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Auf einer Woge der Euphorie Veränderungen der Stimmungslage und des Meinungsklimas im Wahljahr 1994 | APuZ 51-52/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 51-52/1994 Kohls knappster Sieg. Eine Analyse der Bundestagswahl 1994 Auf einer Woge der Euphorie Veränderungen der Stimmungslage und des Meinungsklimas im Wahljahr 1994 Die Wähler der PDS bei der Bundestagswahl 1994. Zwischen Ideologie, Nostalgie und Protest Nichtwähler 1994. Eine Analyse der Bundestagswahl 1994 Die Wahlslogans von 1949 bis 1994

Auf einer Woge der Euphorie Veränderungen der Stimmungslage und des Meinungsklimas im Wahljahr 1994

Renate Köcher

/ 11 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zu Beginn des Superwahljahres 1994 sah die Ausgangslage für die Koalitionsregierung von Bundeskanzler Helmut Kohl trostlos aus. Im Frühjahr 1994 lag die Regierungskoalition in den Meinungsumfragen zehn Prozent hinter den drei Oppositionsparteien zurück. Im zweiten Quartal 1994 kam es zur Trendwende. In wenigen Monaten holten die Koalitionsparteien den Rückstand auf und zogen im Juli am Oppositionslager vorbei. Der August war von einem Kopf-an-Kopf-Rennen gekennzeichnet. In der Endphase des Wahlkampfes wurde der Vorsprung jedoch immer knapper und führte zu diesem hauchdünnen Sieg der Koalitionsregierung. Diese dramatische Entwicklung wird in dem Beitrag anhand von Umfragedaten aufgezeigt.

Angesichts des denkbar knappen Wahlausgangs und der Verluste bei beiden Koalitionsparteien gerät leicht aus dem Blickfeld, daß der Fortbestand der seit zwölf Jahren regierenden Koalition vor dem Hintergrund der Ausgangslage am Jahresbeginn als Sensation zu werten ist. Seit dem Frühjahr 1992 hatte die Koalition hinter den Oppositionsparteien zurückgelegen, die im folgenden ihren Vorsprung kontinuierlich ausbauten. Im Frühjahr 1994 schien die Lage für die Regierungskoalition aussichtslos. Sie lag mehr als zehn Prozent hinter den drei Oppositionsparteien zurück, die in den ersten Monaten des Jahres bei den Zweitstimmenwahlabsichten 52, 5 Prozent aller Stimmen auf sich vereinten, während nur 42, 4 Prozent der Wahlberechtigten zu einem der Koalitionspartner tendierten. Im zweiten Quartal 1994 kam es plötzlich zu einer Trendwende; in wenigen Wochen holten die Koalitionsparteien den vorher uneinholbar scheinenden Rückstand auf und zogen im Juli erstmals an dem Oppositionslager vorbei. Der August war von einem Kopf-an-Kopf-Rennen gekennzeichnet, die Wahlkampfwochen von Anfang September bis Mitte Oktober von einem Vorsprung der Regierungskoalition, der sich in der Endphase immer knapper gestaltete und schließlich zu dem prognostizierten hauchdünnen Sieg der Regierungskoalition führte (Abbildung l)

Abbildung 1: Die Stärke von Koalition und Opposition Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen.

Der plötzliche, geradezu dramatisch verlaufende Aufstieg der Regierungskoalition -bzw. präziser: der Unionsparteien -war das Ergebnis eines Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung, der in den letzten Jahrzehnten seinesgleichen sucht. So wie der Niedergang der Sympathien für die CDU/CSU mit der Wahrnehmung der Rezession durch die Bevölkerung einsetzte, veränderte die Verbesserung der wirtschaftlichen Perspektiven für die Bevölkerung alles: ihre Stimmungslage, ihren Zukunftsoptimismus, die Grundhaltung zu den Parteien und die Parteipräferenzen. 1992 und mehr noch 1993 war die Stimmungslage der Bevölkerung lähmend düster. Die Mehrheit rechnete mit einem andauernden wirtschaftlichen Niedergang. Im November 1993 erwarteten 63 Prozent der westdeutschen und 51 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung, daß sich die ökonomischen Daten in den kommenden sechs Monaten weiter verschlechtern würden. Wenig später, am Jahresbeginn 1994, hellte sich die Stimmungslage der Bevölkerung auf. Der Anteil derer, die die weitere ökonomische Entwicklung pessimistisch einschätzte, ging zwischen November 1993 und Januar 1994 in den alten Bundesländern von 63 auf 48 Prozent zurück, in den neuen Bundesländern von 51 auf 39 Prozent. Zwischen März und Mai 1994 kam es dann zu einem völligen Stimmungsumschwung: Der wirtschaftliche Pessimismus der Bevölkerung verfiel geradezu erdrutschartig, der Kreis der hoffnungsvoll Gestimmten überwog zum ersten Mal seit dem Jahresende 1991. Im Mai 1994 rechneten nur noch 23 Prozent der gesamten Bevölkerung für die kommenden Monate mit einer ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung. Besonders kraß fiel der Stimmungsumschwung in den alten Bundesländern aus, deren Bevölkerung 1992 und 1993 weitaus pessimistischer gestimmt war als die der neuen Bundesländer (Abbildung 2).

Abbildung 2: Die wirtschaftliche Entwicklung Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen, Bevölkerung ab 16 Jahre.

Während die ostdeutsche Bevölkerung von vornherein für die erste Hälfte der neunziger Jahre mit Schwierigkeiten rechnete und gleichzeitig durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft stabilisiert wurde, trafen die ökonomischen Probleme die westdeutsche Bevölkerung unvorbereitet. Über eine Spanne von einem Jahrzehnt hinweg durch günstige wirtschaftliche Daten verwöhnt und 1990 und 1991 durch den Einheitsboom von der Rezessionsentwicklung anderer Länder abgekoppelt, traf die gravierende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die westdeutsche Bevölkerung ins Mark. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung fürchtete plötzlich, die Einheit werde die Leistungskraft der Wirtschaft überfordern und die wirtschaftliche Existenz des gesamten Landes aufs Spiel setzen. Die Einheit wurde für die Bevölkerung in den alten Bundesländern -und nur dort -von dem historischen Geschenk zu einem Problemfall. Während in den neuen Bundesländern trotz aller Umstellungsschwierigkeiten immer die Freude über die Einheit überwog, sah die westdeut-sehe Bevölkerung während der Rezessionsjahre die Einheit überwiegend mit Sorge. Erst mit der günstigeren Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung wandelte sich auch in den alten Bundesländern die Haltung zur Einheit; von der Jahreswende 1993/94 an überwog auch in Westdeutschland wieder die Freude über die Einheit und stieg in den kommenden Monaten weiter an, bis auf einen Höhepunkt im Wahlmonat, als die Einheit für 56 Prozent der westdeutschen Bevölkerung in erster Linie Anlaß zur Freude und nur für 24 Prozent in erster Linie Anlaß zur Sorge war.

Abbildung 3: Ich bin enttäuscht von den vier Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und dem Bündnis 90/den Grünen“ Quelle: Aliensbacher Archiv, IfD-Umfragen.

Das Wahljahr 1994 war von einer euphorischen Woge geprägt, von der immensen Erleichterung der Bevölkerung über das Ende der Rezession.

Abbildung 4: Siegeserwartungen Quelle: Aliensbacher Archiv, IfD-Umfragen.

Auch Stimmungsindikatoren, die nicht unmittelbar auf die ökonomische Lage abstellen, zeigten einen völligen Stimmungsumschwung. So stieg der Anteil derer, die den kommenden 12 Monaten mit Hoffnungen entgegensahen, zwischen Januar und Oktober 1994 um mehr als 20 Prozent auf über 60 Prozent der gesamten Bevölkerung an. Die wirtschaftliche Lage hat in Deutschland mehr als in anderen Ländern eine durchschlagende Bedeutung für die Stimmungslage der Bevölkerung und auch für Wahlen. Wie keine andere europäische Nation reagiert die deutsche Bevölkerung auf Veränderungen der wirtschaftlichen Daten mit starken Stimmungsschwankungen, die unmittelbar auf die Parteipräferenzen durchschlagen. Die deutsche Bevölkerung macht die Regierung, macht die gesamtepolitische Klasse für eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Daten haftbar. Dies zeigt besonders eindrucksvoll die Entwicklung der Enttäuschung über die Parteien.

Abbildung 5: Einschätzung der Bevölkerung: Wer liegt vorne, Kohl oder Scharping? Quelle: Aliensbacher Archiv, IfD-Umfragen.

Von Ende 1991 an stieg die Verdrossenheit über die im Bundestag vertretenen Parteien scheinbar unaufhaltsam an. Ende 1991 äußerten sich 34 Prozent der westdeutschen Bevölkerung über alle Parteien enttäuscht, Ende 1992 54 Prozent, Anfang 1993 sogar 57 Prozent; ebenso rapide breitete sich die Frustration über alle Parteien, gleich welcher Couleur, in den neuen Bundesländern aus. Partei-und Politikverdrossenheit waren zu diesem Zeitpunkt Schlüsselbegriffe zahlloser politischer und publizistischer Analysen. Im Frühjahr 1994 bildete sich die vermeintlich so tief sitzende Enttäuschung über die Parteien jedoch plötzlich zurück. Zu diesem Zeitpunkt äußerten sich in den alten Bundesländern nur noch 40 Prozent der Bevölkerung über alle vier Parteien enttäuscht, im September 1994 waren es nur noch 27 Prozent; in den neuen Bundesländern ging die Enttäuschung von 54 auf 30 Prozent zurück. War die Verdrossenheit über die Parteien mit der Sorge über die ökonomische Situation steil angestiegen, sank sie mit dem Ende der Rezession sofort wieder auf das normale Niveau (Abbildung 3).

Vieles, was in den Rezessionsjahren als dauerhafte Veränderung des politischen Klimas gedeutet wurde, ist seit den ersten Anzeichen der wirtschaftlichen Erholung nicht mehr gültig. Das gilt für die Diagnose einer dauerhaften Parteienverdrossenheit, genauso für die These vom Ende der Volksparteien. CDU/CSU und SPD haben zusammengenommen bei der Bundestagswahl 1994 geringfügig mehr Stimmen auf sich vereinigen können als 1990.

Mit der allmählichen Beruhigung über die ökonomische Situation bildete sich auch das Bedürfnis nach einem politischen Wechsel zurück. Noch im Frühjahr 1994 wünschten 53 Prozent der gesamten Bevölkerung einen Regierungswechsel. Bis Juli sank dieser Anteil auf 48 Prozent, bis Ende September auf 43 Prozent.

Die Strategie der SPD, nach 12 Jahren auf das Bedürfnis nach einem Wechsel zu setzen, wurde am Beginn des Jahres der Stimmungslage der Bevölkerung gerecht, verlor jedoch vom Frühjahr an kontinuierlich an Motivationskraft. Ein Frühindikator für die Entwicklung der Parteipräferenzen, die Einschätzung der Geschlossenheit von Parteien, zeigte von Ende März an einen sprunghaften Aufstieg der Unionsparteien und Stagnation bei den Sozialdemokraten. Die Einschätzung, daß die Unionsparteien eine geschlossene politische Formation sind, nahm in den alten Bundesländern zwischen Ende März und Mitte Juni von 36 auf 56 Prozent zu, während konstant nur um die 30 Prozent die SPD als geschlossene politische Formation empfanden. Erst in den letzten Wahlkampfwochen gewann die SPD in den Augen der Bevölkerung an Geschlossenheit, blieb in dieser Beziehung jedoch unverändert weit hinter der Bewertung der Unionsparteien zurück. Der Hamburger Parteitag, die Durchsetzung des Unionskandidaten bei der Bundespräsidentenwahl und der deutliche Vorsprung der Unionsparteien vor den Sozialdemokraten bei den Europawahlen waren entscheidende Stationen, die das Bild der Unionsparteien und auch der SPD in den Augen der Bevölkerung entscheidend veränderten.

Von Ende März an wandelten sich die Siegeserwartungen der Bevölkerung ebenfalls grundlegend. Noch im März dieses Jahres waren 53 Prozent der gesamten Bevölkerung von einem Sieg von SPD und Grünen überzeugt, während nur noch 18 Prozent der Regierungskoalition eine Chance einräumten. Im April glaubten plötzlich nur noch 46 Prozent der Bevölkerung an einen Wahlsieg der Opposition, im Mai 37 Prozent, im Juli 30 Prozent, im August 21 Prozent. Gegenläufig stieg die Über-zeugung vom Fortbestand der Regierungskoalition. 14 Tage vor der Wahl überwogen im Verhältnis 2 zu 1 die Erwartungen, daß CDU/CSU und F D P. die Wahl gewinnen würden, ein angesichts des knappen Wahlergebnisses erstaunlich großer Abstand (Abbildung 4).

Eine genauso dramatische Entwicklung ist bei der Einschätzung der Popularität der Spitzenkandidaten zu verzeichnen. Bis sechs Monate vor der Wahl war eine relative Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, daß Rudolf Scharping in der Gunst der Bevölkerung vor Helmut Kohl liegt. Schon Ende März/Anfang April wurden viele in dieser Einschätzung unsicher. Unter dem Eindruck der Bundespräsidentenwahl und anschließend der Europa-wahlen änderte sich die Ansicht der Bevölkerung über die Popularität der Kandidaten grundlegend. Die Überzeugung, daß Helmut Kohl der Favorit sei, nahm zwischen Anfang Mai und Ende Juni von 30 auf 52 Prozent zu, während nur noch 19 Prozent Rudolf Scharping als Favoriten sahen. Wenige Wochen vor der Wahl gingen rund 60 Prozent der gesamten Bevölkerung davon aus, daß Helmut Kohl der Favorit der Mehrheit ist, nur 12 Prozent schrieben diese Rolle Rudolf Scharping zu (Abbildung 5).

Helmut Kohl, der am Jahresbeginn in der Gunst der Bevölkerung weit hinter dem Herausforderer zurücklag, holte zwischen Februar und Ende Mai denRückstand auf und schob sich Anfang Juni an Rudolf Scharping vorbei. Ende Juni betrug sein Vorsprung bereits acht Prozent, wenige Wochen vor der Wahl elf Prozent. Generell stieg die Popularitätskurve Helmut Kohls in den Monaten vor der Wahl steil an; er wurde nicht nur im Vergleich zu Rudolf Scharping, sondern auch isoliert weitaus besser beurteilt als am Jahresbeginn. Die massiven Schwankungen der Popularität eines Politikers, der der Bevölkerung seit Jahrzehnten bekannt und vertraut ist, sind bemerkenswert -dies um so mehr, als Helmut Kohl in der Regel in Wahljahren die Höhepunkte seiner Popularität verzeichnet. Das Vorbeiziehen an dem Herausforderer ist keineswegs eine Besonderheit des Wahljahres 1994. Auch 1986 und 1990 lag Helmut Kohl zunächst weit hinter Johannes Rau und Oskar Lafontaine zurück und schob sich wenige Monate vor der Wahl an den Herausforderern vorbei.

Die Parallelität dieser Entwicklungen läßt den Schluß zu, daß die Veränderung der Kanzlerpräferenzen 1994 nicht allein mit der veränderten Stimmungslage der Bevölkerung zu erklären ist, wenn diese auch eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Veränderung der Partei-und Kanzler-präferenzen bildete.

Die Wahl 1994 war nicht nur das Ergebnis eines Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung, sondern auch eine Personenwahl. Besonders bemerkenswert war, daß der erstmals in einer Urwahl der SPD-Mitglieder gewählte Kandidat in der SPD-Anhängerschaft ungewöhnlich wenig Rückhalt hatte. Rau wurde 1987 von 72 Prozent der SPD-Anhänger positiv beurteilt, Oskar Lafontaine 1990 von 66 Prozent, Scharping 1994 von 50 Prozent. Zwar gelang es Rudolf Scharping in den letzten acht Wochen vor der Wahl, bei der Anhängerschaft der SPD Terrain gutzumachen; bis zum Schluß blieb jedoch sein Rückhalt bei SPD-Anhängern weit hinter der Zustimmung zurück, die Helmut Kohl bei Unionsanhängern erreichte.

Die beiden Kandidaten wurden insbesondere in bezug auf ihre Führungsqualitäten und den Rückhalt in der eigenen Partei von der Bevölkerung extrem unterschiedlich eingeschätzt. Helmut Kohl wurden von der Bevölkerung weitaus mehr als dem Herausforderer großer Einfluß auf den Kurs der eigenen Partei, Durchsetzungsfähigkeit, Sachkenntnis, eine klare Linie und Prinzipienfestigkeit zugeschrieben. So attestierten 62 Prozent der gesamten Bevölkerung Helmut Kohl einen großen Einfluß auf den Kurs seiner Partei, Scharping 25 Prozent; Durchsetzungsfähigkeit ordneten 59 Prozent der Bevölkerung Helmut Kohl zu, 23 Prozent Rudolf Scharping. Umgekehrt hatten 33 Prozent den Eindruck, der SPD-Vorsitzende habe zu wenig Rückhalt in der eigenen Partei, bei dem Vorsitzenden der CDU dagegen nur sieben Prozent.

Die überwältigende Mehrheit ging davon aus, daß der amtierende Bundeskanzler nicht nur in der Gunst der Bevölkerung vor seinem Herausforderer lag, sondern gleichzeitig der Wunschkandidat von Wirtschaft und ausländischen Regierungen war. 70 Prozent der Bevölkerung sahen in Helmut Kohl den Wunschkandidaten der Wirtschaft, eine Einschätzung, die bei Elitebefragungen bestätigt wurde Vor dem Hintergrund der Rezessionserfahrungen und der noch labilen ökonomischen Lage war diese Einschätzung für die Wahlentscheidung von beträchtlicher Bedeutung.

Der Versuch der SPD, die ungleiche Ausgangslage bei der Konkurrenz der Kandidaten durch die Aufbietung einer Troika zu überwinden, veränderte das politische Meinungsklima nur graduell. Die Siegeserwartungen der Bevölkerung veränderten sich unter dem Eindruck des SPD-Schattenkabinetts und des Troika-Konzepts kaum: Kurz vor der Vorstellung rechneten 21 Prozent, unmittelbar danach 22 Prozent mit einem Sieg der Oppositionsparteien. Auch die Parteipräferenzen zeigten keine unmittelbare Wirkung

Zweifelsohne hat die Etablierung der Troika jedoch dazu beigetragen, daß sich in den letzten Wochen vor der Wahl der Eindruck verstärkte, die SPD sei eine geschlossene politische Formation. Bis zuletzt war dies jedoch der Eindruck einer Minderheit. In den letzten 20 Jahren hat noch nie eine Volkspartei den Sieg davongetragen, die nicht von der Mehrheit der Bevölkerung als geschlossene politische Formation empfunden wurde. Vor diesem Hintergrund wurde die Koalitionsentscheidung von Sachsen-Anhalt zum strategischen Kardinalfehler. Die Entscheidung, in Sachsen-Anhalt eine von der PDS tolerierte Minderheitenregierung zu etablieren, spaltete die Anhängerschaft der SPD: Ein Drittel befürwortete diese Entscheidung, ein Drittel lehnte sie ab, ein Drittel war unschlüssig. Insbesondere SPD-Anhänger in den alten Bundesländern wurden durch diese Entwicklung verunsichert. Gleichzeitig entstand dadurch, daß die PDS und die Beziehung der SPD zur PDS zu einem zentralen Wahlkampfthema wurden, eine Ost-West-Spaltung. Weitaus bemerkenswerter als das PDS-Potential in den neuen Bundesländern von rund 20 Prozent ist die völlig unterschiedliche Einschätzung dieser Partei in den alten und neuen Bundesländern. Der entscheidende Unterschied ist, daß die PDS von der Bevölkerung in den alten Bundesländern als ideologische Partei am linken Rand des politischen Spektrums und abseits der demokratischen Parteien eingeschätzt wird, während in den neuen Bundesländern ihr ideologischer Charakter völlig im Hintergrund steht. Die PDS wird in Ostdeutschland in erster Linie als Anwalt ostdeutscher Interessen und als Kämpfer für die Anerkennung der ostdeutschen Lebensleistung der letzten Jahrzehnte empfunden, zudem als einzige Ostpartei, während alle anderen Parteien, mittlerweile auch Bündnis 90/Die Grünen, als Westparteien gelten. Obwohl sich die Anhänger der PDS selbst weit links einordnen und sich von den Prinzipien des vergangenen Regimes mehrheitlich nicht distanzieren, obwohl die Personalunion zwischen SED-Kadern und PDS-Aktiven von der ostdeutschen Bevölkerung durchaus konstatiert wird, sieht die ostdeutsche Bevölkerung die PDS nicht in der direkten Nachfolge der SED und stuft sie als normale demokratische Partei ein. Es gibt in den neuen Bundesländern daher keinerlei erkennbaren Meinungsklimadruck gegen die PDS; ihre Anhänger bekennen sich freiwillig zu ihr.

Trotzdem war zu erkennen, daß sich ihr weites Potential in den Monaten vor der Wahl verengte von 34 auf rund 22 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung. Gleichzeitig wirkte sich die Auseinandersetzung um die PDS bemerkenswerterweise in den neuen Bundesländern erkennbar nicht gegen die CDU aus, obwohl viele Ostdeutsche die Kontroverse als West-Ost-Konflikt einschätzen. Vielmehr stiegen die Sympathien für die CDU in den neuen Bundesländern von Frühjahr an noch steiler als in den alten Bundesländern, nach oben getragen von der wachsenden Zuversicht, daß die schlimmste Phase des ökonomischen und gesellschaftlichen Umbaus in Ostdeutschland bewältigt sei.

Während der Rezessionsjahre war die CDU auf ein Wählerpotential von weniger als 25 Prozent zurückgefallen; mit dem Ende der Rezession stieg das Vertrauen der ostdeutschen Bevölkerung in den eingeschlagenen Weg, stieg auch der Stolz auf das bereits in den neuen Bundesländern Erreichte. Parallel veränderten sich die Parteipräferenzen grundlegend. Das Wahlergebnis 1994 gründet sich daher auf der wachsenden Euphorie und dem rasch wachsenden Zukunftsvertrauen der Bevölkerung in diesem Jahr.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Prognose des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) wurde am Tag vor der Wahl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, mit einer durchschnittlichen Abweichung vom tatsächlichen Wahlergebnis von 0, 5 Prozent. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 1994, S. 5.

  2. Vgl. dazu Max. A. Höfer, Zehn Gründe, warum Kohl die Wahl gewinnt, in: Capital, (1994) 8, S. 85-90.

  3. Vgl. Renate Köcher, „Trio ohne Widerhall“; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. September 1994, S. 5.

Weitere Inhalte

Renate Köcher, Dr. phil., Dipl. -Volksw., geb. 1952; Studium der Volkswirtschaftslehre, Publizistik und Soziologie in Mainz und München; seit 1977 wiss. Mitarbeiterin im Institut für Demoskopie Allensbach; 1988 Eintritt in die Geschäftsführung des Instituts. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Meinungsforschung.