumentiert, daß erst ein wirtschaftliches Heranführen dieser Staaten an das Durchschnittsniveau der Europäischen Union die Voraussetzung für ungeteilte Sicherheit schaffe. So wurde etwa in Polen ab Herbst 1993 zunehmend massive Kritik an der Europäischen Union und an der NATO geübt, indem z. B. die ehemalige Ministerpräsidentin Hanna Suchowcka argumentierte, daß der Westen Schuld daran hätte, falls der begonnene Modernisierungsprozeß in Polen scheitern sollte. Andere Stimmen kritisierten den Westen wegen seines Zögerns, Polen in die NATO aufzunehmen, weil Polen nicht mehr länger im „Niemandsland“ existieren wolle
Schon die Unlogik, die Existenz eines Staates mit der Lokation in einem „Niemandsland“ zu verknüpfen, unterstreicht die übertrieben emotionale Betrachtungsweise von Fragen der nationalen Sicherheit gerade in Polen. Inwieweit es aus der Sicht West-und Mitteleuropas sinnvoll erscheint, die Staaten Ostmitteleuropas nicht in einer „Grauoder Pufferzone“ zu belassen und sie in die NATO oder Westeuropäische Union aufzunehmen, soll weiter unten behandelt werden. Sehr kraß und mehr als undiplomatisch fiel der Vorwurf des polnischen Staatspräsidenten Lech Walesa vom März 1994 aus, wonach der Westen die Staaten Ostmittel-und Südosteuropas „irregeführt“ habe und dadurch dem Vordringen Rußlands nach Westen Vorschub leiste Die Frage ob überhaupt oder inwieweit ungeteilte Sicherheit erreicht werden kann, hängt viel entscheidender vom Erfolg der eigenen Wirtschaftsleistungen im Raum ostwärts von Oder und Neiße ab.
III. Kein neuer Marshall-Plan für Ostmittel-und Osteuropa
Die ökonomischen Herausforderungen an Westund Mitteleuropa haben ein Ausmaß erreicht, über das man sich leider nicht immer im klaren zu sein scheint. Allein auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion herrscht ein Wirtschaftsgefälle, das von Nordwesten nach Südosten reicht: So verfügte etwa Litauen 1993 über ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung von 5 880 Dollar, wogegen Georgien mit 1640 Dollar am Ende der Tabelle zu finden war Die Binnenwanderung, vor allem verursacht durch sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, nahm bereits 1993 mit zwei Millionen dramatische Formen an; bis 1995 rechnet man mit weiteren fünf bis sechs Millionen „Flüchtlingen“. Immerhin lebten Ende 1993 ca. 35 Millionen Russen an und unter der Armutsgrenze. Es handelt sich um ein Schicksal, das auch immer mehr Wissenschaftler trifft, die unter dem Existenzminimum leben müssen
Die wirtschaftliche Talfahrt Rußlands hat sich zwar 1994 ein wenig verringert, ein Durchschreiten der „Talsohle“ kann aber bestenfalls erst ab diesem Jahr erwartet werden. Während es gelungen ist, die extreme Inflation bis zum Herbst 1994 auf etwa 4-5 % zurückzuführen, leidet die Wirtschaft noch immer unter mangelhafter Produktivität, verlustbringenden Unternehmen und unter der „Scheinprivatisierung“. Rußland ist der erste Staat, in dem die heimische Mafia einen ernstzunehmenden Wirtschaftsfaktor bildet. Die Industrieproduktion sank 1994 um etwa 25 %. Das tatsächliche Haushaltsdefizit liegt nicht bei der angestrebten Quote von 10 % des BIP, sondern deutlich darüber. Ein neuerlicher Inflationsschub dürfte in nächster Zeit bevorstehen
In Weißrußland und in der Ukraine machten sich noch gefährlichere Signale einer dramatischen Rezession bemerkbar: In der Ukraine betrug die Inflationsrate im November 1993 etwa 100 %, und der Rückgang des BIP wurde mit etwa 20 % berechnet. Die wirtschaftliche Talfahrt wird sich, mittelfristig gesehen, noch fortsetzen. In Weißrußland schrumpfte 1993 das BIP um 15 % und erreichte damit nur 69% des BIP von 1991. Im Frühjahr 1994 scheiterte schließlich eine Wirtschaftspolitik, die angestrebt hatte, mit Hilfe von Staatsaufträgen, durch eine zentrale Steuerung der Investitionen und durch scharfe Preiskontrollen eine Besserung herbeizuführen. Das Nationaleinkommen der Ukraine ging im ersten Quartal 1994 um 33 % gegenüber dem entsprechenden Vorjahrszeitraum zurück. Angesichts der gescheiterten Reformpolitik erblicken viele Politiker nur mehr im Beitritt zur Rubelzone und in der Option auf billiges Erdöl und Erdgas aus Rußland einen Ausweg, was auch die Präsidentenwahl vom 23. Juni 1994 wesentlich beeinflußt hat Nach der Wahl von Alexander Lukaschenko hat sich die Bereitschaft zu einer starken Anlehnung an Rußland, eventuell sogar zu einem Anschluß, keineswegs gelegt, doch wird vorerst versucht, die Eigenständigkeit Weißrußlands durch westliche Hilfe zu erhalten.
Die Volkswirtschaften der „Reformstaaten“ besitzen zwar bedeutend bessere Ausgangspositionen als Rußland, Belarus (Weißrußland) und die Ukraine, doch sind noch große Schwächemomente festzustellen, die der angestrebten Annäherung an die Europäische Union im Wege stehen. Einer im Juni 1994 vorgestellten Studie ist zu entnehmen, daß man unter günstigen Voraussetzungen (das wären etwa ein hohes Wirtschaftswachstum, geringes Handelsbilanzdefizit) mit einem Aufschließen der Staaten Ostmitteleuropas zu EU-Europa erst binnen 14-23 Jahren, bezogen auf die einzelnen Länder, rechnen dürfe Eine andere Überlegung führt zum Schluß, daß die oftmals geforderte massive Finanzhilfe für den „Aufbau“ in Ostmittelund Osteuropa völlig unrealistisch, ja geradezu utopisch ist: Nimmt man nur die jährliche durchschnittliche Überweisung der Bonner Regierung an die neuen Bundesländer von etwa 150 Mrd. DM als Maßstab, so würde man für Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei einen jährlichen Transfer von 450 Mrd. DM benötigen; umgerechnet auf die Bedürfnisse der GUS-Staaten würde dies sogar die horrende Summe von 2250 Mrd. DM erfordern. Demgegenüber dürfte der Betrag von 60 Mrd. DM, dessen Auforingung man auf dem Weltwirtschaftsgipfel von Tokio 1993 beschlossen hat, das Maximum des realistischerweise Erreichbaren sein
Unter diesen Bedingungen ist es wenig hilfreich, den von Jeffrey Sachs angeführten Vergleich zwischen der derzeit dringenden Ost-Initiative mit dem Marshall-Plan von 1947 als vermeintlichen Ausweg vorzuschlagen. Nicht nur, daß in der Nachkriegszeit in Westeuropa die mentalitätsmäßigen Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung vorlagen, die USA hatten auch einigermaßen die Gewähr, daß ihrer Finanzhilfe an Westeuropa in absehbarer Zeit ein entsprechender Markt und ein fruchtbarer Boden für weitere Investitionen folgen würden. All dies ist in den GUS-Staaten so gut wie nicht gegeben. Eine Konzentration der Finanzmittel nur auf einige Staaten Ostmitteleuropas würde hingegen -selbst wenn die erforderlichen Summen aufzubringen wären -eine Kluft zwischen den so Geförderten und dem„Rest“ Europas mit allen negativen Konsequenzen für Stabilität und Sicherheit aufreißen. Selbst von hochrangigen russischen Experten wird eingeräumt, daß die Finanzhilfe nicht den vorrangigen Faktor darstellt; es komme z. B. in Rußland darauf an, den Irrweg der „Schocktherapie“ zu beenden und gezielte technische und sektorale Hilfe zu gewähren sowie die Ausbildung von Fachkräften zu fördern
Daß es aber im Großraum östlich von Oder und Neiße sehr unterschiedliche Erfolge bzw. Mißerfolge in der Bewältigung der wirtschaftlichen Reformen gibt, was nachhaltige Folgen für die Gestaltung des neuen Europa hat, zeigen jüngste Untersuchungen. Man kann gewissermaßen von einer „Dreiklassen-Gesellschaft“ sprechen: Die erste „Klasse“ wird aus Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Estland gebildet, die alle schon für das Jahr 1994 mit einem bescheidenen Wirtschaftswachstum rechnen durften. In der zweiten Gruppe befinden sich die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sowie Lettland und Litauen, die weiterhin eine Schrumpfung ihres BIP hinnehmen müssen. In der dritten „Klasse“ liegen Albanien und Mazedonien sowie die europäischen GUS-Staaten, wobei Belarus das Schlußlicht bildet. Diese Entwicklung verdeutlicht die außerordentliche Problematik, die mit der Idee eines selbst graduellen Heranführens der Länder Ost-mittel-, Südost-und Osteuropas an ein wirtschaftliches Niveau, das einen Beitritt zur EU rechtfertigen könnte, verbunden ist
IV. Zur Frage der „Osterweiterung“ von Europäischer Union und NATO
Wenn mit diesen Ausführungen Verständnis für die vorläufige Beibehaltung des „samtenen Vorhanges“ gezeigt wird, so ist dies keineswegs ein Plädoyer dafür, sich mit den besorgniserregenden Zuständen im riesigen Raum ostwärts von Oder und Neiße abzufinden. Die Bestrebungen, wirtschaftlichen Aufschwung in Ostmittel-und Osteuropa zu fördern, liegen logischerweise im Sicher-heitsinteresse der West-und Mitteleuropäer: Es geht letztlich um die Herstellung politischer und strategischer Stabilität. Betrachtet man die EU nicht nur als „Zweckvereinigung“, sondern auch als Wertegemeinschaft so werden die Herausforderungen hinsichtlich einer Osterweiterung deutlich. Schließlich sind tragbare wirtschaftliche Verhältnisse eine Grundvoraussetzung für die Festigung der Demokratie in den jungen Reform-staaten, da ein Scheitern des Wirtschaftsaufschwunges zu einer unwiderruflichen Diskreditierung des Demokratisierungsprozesses führen würde. Da der Spielraum für Wirtschaftshilfe für die ehemaligen kommunistischen Staaten aber, wie dargelegt, ziemlich begrenzt ist, müssen die Bemühungen, den Prozeß der Demokratisierung voranzutreiben, über das rein Wirtschaftliche hinausgehen. Man stünde sonst vor einem schwerwiegenden Dilemma, da mit einem Mißerfolg beim Wirtschaftsaufschwung auch ein Fehlschlag der Demokratisierung in diesen Staaten und schließlich ein Fehlschlag der Sicherheitspolitik aus der Sicht der Europäischen Union bzw.der NATO zu erwarten wäre
Gemäß einer dominierenden Theorie neigen demokratische Staaten grundsätzlich zu Frieden und zur friedlichen Streitbeilegung. Allerdings wurden gegen diese These gewichtige Einwände erhoben: Demnach habe das Ende der bipolaren Welt auch die Ordnungsfunktion der USA und Rußlands erheblich beeinträchtigt, wodurch die Austragung von bewaffneten Konflikten wieder zu einem Mittel der Machtausübung in denjenigen Regionen geworden sei, die bisher als konfliktfrei galten. Die neue „Unübersichtlichkeit“ sei ein Ergebnis von bisher unterdrückten und nur vertagten Positionskämpfen innerhalb der Staatenwelt Man kann daraus die Schlußfolgerung ableiten, daß die Demokratie zwar eine pazifizierende Wirkung besitzt, daß aber kein Ende von Kriegen und bewaffneten Konflikten abzusehen ist, da die Staaten nach wie vor gemäß ihrer Staatsräson und ihrem Eigeninteresse handeln Sicherlich besitzt der Westen und damit auch die Europäische Union ein wohlbegründetes Interesse an einer Festigung der Beziehungen zu den Staaten Ostmittel-und Osteuropas gemäß der Erfahrung, daß gegenseitige Abhängigkeiten zu einer Steigerung der Verantwortlichkeit und der wechselseitigen Kontrolle beitragen können. Dem gegenüber steht die Beobachtung, daß dieser Grundgedanke, der sich beim Aufbau der EG bewährt hat, keineswegs vollinhaltlich auf Ostmittel-und Osteuropa anzuwenden ist. Allein wirtschaftliche Hilfe für diese Länder anzubieten -so sehr diese benötigt wird -, greift zu kurz, um die zahlreichen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen eine Erweiterung der EU ohne extreme Belastungen sinnvoll erscheint. Nicht umsonst hat man vor einer frühzeitigen Osterweiterung bei gleichzeitiger Vertiefung der EU gewarnt
Ganz abgesehen von der wirtschaftlichen Dimension der Integration zeigt sich gerade im Bereich der äußeren und inneren Sicherheit, wie sich die Europäische Union angesichts der anstehenden Neuaufnahmen äußerst schwertut, zu einer gedeihlichen Sicherheitsordnung in Europa zu kommen, die letztlich ungeteilte Sicherheit gewähren soll.
Zwischen Renationalisierung, Aufwertung der WEU und der Enttäuschung über die passive Rolle der KSZE (jetzt OSZE) pendelt man zwischen der Einsicht, höchstens ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ schaffen zu können, und der Furcht, durch eine Erweiterung nach Osten, Nordosten und Südosten in eine heillose sicherheitspolitische Überforderung zu geraten. Eine voluntaristisch und überhastet gestaltete europäische „Sicherheitsarchitektur“ würde dann bestenfalls nur noch aus einer Ruine bestehen.
Schon die Erweiterung um Österreich sowie Schweden und Finnland schafft Probleme im Außenbereich. Eine Europäische Union, die darüber hinaus um zehn neue Staaten erweitert werden soll hätte nicht nur mit verschärfter wirtschaftlicher Konkurrenz der Mitglieder untereinander und mit ständigem Harmonisierungsdruck zu tun, sondern sie wäre auch verpflichtet, das sicherheits-und geopolitische Erbe der neuen Mitglieder zu übernehmen. Dies hieße, im Osten die Nachbarschaft mit Belarus (möglicherweise vereinigt mit Rußland) und im Nordosten die direkte Nachbarschaft mit Rußland auf Grund des Beitritts der drei baltischen Staaten verkraften zu müssen sowie im Südosten über den Beitritt Rumäniens und Bulgariens unmittelbar mit dem Balkankrieg konfrontiert zu werden. Eine Europäische Union, deren „Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik“ bis dato so gut wie nichts zur Lösung des Balkankonflikts geleistet hat, stünde dann vor der Konsequenz, sich die Beilegung dieses Konflikts als eine unentrinnbare Pflicht aufgehalst zu haben Wer schützt dann eigentlich die künftigen Außengrenzen der Europäischen Union?
Die bisherigen Erfahrungen mit dem Osten Europas legen den Schluß nahe, daß einige Staaten -z. B. die Ukraine -im Grunde genommen nur die wirtschaftlichen Vorteile einer Westorientierung genießen wollen, ohne die politischen und rechtlichen Voraussetzungen zu erbringen. Es erscheint daher als ungeeignete Strategie, eine politische Stabilität in den fraglichen Staaten allein über den Umweg eines Wirtschaftsaufschwunges anzustreben. Betrachtet man die Ergebnisse einer Meinungsumfrage durch die Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft vom Zeitraum Januar bis April 1994, so treten markante Unterschiede in der Einstellung zugunsten einer Westorientierung bzw. einer traditionell nationalistischen Haltung auf Sehr aufschlußreich ist hierbei das Ergebnis, daß die Befragten zwischen einer politisch-kulturellen Westorientierung und einem Beitritt zur EU einen bedeutenden Unterschied machen. Unabhängig von der Bejahung oder Ablehnung einer Westorientierung treten durchschnittlich 85 % der Reformstaaten (in Rumänien sogar 93%) und immerhin 65 % der Bevölkerung Rußlands für einen Beitritt zur EU ein. Gerade in Rußland fühle man sich diesen Umfragen zufolge wie nach einem verlorenen Krieg, sozusagen wirtschaftlich vernichtet. Man kann daraus ableiten, daß für die überwiegende Zahl der Befragten der wirtschaftliche Gewinn durch einen EU-Beitritt außer Frage steht, daß damit aber keineswegs eine Bejahung der Politik und Kultur des Westens einhergeht -eine, bezogen auf den Prozeß der Demokratisierung und die immensen ökonomischen Hilfserwartungen, recht unerfreuliche Aussicht.
Wenn nun der „Fahrplan“ für eine Osterweiterung ungewiß bleibt, wenn also auch die Zukunft einer „Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik“ im Ungewissen liegt, so kommt im Grunde genommen nur eine sehr differenzierte und schrittweise Osterweiterung der EU gemäß den erreichten Leistungsparametern des jeweiligen Beitrittsbewerbers in Frage. Gelingt ein derartiges pragmatisches, wohlkoordiniertes Vorgehen etwa nach dem Modell der „konzentrischen Kreise“ nicht, so steht der Europäischen Union eine dramatische Entwicklung bevor, die selbst den gemeinsamen Binnenmarkt zur Disposition stellen würde
Eine andere Frage ist, inwieweit die NATO -unabhängig von der EU -das Sicherheitsbedürfnis der beitrittswilligen Staaten erfüllen könne. Die Kontroverse um die eventuelle Aufnahme Polens und anderer Staaten Ostmitteleuropas dauert bis zur Gegenwart an und konnte durch die Gewährung der „Partnerschaft für den Frieden“, der bis zum 5. Oktober 1994 23 Staaten beigetreten sind, nur teilweise entschärft werden. Auch das Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Sevilla Ende September 1994 konnte keine Klarheit über das Wie und Wann einer Osterweiterung des Bündnisses bringen. Daß gerade das Interesse Deutschlands an einer Osterweiterung stark ist, da zumindest durch die Aufnahme der vier Visegrd-Staaten ein tiefes geopolitisches Vorfeld jenseits der deutschen Ostgrenze entstünde, liegt auf der Hand.
Auf der anderen Seite gibt es gewichtige Gründe, die derzeit gegen eine Osterweiterung der NATO sprechen: Dazu zählen die mangelnde NATO-Reife der Beitrittsbewerber, die Gefahr, Rußland und andere GUS-Staaten vor den Kopf zu stoßen, sowie die Besinnung auf den Grundsatz, daß die Allianz weiterhin glaubwürdig bleiben müsse, d. h., die volle bündnispolitische Verantwortung für die neuen Mitglieder übernehmen müsse. Schließlich ist zu bedenken, daß -wie dargelegt -die Hauptprobleme der Ostmitteleuropäer wirtschaftlicher Natur sind, die man nicht auf militärische Art und Weise lösen kann Als wichtigstes Argument gegen eine Osterweiterung aus sicherheits-und geopolitischer Sicht erscheint jedoch der Umstand, daß mit der Aufnahme Polens und anderer Staaten die eben erst überwundene politische Spaltung Europas wieder aufleben würde. Man triebe jene Staaten, die nicht in die NATO aufgenommen werden können, in die Isolation, wogegen die aufgenommenen Staaten Gefahr liefen, zu „Frontstaaten“ zu werden. Die neue strategische Grenze würde dann nicht mehr an der Elbe und Werra, sondern am Bug und am San liegen -eine Grenzziehung, die fatale Ähnlichkeit mit der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie vom September 1939 hätte!
Nicht nur die Warnungen von offizieller russischer Seite -etwa seitens des Leiters des Auslandsnachrichtendienstes vom 15. November 1993 -, sondern auch die Entwicklung im Inneren Rußlands ließen es geraten erscheinen, auf eine Osterweiterung der NATO vorerst zu verzichten. Dieser Zustand bedeutet zwar, daß die Staaten „Zwischeneuropas“ vom Finnischen Meerbusen im Norden bis zu den Ufern des Schwarzen Meeres im Süden weiterhin ip einer geopolitischen „Pufferzone“ liegen; er bewirkt aber so lange keinen Nachteil für die Betroffenen sowie für die Anrainerstaaten, solange keine der beiden Seiten in dieser Pufferzone ein Potential für eine Bedrohung der eigenen Seite erblickt. Eine Angliederung dieser Pufferzone an die NATO würde demgegenüber mit Sicherheit allen denjenigen Kräften in Rußland Auftrieb geben, die ihr Heil in einer Remilitarisierung der Außenpolitik, in einem Anschluß der Ukraine und Weißrußlands und einer Frontstellung gegenüber dem Westen suchen. Der Balanceakt zwischen der Option auf spätere NATO-Mitgliedschaft der Ostmitteleuropäer und einer Politik der Beschwichtigung Rußlands verdeutlicht auch den Wandel inder Machtausübung der Weltmächte: Hätten nicht die USA vor 1989 jede passende Gelegenheit ergriffen, um Polen eine NATO-Mitgliedschaft ohne Wenn und Aber anzubieten
Somit erweist sich auch hier -wie im Bereich der Europäischen Union. -, daß nur ein schrittweises, sehr pragmatisches Vorgehen in Richtung Ost-erweiterung Erfolg verspricht, etwa als „Ultima ratio“ für den Fall, daß Rußland darangehen sollte, das ehemalige Sowjetimperium neu zu errichten. Schließlich ist zu bedenken, daß eine Mitgliedschaft in der Allianz auch als „Hintertür“ für den Beitritt zur Europäischen Union dienen kann. Es gilt auch hier der Satz: Man gewinnt viel, wenn man sich mit wenigem begnügt.
V. Machtgestaltung und die Zukunft des Westens
Unter diesen Aspekten kommt die Analyse zu dem Zwischenergebnis, daß derzeit -will man eine neuerliche Spaltung Europas vermeiden -nur eine abgestufte Sicherheit erreichbar ist. Es wird sehr viel davon abhängen, wieweit die „Zivilmächte“ Westund Mitteleuropas, in erster Linie Deutschland, ihr Gewicht bei der schrittweisen Sanierung Ost-mittel-und Osteuropas zur Geltung bringen können. Die politische und wirtschaftliche Instabilität in Rußland und in der Ukraine gibt noch genügend Anlaß, um eine Remilitarisierung der Außenpolitik unter Berufung auf geopolitische Ansprüche und Interessen, unter Berufung auf die „heilige Mission“ Rußlands und unter Ausnutzung weitverbreiteter Ressentiments gegen die westliche Zivilisation keineswegs auszuschließen. Einer Armee, die zutiefst gedemütigt durch den vermeintlichen „Verrat“ ihrer politischen Führer den Rückzug nach Moskau vollziehen mußte, ist zwar nicht unbedingt die Absicht zum Staatsstreich, zumindest aber die Tendenz zu unterstellen, vermehrten Druck auf die Organe der Staatsmacht auszuüben. Wie tief das Trauma des Rückzugs im Offizierskorps sitzt, zeigt das Wiedererwachen der „Dolchstoßlegende“: „Wir wurden nicht auf dem Schlachtfeld besiegt, uns wurde ein vergifteter Dolch in den Rücken gestoßen.“
Der parlamentarische Streit in der russischen Duma um die Höhe des Wehrbudgets für 1994 läßt erkennen, daß die Streitkräfte noch immer über bedeutende Ressourcen verfügen: Neben dem offiziell ausgewiesenen Wehrbudget von 40, 6 Bill. Rubel (= 20, 9 % des Staatshaushaltes) birgt das Staatsbudget mehr oder minder versteckte „verteidigungsrelevante“ Ansätze -eine beliebte Praxis aus der kommunistischen Ära -, die mindestens 12, 54 Bill. Rubel betragen, so daß bei einem Staatshaushalt von 194, 5 Billionen mit einer Quote von 27, 3 % zu rechnen ist. Dies würde 1994, bezogen auf ein geschätztes BIP von rund 700 Billionen, eine Quote von mindestens 7, 6 % am BIP ergeben, wobei jedoch auf Grund zusätzlicher versteckter Ausgaben auch eine Quote von 11, 4% plausibel erscheint
Ein weiterer Aspekt der möglichen Remilitarisierung liegt in den starken Tendenzen zum festeren Zusammenschluß der GUS-Staaten, die gemäß einer Analyse des russischen Dienstes für Ausiandsaufklärung vom September 1994 im Rahmen eines als „natürlich und objektiv“ bezeichneten Prozesses politisch, wirtschaftlich und militärisch auf eine enge Integration angewiesen seien. Man könne sich sowohl eine enge Konföderation, aber auch einen Sieg der isolationistischen Kräfte vorstellen, der einer neuen Konfrontation mit dem Westen Tür und Tor öffne
Das letztgenannte Szenarium entspricht all jenen Einschätzungen, die einen autoritären Kurs nach innen -auch ohne das Zutun Schirinowskijs -und einen revisionistisch-nationalistischen Kurs nach außen erwarten, der selbst die Errichtung eines großrussischen Imperiums einschließt. Die extreme Unsicherheit im Inneren auf Grund einer Ausbreitung des organisierten Verbrechens, die zahlreichen Spannungen mit der Ukraine, die islamische Drohung im Süden, der Anspruch auf den Schutz der über 25 Millionen Russen im „nahen Ausland“ -dies alles läßt den Wunsch nach Zu-rückgewinnung des Großmacht-, ja sogar des Weltmachtstatus in Rußland wachsen. Hierbei entbehrt das Argument nicht der Logik, daß Rußland geradezu gezwungen sei, imperiale Politik zu treiben, um seine Ziele im Inneren wie im Äußeren zu erreichen Es spielt offenbar dabei keine Rolle, daß in Rußland -wie auch früher schon -nur das Militärpotential als Merkmal zur Kennzeichnung einer Großmacht vorliegt.
Ein gutes Beispiel für diese Denkungsart ist die neue russische Militärdoktrin vom 2. November 1993 mit dem unverhohlenen Anspruch auf den Schutz der Interessen Rußlands im „nahen Ausland“. Der wachsende Anklang der russischen Reichsidee erfährt einerseits eine Untermauerung durch geopolitische Argumente, die zu einer Restauration der Hegemonie in Eurasien dienen andererseits verknüpft man die Großmachtidee mit einem Angebot, aber auch mit einer leisen Drohung an das westliche Ausland: Wer, wenn nicht Rußland, sei berufen, der islamischen Gefahr entgegenzutreten? Damit trifft die Gestaltung der europäischen Sicherheitspolitik auf eine neue Dimension, nämlich auf die Wirksamkeit der Kulturen, die auf Menschen und Völker eine viel stärkere Prägekraft ausüben als etwa die Staatszugehörigkeit oder politische Ideologien. Die These, daß man letztlich weltweit vor einem „Kampf der Kulturen“ (bzw. Zivilisationen) stehe muß auch in der Sicherheitspolitik eine stärkere Berücksichtigung als bisher finden.
Als aktuelles Beispiel dafür, wie der Machtkampf im inneren Rußlands, das Streben nach Bewahrung der staatlichen Integrität auch mit militärischen Mitteln und die Konfrontation mit dem Islam zu einem Motivbündel verschmelzen können, mag die militärische Intervention der russischen Streitkräfte in Tschetschenien ab Mitte Dezember 1994 dienen. Wenn auch die Beispiels-wirkung der Abspaltung auf andere separationswillige Regionen Rußlands nicht von der Hand zu weisen ist, so kann der Grundsatz „Wehret den Anfängen“ kaum als Begründung herangezogen werden, da die Abspaltung Tschetscheniens schon seit November 1991 währt. Der Gesichts-verlust der russichen Politik, insbesondere gegenüber dem Ausland, dürfte gravierende Folgen haben, nicht zuletzt dann, wenn versucht wird, mehr Bestände an Waffen, als vom KSE-Vertrag erlaubt, in die Kaukasus-Region zu verlagern.
Die Rolle der OSZE (bis zum Budapester Gipfel KSZE) wird gerade angesichts der eigenwilligen Politik Rußlands, das der OSZE eine der NATO übergeordnete Funktion einräumen möchte, einer schweren Belastungsprobe unterworfen. Kann und will die OSZE, die sich aktiver in die präventive Diplomatie der Friedenssicherung einschalten will und die bereits 53 Mitgliedstaaten zählt, auch eine Vermittlerrolle im Fall Tschetschenien spielen und damit eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands vornehmen? Die Haltung des russischen Präsidenten anläßlich des KSZE-Gipfels in Budapest Anfang Dezember 1994 ließ darauf schließen, daß Rußland weder eine Isolierung noch eine „Bevormundung“ durch den Westen dulden wird und daß es nach wie vor eine Großmachtrolle beansprucht. Falls Rußland den KSE-Vertrag umgehen sollte, um stärkere Kräfte in den Militärbezirk „Nordkaukasus“ zu verlegen, erscheint ein grundsätzlicher Konflikt mit der OSZE, ja mit den westlichen Staaten überhaupt vorprogrammiert.
Vor diesem Hintergrund gewinnt auch das keineswegs spannungsfreie Verhältnis zwischen Rußland und den USA eine zusätzliche Qualität. Daß die amerikanischen und russischen Interkontinental-raketen nach offiziellen Aussagen seit Anfang Juni 1994 nicht mehr wechselseitig auf Ziele auf dem Gebiet des ehemaligen Gegners gerichtet sind, mag als Erfolg der Rüstungskontrolle betrachtet werden. Das gleiche gilt für die amerikanisch-russische Vereinbarung von Ende September 1994, mit dem Abbau der strategischen Raketen gemäß dem START-II-Vertrag (3. 1. 1993) unmittelbar nach der Ratifikation zu beginnen; die Reduktion auf 3000 bzw. 3 500 atomare Gefechtsköpfe soll demnach innerhalb von nur zwei anstelle von neun Jahren abgeschlossen sein Allerdings muß mit einer scharfen Ratifikationsdebatte in der russischen Duma samt einer weiteren Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze, des weiteren mit Schwierigkeiten für die Lagerung und Entsorgung der atomaren Sprengköpfe in Rußland vor dem Hintergrund der Gefahr des illegalen Plutonium-handels gerechnet werden.
Eine viel heiklere Entwicklung liegt aber in der wirtschaftlichen Dimension des amerikanisch-russischen Verhältnisses, wobei der Wunsch des russischen Präsidenten nach einer verstärkten Investitionstätigkeit in Rußland die amerikanische Forderung nach Öffnung der Märkte in den GUSStaaten nach sich zog. Läßt sich diese Politik mit dem Vorwurf, einen „Ausverkauf“ Rußlands an den Westen zu betreiben, vereinbaren? Ein weiteres Hauptproblem besteht in unterschiedlichen Strategien zur Befriedung des Balkans, was zu grundsätzlichen Überlegungen Anlaß gibt: Eine Politik der Rüstungskontrolle, wie sie noch eine Richtschnur bei den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa geboten hat, zielt auf dem Balkan ins Leere. Genau genommen bieten sich hier nur zwei Strategien an: Entweder man beansprucht die Kompetenz der Staatengemeinschaft, dem mörderischen Konflikt mit allen Mitteln, also auch mit militärischen, energisch ein Ende zu machen, um den letzten Rest an Glaubwürdigkeit in Sachen Friedenswahrung zu retten; oder man läßt der Entwicklung, dem „freien Spiel der Kräfte“, ohne Behinderung ihren Lauf.
Daß der Politik Rußlands noch andere Optionen als die Hinwendung zu den USA offenstehen, wird etwa durch die Vereinbarung einer „konstruktiven Partnerschaft“ zwischen Rußland und China Anfang September 1994 verdeutlicht, was als Erfolg Moskaus in Richtung einer strategischen Rücken-freiheit zu werten ist. Noch erfolgversprechender erscheint eine Annäherung an Deutschland, womit die beiden bevölkerungsreichsten Staaten Europas in Anlehnung an politische Traditionen entscheidenden Einfluß auf die Machtgestaltung in Europa gewönnen Man muß nicht sofort an ein „Kondominium“ zwischen Deutschland und Rußland denken, aber dennoch ist diese Option aus der Sicht beider Staaten nicht unattraktiv. Allerdings müßte dann die deutsche Seite ein bedeutend höheres Maß an Verantwortung für die Gestaltung der Sicherheitspolitik, für die Stabilität Rußlands, aber auch für die Stabilität „Zwischeneuropas“ übernehmen. Falls die Bemühungen der inter-bzw. supranationalen Organisationen zur Krisenbewältigung weiterhin von Mißerfolgen begleitet werden, erscheint eine Rückbesinnung auf die Einzelstaaten als Hauptakteure in der Außen-und Sicherheitspolitik naheliegend. Dabei geht es nicht um eine Wiederaufnahme der klassischen Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts, sondern um die Wahrung von natürlichen nationalen Interessen, wie sie sich aus dem Gewicht des jeweiligen Staates im Rahmen der aktuellen Konstellation ergeben. Unter diesen Vorzeichen werden vor allem Deutschland und Rußland gefordert sein, ihr Gewicht -aber auch ihr Potential -zur sicherheitspolitischen Gestaltung Europas einzusetzen, was keineswegs heißt, daß dies ohne Mitwirkung von NATO oder EU geschieht. Unabhängig von den verschiedenen denkbaren „Achsenbildungen “ wird die bisherige Funktion des „Westens“ als Schicksals-und Schutzgemeinschaft eine erhebliche Veränderung erfahren. Es erscheint fraglich, ob die Einbindung des vereinten Deutschland in westliche Institutionen ausreicht, um eine zunehmend eigenständige deutsche Politik gegenüber den Staaten Ostmitteleuropas (und deren Erwartungen) zu verhindern. Es spricht einiges dafür, daß der „Geist der westlichen Gemeinschaft“ dereinst am Rhein enden wird
Für die Gestaltung der Sicherheit Europas wird daher viel davon abhängen, wie es den führenden Mächten in Europa gelingt, ihre Verantwortung für die Zukunft des Kontinents wahrzunehmen und von ihren Fähigkeiten Gebrauch zu machen. Auch für die heutige Lage gilt sinngemäß das Wort Oswald Spenglers aus dem Jahre 1933: „Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen.“ 42