I. Einleitung
Sechs Jahre nach der Einheitlichen Europäischen Akte hat der Maastricht-Vertrag über die Europäische Union den Weg zu einem weiteren Ausbau und einer wesentlichen Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses gebahnt; allerdings wird erst die Zukunft zeigen, inwieweit von den neuen Kompetenzen, Instrumenten und Verfahrensweisen erfolgreich Gebrauch gemacht wird. Läßt man die Wirtschafts-und Währungsunion beiseite, so sind in erster Linie die fortschreitende Kompetenzfülle der signifikanterweise in EG umbenannten ehemaligen EWG durch die Zuweisung neuer Politikbereiche und die Ansiedlung der flankierenden Säulen der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres unter dem Dach der Union zu nennen.
Ungeachtet der Dynamik im Kompetenzgefüge der Gemeinschaft/Union -die in den letzten Jahren zu einer gegenläufigen Tendenz unter dem allerdings mehr rechtspolitischen als juristischen Banner der Subsidarität geführt hat -ist eine vergleichbare Bewegung in der Organstruktur nicht zu erkennen. Der neu geschaffene Ausschuß der Regionen wird aufgrund seiner Stellung im Vertragstext und seiner Aufgaben und Befugnisse nicht zu den Organen gerechnet. Sieht man von der rein formalen „Aufwertung“ des Rechnungshofes vom Neben-zum Vollorgan durch den Unionsvertrag (EUV) ab, so verharrt das institutionelle Gefüge seit dem vom Ministerrat erlassenen förmlichen Akt über die allgemeine und unmittelbare Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments von 1976 in einem statischen Ruhezustand, der polemisch, aber zutreffend eher als „institutionelles Ungleichgewicht“ apostrophiert werden kann.
In der seit Jahrzehnten anhaltenden Grundsatzdiskussion um eine institutionelle Neuordnung der Gemeinschaft/Union nimmt das Europäische Parlament (EP) eine bezeichnende Sonderstellung ein. Werden Rat und Kommission im Licht der öffentlichen Kritik regelmäßig mit dem Vorwurf wuchernder Eurokratie und zentralistischer Bürgerferne überzogen, so ist das EP seit jeher dasjenige Organ, dessen mangelnde Befugnisfülle und -ausübung unter dem Schlagwort „Demokratiedefizit“ die offene Flanke für integrationspolitisch und verfassungsrechtlich motivierte Angriffe bietet.
Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH)
bereits in dem „Isoglucose“ -Urteil vom 29. Oktober 1980 das Prinzip der demokratischen Legimitation als Gemeinschaftsverfassungsgrundsatz anerkannt hat, bekennen sich sowohl die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986 wie der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union von 1992 an mehreren Stellen ihrer Präambeln prinzipiell zur rechtsstaatlichen Demokratie. So spricht die EEA u. a. von den „demokratischen Völkern Europas..., für die das in allgemeiner Wahl gewählte Europäische Parlament ein unerläßliches Ausdrucksmittei ist“, der EUV äußert den Wunsch der Vertragspartner, „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken“. Durch die in Artikel F EUV enthaltene Verpflichtung der Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten, „deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen“, wird indirekt über das Homogenitätspostulat die Geltung des Demokratieprinzips auch für die Union bestätigt Über Insiderkreise hinaus kaum beachtet, hat die „Isoglucose“ -Entscheidung des EuGH die institutioneile Landschaft der Gemeinschaft grundlegend verändert. Das Urteil anerkennt, daß die Beteiligung des EP am kommunitären Rechtsetzungsverfahren für das vom Vertrag intendierte institutionelle Gleichgewicht wesentlich und Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Prinzipes ist. Die Unterlassung der ordnungsgemäßen Anhörung des Parlaments in den vom Vertrag vorgeschriebenen Fällen zieht die Nichtigkeit der betreffenden Handlung wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften nach sich. Diese Judikatur verlieh dem EP de facto ein suspensives Vetorecht. Aufgrund einer entsprechenden Änderung seiner Geschäftsordnung stimmt es seitdem über Änderungsanträge zu dem Kommissionsvorschlag ab und bemüht sich sodann um eine Selbstverpflichtung der Kommission, die Änderungswünsche des EP in ihren Vorschlagaufzunehmen. Im Falle des Scheiterns seiner Bemühungen kann es die Abstimmung über die legislative Entschließung (die seine Stellungnahme darstellt) verschieben und dadurch die Entscheidung im Rat hinauszögern. Vermehrtes Gewicht ist dem EP durch die Einführung der Legislativverfahren der Zusammenarbeit und der Mitentscheidung zugewachsen; bei der Erweiterung der Union, bei Assoziationen, qualifizierten Handelsabkommen, der Rahmenregelung der regionalen Förderung und für die Direktwahlrechtsetzung hat es sogar Zustimmungsbefugnisse.
Dagegen ist zweifelhaft, ob ein Befugniszugewinn im Budgetbereich erzielt worden ist; entsprechende Parlaments-und Kommissionsvorschläge zum Maastricht-Vertrag sind nicht aufgegriffen worden. Das EP selbst hat die Einbindung in die mehrjährige Finanzplanung akzeptiert und damit auch eine Vorfixierung bei den nichtobligatorischen Ausgaben. Wie immer man die Einordnung vornimmt: Die vom EP vermittelte demokratische Legitimation deckt weder qualitativ noch quantitativ die Tätigkeitsbereiche der Europäischen Union in zureichendem Umfang ab.
Demokratische Vollegitimation würde bedeuten, daß sich alle Akte der Unions-(Quasi-) Staatsgewalt letztlich auf den Willen der europäischen Völker, repräsentiert im EP, zurückführen lassen müssen und durch diese bei den nächsten Wahlen entsprechend zensiert werden können. Die Behauptung der Vermittlung der demokratischen Legitimation über die nationalen Parlamente ist ein Scheinargument. Zum einen haben nationale Parlamente, die ja nur im Rahmen eines Ratifizierungsverfahrens und nur oberflächlich grundsätzlich befragt werden, nicht die gleichen faktischen Ein-wirkungsmöglichkeiten wie bei der Gesetzgebung; erst recht fehlen ihnen faktische Einwirkungsmöglichkeiten bei der EU-Sekundärrechtsetzung. Zum anderen würde vermutlich kein Staatsrechtler die demokratische Legitimation der Bundesstaatsgewalt für hinreichend gewährleistet halten, wenn diese schwerpunktmäßig via Bundesrat durch dorthin entsandte Landesregierungsvertreter ausgeübt würde.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, denn nach wie vor liegt die Letztentscheidungsbefugnis in den meisten wesentlichen Bereichen beim Rat, der das mitgliedstaatliche Element repräsentiert und sowohl im Rechtsetzungs-wie im Haushaltsverfahren über eine Vormachtstellung verfügt. Dem Europäischen Parlament als Vertreter des obersten Souveräns der Union, der Völker der in der Union zusammengeschlossenen Staaten, kommen nur Mitwirkungs-und begrenzte Mitentscheidungsbefugnisse zu.
Unbestreitbar hat das EP, das seit der vierten Direktwahl 567 Mitglieder, davon 99 deutsche zählt, seit den Anfängen der Integration seine Stellung im Organgefüge wesentlich gestärkt; dies ergibt eine Analyse seiner Aufgaben und Befugnisse. Es stellt Öffentlichkeit und Transparenz im Entscheidungsgefüge her. Genauso entscheidend ist aber, in welchem Umfeld das EP seinen politischen Willen artikuliert und inwieweit die Rückbindung an den europäischen Bürger funktioniert. Infolgedessen wird beiden Fragestellungen nachzugehen sein.
II. Aufgabenbeschreibung und Befugnisse des Europäischen Parlaments
Traditionell werden zu den Hauptfunktionen von Parlamenten als Staatsorganen repräsentativer Demokratien die Kontrolle der Exekutive, einschließlich der Mitwirkung bei deren Wahl und Abwahl, die Rechtsetzung und das Budgetrecht gerechnet. 1. Kontrollfunktionen Im Bereich der Kontrollfunktionen hat der EUV unverkennbare Positionsgewinne des EP gegenüber der Kommission festgeschrieben; hingegen fehlen weiterhin primärrechtlich verfügte Kontrollrechte gegenüber dem Rat. Dieses Defizit wird auch nicht durch die neugeschaffenen Enquete-und Petitionszuständigkeiten des EP ausgeglichen.
Das stärkste Kontrollrecht gegenüber der Kommission ist das Mißtrauensvotum, womit die Kommission gezwungen werden kann, en bloc zurückzutreten. Dieses Instrument, zu dem in der Vergangenheit viermal gegriffen worden ist, ohne daß über einen Mißtrauensantrag jemals abgestimmt worden wäre, hat allerdings erst durch die vom EUV verliehene Investiturbefugnis politisches Gewicht und Effizienz gewonnen. Danach wird das EP vor der Benennung des Kommissionspräsidenten angehört; die Kommission als Gremium hat sich dem Zustimmungsvotum des EP zu stellen. Vor dieser Neuregelung war das Mißtrauensvotum ein stumpfes Schwert. Die Vorschriften über die Bestellung der Kommission einerseits und das Mißtrauensvotum des EP andererseits waren inkongruent, denn den Regierungen der Mitgliedstaaten stand es frei, die vom EP zur Amtsniederlegung gezwungene Kommission in der gleichen Zusammensetzung wieder einzusetzen.
Als weitere Instrumente der parlamentarischen Kontrolle gegenüber der Kommission sind die Fragerechte der Mitglieder des EP sowie die Berichts-und Informationspflichten der Kommission zu nennen. Dem Interpellationsrecht entspricht eine Pflicht zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung. Am häufigsten sind schriftliche Anfragen und Anfragen zur Fragestunde insgesamt (jährlich zirka 4000-5000). Außerdem findet im EP eine regelmäßige Aussprache über den Gesamtbericht der Kommission über die Politik des abgelaufenen Kalenderjahres statt.
Dem EP steht ferner die Befugnis zur Entlastung der Kommission für die Ausführung des Gesamthaushaltes zu; seine Entlastungsbemerkungen binden jetzt sogar primärrechtlich die Kommission. In der Vergangenheit hat das EP einmal die Entlastung (für den Haushalt 1982) verweigert.
Die Kontrollrechte des EP gegenüber dem Rat bzw.dem Europäischen Rat beruhen nach dem EUV weiterhin vorwiegend auf Selbstbindungen. So wurde in der Feierlichen Erklärung des Europäischen Rats von Stuttgart 1983 die Verpflichtung des Rats bzw.der Außenminister der Mitgliedstaaten (im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit [EPZ]) zur Beantwortung schriftlicher und mündlicher Anfragen des EP vereinbart. Traditionell treten zum halbjährlichen Wechsel der Ratspräsidentschaft der bisherige Präsident mit einem Rechenschaftsbericht und der neue Präsident mit einer Programmrede vor das EP.
Der EUV verpflichtet außerdem den Europäischen Rat, dem EP nach jeder Tagung Bericht zu erstatten und ihm alljährlich einen schriftlichen Bericht über die Fortschritte der Union vorzulegen. Im Bereich der die EPZ ablösenden Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) hat überdies der Ratsvorsitz das EP zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen anzuhören und darauf zu achten, daß die Auffassungen des EP „gebührend berücksichtigt werden“. Das EP ist vom Ratsvorsitz und von der Kommission regelmäßig über die Entwicklung der GASP zu unterrichten; es kann Anfragen und Empfehlungen an den Rat richten. Entsprechende, fast wortgleich formulierte Kontroll-und Beteiligungsrechte sind für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vorgesehen.
Von einer effektiven parlamentarischen Kontrolle des Rats bzw.des Europäischen Rats kann gleichwohl nicht die Rede sein, da dem EP insoweit weder ein Mißtrauens-noch ein Zustimmungsvotum zur Verfügung steht. Eine Mitwirkung bei der Wahl und Abwahl beider Gremien scheidet nach der Grundkonzeption schon allein wegen der Personengleichheit ihrer Mitglieder mit denen der entsprechenden mitgliedstaatlichen Verfassungsorgane aus. Dies erscheint symptomatisch für die durch den EUV unberührt gebliebene Grund-befindlichkeit der EG/EU, die nach Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts trotz verschiedener halbherziger kosmetischer Operationen im Grunde ein „Staatenverbund“ geblieben ist, in dem die Mitgliedstaaten bis auf weiteres als „Herren der Verträge“ das letzte Wort und die Suprematie behalten.
Enquete-und Petitionszuständigkeiten bestehen de facto bereits seit 1981, als das EP im Gefolge der ersten Direktwahl in seine Geschäftsordnung Vorschriften über die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen aufnahm. Eine Handvoll Untersuchungsausschüsse wurden seither eingesetzt; sie befaßten sich mit aktuellen Themen von allgemeinem Interesse wie dem Transport und der Verarbeitung giftiger und radioaktiver Abfälle, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, wachstums-fördernden Hormonen, Drogenhandel und organisierter Kriminalität.
Die neue Bestimmung des Art. 138c EGV erhebt das Untersuchungsrecht des EP in den Rang von Primärrecht, wobei die Einzelheiten der Anwendung dieses Rechts durch eine Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen EP, Rat und Kommission festzulegen sind. Untersuchungsausschüsse sind auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des EP ad hoc zu bestellen; sie können behauptete Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht oder Mißstände bei» der Anwendung desselben prüfen, soweit die entsprechenden Sachverhalte nicht den Gegenstand eines anhängigen Gerichtsverfahrens bilden („subjudice“ -Vorbehalt). Bereits im Dezember 1992 hat das EP den Entwurf einer Interinstitutionellen Vereinbarung für die Ausübung seines Untersuchungsrechts vorgelegt; danach sollen Gemeinschaftsorgane und nationale Behörden zur Vorlage aller angeforderten Informationen und der entsprechenden Unterlagen verpflichtet sein. Die Verweigerung der Herausgabe von Unterlagen, das Nichterscheinen oder eine Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuß sowie die Bestechung von Zeugen sollen nach nationalem Recht in gleicher Weise strafbar sein, wie wenn sie vor einem staatlichen Gericht erfolgt wären.
Das heute im EG-Vertrag positivierte Petitionsrecht der Unionsbürger sowie natürlicher oder juristischer Personen mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat wurzelt bereits in einer Praxis der frühen fünfziger Jahre; diese wurde 1989 durch eine Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen EP, Rat und Kommission bekräftigt. Der EUV hat außerdem die Möglichkeit eröffnet, Beschwerden von Unionsbürgern und natürlichen oder juristischen Personen mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat einem von EP für eine Wahlperiode zu ernennenden Bürgerbeauftragten („Ombudsman“) vorzutragen, soweit die Beschwerden sich auf Mißstände bei der Tätigkeit der Organe oder Institutionen der Gemeinschaft -mit Ausnahme von deren Rechtssprechungsorganen -beziehen. 2. Rechtsetzungsverfahren Trotz der durch den EUV eingeleiteten Fortschritte ist die Beteiligung des EP am Rechtsetzungsverfahren der Union aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht unzulänglich. Anders als nationale Parlamente in repräsentativ-demokratisch verfaßten Staatswesen verfügt das EP weder über ein formelles Gesetzesinitiativrecht noch über umfassende legislative Beschlußbefugnisse, sondern hat nur beschränkte, je nach Sachgebiet unterschiedlich intensiv ausgestaltete Mitwirkungsrechte. Diese reichen von der (fakultativen oder obligatorischen) Konsultation über das Konzertierungs-und das Kooperationsverfahren bis zum Verfahren der Zustimmung und der Mitentscheidung.
Der EUV hat dem EP zwar das -dem Rat seit jeher zustehende -Recht beschert, die Kommission zur Vorlage von Vorschlägen für Gemeinschaftsrechte aufzufordern. Diese Regelung bleibt jedoch nicht nur hinter einem echten Gesetzesinitiativrecht, sondern auch hinter dem weniger weitreichenden Petitum des EP selbst zurück, das in seinen Vorschlägen zur Regierungskonferenz über die Politische Union ein formelles Vorlagerecht für den Fall gefordert hatte, daß die Kommission einer Aufforderung des EP zur Vorlage eines Vorschlags binnen sechs Monaten nicht nachkommt
Sarkastisch, aber nicht ganz unzutreffend ist gelegentlich angemerkt worden, die Intensität der jeweiligen Beteiligungsform sei umgekehrt proportional zur politischen Bedeutung des Regelungsgegenstandes. So ist für komplementäre Maßnahmen mit Bezug zu dem im wesentlichen vollendeten Binnenmarkt das Verfahren der Mitentscheidung vorgeschrieben, wohingegen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik die bloße Anhörung des EP ausreicht. Bei der gemeinsamen Handelspolitik ist eine Beteiligung des EP überhaupt nicht vorgesehen; es wirkt nur in begrenztem Rahmen beim Abschluß völkerrechtlicher Abkommen der Gemeinschaft mit und wird gewohnheitsmäßig vor der Erteilung des Verhandlungsmandats an die Kommission in beschränktem Umfang informell unterrichtet (Luns-Westerterp-Verfahren).
Grundsätzlich lassen sich die legislativen Mitwirkungsrechte des EP in sechs Kategorien aufteilen: 1. Soweit keine allgemeine Anhörungspflicht besteht, kann das EP freiwillig angehört werden. Die sogenannte fakultative Konsultation wird heute bei allen wesentlichen Programm-und Rechtsetzungsvorschlägen von der Kommission aufgrund einer Selbstverpflichtung vorgeschlagen und vom Rat in aller Regel eingeleitet. 2. In wichtigen Feldern der Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft (z. B. Landwirtschaft, Verkehr, Wettbewerbsrecht, Harmonisierung der indirekten Steuern, Rechtsangleichung, Koordination der Strukturfonds, Forschung, technologische Entwicklung und Umweltpolitik) ist eine Konsultation des EP obligatorisch. Der die Konsultation einleitende Rat ist zwar an eine entsprechende legislative Entschließung des EP materiell nicht gebunden, jedoch stellt die Unterlassung der Anhörung eine „Verletzung wesentlicher Formvorschriften“ dar, die ggf. zur Nichtigerklärung des vor dem EuGH angefochtenen Rechtsakts führt (Art. 173 EGV). 3. Das 1975 durch eine Interinstitutionelle Vereinbarung eingeführte Konzertierungsverfahren sollte die Unterschiede in der Befugnislage des EP im Haushalts-und im Rechtsetzungsbereich überbrücken und damit Organkonflikte vermeiden helfen. Beschränkt auf „Rechtsakte von allgemeiner Tragweite mit ins Gewicht fallenden Auswirkungen“, kann das Verfahren vom EP oder vom Rat eingeleitet werden, wenn der Rat beabsichtigt, von einer Stellungnahme des EP abzuweichen. Die ungebundene Entscheidungsbefugnis des Rats wird durch dieses Verfahren gleichwohl nicht tangiert. 4. Das Verfahren der Zusammenarbeit wurde durch die EEA 1987 für verschiedene bisher der Konsultationspflicht unterliegende Rechtsetzungsbereiche eingerichtet. Dazu gehörten insbesondere die Rechtsharmonisierung zur Verwirklichung des Binnenmarktes, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie die Niederlassungs-und Dienstleistungsfreiheit. Das Verfahren besteht aus jeweils zwei Lesungen im EP und im Rat. In der ersten Runde legt der Rat nach Anhörung des EP einen gemeinsamen Standpunkt fest. Wird dieser in der zweiten Runde vom EP gebilligt oder äußert dieses sich nicht binnen zwei Monaten, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit den Rechtsakt verabschieden. Lehnt das EP dagegen den gemeinsamen Standpunkt ab, so kann der Rat nur mehr einstimmig beschließen. In der Praxis bedeutungsvoller ist jedoch, daß dem EP auch ein formelles Abänderungsrecht zusteht. Insoweit kann der Rat von der Kommission übernommene Abänderungen entweder mit qualifizierter Mehrheit annehmen oder aber seinerseits einstimmig abändern; andererseits kann er von der Kommission nicht übernommene Abänderungen des EP nur einstimmig annehmen. Demzufolge liegt auch im Kooperationsverfahren die letzte Entscheidungsgewalt ausschließlich beim Rat, jedoch erhält das EP insofern eine faktische Mitgestaltungsmacht, als es von seiner Stellungnahme abhängt, mit welcher Mehrheit der Rat den Rechtsakt verabschieden kann. 5. Das Verfahren der Zustimmung, ebenfalls eingeführt durch die EEA, macht den Beitritt zur EG/EU und den Abschluß von Assoziierungsabkommen von der Zustimmung des EP abhängig. Der EUV hat das Zustimmungserfordernis gegenständlich erweitert, insbesondere auf -Maßnahmen zur Erleichterung des allgemeinen Aufenthaltsrechts, -Änderungen der Satzung des Europäischen Zentralbanksystems, -die Grundregeln über die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds, -die Vorschriften über ein einheitliches Verfahren für die Wahlen zum EP und -den Abschluß gewisser weiterer völkerrechtlicher Abkommen der Gemeinschaft, die bisher nur dem (auf einer Selbstbindung des Rates beruhenden) Luns-Westerterp-Informationsverfahren unterlagen, und zwar Abkommen, die durch Einführung von Zusammenarbeitsverfahren einen besonderen institutionellen Rahmen schaffen, Abkommen mit erheblichen finanziellen Folgen für die Gemeinschaft und Abkommen, die eine Änderung eines nach dem Verfahren der Mitentscheidung angenommenen Rechtsakt bedingen. 6. Das durch den EUV eingerichtete Verfahren der Mitentscheidung („procedure de co-decision“) hat das als solches fortbestehende Verfahren der Zusammenarbeit für dessen wichtigste Anwendungsbereiche abgelöst. Dafür sind verschiedene, bisher der obligatorischen Konsultation unterliegende Bereiche nunmehr dem Kooperationsverfahren vorbehalten (z. B. Verkehrspolitik, berufliche Bildung, Durchführungsmaßnahmen der Umweltpolitik). Das Mitentscheidungsverfahren findet auf 14 enumerativ aufgeführten Sektoren Anwendung.
Das maximal aus jeweils drei Lesungen in EP und Rat bestehende Mitentscheidungsverfahren baut auf dem Verfahren der Zusammenarbeit auf, dem es in der ersten Phase ähnelt. Wie im Kooperationsverfahren wird das EP von der Kommission zum Vorschlag gleichzeitig mit dem Rat konsultiert, der die Stellungnahme des EP bei der Beschlußfassung über den „gemeinsamen Standpunkt“ (eine Abstraktion der wichtigsten Inhalte aus dem Vorschlag des Rechtstexts) verwertet. Die wesentlichen Unterschiede bestehen darin, daß zum einen das EP durch einen -in jeder Phase möglichen -Ablehnungsbeschluß den Erlaß des Rechtsakts verhindern kann und daß zum anderen Abänderungen des EP zur Grundlage der nachfolgenden Beratungen in Kommission und Rat werden (und nicht der „überprüfte Kommissionsvorschlag“, wie im Verfahren der Zusammenarbeit).
Will in der zweiten Phase der Rat von den Abänderungen des EP abweichen, ist er in jedem Fall gezwungen, den Vermittlungsausschuß anzurufen; dieses Gremium wird aus je zwölf Mitgliedern des Rats und des EP unter Beiziehung der Kommission gebildet. Der Vermittlungsausschuß hat nach seiner Einberufung sechs Wochen Zeit, einen gemeinsamen Entwurf zu beschließen. Ausgangspunkt seiner Tätigkeit ist der vom EP abgeänderte gemeinsame Standpunkt, insoweit die Abänderungen vom Rat gebilligt worden sind. Die Billigung des Rates setzt grundsätzlich die qualifizierte Mehrheit voraus; hat auch die Kommission die Abänderung abgelehnt, kann der Rat nur einstimmig entscheiden. In jedem Fall ist für das Zustandekommen des Rechtsakts nach dem Vermittlungsverfahren ein weiteres Tätigwerden von Rat und EP (dritte Lesung) erforderlich.
Es ist zu erwarten, daß das EP den institutioneilen Zugewinn in erster Linie als Druckmittel für die Durchsetzung seiner Änderungspetita nutzen und so unter dem Damoklesschwert der Ablehnungsandrohung ein verstärktes inhaltliches Mitspracherecht erstreiten wird. Das EP scheint diesen Weg bereits eingeschlagen zu haben. Testfälle aus jüngster Zeit sind etwa das vierte Rahmenprogramm über Forschung und technologische Entwicklung in den Jahren 1994 bis 1998, die geplante EU-Verpackungsrichtlinie und die neuen PKW-Abgas-grenzwerte für 1996.
Im Gegenzug versucht der Rat immer wieder, die parlamentarische Mitwirkungsrechte des EP durch geschickte Wahl der Rechtsgrundlage des beabsichtigten Akts auf kleiner Flamme zu halten, wobei er im Zweifel einer Rechtgsgrundlage, die keine Beteiligung des EP bzw. eine weniger intensive Beteiligungsform vorsieht, den Vorzug gibt. Auseinandersetzungen über die geeignete Rechtsgrundlage -die nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH gerichtlich überprüfbaren objektiven Kriterien folgen muß -gehören daher seit längerem zum festen Repertoire der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit.3. Budgetrecht Seit den Verträgen zur Änderung der Haushalts-bestimmungen von 1970 und 1975 sind die Haushaltsrechte des EP stärker ausgeprägt als seine Rechtsetzungsbefugnisses. Seit 1975 wird die Feststellung des Haushaltsplanes durch den Präsidenten des Parlaments erklärt; dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung des EuGH um einen selbständig anfechtbaren Rechtsakt. Ferner kann das EP „aus wichtigen Gründen“ den Entwurf des Haushaltsplans ablehnen, wovon es bisher viermal Gebrauch gemacht hat.
Beratungsgrundlage ist der vom Rat aufgestellte Entwurf, den der Rat auf der Basis des Kommissionsvorentwurfs beschließt. Diesen kann das EP im Bereich der nichtobligatorischen Ausgaben abändern; im Bereich der obligatorischen Ausgaben (d. h. solche, die sich zwingend aus dem Vertrag oder den aufgrund des Vertrages erlassenen Rechtsakten ergeben) kann es Änderungsvorschläge machen. Diese werden jedoch nur wirksam, wenn sie vom Rat nicht abgelehnt werden. Materiellrechtlich hat das EP damit das letzte Wort nur über die nichtobligatorischen Ausgaben, allerdings auf der Grundlage eines nach objektiven wirtschaftlichen Eckdaten festzustellenden Höchst-satzes, den das EP autonom nochmals um die Hälfte überschreiten darf. Eine weitere Höchstsatzüberschreitung ist nur im Einvernehmen zwischen EP und Rat möglich. Diesbezüglich hat der EuGH 1986 klargestellt, daß dafür die ausdrückliche Zustimmung des Rats erforderlich sei womit die Praxis von Höchstsatzüberschreitungen bei Stillschweigen des Rats (weil dieser keine zur Ablehnung erforderliche Mehrheit aufbringen konnte) beendet wurde.
Betrug der nichtobligatorische Teil der Haushalts-bewilligung 1970 nur 3, 6 Prozent, so ist er heute auf rund 40 Prozent angewachsen -eine Folge der Ausweitung der Mittel für Strukturausgaben. Damit wurde die budgetäre Letztentscheidungsbefugnis des EP nachhaltig gestärkt. Da jedoch die Haushaltsbewilligungen nur im Rahmen der verfügbaren Einnahmen zulässig sind (Verbot des Deficit-spending) und da zudem der EG/EU weder ein Steuerfindungsrecht noch ein autonomes Erhöhungsrecht der Ablieferungen der Mitgliedstaaten zusteht, findet das Haushaltsrecht des EP faktisch an den Einnahmebewilligungen der Mitgliedstaaten durch den Eigenmittelbeschluß seine Grenze. Vorschläge von Kommission und EP zum Maastricht-Vertrag, der EU ein autonomes, vom EP mitzuverantwortendes Steuerfindungsrecht zuzubilligen, sind gescheitert.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß durch die Vorfixierung der Ausgabenblöcke durch die Interinstitutionelle Vereinbarung die Bewilligungsbefugnisse des EP bei den nichtobligatorischen Ausgaben, so wie sie im Vertragsrecht vorgesehen sind, weitgehend eingeschränkt wurden; im Gegenzug hat das EP ein Mitspracherecht bei den obligatorischen Ausgaben gewonnen. Ohnehin wird die Unterscheidung zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben vom EP für abschaffungsbedürftig gehalten.
III. Strukturen der Organisation und Entscheidungsfindung im Europäischen Parlament
Ist die Zusammensetzung des seit 1979 direkt gewählten EP ein Spiegel der politischen Befindlichkeit des in der EU geeinten Europa, dann signalisiert das Bild politische Stabilität. Mehr noch: Ist die Wahlentscheidung ein Reflex der in erster Linie von den Regierungen der Mitgliedstaaten fortentwickelten und gelenkten Integration, dann bedeutet dies Zustimmung der Unionsbürger. Die politischen Kraftfelder, die die nationalen Regierungen tragen, finden sich in der Zusammensetzung des EP bestätigt. Ein bitterer Beigeschmack ergibt sich allerdings daraus, daß von Wahl zu Wahl die Wählerbeteiligung sinkt: von 63 Prozent bei der ersten Direktwahl 1979 auf 56, 8 Prozent bei der vierten 1994. Offensichtlich ist es fast der Hälfte der Unionsbürger nicht einsichtig, warum sie ihre nationale politische Struktur via Europa-wahl nochmals zensieren sollten. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß nach der Anlage des Wahlkampfes substantielle Inhalte der europäischen Politik kaum zum Gegenstand von Kontroversen gemacht werden.
Das auffälligste Ergebnis der vierten Direktwahl 1994 ist, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen den klassischen Fraktionen des EP nur wenig verändert hat. Die omninationalen Fraktionen, deren Herkunftsparteien sich zu europäischen Parteienkonföderationen zusammengeschlossen haben, vertreten traditionell die in der EU vorhandenen politischen Grundströmungen. In dem auf 567 Mitglieder (+ 49) vergrößerten EP entfallen auf die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (in allen anderen Mitgliedsprachen Partei der europäischen Sozialisten; Fraktionsabkürzung PSE) 198 Mitglieder, die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christlich-demokratische Fraktion) 157 Mitglieder (PPE-Fraktion), die Fraktion der Liberalen und Demokratischen Partei Europas (ELDR) 43 Mitglieder. PSE und PPE (EVP) alleinverfügen mit 355 Mandaten über eine satte 3/s-Mehrheit; sind sie sich einig, haben sie keine Schwierigkeiten, ihren Standpunkt durchzusetzen.
Zu Bewegung hat die vierte Direktwahl an den Rändern geführt. Nach dem Verschwinden der deutschen Republikaner gibt es keine Fraktion der europäischen Rechten mehr. Die neue Fraktion „Europa der Nationen“ versammelt rechte Maastricht-Gegner, hauptsächlich aus Frankreich, ergänzt durch Dänen und Niederländer. Die „Forza Europa“ ist die uninationale Fraktion der italienischen Berlusconi-Anhänger mit 27 Mitgliedern; augenblicklich ist ungewiß, ob dies eine Zwischenlösung bis zum Anschluß an eine andere Gruppierung oder ein Definitivum darstellt. Nicht sicher ist auch, ob die RDE-Fraktion (Groupe du Rassemblement des Dmocrates Europeens) mit 26 Mitgliedern, größtenteils gebildet aus französischen Gaullisten, als Fraktion überdauern oder in einer anderen Fraktion aufgehen wird; immerhin stammen ihre Mitglieder aus einer Einheitsliste, die sich im EP auf drei Fraktionen aufgeteilt hat.
Am linken Rand befindet sich die GUE-Fraktion (Groupe confederal de la Gauche Unitaire Europenne) mit 28 Mitgliedern, ex-kommunistischen Integrationsgruppen aus fünf Mitgliedsländern. Die Fraktion der Europäischen Radikalen (ARE) mit 19 Mitgliedern hat die Nachfolge der Nicht-Richtungsfraktion ARC angetreten. Sie wird hauptsächlich getragen von der französischen Tapie-Gruppe, einer Abspaltung von den Sozialisten. Ihr politisches Erscheinungsbild ist diffus und kaum einzuordnen. Die Fraktion der Grünen mit 23 Mitgliedern hat durch das Scheitern der französischen Grünen einen Aderlaß erlitten. In ihrer Wahlplattform 1994 bekennen sie sich zwar zur europäischen Integration, machen aber erhebliche Vorbehalte gegenüber dem Binnenmarkt, der gemeinsamen Agrarpolitik, der Außenhandelspolitik und der angestrebten Währungsunion geltend.
Ist schon die Fraktionslandschaft kompliziert, so wird der Europaparlamentarismus durch eine Reihe bekannter Umstände -Sprachenvielfalt, Sitz, unterschiedliche nationale Denk-und Arbeitsweisen -weiter erschwert. Dabei ist das EP ein Arbeitsparlament; die Spannweite der Themen ist größer als in nationalen Parlamenten, die Vielzahl der parallel laufenden Aktivitäten in Arbeitsgruppen, Ausschüssen, Delegationen, Fraktionsgliederungen und Plenum verwirrend. Die Methodik der europäischen Rechtsetzung -Aufriß des Problems durch großflächige Memoranden, Gesetzgebung in winzigen Detailschritten, Anhäufung von Änderungsverordnungen etc. -macht das Geschehen intransparent. Keine wichtige Entschließung des EP wird verabschiedet, ohne daß es dazu eine in nationalen Parlamenten undenkbare Fülle von Änderungsanträgen gäbe, über die letztlich das Plenum entscheidet.
Die strategische Antwort des EP ist, daß in weniger bedeutenden Angelegenheiten wie bei Entscheidungen, von denen nur Anstoßwirkungen ohne institutionelle Konsequenzen ausgehen, plurale Vielfalt herrscht; dies ist das Feld, auf dem sich die politischen Kräfte gegeneinander abgrenzen. Dort aber, wo der Vertrag das Parlament in das Korsett vorgeschriebener Mehrheiten zwängt (zumeist noch unter Fristzwang), bevorzugen die großen Fraktionen das Konzept des Konsenses, das in regelmäßigen gemeinsamen Stabssitzungen ausgearbeitet wird. Dies ist etwa der Fall im Haushaltsbereich und im legislativen Bereich mit qualifizierten Mitwirkungsbefugnissen, d. h. im Verfahren der Zusammenarbeit, der Zustimmung und der Mitentscheidung.
Die Beobachtung von Leitentscheidungen des EP erhärtet diese These: -Die Geschäftsordnung des EP teilt die fünfjährige Wahlperiode in zwei Hälften, zu deren Beginn jeweils die Funktionsträger des EP neu bestimmt werden. Die Wahl des EP-Präsidenten ist deshalb so wichtig, weil sie der einzige Wahlakt durch demokratisch legitimierte Vertreter zu einem hohen Unionsamt ist. In den drei letzten Wahlen wurde die Alternanz zwischen Sozialisten und Christdemokraten aufgrund Absprache reibungslos bestätigt.
-Seit Jahren fordert das EP eine „Verfassung“
für die Europäische Union, die an die Stelle der in 17 Primärrechtstexten verstreuten Basiselemente treten soll. Das EP selbst hat am 10. Februar 1994 den mühsam von seinem Institutioneilen Ausschuß ausgearbeiteten Entwurf überraschenderweise nicht verabschiedet, sondern ihn nur einer Entschließung angefügt, mit der die Einberufung eines europäischen Verfassungskonvents, zusammengesetzt aus Mitgliedern des EP und der nationalen Parlamente, gefordert wird. Dieser soll Leitlinien erarbeiten, die das EP sodann in einen endgültigen Text fassen will. Der Entwurf versucht, einen Mittelweg zwischen einem föderalistischen Modell und der fortbestehenden Oberhoheit der Mitgliedstaatsregierungen zu gehen. So soll sich die Legitimation der Union von den Staaten und den Bürgern ableiten (nicht von einem europäischen Volk); die Vorrangstellung des Europäischen Rats wird bestätigt. Für das Inkrafttreten soll die Ratifikation durch die Mitgliedstaaten erforderlich sein. Andererseits sollen die Gesetzgebungs-, Haushalts-und Außenbefugnisse gleichgewichtig und rationemateriae unterschiedslos auf Rat und EP verteilt werden. Die Union erhält die Kompetenz-kompetenz, d. h., verfassungsändernde Gesetze werden künftig durch die Unionsorgane ohne Mitwirkung der Mitgliedstaaten beschlossen. Diese Elemente rücken die Union zumindest in Staatsnähe. Erstaunlicherweise haben nur 155 Mitglieder für die Entschließung gestimmt, 87 dagegen bei 46 Enthaltungen.
Im Mai 1994 hat das EP über die Erweiterung der EU durch Norwegen, Österreich, Finnland und Schweden gemäß Art. O EUV abgestimmt; damit wurde erstmals ein Beitritt der Zustimmung des EP unterworfen. Obwohl zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des EUV bereits drei von vier Beitrittsanträgen vorlagen, behandelt der Vertrag nicht die aus der Vergrößerung der EU zu ziehenden institutioneilen Konsequenzen; die Beitritts-abkommen selbst sehen nur eine lineare Verlängerung der bestehenden institutionellen Regeln vor. Hingegen hatte das EP in zahlreichen vorher gefaßten Entschließungen die Notwendigkeit des Vorrangs der Vertiefung („approfondissement“) vor der Erweiterung („largissement") betont. Um die Effizienz und Entscheidungsfähigkeit einer Union mit 16 Mitgliedstaaten auf dem gleichen Stand wie in einer Union mit 12 zu erhalten, wurden Anpassungsmaßnahmen bei den Organen (beispielsweise Stimmgewichtung im Rat, Anzahl der Kommissionsmitglieder) sowie hinsichtlich der Prozeduren (Wegfall der Einstimmigkeit im Rat in essentiellen Bereichen wie Steuerharmonisierung, sozialer Fortschritt, Außenpolitik, Umwelt) für unerläßlich gehalten.
Nachdem entsprechende Angleichungen unterblieben waren, hatte der Institutioneile Ausschuß des EP vorgeschlagen, den Beitrittsanträgen vorläufig nicht zuzustimmen. Am 4. Mai 1994 lehnte das EP gleichwohl mit großer Mehrheit einen Rücküber• ab und stimmte den Beitritten zu. Getragen wurde die Entscheidung von den Fraktionen der PSE und PPE (EVP), die etwa 150 Abgeordnete quer durch die Fraktionen in die Minderheit versetzten. Motiviert war diese Haltung vor allem durch die Furcht vor den psychologischen Auswirkungen in den Beitrittsländern und vor den Folgen für die Terminplanung des Beitritts.
Dagegen hat das neu gewählte Parlament nicht gezögert, erstmals von der Waffe der Ablehnung im Mitentscheidungsverfahren Gebrauch zu machen. In dem Anlaßfall sah es nach erfolglosem Vermittlungsverfahren seine Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Implementierung einer Richtlinie in dem vom Rat verteidigten „Komitologie“ -Verfahren (Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf nationale Experten) gefährdet. Die Ablehnung wurde am 19. Juli 1994 mit 379 Stimmen gegen 45 bei 13 Enthaltungen beschlossen
IV. Bewertung und Ausblick
Die Zusammensetzung des EP aus „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ ist symptomatisch für den Integrationsstand der EG/EU. Die Formel wurde mit Bedacht gewählt: Sie erklärt, weshalb das EP noch weit von der Repräsentativität einer Volksvertretung entfernt ist.
Obwohl nach dem EUV Wahlrecht und Wählbarkeit unionsweit ohne Rücksicht auf die Staatsbürgerschaft als Ausfluß der Unionsbürgerschaft gewährt werden, wird nach wie vor gemäß der Direktwahlakte die Mandatszahl pro Mitgliedstaat festgelegt. Wählerstimmen haben deshalb (auch nach der zur vierten Direktwahl angewandten Korrektur, die die größeren Mitgliedstaaten, vor allem Deutschland nach dem Ende der Teilung, besser-stellt) unterschiedliches Gewicht, je nachdem, wo sie abgegeben werden; die Abgeordneten sind, je nach Herkunftsstaat, mit höchst unterschiedlichen Stimmzahlen legitimiert. Dies verletzt den Wahl-rechtsgrundsatz der Erfolgsgleichheit der Wähler-stimme. Die Mandatsverteilung ist deshalb nicht demokratisch-repräsentativ und entspricht eher einer Stimmengewichtung in einer Zweiten (Länder-) Kammer (von 6 Mandaten für den kleinsten Mitgliedstaat Luxemburg bis 99 für den bevölkerungsreichsten Deutschland; ein Europaparlamentarier aus Luxemburg vertritt rund 60000 Einwohner, einer aus Deutschland dagegen rund 800000, was einem Verhältnis von 1: 13 gleichkommt).
An dem Grundübel unzureichend repräsentativer Zusammensetzung wird auch das angestrebte Einheitliche Wahlverfahren nichts ändern, das bisher hauptsächlich deshalb scheiterte, weil das Vereinigte Königreich am Mehrheitswahlrecht festhält, wohingegen alle anderen Mitgliedstaaten das Verhältniswahlrecht (in unterschiedlicher Ausgestaltung) praktizieren.
Der EUV beschreibt ebenso pompös wie substanz-los die Bedeutung der politischen Parteien auf europäischer Ebene. Wichtiger wäre gewesen, die Parteien in bezug auf die Europawahl auf trans-nationale Verhaltensweisen hinzulenken, was zugleich einen Lösungsansatz für das Problem der Repräsentanz hätte beinhalten können. Unstreitigbezieht sich das Europamandat nicht auf die Vertretung des eigenen Volkes in der Union, sondern auf die Vertretung aller darin geeinigten Völker.
Zusammenfassend läßt sich der Demokratiebefund der EU wie folgt analysieren: Im Funktionsvergleich mit nationalen Gesetzgebungskörperschaften in repräsentativ-demokratischen Staatswesen verdient das EP die Bezeichnung Parlament auch nach seiner Aufwertung durch den Unionsvertrag allenfalls im Sinne des altfranzösischen Ursprungs dieses Wortes (parlement = Gespräch, Erörterung). Wesentliche Attribute eines „echten“ Parlaments gehen ihm ab: -Im Bereich der Kontrollfunktion ist mit dem Zustimmungserfordernis bei der Bestellung der Kommission als Gremium zwar eine Inkohärenz der Verträge beseitigt worden, die darin bestand, daß die Befugnis zur Abberufung und die zur Wiedereinsetzung der Kommission institutionell auseinanderklafften. Das EP kann aber nach wie vor nicht eine Zusammensetzung der Kommission entsprechend der eigenen politischen Mehrheitsbildung herbeiführen („Regierung/Opposition" im EP). Schwerer noch wiegt, daß sowohl der Europäische Rat als auch der Ministerrat einer Kontrolle durch das EP -
und qua Institutionen auch der Verantwortlichkeit gegenüber den nationalen Parlamenten -
weitgehend entzogen sind. Dieses Defizit ist endogen und systemimmanent, solange der (Europäische) Rat keine permanente personen-gebundene Mitgliedschaft kennt, sondern von den Mitgliedstaaten ad hoc beschickt wird.
-Im Bereich der Rechtsetzung erscheint die Vielfalt und diversifizierte Ausgestaltung der einzelnen Beteiligungsformen des EP intransparent und unter Akzeptanzgesichtspunkten unverständlich.
-Im Bereich des Budgetrechts empfähle es sich, die künstliche und willkürliche Unterscheidung zwischen obligatorischen Ausgaben (bei denen der Rat das letzte Wort hat) und nichtobligatorischen Ausgaben (bei denen das EP das letzte Sagen hat) aufzugeben und dem EP für den Gesamthaushaltsplan innerhalb bestimmter, von Rat oder Kommission jährlich festzusetzender Höchstgrenzen die letzte Entscheidungsbefugnis zu konzedieren. -Die beschränkte Partei-bzw. Beteiligungsfähigkeit des EP in Verfahren vor dem EuGH ist unbefriedigend. Sie müßte bereits aus Gründen der Rechtssystematik Hand in Hand mit den durch den EUV erweiterten Rechtsordnungsund Haushaltsbefugnissen des Parlaments gehen. -Mindestens ebenso wichtig für die Stellung des EP wie Verbesserungen der institutioneilen Mechanismen sind akzeptanzbildende Maßnahmen. Das EP ist bei den Unionsbürgern nach wie vor unzureichend bekannt. Sicher hat sein Image sich seit der ersten Direktwahl 1979 zum Besseren gewandelt, aber seine Arbeit stößt oft noch auf mangelndes Verständnis, ja Mißtrauen. Um dem wechselseitigen Entfremdungsprozeß entgegenzuwirken, hat die Regierungskonferenz in der Schlußakte zum EUV zwei Erklärungen „zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union“ bzw. „zur Konferenz der Parlamente“ abgegeben. Darin werden eine größere Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente an den Tätigkeiten der EU und insbesondere ein verstärkter Informationsaustausch zwischen diesen und dem EP sowie der Ausbau von Kontakten und regelmäßige Zusammenkünfte der Parlamentarier gefordert. -In seinem Maastricht-Urteil spricht das Bundesverfassungsgericht von den „völkerrechtlichen Voraussetzungen“, die für die Verwirklichung des Demokratieprinzips erforderlich sind: „Vorformung des politischen Willens durch eine öffentliche Meinung, die sich aus einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen ergibt“. Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk seien sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses.
Die weitere Untersuchung führt das BVerfG zu dem Schluß, daß die Staatsvölker über die nationalen Parlamente die demokratische Legitimation der EU-Hoheitsgewalt vermitteln; deshalb könne und müsse ihre Wahrnehmung „primär gouvernemental" bestimmt sein. Der Legitimation durch das EP komme in der gegenwärtigen Phase (wegen seiner Befugnis- und Repräsentanz-Defizite) lediglich ine stützende und zusätzliche Funktion zu.
Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die demokratische Legitimation der EU-Gewalt über das EP vermittelt und gekräftigt werden muß. Die allenthalben durchscheinende Sorge des BVerfG, dies könne zu Lasten einer „lebendigen Demokratie“ in den Mitgliedstaaten gehen, erscheint schon im Hinblick darauf unbegründet, daß auch die Demokratie in den Bundesländern nicht darunter leidet, daß der Bund vom Volk demokratisch legitimiert wird. Demokratische Substanz soll nicht von den Mitgliedstaaten auf die EU-Ebene „weggesaugt“ werden, vielmehr ist dort der gleiche Standard wie auf der Ebene der Mitgliedstaaten herzustellen. Ein vernünftiges Kompetenzverteilungsschema, inspiriert vom Subsidiaritätsprinzip, könnte dabei die Gefahr der Auszehrung der nationalen Demokratien bannen.