In den letzten Jahren hat das Wissen und die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der alten Bundesrepublik und auch im Westteil der Stadt Berlin stark zugenommen. In der Schule wird die Behandlung des Themas in verschiedenen Jahrgangsstufen und Fächern durch die Lehrpläne vorgeschrieben, die historische Forschung zu den NS-Verbrechen hat zahlreiche neue Erkenntnisse gebracht, und an vielen Orten bemühen sich Gedenkstätten und Initiativen, an diese Geschichte und an das Schicksal der NS-Opfer zu erinnern. In der DDR hatte die Beschäftigung mit der NS-Zeit einen hohen Stellenwert in Staat und Gesellschaft, wenn auch mit einer im Vergleich zum Westen abweichenden inhaltlichen Ausrichtung. Am Beispiel des Umgangs mit den Stätten, an denen NS-Verbrechen begangen wurden, soll im Folgenden dargestellt werden, wie sich die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und das Gedenken an die Opfer dieser Verbrechen im Nachkriegsdeutschland entwickelt und in den beiden deutschen Staaten verschieden gestaltet hat. Daran anknüpfend sollen die Möglichkeiten beschrieben werden, die pädagogische Vermittlungsarbeit im Zusammenhang mit diesen Orten hat -sowohl für die individuellen Besucher wie auch als Zeichen für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der deutschen Gesellschaft.
I.
Die ersten Denkmale wurden in den westlichen Besatzungszonen unmittelbar nach dem Krieg, in der Regel von den überlebenden Häftlingen selbst, errichtet. Als Beispiele seien hier die beiden Obeliske, die sowjetische Kriegsgefangene in Sandbostel und Stukenbrock errichtet haben, erwähnt. Derartige Mahnmalsbauten wurden in den Jahren bis 1947 erschaffen, als die großen Kriegsverbrecherprozesse, die Entnazifizierung und zahlreiche literarische Erinnerungsberichte an die NS-Haft das gesellschaftliche Klima bestimmten. Viele dieser Denkmale wurden im Laufe der fünfziger Jahre wieder abgetragen -teilweise, weil die einfachen Materialien, die nach dem Kriege zum Bau zur Verfügung standen, ohne Pflege verrotteten, teilweise, weil sie bewußt zerstört worden waren. Das Mahnmal in Sandbostel wurde gesprengt und Mitte der fünfziger Jahre statt dessen auf dem Friedhof der sowjetischen Gefangenen ein aus drei Stelen zusammengesetztes Ensemble errichtet.
Diese Mahnmalsgestaltung ist in zweifacher Hinsicht typisch für diese Zeit: Zum einen findet das Gedenken nur noch auf Friedhöfen statt, ohne daß eine historische Information gegeben wird, und zum anderen werden für das Gedenken christliche Symbole benutzt, die das spezifische Schicksal der Opfer und ihre Weltanschauung eher verschweigen. Zahlreiche NS-Opfer, häufig aus dem osteuropäischen Ausland, wurden in den fünfziger Jahren von ihren Ruhestätten in Lagernähe in zentrale Kriegsgräberstätten, oft unmittelbar neben Soldaten und SS-Angehörige, umgebettet und an ihren Grabstätten nichtssagende Tafeln mit Aufschriften wie etwa „Den Toten 1933-1945“ angebracht.
Teilweise wurden die Geschehnisse auch ganz aus-, geblendet, wie in Breitenau bei Kassel, wo noch 1983 auf einer Informationstafel mit einem Über-blick über die Geschichte des Klosters die NS-Zeit, in der dort ein frühes KZ und ein Arbeitserziehungslager der Gestapo bestanden hatten, weggelassen wurde. Häufig hat man die Konzentrationslager oder NS-Haftstätten nach der Befreiung anderer Nutzung zugeführt. In Neuengamme wurde ganz bewußt als demokratischer Gegenentwurf zur KZ-Haft auf dem ehemaligen Lager-gelände eine Justizvollzugsanstalt errichtet. Zahlreiche andere Lager sind nach 1945 als Sammelorte für Displaced Persons oder deutsche Flüchtlinge, vor allem aus dem Osten, genutzt worden. 'Des öfteren wurde Gewerbe auf dem Gelände angesiedelt.
Diese Nutzung macht deutlich, daß die NS-Haft-stätten in einer Kontinuität der Ausgrenzung von Menschen stehen, die häufig schon vor 1933 vorhanden war und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übergangslos fortgesetzt wurde.
Das Beispiel Breitenau soll hier nochmals aufgegriffen werden: In Teilen dieses ehemaligen Benediktinerklosters wurde im 19. Jahrhundert eine „Korrektions-und Landesarmenanstalt“ als Ortder Ausgrenzung mittelloser alter Menschen, Nichtseßhafter und Prostituierter eingerichtet. 1933/34 bestand dort ein frühes staatliches Konzentrationslager. Im „Arbeitserziehungslager“ wurden ausländische Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges terrorisiert. Nach dem Krieg hat man in denselben Gebäuden ein Heim für „schwererziehbare Mädchen“ eingerichtet.
Das seit Mitte der fünfziger Jahre kontinuierliche Drängen der Häftlingsorganisationen, die -insbesondere aus dem westlichen Ausland -an den Jahrestagen ihrer Befreiung die ehemaligen KZ-Standorte besuchten, hat dazu geführt, daß seit Ende der fünfziger Jahre an einigen Orten Mahnmale oder Gedenksteine aufgestellt wurden und hin und wieder kleine, jedoch eher ungenügende Ausstellungen, wie z. B. die 1966 eingeweihte Gedenkstätte in Bergen-Belsen, an die KZ-Geschichte erinnerten. Für diese Periode steht auch Hamburg-Neuengamme, wo zwischen 1958 und 1965 eine Stele, eine Plastik, eine Ehrenmauer und Gedenkplatten mit der Nennung der Herkunftsländer der Häftlinge entstanden sind.
Dachau bildet eine Ausnahme, da hier bereits 1965 -unter der Aufsicht des internationalen Lagerkomitees -die erste Gedenkstätte mit einer ständigen Ausstellung und fest angestelltem Personal eröffnet wurde.
Von einer regelrechten Bewegung zur Gründung von Gedenkstätten kann man erst ab Anfang der achtziger Jahre sprechen: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und die Mahn-und Gedenkstätte in einer ehemaligen Synagoge in Essen sind 1981 eingeweiht worden, die Gedenkstätte des KZ Niederhagen in der Wewelsburg bei Paderborn 1982, die Gedenkstätte Breitenau und der Obere Kuh-berg in Ulm 1984. Diese Aufzählung könnte durch zahlreiche kleinere und größere Einrichtungen, die bis heute noch hinzugekommen sind, fortgesetzt werden.
II.
Aus dieser Beschreibung wird ersichtlich, daß der Begriff „Gedenkstätten“ auf Einrichtungen angewandt wird, die sich an einem historischen Ort befinden, diesen durch eine Ausstellung dokumentieren und interpretieren sowie mit haupt-oder ehrenamtlichen Mitarbeitern eine Besucherbetreuung und historische Forschungsarbeit ermöglichen. Nach dieser Definition bestehen zur Zeit etwas mehr als 60 Gedenkstätten in Deutschland. Die Größe der Einrichtungen reicht dabei von der Gedenkstätte Buchenwald mit über 50 Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen und einem Millionenetat -der im Vergleich zu den Anforderungen immer noch zu gering ist -bis hin zu kleinen Initiativen, die mit ehrenamtlichen Mitarbeitern den Zugang zur historischen Ausstellung nur nach konkreten Absprachen öffnen können. Ebenso ist die Finanzierung sehr unterschiedlich: Zum Teil sind Kommunen (z. B. Düsseldorf, Essen) oder Landkreise (Wewelsburg bei Paderborn), zum Teil auch Bundesländer (Dachau, Neuengamme, Bergen-Belsen) für die Finanzierung zuständig. Seit der deutschen Vereinigung beteiligt sich die Bundesregierung, bedingt durch den hohen Finanzbedarf und die politische Bedeutung der Einrichtungen, mit einem Zuschuß in Höhe von fünfzig Prozent zu den Landesmitteln an den Kosten der Gedenkstätten in Thüringen (Buchenwald und Mittelbau-Dora) sowie in Brandenburg (Ravensbrück, Sachsenhausen und die Außenstelle im Zuchthaus Brandenburg). Die Gedenkstätten in Berlin -Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Stiftung Topographie des Terrors -erhalten ebenfalls Bundeszuschüsse.
Diese Institutionen sind zu unterscheiden von den über 1600 von der Bundesregierung offiziell anerkannten NS-Haftstätten und den ungezählten Gedenktafeln und -steinen oder Mahnmalen, die vor Ort an die NS-Verbrechen erinnern, ohne daß dort eine kontinuierliche inhaltliche Betreuung sichergestellt ist
In der DDR war die Situation insbesondere für die Ende der fünfziger Jahre eröffneten „Nationalen Mahn-und Gedenkstätten“ in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen, aber auch für zahlreiche kleinere Gedenkstätten und „antifaschistische Traditionskabinette“ insofern unterschiedlich, als die zu vermittelnden Inhalte zentral vorgegeben waren. Die DDR-Gedenkstätten folgten der offiziellen Parteilinie und den Vorstellungen der Sichtweise der Geschichte der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandskampfes. Diese Verengung auf die Glorifizierung des Kampfes und der Kämpfer gegen den Faschismus fand seinen relativ späten Ausdruck auch in dem endgültigen Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) 1953, die unmittelbar nach Kriegsende noch auf breiter Basis vonÜberlebenden verschiedener Häftlingsgruppen gegründet worden war.
Bei der Errichtung der großen Gedenkstätten Ende der fünfziger Jahre stand die zuständige Abteilung des Museums für deutsche Geschichte vor dem Problem, daß entweder -wie in Ravensbrück -das Gelände von der Sowjetarmee besetzt und somit unzugänglich war oder -wie in Buchenwald und Sachsenhausen -wegen der weiteren Nutzung der KZ-Gebäude durch die Besatzungsmacht als Speziallager Umbauten vorgenommen und nach Auflösung dieser Lager Gebäude und -teile als Baumaterialien von der Bevölkerung entfernt worden waren. Auch in diesen Fällen waren es hauptsächlich ehemalige Häftlinge, die sich schon früh für die Sicherung der Anlagen sowie für Dokumentations-und Forschungsarbeiten eingesetzt bzw. dies gegenüber der Staatsführung immer wieder eingeklagt hatten.
Bei der Gestaltung der Gedenkstätten und der dazugehörigen Ausstellungen kam der ideologische Grundgedanke zum Tragen, aus dem Widerstand und dessen Verfolgung die Gründung der DDR mit dem moralischen Impetus des Leidens in den KZs zu untermauern. Nicht die historische Information, sondern die Herausbildung von positiven Einstellungen zur DDR standen dabei im Mittelpunkt. So wurde in Buchenwald neben der Rekonstruktion des Lagerzauns nur die Effekten-kammer, die Desinfektion und das Krematorium erhalten, während die Barackenstandorte lediglich in ihren Grundrissen sichtbar gemacht wurden. Neu errichtet wurde die bekannte Mahnmalsanlage mit dem Glockenturm und der Figuren-gruppe von Fritz Cremer in etwa eineinhalb Kilometer Entfernung, in geographischer Nähe zu den Massengräbern. Bezeichnend ist, daß von den drei Entwürfen, die Fritz Cremer zu dieser Figuren-gruppe entwickelt hatte, der heroischste ausgewählt wurde:
Wie wenig die topographischen Zusammenhänge genutzt wurden, um auf historische Gegebenheiten hinzuweisen, kann am Beispiel der Gedenkstätte Sachsenhausen aufgezeigt werden. In der Dauer-ausstellung wurde zwar, der Dimitroff’schen Faschismus-Theorie folgend, auf die Verbindung von Großkapital und NS-Herrschaft hingewiesen, während der gesamten DDR-Zeit wurden aber von den Gedenkstättenmitarbeitern/-innen keinerlei Anstrengungen unternommen, diese Verbindung von Wirtschaft und NS-Terror anhand der direkt an das Gefangenenlager angrenzenden Bereiche des Industriehofs oder des Hafenbeckens und der Ziegelfabrik am ehemaligen Hohenzollernkanal zu untersuchen, das Gelände zu sichern und in die Ausstellung einzubeziehen.
III.
Wenn auch die politischen Vorzeichen sehr unterschiedlich sind, so lassen sich doch zahlreiche Parallelen zwischen dem Umgang mit der NS-Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland und dem in der Deutschen Demokratischen Republik feststellen.
Beide Gesellschaften haben sich nie mit ihrer Rolle als Tätergesellschaft auseinandergesetzt. Im Westen wurde dies durch den Kalten Krieg, das „Wirtschaftswunder“ und die Notwendigkeit der Integration der NS-Täter und -Mitläufer in die demokratische Gesellschaft verhindert. Im Osten wurde diese Auseinandersetzung durch die Geschichtsinterpretation unterbunden, daß die DDR sich auf der Seite der antifaschistischen Alliierten -und somit der Sieger -befände, womit allen Ostdeutschen das Identifikationsangebot als antifaschistische Widerstandskämpfer gemacht wurde; ferner auch mit der Begründung, die neue Gesellschaftsordnung in der DDR habe die alte Gefahr der NS-Barbarei überwunden.
Während in Westdeutschland für viele Initiativen, die sich in den letzten 15 Jahren für die Errichtung von Gedenkstätten einsetzten, gerade diese Verdrängung Ausgangspunkt ihres Engagements war, mußten sich in der DDR Menschen, die an der Geschichte der Opfer und an einer tiefergehenden, auch die individuellen Schuld-und Verantwortungsfragen nicht ausklammernden Auseinandersetzung interessiert waren, neben der parteioffiziellen Behandlung des Themas ihre eigenen, individuellen Wege suchen. In Kirchenkreisen war es noch am ehesten möglich, hierfür Gesprächspartner zu finden.
Gerade die auch heute noch bestehenden Unterschiede im Umgang mit der NS-Zeit und die Bedeutung der antifaschistischen Erziehung für die „gelernten DDR-Bürger“ genauer zu untersuchen, könnte bei einer Beschäftigung mit diesem Thema im vereinten Deutschland viel weiter helfen als das bloße Abqualifizieren dieser Erziehung als „verordneter Antifaschismus“.
Seit der Angliederung des Staatsgebiets der DDR an die Bundesrepublik ist die Arbeit der Gedenkstätten in den neuen Bundesländern einem grundlegenden Wandel unterworfen. Wenn die Gedenkstätten auch in Zukunft eine Bedeutung erhalten wollen, ist eine Grundvoraussetzung die (Zurück-) Gewinnung ihrer Glaubwürdigkeit. Dazu ist es unabdinglich, bisherige Tabus aufzugreifen, sich mit allen Facetten der Geschichte des historischenOrtes zu befassen, die nicht repräsentierten Opfer-gruppen mit einzubeziehen sowie die frühere einseitige politische Instrumentalisierung zu beenden und aufzuarbeiten. Zahlreiche Schritte dazu sind bereits getan worden. Derzeit sind die Gedenkstätten der ehemaligen DDR dabei, das dokumentierte Material neu zu bearbeiten und dieses in veränderte Ausstellungen umzusetzen.
Der Umgang mit den Gruppen von NS-Verfolgten in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten zeigt erstaunliche Parallelen auf. Will man die äußerst komplizierten Entschädigungsregelungen auf einen Punkt bringen, so kann man festhalten: Abgesehen von der für die Betroffenen viel angenehmeren Rentenregelung in der DDR -im Unterschied zu den zahlreichen notwendigen Bedürftigkeitsund Anspruchsnachweisen in der Bundesrepublik’-gibt es politisch bedingt einen großen Unterschied: Während im Westen die Verfolgtengruppe der Juden vergleichsweise gute Entschädigungsregelungen erhielt und 1956 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges den Kommunisten diese Regelungen generell wieder aberkannt wurden, war es im Osten Deutschlands genau umgekehrt. Sowohl in der Entschädigungsregelung als auch in der gesellschaftlichen Anerkennung sowie in den Ausstellungen in den Gedenkstätten ist die Gruppe der „vergessenen Verfolgten“ hingegen jeweils nahezu identisch.
Erst gegen Ende hat sich in der DDR eine langsame Änderung eingestellt. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurde in seiner ganzen Breite salonfähig, und die Juden wurden als Opfer-gruppe allmählich in das Gedenken einbezogen. So wurde in Ravensbrück 1987 ein zusätzlicher Gedenkstein für die ermordeten Juden in das Rosen-beet bei den Tafeln für die Opfer aus 20 Nationen eingereiht. Eine Ausstellung in der Baracke 38 in der Gedenkstätte Sachsenhausen widmete sich ebenfalls dem jüdischen Schicksal -allerdings in einer folkloristisch verfälschten Art und Weise.
IV.
Es ist ein großes Verdienst der Gedenkstätten-initiativen in Westdeutschland, die „vergessenen Opfer“ erstmals öffentlich zu erwähnen und sie „gedenkwürdig“ zu machen. Dabei wird deutlich, daß die Auseinandersetzung mit ihrer Verfolgungsgeschichte in der NS-Zeit auch immer mit einem Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Entschädigung sowie einer Bürgerrechtsarbeit verbunden ist. Gerade anhand der marginalisierten Opfergruppen zeigt sich auch, daß die Ausgrenzung und die Vorurteile nicht mit der Befreiung vom Nationalsozialismus verschwunden sind, sondern bis heute weiter tradiert und in Bürokratie und Gesellschaft verankert sind: -Opfer der Wehrmachtsjustiz gelten immer noch als Vorbestrafte, da die gegen sie verhängten Urteile der NS-Militärjustiz bis heute nicht für ungültig erklärt wurden.
-Seit Mitte der achtziger Jahre ist die Erinnerung an die Zwangssterilisation und den „Euthanasie“ genannten Krankenmord in Heilanstalten, etwa in Hadamar, Bernburg und Sonnenstein/Pirna bei Dresden, in Gedenkstätten wach. Bei den Behinderten und geistig Kranken handelt es sich um eine Menschengruppe, die immer noch am Rande der Gesellschaft steht und z. B durch die aktuelle Diskussion um Eugenik und den Wert des Menschen bedroht ist. Aus der Geschichte wissen wir, daß diese Diskussion immer dann an Schärfe gewinnt, wenn die Haushaltsmittel knapp sind und man die Mittel, die für die Pflege und Unterstützung dieser Menschen aufgewandt werden müssen, kürzen möchte.
-Das Beispiel der Diskussion um die Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin macht deutlich, daß der in den achtziger Jahren erreichte Konsens, auch Kommunisten zu gedenken, wenn sie gegen Hitler Widerstand geleistet hatten, wieder aufgekündigt werden soll.
-Die Diskussion um das neu zu errichtende große Mahnmal für die ermordeten europäischen Juden zeigt auf, daß sich Sinti und Roma immer noch nicht als „rassisch Verfolgte“ anerkannt fühlen. Sie fordern zur Erinnerung ein gleichwertiges Denkmal.
-Homosexuelle wurden bis zum Ende der sechziger Jahre von staatlicher Seite weiter verfolgt.
Der in den letzten Jahren vollzogenen Anerkennung als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung steht eine aktuell zunehmende Anzahl an Überfällen auf Schwule gegenüber.
-Sowjetische Kriegsgefangene und zahlreiche andere ausländische Verfolgte der NS-Herrschaft sind kaum in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gelangt. Für die Menschen hat diese Tatsache zur Folge, daß sie keine individuelle Entschädigung aus Deutschland erhalten haben. Die in den letzten Jahren stattfindenden Bemühungen, über Stiftungen in den osteuropäischen Ländern hier eine Abhilfe zu schaffen, kommen sehr spät und sind in der Umsetzung noch zu ungenügend, um tatsächlich einer großen Zahl von Überlebenden eine Erleichte rung bei der Bewältigung ihres Lebensabends zu bieten. -Zeugen Jehovas sind bis heute so gut wie nicht in der Erinnerungsarbeit präsent, ebenso wie die Gruppe, die von den Nazis als „Asoziale“ ausgesondert und verfolgt wurde. Darunter befanden sich Bettler, Obdachlose, Wanderarbeiter, Prostituierte oder Sinti und Roma.
Trotz aller Kritik und Mängel kann man heute feststellen, daß es für einen solchen kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte in keiner anderen Gesellschaft vergleichbare Beispiele gibt. Es ist erfreulich, daß sich zahlreiche Institutionen und Menschen, die sehr verschiedene politische oder persönliche Motive haben, mit der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte befassen. Auch die Vielfältigkeit der inhaltlichen Zugänge und Ziele ist ein großes Plus für die Auseinandersetzung mit diesem Thema in der deutschen Gesellschaft. Dennoch darf man nicht verkennen, daß die Menschen, die sich in dieser Intensität und Ernsthaftigkeit mit diesen Schicksalen befassen, eine Minderheit darstellen.
Diese erfreuliche Entwicklung wird allerdings immer wieder behindert. Der Landkreis Bremervörde begründete z. B.seine Nichtbeteiligung an einer Gedenkstätte für Hunderttausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Sandbostel mit dem Argument, daß er keinen Krieg erklärt habe und für die Behandlung der Gefangenen nicht verantwortlich sei.
Dieses Argument ist auch in anderen, unmittelbar in Lagernähe befindlichen Orten häufig anzutreffen, besagt jedoch nur die halbe Wahrheit. Natürlich wurden die Entscheidungen für Lagerstandorte meist zentral getroffen. Jedoch war die Bevölkerung vor Ort in vielschichtiger Weise mit dem Lager verbunden: Man hat Baustoffe und Lebensmittel geliefert, die Häftlinge als billige Arbeitskräfte genutzt oder sich vielleicht geschämt, nicht mehr Unterstützung für die Häftlinge, etwa durch Schmuggel zusätzlichen Essens, geleistet zu haben.
Auch die Bundesregierung, die sich trotz intensiven Drängens bisher noch nicht dazu geäußert hat, ob sie die Reisekosten für ausländische Überlebende zu den Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung zu übernehmen bereit ist, behindert mit ihrer Passivität die tägliche Arbeit der Gedenkstätten, was gerade angesichts dieser für die Überlebenden so wichtigen Erinnerungstage, die weltweite Aufmerksamkeit haben werden, eher unverständlich ist.
Die Art und Weise des Rückbezugs zur NS-Geschichte und der Erinnerung an deren Opfer zu bestimmten Anlässen -insbesondere an Gedenktagen -nimmt in jüngster Zeit immer stärker den problematischen Stil von Kampagnen an. Beispiele hierfür sind der 1994 begangene 50. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli und die von dem Film „Schindlers Liste“ ausgelöste Medien-resonanz.
Durch einen solchen letztlich vordergründigen Umgang mit der Vergangenheit entsteht die Gefahr, daß politische und publizistische Rituale herausgebildet werden, die unglaubwürdig sind. Gerade Schüler, die bei diesen Anlässen als erste Adressatengruppe für das „Lernen aus der Geschichte“ genannt werden, haben ein feines Gespür dafür, daß dadurch eine wirkliche Auseinandersetzung mit diesem Thema eher verhindert wird
Auch wenn 1995 nach den Feierlichkeiten und Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung der Eindruck entstehen könnte, nunmehr hätte sich das Thema Nationalsozialismus endgültig erledigt, sitzen die Wurzeln der NS-Vergangenheit in unserer Gesellschaft viel tiefer. Das Thema wird auf Dauer präsent bleiben und stets eine größere Anteilnahme haben als etwa die Behandlung der Geschichte des Kaiserreichs oder der Französischen Revolution. Dies liegt zum einen darin begründet, daß auch die heutige deutsche Gesellschaft viel zu sehr in die Kontinuitäten und Brüche mit der NS-Zeit verknüpft ist. Zum anderen wird der moderne Zivilisationsbruch des staatlich organisierten Völkermords während der NS-Zeit universell als Beispiel und Vergleichsgrundlage für viele andere Verbrechen in der öffentlichen Diskussion bleiben. Und zum dritten ist gerade in Deutschland bei Jugendlichen, auch wenn sie wenig Wissen über die NS-Zeit besitzen, zu beobachten, daß bestimmte Worte oder Verhaltensweisen, die mit dem Nationalsozialismus in Verbindung stehen, auf die eine oder andere Weise tabuisiert werden.
Die Frage für die Zukunft wird daher nicht sein, ob, sondern auf welche Weise es gelingt, die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in einer sinnvollen Weise so zu nutzen, daß ein Geschichtsbild bestehen bleibt, in dem diese Epoche und die von Deutschen begangenen Verbrechen in ihrer Bedeutung ernst genommen werden.
Darüber hinaus werden in Zukunft die Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit diesem Abschnitt der deutschen Geschichte für die Auseinandersetzung mit der sich immer schneller verändernden heutigen Lebensumwelt ergeben, anders, vermutlich universaler, diskutiert werden können.
V
Der besondere Ansatz der Gedenkstättenarbeit in Deutschland liegt darin, daß die Gedenkstätten ihre Informationstätigkeit mit Blick auf den Ort durchführen, an dem sie sich befinden. Dargestellt wird, daß die Geschichte an diesem Ort tatsächlich geschehen ist. Mit diesem örtlichen Bezug wird eine Konkretion, eine nacherlebbare Ebene eingeführt -die Aura des Ortes -, die Interesse und Motivation evozieren kann. Es wird bei der Betrachtung der pädagogischen Praxis in Gedenkstätten deutlich, daß sie methodische und inhaltliche Elemente des Museums (Bewahren, Sammeln, Dokumentieren) sowie der Schule (Projektunterricht etc.) aufgreift. Trotz dieser Nähe zu anderen Formen der Bildungsarbeit bringt der Bezug zum Ort einige Besonderheiten mit sich. Die Authentizität des Geländes erschließt sich nicht von selbst, sondern muß dargestellt und interpretiert werden.
In Berlin läßt sich das anschaulich am Beispiel des „Prinz-Albrecht-Geländes“ verdeutlichen. Von den historischen Häusern konnten nur noch wenige Fundamente nach Jahrzehnten wieder ausgegraben werden. Es bedarf der Phantasie der Besucher, sich anhand der Informationstafeln die ursprünglichen Ausmaße der Gebäude zu vergegenwärtigen. Die historische Bedeutung des Ortes während der NS-Zeit erschließt sich darüber hinaus nur durch die dokumentierende Ausstellung. Diese wiederum gewinnt ihre Eindrücklichkeit gerade durch den unmittelbaren topographischen Bezug.
Immer wieder machen Gedenkstättenmitarbeiter/-innen jedoch die Erfahrung, daß Besucher den historischen Ort mit ihren inneren Bildern von Verbrechen und Leid zu verbinden suchen, die mit der Geschichte, die hier stattgefunden hat, oft nichts zu tun haben. Am augenscheinlichsten wird dies, wenn Besucher in zahlreichen deutschen KZ-Gedenkstätten immer wieder nach dem Standort der Gaskammern fragen, die es dort häufig nicht gegeben hat.
Anhand der Erzählung der Geschichte eines einzelnen Ortes kann nicht das gesamte Unterdrückungs-und Verfolgungssystem des „Dritten Reichs“ verdeutlicht werden. Um z. B. die Einrichtung eines frühen Konzentrationslagers, wie des Columbia-Hauses in Berlin, verstehen zu können, muß man die historischen Zusammenhänge der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit den seinerzeitigen Wahlergebnissen und gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen kennen. Da eine solche differenzierende Einordnung der Bedeutung des Ortes in den historischen Gesamtablauf nicht während eineinhalbstündiger Führungen geleistet werden kann, ist eine gute Vorbereitung auf diesen Besuch von großer Wichtigkeit.
An den konkreten Orten läßt sich auch der zeitliche Abstand sinnlich wahrnehmen. Dieser Aspekt bietet gute Ansatzpunkte, um auf die Distanz der heutigen Zeit zu den Ereignissen einzugehen sowie auf die Unmöglichkeit, diese Ereignisse tatsächlich heute nachzuerleben. Die „steinernen Zeugen“ bieten ferner gute Anlässe, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Nachkriegsdeutschland zu problematisieren. Dies ist eine Ebene, auf der auch der Bezug zur heutigen Lebensumwelt hergestellt werden kann. Eine zweite Ebene ist der regionale Bezug zum Gedenkort. Hier wird deutlich, daß sich die Geschichte in der unmittelbaren Umgebung abgespielt und diese mitgeprägt hat.
Der Besuch einer Gedenkstätte als eines historischen Ortes ist daher mehr als normaler Schulunterricht. Der Lernortwechsel bietet die Möglichkeit, Schüler, die sich von der häufigen Behandlung des Themas Nationalsozialismus im Unterricht übersättigt fühlen, erneut zu motivieren und ihnen am konkreten Beispiel zu zeigen, daß es auch für sie noch Neues zu lernen gibt. Dabei beobachten Gedenkstättenmitarbeiter/-innen, daß Lehrer im Unterricht zum Thema Nationalsozialismus wesentlich höhere Maßstäbe für das Verhalten der Schüler und die inhaltliche Bearbeitung der NS-Zeit anlegen, als bei jedem anderen Stoff. Die Schüler spüren diesen moralischen Druck und geben ihm nach, indem sie die gewünschten Antworten reproduzieren oder sich oberflächlich anpassen.
Gute Erfahrungen machen Gedenkstättenmitarbeiter/-innen mit Lehrern, die sich selbst als Fragende einbringen und sich mit Neugierde als Lernende beteiligen. Eine solche Teilnahme überträgt sich auf die Schüler und fördert in der Regel ein waches Interesse der Lerngruppe.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wieso gerade Schüler immer im Zentrum der Forderungen nach Bildungsarbeit im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen stehen. Vielleicht, weil man ihnen als einzigen den Gedenkstättenbesuch verordnen kann? Dabei wäre es viel wichtiger, die Eltern-generation und das Verhalten aller gesellschaftlichen Gruppen in die Bildungsarbeit einzubeziehen. Denn hier wird das gesellschaftliche Klima erzeugt, in dem die Schüler lernen und ihre Verhaltenseinstellungen ausprägen.
Das Gedenken an den konkreten Orten der Verbrechen und des Schreckens wird sich in Zukunft noch stärker von der Trauer zu einem Lernen und Mitempfinden verlagern. Trauer, als Empfindung des Verlustes und Abschiednehmens verstanden, kann nur um einen Menschen entstehen, den man gekannt und geliebt hat. Gedenken, das Nach-geborene und nicht unmittelbar Betroffene vollziehen, setzt als ersten Schritt Lernen und Aneignung von historischem Wissen sowie der Lebensumstände der Verfolgten voraus. Erst im zweiten Schritt kann sich dann eine emotionale Ergriffenheit einstellen, eine Empathie mit den Opfern.
Das würdige Gedenken an die Opfer hat zwei Dimensionen. Zum einen die öffentliche: Hier drückt sich in Ritualen und Zeichen die gesellschaftliche Anerkennung der Opfer des NS-Regimes aus. Die zweite Dimension des würdigen Gedenkens ist die individuelle: Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich der Biographie einzelner Opfer zu nähern. Als eine der besten Methoden -da auf Eigenständigkeit und Selbsttätigkeit abzielend -ist die Erstellung von Gedenkbüchern durch Besucher zu sehen, wie sie in der Alten Synagoge in Essen zuerst entwickelt wurde. Mit Hilfe von Gedenkstättenmitarbeiter/-innen können sich Interessierte durch Aktenstudium und Korrespondenzen mit heute noch lebenden Angehörigen oder Freunden das Schicksal eines NS-Verfolgten erarbeiten. Nach Abschluß der Recherche wird sie auf ihre Richtigkeit überprüft und anschließend in ein Gedenkbuch eingeschrieben, das für alle zugänglich in der Gedenkstätte ausliegt. Der Kontakt und das Gespräch mit Zeitzeugen, Überlebenden der NS-Verfolgung, hinterläßt meist einen tiefen und bewegenden Eindruck. Diese Betroffenheit ist eine wichtige Motivation zum Weiterdenken und zur Weiterarbeit, sie trägt jedoch nichts zum eigentlichen Erkenntnisprozeß bei. Es besteht die Gefahr, daß eine auf Emotionen zielende Pädagogik -die schockierende Konfrontation mit dem Grauen -lähmt und Lernblockaden auslöst. Dazu gehört auch, daß Versuche, sich im nachhinein mit den Opfern zu identifizieren, von Gedenkstätten-pädagogen als falsch abgelehnt werden. Generell sollte die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen die Möglichkeit offenhalten, daß Lernende auch unbeteiligt bleiben oder sich dem Grauen entziehen können.
Der in den USA gebräuchliche Begriff „Holocaust“ bürgert sich auch in Mitteleuropa immer stärker zur Beschreibung des Völkermordes an der europäischen Judenheit und der an anderen Gruppen NS-Verfolgter verübten Verbrechen ein. Zwei bedeutende Unterschiede bestehen jedoch zwischen der inhaltlichen Ausrichtung dieses Begriffs und der Gedenkstättenarbeit in Mitteleuropa:
Wie schon erwähnt besteht in Europa der Bezug zum historischen Ort, der die museale Gestaltung dominiert. In den USA lebt die Darstellung hingegen völlig von der Inszenierung. Wenn man die Gedenkstättenlandschaft mit ihren Facetten als eine Einheit versteht, hat die Spezifizierung der Gedenkstätten in Mitteleuropa auf die örtliche Geschichte große Vorteile. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: In dem großen Holocaust-Museum in Washington ist nur in einer Vitrine Platz, um auf die „Euthanasie“ -Verbrechen hinzuweisen, ohne die die Entwicklungsschritte zur Ermordung der Juden in Europa nicht zu verstehen sind. In Deutschland bieten die Gedenkstätten in Hadamar, Bernburg, Grafeneck und in Zukunft in Sonnenstein/Pirna umfassende Dokumentationen und Anlässe zur Auseinandersetzung mit der „Euthanasie“. Da im nachkommunistischen Europa die Reisezeiten kürzer werden, ist es wahrscheinlich, daß auch die Gedenkstätten in Polen und Tschechien, später auch im westlichen Teil der ehemaligen Sowjetunion, in diese differenzierende Topographie eingebunden werden.
Dem Begriff „Holocaust“ ist zudem eine Sichtweise immanent, die die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in eine verkehrte Richtung lenkt. Der Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries hat dies so treffend formuliert, daß ich ihn zusammenfassend wiedergebe: Das Hineinversetzen in die Opfer ist schmerzlich und belastend. Und doch scheint es vergleichsweise bequem. Vor allem mogelt es den Betrachter -wenigstens teilweise -auf die Seite der Opfer hinüber, stellt ihn auf die moralisch unschuldige, überlegene Seite und nimmt ihm durch Mitleid einen Teil von Scham und Verantwortung ab. Die Täter werden quasi aus der konkreten Nation oder aus der Menschheit ausgebürgert, ins Teuflische und Metaphysische verschoben und damit „entwirklicht".
Die realitätsnahe Betrachtung der Täter fördert hingegen zwei bestürzende Erfahrungen zutage: daß bei besonderen Systembedingungen gewöhnliche Menschen in hohem Maße tatbereit sind und daß Massenverbrechen als Ausnahmefall und Notwehr erklärt werden. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist also nur dann glaubwürdig, wenn es sich neben den Empfindungen zugleich mit den Strukturen und der Denklogik der Täter auseinandersetzt Als der heikelste Themenbereich der Gedenkstättenpädagogik ist der „mahnende“ oder, wie man es heute moderner formuliert, „aktualisierende“ Ansatz der Beschäftigung mit der NS-Geschichte zu sehen. Dabei besteht die Gefahr, daß die Opfer erneut zu Objekten der eigenen Anschauung gemacht werden, da man vermuten kann, daß viele von ihnen, könnte man sie heute fragen, mit zahlreichen Formen der Aktualisierung und der Herstellung von Gegenwartsbezügen nicht einverstanden wären.
Darüber hinaus stellt sich ein methodisches Problem: Der Nationalsozialismus hat die Verbrechen auf staatlicher Ebene geplant und arbeitsteilig umgesetzt. Auf bürokratische Weise wurde den als „Volksschädlinge“ und „Gemeinschaftsfremde“ definierten Menschen in Deutschland und im besetzten Europa das Lebensrecht eingeschränkt, bevor sie ausgesondert und ermordet wurden. Natürlich haben sich dabei Menschen als Individuen schuldig gemacht, indem sie diesem System dienten. Diese Verquickung der Zusammenhänge mit den Vorgaben des Systems und dem Verhalten der Einzelnen sollte auch in der Gedenkstättenarbeit noch stärker untersucht und vermittelt werden.
Mit Gedenkstättenbesuchern wird man jedoch hauptsächlich die individuelle Ebene, die Frage nach fehlender Zivilcourage usw., behandeln können. Die staatlichen und bürokratischen Strukturen, die diese Verbrechen erst möglich gemacht haben, sind kaum zu verdeutlichen, da viele der Besucher, gerade Schüler, hierzu keinen Zugang haben. Der pädagogische Ansatz der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, berufsgruppenspezifische Auseinandersetzung anzubieten, weist hier in die unter bildungspolitischen Gesichtspunkten richtige Richtung.
Aktuelle Prozesse zu nutzen, um die NS-Geschichte interessanter zu vermitteln (z. B. Ausländer heute = Juden in der NS-Zeit) oder umgekehrt, heutigen Entwicklungen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, indem man sie mit NS-Verbrechen vergleicht, wird von den meisten Gedenkstättenmitarbeiter/-innen als hilflos und falsch angesehen. Vergleiche mit der NS-Zeit bergen immer die Gefahr falscher Relationen, ferner daß aufgerechnet und abgelenkt wird -zumal bei einem eineinhalbstündigen Besuch einer Einrichtung, der nicht einmal genügend Zeit bietet, die Geschichte des NS-Terrors selbst umfassend darzustellen.
Gedenkstättenmitarbeiter/-innen denken derzeit intensiv darüber nach, wie die universellen Fragestellungen, die sich aus der NS-Geschichte ergeben, pädagogisch umgesetzt werden können. Die zurückhaltendste Position geht davon aus, daß schon viel erreicht ist, wenn die NS-Verbrechen als ein Teil deutscher Geschichte im öffentlichen Bewußtsein bewahrt werden, und sie damit das gesellschaftliche Geschichtsbild mitprägen; ein gutes zeitgeschichtliches Museum wäre diesem Ansatz angemessen.
Eine andere Position befindet sich noch im Anfangsstadium der inhaltlichen Diskussion und des Experimentierens: Wie können universale Fragen anhand der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte gestellt werden, ohne diese historischen Vorgänge zu relativieren? Fragestellungen wie Gewalt, Vorurteilsstrukturen oder Ideologien der Ungleichheit werden hierbei vermutlich im Mittelpunkt stehen.
Nicht nur wegen des zeitlichen Abstands zur NS-Geschichte müssen auf diese Fragen neue Antworten gefunden werden. Junge Besucher haben einen anderen Zugang zur Geschichte als die heutige Lehrergeneration. Darüber hinaus begegnet man in Schulklassen immer häufiger Schülern, die im Ausland geboren sind oder als Ausländer in Deutschland leben und deren persönlicher Erfahrungshintergrund nicht mit den alten deutschen Traditionslinien verknüpft ist. Dennoch sollten vorschnelle Aktualisierungen nicht in die Gedenkstättenarbeit und in die Ausstellungen übernommen werden. Eher könnte auf aktuelle Ereignisse durch kleine, einfache Wechselausstellungen oder Pin-Wände, wo auch Besucher ihre Arbeitsergebnisse oder Meinungen anbringen und damit aktiv an der Gestaltung der Gedenkstätten mitwirken können, eingegangen werden. Am sinnvollsten erscheint es jedoch, im Gespräch die jeweiligen Bedürfnisse der Besucher nach Aktualisierung und Einbindung des historischen Lernens in ihre eigene Lebenswelt aufzugreifen. Daher sollte der Besuch in einer Gedenkstätte -in der Regel durch Initiative der Lehrer und anderer Multiplikatoren -nicht nur gut vorbereitet, sondern auch anschließend besprochen werden -wenn möglich gemeinsam mit den Gedenkstättenmitarbeitern.
VI.
In einem aktuellen gesellschaftlichen Kontext, der politisch motiviert auf eine Marginalisierung bzw. Relativierung der deutschen Verbrechen in der NS-Zeit zielt, erhalten die Gedenkstätten als Orte der Gegeninformation zunehmende Wichtigkeit. Die Aneignung und Vermittlung von Geschichte findet immer vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Kultur des jeweiligen Landes statt. Im Deutschland der neunziger Jahre die Erinnerung an die NS-Verbrechen an den konkreten Orten wachzuhalten hilft, Argumente gegen den Revisionismus und die Relativierung -auch gesellschaftlich -zu festigen. Zu fragen, warum diese Geschichte verdrängt wird, sie politisch zu bewerten und die Traditionslinien, insbesondere den Rassismus und die wirtschaftlichen Interessen, die hinter der Machtergreifung standen, aufzuzeigen, ist ein wichtiger Beitrag für die politische Kultur.
Menschen und Gruppen mit rechtsextremen Einstellungen sind die konkreten Orte der Erinnerung ein Dorn im Auge. Immer wieder kann man in rechtsextremen Publikationen lesen, daß der Weg zu einem „neuen Deutschland“ für die Rechten über die Beseitigung der KZ-Gedenkstätten führt. Immer wieder kommt es zu Sachbeschädigungen an Gedenkstätten, wie es sie in den letzten Jahrzehnten, anfänglich hauptsächlich auf jüdischen Friedhöfen, gegeben hat. Zugleich muß man aber auch feststellen, daß die Politik gerade bei der Beschädigung oder Schändung von Gedenkstätten rasch reagiert -insbesondere aus Angst vor dem Imageverlust Deutschlands im Ausland. Unmittelbar nach dem Brandanschlag auf die Baracke 38 in Sachsenhausen hat Außenminister Kinkel den Ort besucht. Nach der Schändung der Gedenkstätte Buchenwald am 24. Juli 1994 wurde der israelische Botschafter vom thüringischen Ministerpräsidenten Vogel zu einem Gespräch eingeladen. In einer Pressekonferenz hat der Ministerpräsident die Verschärfung der Gesetze gegen rechtsextreme Gewalttäter gefordert.
Die Politiker reagieren jedoch viel zu selten und zu zaghaft bei gewalttätigen Übergriffen von Rechtsextremisten gegen Menschen, z. B. wenn Behinderte aus einer Straßenbahn geworfen werden, oder bei Brandanschlägen auf Häuser von Ausländern und Asylbewerberheime. Die öffentliche Stimme des Protestes zu erheben oder die solidarische Anteilnahme bei Besuchen vor Ort auszudrücken, wäre ein wichtiges Signal seitens der öffentlichen Würdenträger gegen die gewalttätigen Ausschreitungen von Rechtsextremen, da die ideologischen Hintergründe und die Organisationsstrukturen denen bei Anschlägen gegen Gedenkstätten gleichen.
Gedenkstätten erinnern an die größten Verbrechen, die von Deutschland und den Deutschen jemals begangen wurden. Die Erinnerung an diese Untaten kann eine erneute Entwicklung in eine ähnliche Richtung verhindern. Daher sind Gedenkstätten als Zeichen der Gesellschaft gegen eine etwaige zunehmende politische Entwicklung hin zum Rechtsextremismus sehr wichtig.
In der pädagogischen Arbeit werden Gedenkstättenmitarbeiter/-innen jedoch selten mit rechtsextremen Einstellungen konfrontiert. Wenn sich junge Rechtsextreme, etwa durch den Besuch einer Schulklasse, gezwungenermaßen in einer Gedenkstätte aufhalten, benehmen sie sich in der Regel unauffällig, so daß der Pädagoge bei der kurzen Begegnung keine Möglichkeit hat, auf diese Person(en) speziell einzugehen. Da zudem eine rechtsextreme Einstellung durch Wissensvermittlung allein nicht geändert werden kann, sind die Erfolgsaussichten, durch einen Aufenthalt in einer Gedenkstätte allein Meinungsänderungen zu erreichen, gering.
Die Wirkungsmöglichkeiten der Gedenkstätte realistisch einzuschätzen bedeutet auch, dafür einzutreten, daß die gesellschaftlichen Probleme heute von der gesamten Gesellschaft angenommen und gelöst werden, anstatt sie auf die kleinen Einrichtungen der Gedenkstätten abzuwälzen. Um es pointiert auszudrücken: Die Gesellschaft hat eher Verantwortung für die angemessene Ausstattung der Arbeit und den Schutz vor verbalen oder handgreiflichen Anfeindungen der Gedenkstätten zu tragen, als daß sie die Gedenkstätten zu Bollwerken gegen einen wiederaufstrebenden Nazismus hochstilisieren kann.
Theodor W. Adorno hat als Antwort auf die NS-Verbrechen die autonome, selbstreflektierte Persönlichkeit gefordert. Anstöße in dieser Hinsicht zu geben und dabei auch bei der Erarbeitung eines Geschichtsbildes mitzuwirken, das Empathie und Solidarität mit Kranken und Schwachen, Anders-denkenden und Andersseienden evoziert, ist ein wichtiger Beitrag der Gedenkstätten zur Erfüllung dieser Forderung.
Neben der Thematisierung des spezifisch deutschen Anteils an dieser Geschichte wird in Zukunft der universelle Aspekt der NS-Verbrechen ins Augenmerk rücken. Darauf hat Primo Levi, der als italienischer Jude und Widerständler das KZ Auschwitz-Monowitz überlebt hat, hingewiesen: „Es ist geschehen, und folglich kann es weiterhin geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall.“