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Europa vor der Herausforderung zivilisierter Innenbeziehungen | APuZ 3-4/1995 | bpb.de

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APuZ 3-4/1995 Die Europäische Union zwischen Maastricht und Maastricht-Revision Europapolitik zwischen deutscher Romantik und gallischer Klarheit Europa vor der Herausforderung zivilisierter Innenbeziehungen Die politisch-institutionelle Stellung des Europäischen Parlaments nach dem Maastricht-Vertrag Aktive und passive Subsidiarität: Prinzipien europäischer Gemeinschaftsbildung

Europa vor der Herausforderung zivilisierter Innenbeziehungen

Wolfgang Kowalsky

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Angesichts der eklatanten Ungleichgewichte und Ungleichzeitigkeiten des europäischen Integrationsprozesses ist eine Neujustierung erforderlich. Neben einer tiefgehenden ökonomischen Integration wurden nur rudimentäre Formen einer Politischen Union realisiert, von der Sozialunion ganz zu schweigen. Die Gemeinschaft steckt zudem in der tiefsten Krise seit Unterzeichnung der Römischen Verträge: Zentrifugalkräfte, hervorgerufen durch den Zerfall der realsozialistischen Staatengemeinschaft, lösten mächtige Desintegrationstendenzen aus, die parallel zu Erosionserscheinungen von innen wirken. Die Gemeinschaft steht vor der doppelten Herausforderung, das erreichte Maß an Kohäsion und Integration zu bewahren und daher die Zentripetalkräfte zu stärken und zugleich die durch sukzessive Erweiterung verursachte Nicht-anpassung der für eine Sechsergemeinschaft geschaffenen Strukturen durch deren Reform zu bewältigen.

I. Einführung 1

Aufgrund der weltweiten Umbrüche und Imponderabilien ist es notwendig, auch die europäische Integration, ihren Stand und ihre Perspektiven einer Revision im Sinne einer Neu-Sichtung zu unterziehen. Zweifellos steht die Europäische Union (EU) an einem Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte. Jenseits längst obsoleter Spiegelfechtereien um die scheinbare Alternative „Erweiterung oder Vertiefung“ ist der Frage nachzugehen, welches Projekt sich hinter der Chiffre „Europa“ verbirgt: Sind Konturen eines eigenen Wohlstands-, Wachstums-und Entwicklungsmodells auszumachen, das nicht ohne Sozial-und Industriepolitik zu haben ist? Oder ist Europa längst zu einer halluzinierten Oase geworden, die auch beim energischsten Voranschreiten nicht näherrückt, sondern als Trugbild am Horizont verbleibt? Werden mit der „Utopie Europa“ (Dominique Wolton) zu hoch-fliegende Hoffnungen verknüpft, die der europäische Einigungsprozeß nicht erfüllen kann? Oder aber im Gegenteil: Ist vom Verblassen der meisten Utopien auch Europa erfaßt, und stehen die meisten Europäer aus eben diesem Grunde dem in ihren Augen ohnehin unattraktiven europäischen Projekt mittlerweile gleichgültig, ja skeptisch gegenüber? Und ganz pragmatisch gefragt: Aus welchen Quellen könnte Europa neue Attraktivität und Legitimität beziehen?

Seit der Implosion der realsozialistischen Staaten-welt sind die alten Kleineuropa-Konzeptionen und -Planungen obsolet geworden, und es hat sich eine europäische Gewitteratmosphäre zusammengebraut, die zwar keinen Krieg im Innern der Europäischen Union ankündigt, aber einen internen Erosionsprozeß bei gleichzeitiger externer Anhäufung von gesellschaftlichem und selbst kriegerischem Sprengstoff. Die europäische Konstruktion wird -erstmalig seit Unterzeichnung der Römischen Verträge -explizit in Frage gestellt Wenn die Kerninstitutionen Europas nicht rasch ihre Handlungsfähigkeit und Legitimation wiederherstellen, könnte in vorderster Linie das neue Deutschland aus dem Gleis geraten, und deshalb ist eine öffentliche Debatte überfällig.

Woher rührt die Relevanz dieser Debatte? Als „obsessiv“ geradliniger Europapolitiker wird Helmut Kohl nicht müde zu unterstreichen, daß Deutschland mehr Nachbarn als jedes andere europäische Land hat und von daher mehr als andere auf gutnachbarliche Außenbeziehungen angewiesen ist Aufgrund seiner ökonomischen Stärke ist Deutschland zudem isolationistischen Versuchungen ausgesetzt, auf die der Europaparlamentarier Jean-Louis Bourlanges hinwies. Vor beiden Risiken schützte bislang die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft, die eine feste Verankerung und damit Stabilität bot, sowie die Institutionalisierung zivilisierter Außenbeziehungen. Dieser sichere Platz ist gefährdet, wenn Attentismus, Indolenz, Probehandeln und ein einsetzender Lockerungsprozeß sich zu einem langfristigen Zerfallsprozeß verdichten, der die zukünftige Gestalt Europas konturenlos und undeutlich werden läßt. Die Achse Rom-London ist geradezu prädestiniert, auf das Programm „Zurück hinter Maastricht“ einzustimmen. Die Zukunft Europas erscheint seit Ende des Zweiten Weltkrieges offener denn je, wie Helmut Schmidt konstatierte.

Das französisch-deutsche Gespann, das sich in der Vergangenheit als Initiator gemeinschaftlicher Projekte bewährt hat, ohne jemals zum Kondominium zu werden, läßt bzw. ließ sich nicht nur von wahlarithmetischen Überlegungen (Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 bzw.französische Präsidentschaftswahl vom Mai 1995) hemmen, sondern zeigt grundlegende Unsicherheiten über den künftigen Kurs der Gemeinschaft. Wenn die Interessenkoalition Paris-Bonn sich de facto zum bloßen Bollwerk gegen Anti-Europa zurückentwickelt, statt auch künftig als Leitschiff und Lokomotive der Integration zu fungieren, wäre die Erosion der EU von innen unaufhaltbar, denn die Gegner der Integrationsvertiefung formieren sich bereits und nicht allein die bei der Europawahl 1994 erstarkte französische Rechte verfolgt das Leitmotiv, die politische Macht der Kommission auf den Rat zu verschieben. In Frankreich reift zumindest die Erkenntnis, daß eine französische Zurückhaltung darauf hinausliefe, Deutschland die europäische Führung zu überlassen und diese anzuerkennen. Bill Clinton hat sich bei seinem Europabesuch nachdrücklich für die europäische Einigung ausgesprochen und auf die Bundesrepublik als treibende Kraft gesetzt, so daß britische Kommentatoren die britische „special relationship“ aufgekündigt sahen. Diese Entwicklungen können dem europäischen Schiff Rückenwind verleihen. Es mehren sich zwar auf der einen Seite Tendenzen, die auf eine Entmachtung der supranationalen Institutionen mit deren eigenen Souveränitätsrechten hinarbeiten, was zwangsläufig Renationalisierungsprozesse begünstigt und beschleunigt, aber auf der Gegenseite wächst die Einsicht, daß diese Gefahr einer europäischen Desintegration gebannt werden muß; den größten Schaden eines Zerfalls der Gemeinschaft hätte Deutschland, das zurückversetzt würde in eine alte geopolitische Konfliktlage. Die Publikation des Papiers von Karl Lamers und Wolfgang Schäuble ist Ausdruck dieser Einsicht.

II. Nach-Maastrichter Herausforderungen und vorläufige Positionsbestimmungen

Die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Integrationsweges sind gegeben: Die politische, ökonomische und soziale Verflechtung und institutionelle Vernetzung erreicht nirgends im internationalen Bereich die Dichte der Europäischen Union. Gerade in Krisenzeiten hat sich das Duo Paris-Bonn als Motor der europäischen Integration bewährt; zweifelhaft ist allein, ob sich gegenwärtig der politische Wille dazu findet. Wird die europäische Sozialunion geschaffen? Eine Nagelprobe könnte die Umsetzung des beschäftigungspolitischen Ansatzes von Delors’ Weißbuch für „Wachstum, Wettbewerb, Beschäftigung“ bilden. Werden darüber hinaus wirtschaftsinterventionistische und industriepolitische Leitlinien verabschiedet? Werden Tarifautonomie und Betriebsverfassung als Pfeiler des europäischen Sozialstaatsmodells transnational institutionalisiert? Lassen sich diese Fragen schon definitiv beantworten?

Drei politische Antworten auf die neue Situation sind möglich: Die erste heißt Bewahrung des gemeineuropäischen Status quo und begrenzter Ausbau des Erreichten; die zweite Antwort heißt „aggiornamento", also Dynamisierung, Aktivierung der europäischen Integration (einschließlich Regionalisierung) und die dritte Rücknahme von Supranationalität zugunsten von nationalen Regelungen. Die Verfechter des Status quo sind daran zu erkennen, daß sie zwar die Notwendigkeit weiterer Reformen im Mund führen, aber darauf bedacht sind, die Kompetenzen der EU eng auszulegen und eine „wildwüchsige Zentralisierung“ der europäischen Politik zu verhindern Eine „dynamischflexible Kompetenznorm“, wie den Artikel 235 EG-Vertrag, wollen sie zurücknehmen und damit einen Motor der Integration, der die Eigendynamik des letzten Jahrzehnts der europäischen Integration legitimiert hat, stillegen. Als Begründung wird angegeben, die komplexen Strukturen seien den Bürgern „nicht verständlich zu machen“, führten zu einer „Verunsicherung“, die nur durch eine Vereinfachung der Strukturen, eine transparentere Gestaltung und eine klare Kompetenzverteilung behoben werden könne. Das Vertrauen der Bürger sei nur zu gewinnen, wenn die Europäische Union auch „nach außen handlungsfähig“ werde. In dieselbe Richtung zielt ein Unternehmer-Memorandum das die vom Weißbuch geplante Schaffung von 15 Millionen neuen Arbeitsplätzen in Europa als „allzu ehrgeizig und wenig realistisch“ abtut und im Gegenzug als Instrument der Beschäftigungssicherung einzig „Kostensenkung“ sowie die Schaffung einer „Deregulierungsinstanz“ empfiehlt. Dürfen sich die Verfasser wundern, wenn ihnen der Vorwurf, zur Europaskepsis beizutragen, nicht erspart bleibt? Die Berührungspunkte zwischen Befürwortern von Stagnation und Regression sind zahlreich, eine Trennlinie ist von daher nicht immer fein säuberlich zu ziehen. Die Verfechter der Rücknahme von Supranationalität werfen die Frage auf, wieso denn Stillstand auf Rückschritt hinauslaufen soll, ob ein direkt gewähltes Europaparlament überhaupt nötig, es nicht „voreilig“ ins Leben gerufen worden sei „Wir haben in manchem schon zu viel Europa.“ Mit dieser Infragestellung ist das Einfallstor für die Rücknahme des Integrationsprozesses weit geöffnet.

Die Verfechter einer dynamischen Integration wenden gegen die sich behutsam und bedächtig gebenden Vertreter des Status quo ein, daß sie mit ihrer zögerlichen Herangehensweise ein falsches Signal aussenden und sich von vornherein in die Defensive begeben. In der jetzigen Situation laufe die Verteidigung des Status quo auf eine Rücknahme der Integration hinaus -so ihr Argument Wenn die Zentrifugalkräfte zunehmen, reiche es nicht aus, die alten Bindekräfte zu bewahren, sondern es müßten um so mehr die Zentripetalkräfte gestärkt werden, um Rückschläge zu vermeiden. Die natürliche Bewegungsform des internationalen Systems ist das Abgleiten in Chaos und Anarchie, die nur mit aufwendigen nationalen und transnationalen Regulierungsgeflechten zu bändigen sind. Konkreter: Die Überbeanspruchung eines für sechs Mitgliedstaaten konzipierten institutionellen Gefüges durch eine doppelt und in naher Zukunft mehr als doppelt so hohe Zahl wird Tendenzen zur Rückentwicklung zu einer Freihandelszone ohne politischen „Überbau“ stärken.

Die europäische Konstruktion ist von innen und außen gefährdet. Eine Analyse der bisherigen Defizite sowie der zukünftigen Anforderungen ist erforderlich, um die teils naturwüchsigen, teils politisch gewollten Erosionserscheinungen aufzuhalten und die europäische Integration voranzubringen. Der Integrationsprozeß ist vor allem von innen bedroht: erstens von der Unklarheit der Zielbestimmung, zweitens von der Herausbildung einer Anti-Europa-Bewegung, die dem „Demokratiedefizit“ den Prozeß macht, drittens vom Aufschwung nationalistischer Kräfte und viertens vom Druck zugunsten einer schnellen Erweiterung Die Europäische Union kann sich als weltpolitischer Akteur nur behaupten, wenn sie diese internen Probleme vorrangig löst.

Die Frage der Zielsetzung ist so alt wie der Einigungsprozeß selbst, und Antworten oder Teilantworten werden ständig der Revision unterzogen: Von Anbeginn an war das europäische Projekt mit dem demokratischen Ideal eng verknüpft, mit dem Kampf gegen Faschismus, Diktatur und Nationalismus, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt mit der Einbindung und Selbst-einbindung von Nachkriegsdeutschland. Die Süd-erweiterung erfolgte aus eben diesen politischen Gründen und bildete für Griechenland, Spanien und Portugal sowohl eine demokratische Taufe als auch einen Stabilitätsanker. Auch die jungen Demokratien Osteuropas setzen ihre Hoffnung auf diesen sicheren demokratischen Hafen, denn die Zersplitterung in ein Sammelsurium von Staaten, die Vervielfachung von Souveränitäten schafft nur eine kurzfristige Lösung langfristiger Probleme. 1. Das „Demokratiedefizit"

Was steckt hinter dem Schlagwort vom Demokratiedefizit? In diesem Begriff werden zwei komplexe und klar zu unterscheidende Themen vermengt: Einerseits Demokratie im Sinne von parlamentarischer Kontrolle der Exekutive, andererseits das Verhältnis der supranationalen Gemeinschaft zu den souveränen Nationalstaaten. Die Formel bringt die Enttäuschung der seit 1979 direkt gewählten Europaparlamentarier zum Ausdruck, im Gesetzgebungsprozeß nur einen untergeordneten Stellenwert einzunehmen, im Unterschied zum Rat, der Repräsentanz der nationalen Exekutiven. Breite politische Resonanz erhielt das Thema mit der Annahme der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987, die vorsah, daß die Mehrzahl der binnenmarktbezogenen Rechtsakte im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden kann, und somit offensichtlich machte, daß das Parlament nur geringe Kontrollvollmachten gegenüber der Exekutive besitzt. Das Demokratiedefizit ist also Indiz und Reflex einer Vorrangstellung der Exekutive, die allerdings Charakteristikum der meisten westeuropäischen Demokratien ist. Die Losung birgt einen rationalen Kem: In der Tat sind mehr öffentliche Debatten und eine höhere Transparenz gefordert, aber die suggerierte Problemlösung, die allgemeine Stärkung des europäischen Parlaments, wäre eine Scheinlösung, denn sie impliziert, daß die Gemeinschaft ein institutionelles System sei, das nach dem klassischen parlamentarischen Modell funktioniere, das seinerseits allein Anspruch auf demokratische Legitimität erheben könne. Doch die Europäische Union ist kein Nationalstaat und hat daher andere Legitimationsformen und Kontrollweisen. Der Rat ist Legislative und nicht Exekutive, obwohl seine Zusammensetzung als Gremium von Vertretern nationaler Exekutiven diesen Trugschluß nahelegt. Es gibt keinen zwingenden Grund, dieser Legislative eine zweite zur Seite zu stellen, es sei denn im Rahmen einer Neujustierung des institutionellen Gleichgewichts. Das Demokratiedefizit im Sinne eines Mangels an Legitimation und Akzeptanz seitens der europäischen Bürger läßt sich nicht allein durch eine Verstärkung der Parlamentsvollmachten beheben.

Die Redeweise vom Demokratiedefizit hat eine bedenkliche Schattenseite, da sie einen idealen Sammelpunkt für alle Gegner des Integrationsprozesses abgibt. Sie steht geradezu philosophisch-erhaben über dem Verdacht, sie kaschiere irgendwelche Partikularinteressen. Zugleich eignet sie sich als Ausdruck eines realen Problems zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Die Formel ist vieldeutig und erlaubt es. verschiedenartigste Interessen hinter einem unbestreitbar demokratischen und scheinbar über den Interessen stehenden Slogan zu versammeln. Nicht nur ideologisch motivierte Gegner des Einigungsprozesses, auch Skeptiker und Zweifler, die der Integrationsprozeß stört oder beunruhigt, fühlen sich von dieser Losung angezogen, die folglich stets aufs genaueste auf ihren Gehalt hin abgeklopft werden sollte. Eine grundlegende, demokratietheoretische Frage stellt sich in diesem Zusammenhang: Gerät das demokratische Prinzip in Widerstreit mit der europäischen Integrationsdynamik? Sollte probeweise das Gedankenspiel zugelassen werden, daß während der Aufbauphase Europas -zumindest vorübergehend -die Effektivität vor dem Demokratisierungsprojekt rangiert? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Eine differenziertere Betrachtungsweise ist angesichts der komplexen Verhältnisse erforderlich. Zwar sind im politischen und ökonomischen Raum die Fundamente konsolidiert und von daher eine Demokratisierung notwendig, aber der europäische Sozialraum steckt noch mitten in der Planungs-und Aufbauphase, und die Frage, ob eine der Demokratisierung eingeräumte absolute Priorität nicht die Gefahr heraufbeschwört, daß der Sozialraum auch in Zukunft den anderen Bereichen hinterherhinkt, läßt sich nicht von der Hand weisen. Der Aufbau eines europäischen Agrarsektors hat eine politische Integration bewirkt, die der Sozialraum nicht einmal ansatzweise erreicht. Die mittlerweile zum Gemeinplatz avancierte, teilweise beckmesserische Kritik am technokratischen Charakter der europäischen Integration verkennt, daß das umfassende Integrationsprojekt in der Geschwindigkeit der Delors-Jahre sicherlich nicht über das Europäische Parlament hätte vorangetrieben werden können. Insofern hatte diese von den Vätern der Europäischen Gemeinschaft konzipierte Form durchaus ihre historische Berechtigung, sie hat jedoch ihre Antriebs-funktion im politischen und ökonomischen Sektor eingebüßt. Erst wenn die Integration in den drei Hauptsektoren eine gewisse Gleichwertigkeit erlangt hat, kann allein eine demokratisch verfaßte Integration Bestand haben.

Eine solche Analyse, die mit den idees reques der Integrationsforschung bricht, muß sich mit dem mainstream auseinandersetzen, beispielsweise dem Postulat von Ralf Dahrendorf: .. Klar ist vor allem, daß das nächste Europa demokratisch sein wird, oder es hat keine Zukunft.“ Mit diesem Votum steht Dahrendorf nicht allein. In schöner Eintracht verweist die Mehrzahl der Wissenschaftler, aber auch Politiker auf das europäische Demokratiedefizit. Ob Claus Koch oder Ludger Kühnhardt, Bemdt Keller oder Elmar Altvater ob SPD. CDU. F. D. P.. Grüne oder Brunners „Bund freier Bürger” -eine kunterbunte Koalition ist sich einig, daß Europa demokratischer gestaltet werden muß. Als Antipode dieses Demokratisierungsansatzes wird gemeinhin der „technokratische Ansatz" (Dahrendorf) ausgemacht und verurteilt.

Ist diese zum Konsens geronnene These plausibel? Verdankt sich der bisherige Integrationsprozeß nicht im Gegenteil weitgehend der vielgescholtenen technokratischen Herangehensweise der europäischen Gründungsväter wie Jean Monnet? Wenn in Europa eine europäische im Sinne von supranationaler Institution durchgesetzt werden konnte, so geschah dies zwar mit der Unterstützung nationaler Parlamente, aber durchaus auf einem tech-nokratisch-expertistischen Wege, der einer demokratietheoretischen Überprüfung schwerlich stand-zuhalten vermag. Stehen also die Projekte „Europa“ und „Demokratie“ in einem Zielkonflikt?

Zwar herrscht ein weitgehender Konsens über Sinn und Notwendigkeit einer voranschreitenden europäischen Einigung, doch sowohl über die Ziellinie als auch über den Weg herrscht Uneinigkeit. Die Verfechter einer Reform der europäischen Institutionen stehen nicht zufällig den Befürwortern einer Erweiterung entgegen, geradezu sinnbildlich im Europawahlkampf-Slogan von Bündnis 90/Die Grünen auf den Punkt gebracht: „Lieber Europa erweitern als Demokratie beschränken.“ Der Gemeinplatz von der Notwendigkeit einer harmonischen Verzahnung von Erweiterung und Vertiefung macht die Runde. Eine Erweiterung der Europäischen Union würde notwendigerweise die Komplexität der Abstimmungsprozesse erhöhen (Wie sollen 24 oder mehr Kommissare so effizient und effektiv entscheiden wie 17?) und damit aus systemischen Gründen zunächst einmal eine Beeinträchtigung von Effizienz und Handlungsfähigkeit und längerfristig eine Erosion des Integrationsprozesses bewirken, der und damit aus systemischen Gründen zunächst einmal eine Beeinträchtigung von Effizienz und Handlungsfähigkeit und längerfristig eine Erosion des Integrationsprozesses bewirken, der bestenfalls stagnieren, schlimmstenfalls Rückschritte machen wird. Die Vorstellung einer harmonischen Verknüpfung von Erweiterung und Vertiefung ist zwar als Wunschbild verständlich, wird aber dem realen, disruptiven Ablauf des Integrationsprozesses nicht gerecht. Wie kann es trotz dieses Dilemmas weitergehen? 2. Die gemeinsame „Industriepolitik“

im Agrarsektor Bieten die bisherigen Integrationsleistungen Anknüpfungspunkte für weitere Fortschritte? Ausgerechnet der kostspielige und scharf kritisierte Agrarsektor hat eine Integration zustande gebracht, die über das Niveau negativer Integration, d. h.der bloßen Beseitigung von Integrationshemmnissen, hinausgeht und als positive Integration eigenständige Regulierungssysteme und Institutionen aufweist. Es sei in diesem Zusammenhang davon abstrahiert, daß manche Richtlinien ungewollte Effekte zeitigen, denn schlechte Regulierung spricht nicht per se gegen Regulierung. Wäre der Agrarsektor innerhalb der Verwirklichung des Binnenmarktes als reines Marktprojekt behandelt worden, hätten also Marktöffnungs-und deregulative Politiken die Oberhand gehabt, wäre er ähnlich wie viele alte Industrien längst subventionsfrei und daher zum Untergang verurteilt. Das entsprechende Szenario läßt sich leicht ausmalen: Zahlreiche der im Agrarbereich tätigen Menschen wären in diesem Fall zur Arbeitslosigkeit degradiert, und der gesamte Sektor hätte sich zu einem ständigen Konfliktherd mit umherziehenden Desperados ausgewachsen. Allein in diesem eingekapselten Bereich, in dem neben regulativer auch umverteilende Politik gemacht wird, wurde resolut der Schritt von bloß negativer zur positiven Integration vollzogen und den Marktöffnungsmechanismen eine Institution beigestellt. Im Agrarsektor ist paradoxerweise eine dirigistische Gestaltung des Wandels ermöglicht worden, die in anderen Bereichen -z. B. in Form von Industriepolitik -nicht einmal ansatzweise verwirklicht wurde. Merkwürdigerweise ist der Agrarsektor als ökonomisches und soziales Regulierungsmodell der öffentlichen Diskussion weitgehend entzogen, obwohl das Agrarbudget 52, 1 Prozent des EG-Haushaltes (1994 = 130 Mrd. DM) ausmacht und damit weit vor dem zweitgrößten Posten, den Strukturfonds mit 30, 7 Prozent, liegt. Aus welchen Gründen ist außer der Agrarlobby niemand daran interessiert? Oder umfassender mit Gilbert Ziebura gefragt: „Warum ist der Agrarsektor politisch am weitesten integriert, obwohl gerade er durch besonders gravierende Unterschiede von Land zu Land gekennzeichnet ist?“ 16

Der Hauptgrund ist im Verhältnis Nationalstaat -Europa zu suchen. Nach traditionellem Verständnis stehen nationale Interessen -schon per definitionem -jeglicher Form von Supranationalität entgegen. National ausgehandelte Kompromisse bilden in der Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner nationaler Interessen ab, können also intergouvernemental zustande kommen und erreichen somit nur in Ausnahmefällen das Niveau einer supranationalen, also nationale Bestimmungen transzendierenden Regelung. Dem Agrarsektor als Branche des vorigen Jahrhunderts wurde bereits in den fünfziger Jahren eine abnehmende Bedeutung attestiert und in der Übertragung von Regulierungskompetenzen nach Brüssel der Vorteil gesehen, möglichen Protest der vom Struktur-wandel bedrohten Landwirte auf Brüssel zu lenken. Seitdem jedoch nationalistische Strömungen Aufwind verspüren, ist die Versuchung zu einer Renationalisierung der Europapolitiken groß 17. Konjunkturelle und strukturelle Faktoren greifen an diesem Punkt ineinander, und die Verantwortlichen haben seither Kompetenzübertragungen auf die supranationale Ebene zurückhaltender gehandhabt. Doch ist dieses traditionelle Verständnis eines absolut gesetzten Gegensatzes von nationalen und supranationalen Interessen in Zeiten der Globalisierung und unter den Bedingungen der Durchsetzung eines planetaren Weltmarktes mit verschärfter Triadenkonkurrenz (USA, Europa, Japan) überhaupt haltbar? Haben die europäischen Nationalstaaten, die geopolitisch betrachtet eher zu den kleineren gehören, eine Chance als globale politische, gesellschaftliche, staatliche und ökonomische Akteure? Liegt nicht der Zusammenschluß zur Europäischen Union im wohlverstandenen Eigeninteresse der europäischen Nationen? In diesem Fall blieben die Verfechter einer Nationalisierung im Sinne der Rückführung supranationaler Entscheidungskompetenz auf die nationalstaatliche Ebene ebenso wie die Verfechter der unbedingten Nationalstaatlichkeit einer veralteten Konzeption verhaftet, denn die nationalen Interessen sind unter den genannten Bedingungen in Supranationalität aufgehoben.

Resümierend läßt sich festhalten, daß supranationale Institutionen in ihrer Entstehungsphase gleichsam als „Selbstläufer“ agieren müssen, da sie sonst von nationalen Interessenkonstellationen, die sich durchaus hinter der Forderung nach Demokratisierung verbergen können, konterkariert werden. Vorübergehend müßte also die Dezision Vorrang haben, ehe die demokratische Legitimation sozusagen nachgeliefert wird. Sollte diese These stimmig sein, verbirgt sich hinter der partei-übergreifenden Großen Koalition der Demokratiebefürworter eine Allianz der Integrationsverzögerer und -bremser.

III. Über Maastricht hinaus

Eine Voraussetzung für weitere Integrationsschritte muß klar sein: Die europäischen Staaten integrieren sich, weil die Mehrheit es wünscht, und sie wünscht es, weil sie die europäische Integration für ein System hält, das höheren Wohlstand, bessere Lebensqualität und friedliches Zusammenleben verbürgt. Tritt ein Wandel dieser Auffassung ein, ist es um die europäische Integration geschehen. Klarheit ist eine conditio sine qua non für Zustimmung. Klärungsbedarf besteht nicht nur bei der Frage der Positions-und Zielbestimmung, sondern auch bei der Frage nach Dimension und Homogenität der Union. Realiter existiert bereits ein Europa konzentrischer Kreise (nach Mitglieds-stärke geordnet): Im Kern die Westeuropäische

Union (die Fünfzehn ohne Irland, Dänemark, Österreich, Finnland und Schweden), darum die Europäische Union/Gemeinschaft der Fünfzehn, der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) der 19 (mit EFTA), der Europarat der 32 und die OSZE (früher KSZE) der 53 Staaten (mit USA und Kanada). Die Beitrittswelle der EFTA-Staaten hat allerdings den EWR bis zur Irrelevanz entleert und das Dahindämmern des Europarats und der durch blitzschnelle Aufblähung ineffektiv gemachten OSZE bestätigt die alleinige Attraktivität des EU-Kerneuropa.

Europa neu zu denken bleibt eine permanente Herausforderung. Konzeptionelle Grundlage eines integrationsförderlichen Modells könnte eine Abstufung der Integrationsdichte sein, die vom Kern -den drei bzw. bald vier inneren Kreisen -zu den äußeren Kreisen hin abnimmt. Folgendes Bild sich überlagernder konzentrischer Kreise könnte die Entwicklungsmöglichkeiten illustrieren: Als Leitschiff das ökonomische Europa des Binnenmarktes, als zweiter Zirkel das Europa der Politischen Union, als dritter Kreis das soziale bzw. sozial-staatliche, als vierter das künftige Währungseuropa, als fünftes das Europa der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) und schließlich als sechstes das der diplomatischen Kooperation. Diese differenzierte Integration ließe eine Beteiligung osteuropäischer Staaten an der diplomatischen Kooperation und der GASP zu ohne gleichzeitige Übernahme des Kerngemeinschaftsbestandes. Sie erlaubt eine abgestufte, aber leichter und zügiger erreichbare Mitgliedschaft für Staaten an der Peripherie Europas mit drängendem Sicherheitsbedürfnis die in absehbarer Zeit die Beitrittskriterien für den gemeinsamen Binnenmarkt oder die Währungsunion noch nicht erfüllen werden. Ein solches Modell könnte den Interessen sowohl der ost-als auch westeuropäischen Staaten entgegenkommen. Die drei inneren Kreise sanktionieren den Gemeinschaftsbestand und gelten für die bisherigen Zwölf (mit Ausnahme Großbritanniens für Kreis 3), jetzt Fünfzehn, sind also fast deckungsgleich. Wenn die Währungsunion zunächst von einem „harten Kern“ von Mitgliedstaaten beschlossen wird, würde sich dieser hochintegrierte Kreis ins Zentrum schieben. Die Kreise einander anzunähern und zu einem zu machen, muß das übergreifende Integrationsziel bleiben. Lange Übergangsfristen sind ein Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks. Ein Europa „variabler Geometrie“ um einen gemeinsamen Kern, also mit variablen Geschwindigkeiten und variablen Integrationsbedingungen, aber einem einheitlichen Institutionenkern und einer klaren Struktur, wird oft fälschlich mit einem Europa „ä la carte“, einer Vervielfachung des Sonderstatus, gleichgesetzt, doch diese „variable Geometrie“ ist -zumindest für eine Übergangsfrist -die unausweichliche Folge des unterschiedlichen Integrationsrhythmus, der politischen und zeitlichen Differenzierung der Mitgliedstaaten. Ein Europa „ la carte“ wäre die Vermehrung von „opting-out“ -Möglichkeiten, die letztlich die gemeinschaftliche Architektur in Frage stellen. Wenn das Bild eines Geleitzugs treffend ist, so hätte dieser die doppelte Pflicht, die größtmögliche Zahl von integrationsbereiten Mitgliedern aufzunehmen und die potentielle Europäisierung in die Tat umzusetzen.

Die Entscheidungs-und Handlungsfähigkeit nach außen sowie die Erarbeitung einer Gemeinsamen Sicherheits-und Außenpolitik sind zwar wichtige Schritte zur Weiterentwicklung der Europäischen Union, aber entscheidend in den Augen der meisten Europäer ist die Modernisierung des gemeinsamen europäischen Politik-und Sozialmodells. In der Nachkriegszeit haben politische Motive zur Begeisterung für das Europaprojekt geführt, heutzutage kann die Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit eine analoge Funktion einnehmen. Die bisherigen Integrationsschritte auf sozialer, beschäftigungspolitischer oder kultureller Ebene sind jedoch als dürftig zu bezeichnen Dieses fortbestehende Manko ist um so verwunderlicher, als die Legitimationsbasis der Europäischen Union nicht mehr allein dem politischen, sondern ebenso-sehr dem sozialen Bereich entspricht. Die beschäftigungspolitische Initiative von Jacques Delors wies in die richtige Richtung, doch wurde sie von einer Allianz aus CDU-und SPD-Politikern, die gegen jegliche Verschuldung der Europäischen Union Einspruch erheben, gestoppt.

Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in Westeuropa wäre dieser beschäftigungspolitische Vorstoß ein Anknüpfungspunkt, um das Abbröckeln der Zustimmung durch überzeugende Aktionen europäischer Dimension zu stoppen. Eine Stärkung des Europäischen Parlamentes und eine parlamentarische Kontrolle der Kommission gehören sicherlich zu den langfristigen Zielen, ebenso wie die Schaffung einer europäischen Staatsbürgerschaft mit europäischen Staatsbürger-rechten und warum nicht auch die Einrichtung eines Repräsentationsamtes, beispielsweise in Form eines Europäischen Präsidenten, das eine Personalisierung Europas erlauben würde. Auch besteht drängender Reformbedarf: Es sind Vorkehrungen zu treffen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu wahren, denn in Zukunft kann nicht bei jedem Beitritt die Zahl der Kommissionsmitglieder und der Parlamentarier erhöht und die Stimmen-verteilung im Ministerrat neu geregelt werden.

Entscheidend wird sein, ob das europäische Projekt nur im Verstand der Menschen oder auch in deren Herzen verankert werden kann. Weder die ökonomische noch die finanzielle Integration, weder die Stärkung des Europäischen Parlaments noch der juristische Überbau allein können die Europäer überzeugen und Europa sinn-und identitätsstiftend machen. Die schwache Legitimationsbasis der Europäischen Union rührt daher, daß die Vergemeinschaftung sich bisher kaum im Alltagsleben und -denken der europäischen Staatsbürger niedergeschlagen hat. Zahlreiche Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens sind bislang nur von einer Europäisierung „von oben“ erfaßt, und die soziale Flanke sowie die kulturelle Dimension, aber auch die Bewegung „von unten“ bleiben unterbelichtet, das Politikfeld Arbeitslosigkeit liegt brach.

Die europäische Idee ist mittlerweile ähnlich hegemonial geworden wie das demokratische Prinzip, so daß keine ernstzunehmende Kraft sich als anti-europäisch zu erkennen geben mag. Der Streit um Europas Zukunft findet also entgegen dem Anschein nicht zwischen Pro-und Anti-Europäern statt, sondern zwischen Verfechtern einer unterschiedlichen Ausgestaltung des Projekts der europäischen Moderne. Doch Auswege aus der Massenarbeitslosigkeit, die Gestaltung der Arbeitswelt, einer Arbeit in Würde und mit weitgehenden Mitbestimmungsmöglichkeiten sind zentrale Politikfelder der Union, über deren Ausgestaltung nicht einmal ansatzweise Einigkeit erzielt worden ist. Auch die Grundlegung eines europäischen Sozialstaats, die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit, die gemeinsame Regulierung der Immigration sind Gestaltungsdefizite, die prioritär bearbeitet werden müssen. Wenn sich herausstellt, daß die europäische Sozialunion einer Fata Morgana gleicht, dann ist es nicht verwunderlich, Attraktivität und Legitimität wenn der sowie Zustimmung zur Europäischen Union weiterhin erodieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Glotz, Der größte Brocken auf dem Kontinent, in: Die Zeit vom 24. Juni 1994, S. 8.

  2. Geplante weitere Integrationsschritte sind strittig: Stimmten noch 1990 die Deutschen mehrheitlich einer Währungsunion zu (50 gegen 27 Prozent), so überwogen 1993 deutlich die Gegner (nur noch 29 Prozent Zustimmung), vgl. Euro-barometer Nr. 34 vom Dezember 1990 bzw. Nr. 39 vom Frühjahr 1993.

  3. Maurice Duverger, Une nouvelle alliance franco-allemande, in: Le Monde vom 26. Oktober 1994, S. 2.

  4. So kürzlich im Interview mit Le Monde vom 1. Oktober 1994, S. 1.

  5. So Manfred Brunners „Bund Freier Bürger“, Für ein Europa freier Völker. Europapolitische Leitsätze; aber auch kürzlich der CDU-Politiker Heinrich Lummer, Für ein Europa der Vaterländer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. September 1994, S. 10, sowie eurokritische Formationen in Frankreich (Philippe de Villiers), Belgien, Österreich etc. Der französische Linkssozialist Jean-Pierre Chevnement befürchtet, die Deutschen wollten die französische Republik in einem europäischen Superstaat auflösen und die staatliche Einheit Frankreichs, die sich auf die Staatsbürgerschaft und nicht eine ominöse „Volkszugehörigkeit“ gründet, abschaffen, so daß nur völkisch definierte Gebilde übrigblieben. Als Karl Lamers, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU im Bundestag und Autor des „Schäuble-Papiers“, am 7. /8. November 1994 in Paris seine Kemeuropa-Vorstellungen erläuterte, kommentierte Le Monde vom 8. November 1994, S. 9, diese Visite negativ: Durch diesen Auftritt würden die „crispations anti-germaniques" verstärkt und die „dbandade franaise" beschleunigt!

  6. Vgl. CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, Überlegungen zur europäischen Politik vom 1. September 1994, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1994) 10, S. 1271-1280.

  7. So beispielsweise Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa ’ 96. Reformprogramm für die Europäische Union, Gütersloh 1994.

  8. Vgl. Conseil National du Patronat Franais (CNPF) /Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) /Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Memorandum vom 26-/27. Mai 1994, S. 3, 5, 12.

  9. Heinrich Lummer (Anm. 6). Ähnlich auch Erwin Teufel, der kritisiert, daß die Neuverteilung von Zuständigkeiten immer auf einer „Einbahnstraße nach Brüssel“ erfolge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. August 1994, S. 4; Manfred Brunner, in: Stiftung Mitarbeit (Hrsg.), Wieviel Demokratie verträgt Europa? Wieviel Europa verträgt die Demokratie?, Opladen 1994; mehrdeutig Wolfgang Schäuble (Anm. 7). Zu den Kritikern des Europaprojekts zählt auch Jean-Pierre Chevnement, der die Kommission herabstufen möchte zu einem Generalsekretariat von Rat und Ministerrat, vgl. die Entgegnung auf Jean-Louis Bourlanges, A l’Allemagne, parlons franc, in: Le Monde vom 12. Oktober 1994, S. 1, 2.

  10. Schäuble, So auch Wolfgang s. Anm. 7 sowie Interview mit Le Monde am 24. September 1994, S. 7: „II faüt maintenant faire le forcing pour que l’Union Europdenne progresse.“ (Zu deutsch: „Man muß jetzt Druck machen, damit die Europäische Union Fortschritte macht.“)

  11. Vgl. Laurent Cohen-Tangui, L’Europe en danger, Paris 1992.

  12. Ralf Dahrendorf. Ein Europa für die Zukunft, in: Der Spiegel. Nr. 1/1994. S. 29.

  13. Vgl. Claus Koch. Demokratie, sozialer Raum und Gewerkschaftspolitik in der Europäischen Union. Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung (Mskr.). Dezember 1993; Ludger Kühnhardt, Hans-Gert Pöttering. Weltpartner Europäische Union. Zürich 1994: Berndt Keller. Ehe soziale Dimension des Binnenmarktes. Zur Begründung einer euro-pessimistischen Sicht, in: Politische Vierteljahresschrift. (1993) 4. S. 588-612; Elmar Altvater'Birgit Mahnköpf. Gewerkschaften vor der europäischen Herausforderung. Münster 1993.

  14. Bündnis 90/Die Grünen, Programm zur Europawahl 1994, verabschiedet auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Aachen vom 12. bis 14. November 1993.

  15. Um so mehr, als der „permissive Konsens“ gegenüber Europa einer skeptischen Beurteilung, gar Zurückweisung weicht. Vgl. Hans-Wolfgang Platzer/Walter Ruhland, Welches Deutschland in welchem Europa? Demoskopische Analysen, politische Perspektiven, gesellschaftliche Kontroverse, Bonn 1994.

  16. Zugleich wäre eine sofortige NATO-Mitgliedschaft Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns nach „französischem Modell“ möglich, also politische Integration bei militärischer Selbständigkeit. Vgl. Gerd Schmückle, Nato. Bei den Kanonen bleiben, in: Der Spiegel, Nr. 45/1994, S. 56.

  17. Die ökonomistische Schieflage der europäischen Integration veranlaßte schon Jean Monnet gegen Ende seines Lebens zu der Aussage: „Si c’tait ä refaire, je commencerais par la culture." (Sinngemäß: „Müßte es noch einmal gemacht werden, würde ich mit der Kultur beginnen.“) Ein großer Marktplatz allein kann die Identität der Staatsbürger Europas nur marginal mitprägen, Europa als Einheit muß schon politisch, sozial, kulturell und historisch mindestens annähernd so prägend werden wie die Nationalstaaten.

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Wolfgang Kowalsky, Dipl. -Soz., Dr. phil., geb. 1956; von 1987 bis 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am FB Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin; seit 1992 Referent für Grundsatzfragen beim Hauptvorstand der IG Metall in Frankfurt, Arbeitsgruppe „Europa“ der IGM. Veröffentlichungen u. a.: Kulturrevolution. Die Neue Rechte im neuen Frankreich und ihre Vorläufer, Opladen 1991; Die Inszenierung eines positiven Unternehmerbildes in Frankreich 1965-1982, Rhein-hausen 19912; (zus. mit U. Knight) Deutschland nur den Deutschen?, Erlangen 19922; (Hrsg. zus. mit W. Schroeder) Rechtsextremismus -Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1994.