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Leidet Japans Moral unter seinen eigenen Tugenden?. Anmerkungen zur „japanischen Krankheit“ | APuZ 50/1994 | bpb.de

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APuZ 50/1994 Das japanische Parteiensystem im Umbruch Stagnation oder Neubeginn? Japans Wirtschaft: Krise und Wandel Leidet Japans Moral unter seinen eigenen Tugenden?. Anmerkungen zur „japanischen Krankheit“ Japans Rolle in Ostasien: Großmacht wider Willen?

Leidet Japans Moral unter seinen eigenen Tugenden?. Anmerkungen zur „japanischen Krankheit“

Friederike Bosse

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Zusammenfassung

Im Westen wird das Bild von der japanischen Gesellschaft vor allem durch das Stereotyp des fleißigen Japaners bestimmt, der sich bis zur Selbstaufgabe für sein Unternehmen einsetzt. Ein weiteres Stereotyp ist die Konformität der Japaner, die stets in großen, einheitlich wirkenden Gruppen aufzutreten scheinen. Die Regierungsbeamtin Sugahara Mariko veröffentlichte im April 1994 einen Aufsatz, in dem sie diese Klischees zum Teil widerlegt, zum Teil aber die vermeintlichen „Tugenden“ Japans als Ursache für den Verfall der Werte und Normen in der Gesellschaft verantwortlich macht. Sie stellt eine tiefgreifende Erkrankung der japanischen Gesellschaft fest und nennt dafür fünf Symptome: die Schwächung des Arbeitsethos, die übermäßige Homogenität, der Mangel an Kreativität, der Mangel an bürgerlicher Moral und die Verschwendung von menschlichen Ressourcen in Form von Frauen und alten Menschen. Ihre Analyse der Symptome führt zu dem Schluß, daß die dahinterstehenden Normen zwar nützlich für Japans Weg zu einer Industrienation waren, für eine Wohlstandsgesellschaft in einer immer stärker zusammenrückenden internationalen Gemeinschaft aber nicht bestehen können. Die nähere Betrachtung dieser fünf „Symptome“ zeigt, daß Sugaharas Interpretation nur teilweise zutrifft. Das Klischee vom arbeitswütigen Japaner erweist sich als Mythos, und der zunehmende Wunsch nach mehr Freizeit wird deutlich. Doch führt dies nicht zu einem absoluten Verfall der Arbeitsmoral. Auch bei den anderen Symptomen lassen sich zwar die geschilderten Verhältnisse und Einstellungen durchaus nachvollziehen, aber die Analyse kommt nicht zur gleichen Bewertung. Insgesamt zeigt sich, daß die japanische Gesellschaft noch weitgehend an den alten Normen festhält; in einigen Bereichen sind Anzeichen von Wandel zu erkennen, die jedoch nicht zu einem Verfall der allgemeinen Moral führen. Japan ist noch weit davon entfernt, eine Gesellschaft nach westlichem Muster zu werden, in der das Individuum und nicht die Gruppe im Mittelpunkt steht.

I. Vorbemerkungen

Diskussionen über den Verfall von öffentlicher Moral und Ethik sind in Industriegesellschaften, in denen die materiellen Bedürfnisse weitgehend befriedigt sind, nicht ungewöhnlich. Auch in Japan werden solche Überlegungen angestellt, obwohl westliche Beobachter doch oft den Eindruck haben, hier sei alles in Ordnung: Immer noch bestimmen Bilder vom sprichwörtlichen Fleiß der Japaner und ihrem sehr gesitteten Auftreten stets in großen Gruppen das Japan-Bild im Westen. Die These, daß in Japan die allgemeine Moral verloren gehe, wird daher im Westen zunächst erstaunen. Aus der Sicht von japanischen Beobachtern stellen sich die Verhältnisse allerdings viel weniger eindeutig dar.

Im Frühjahr dieses Jahres erschien in der Monatszeitschrift Chuo Koron ein Artikel, in dem die Autorin Sugahara Mariko beklagt, daß die japanische Gesellschaft an einer „Krankheit“ leide, die die Gesellschaft langsam aber stetig zerstöre Sugahara betont, daß diese Krankheit nicht nur Degenerationserscheinungen einer reifen Industriegesellschaft seien, sondern vielmehr einer tief-greifenden Unordnung der japanischen Gesellschaft entsprängen. Dennoch spricht sie, in Anlehnung an die „englische“ oder die „deutsche“ Krankheit (Drogenmißbrauch, hohe Kriminalitätsrate, kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung und so fort) vom „japanischen Leiden“ (Nihon byo). Für dieses Leiden gebe es keinen eindeutig verantwortlichen „Virus“, vielmehr läge die Ursache in den überlieferten Gegebenheiten und Lebensgewohnheiten. Die Autorin nennt fünf Symptome dieser Krankheit: die Schwächung des Arbeitsethos, die übermäßige Konformität und Homogenität, der Verlust an Vitalität und schöpferischer Kreativität, der Verlust von Gemeinsinn und Bürgermoral und das Verschwenden von produktivem Potential, d. h. in erster Linie von Frauen und alten Menschen. Durch die Analyse dieser Symptome und ihre Bekämpfung kann Sugahara zufolge der weitere Verfall der Gesellschaft jedoch nur verlangsamt, bestenfalls gestoppt werden -eine wirksame Therapie nennt die Autorin nicht.

Sugahara Mariko ist heute Leiterin des Büros für Frauenfragen im Amt des Ministerpräsidenten und war zuvor vier Jahre lang Chefin der Statistikabteilung der Management and Coordination Agency im Amt des Ministerpräsidenten und in dieser Position verantwortlich für zahlreiche Umfragen, die diese Behörde regelmäßig durchführt. Ihren Pessimismus gründet Sugahara auf Veränderungen, die sie während ihrer Amtszeit in Meinungsumfragen zu Gesellschaft, Lebensformen und Arbeitseinstellung festgestellt hat.

Eine dieser Meinungsumfragen -die Bevölkerung wird jedes Jahr nach ihrer Einstellung zur Lage der Nation befragt (shakai ishiki) -scheint den Pessimismus der Autorin zu bestätigen Die Frage „Bewegt sich Japan in eine positive oder eine negative Richtung?“ beantworteten Ende 1993 zum zweitenmal in Folge mehr Japaner negativ als positiv, wobei sich die Kluft zwischen beiden Gruppen gegenüber dem Vorjahr sogar noch weiter vergrößerte: 45, 5 Prozent beurteilten die Richtung als „negativ“ (1992: 44, 3 Prozent) und nur 29, 6 Prozent als „positiv“ (1992: 31, 4 Prozent), die restlichen 25 Prozent waren unentschieden. Allerdings bedeutet dies noch nicht unbedingt eine grundsätzliche Trendwende, denn über die vergangenen Jahrzehnte hinweg zeigte das Meinungsbild oft Schwankungen, häufig in Korrelation zum Konjunkturverlauf. So schlug die Einschätzung während der Ölkrise 1973/74 schlagartig von überwiegend „positiv“ zu „negativ“ um. Andererseits befanden Ende 1989, als die Konjunktur in die Phase der Spekulationen, der sogenannten „BlasenWirtschaft“ (Bubble Economy) eintrat, doppelt so viele Befragte die generelle Richtung der Nation „positiv“ wie „negativ“. Daß unter der „Lage der Nation“ häufig die wirtschaftlichen Umstände verstanden werden, zeigen auch die Antworten auf die detaillierte Frage, welche Faktoren denn negativ seien. 1993 nannte hierbei die Mehrzahl der Befragten die Konjunktur (69, 6 Prozent), gefolgt von der Situation auf dem Arbeitsmarkt (49, 2 Prozent). Beide Aspekte hatten zwei Jahre zuvor, als die Bubble Economy auf ihrem Höhepunkt war, nur eine mäßig wichtige Rolle gespielt. Damals richtete sich die Sorge eher auf die Umwelt, die Außenpolitik sowie auf die Immobilienpreise. Unter den positiven Aspekten wurden im Dezember 1993 vorwiegend nichtökonomische Faktoren genannt, wie Erziehung, die allgemeine feste Ordnung sowie Gesundheit und Wohlfahrt.

Die Umfrage zur Lage der Nation scheint somit nicht als Barometer für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu taugen. Das sehr wandelbare Ergebnis wird zu einem nicht unerheblichen Teil von den wirtschaftlichen Bedingungen bestimmt und drückt eher die Sorge oder die Unzufriedenheit der Bürger mit den materiellen Zuständen aus als mit abstrakten Phänomenen der gesellschaftlichen Strukturen. Anhand der Umfrage läßt sich also nicht feststellen, ob oder daß die japanische Gesellschaft „erkrankt“ ist, ob oder daß sich überhaupt ein Wandel der Werte und Normen vollzieht. Vielleicht geben andere Untersuchungen mehr Aufschluß darüber, die -den Symptomen Sugaharas entsprechend -im folgenden betrachtet werden sollen. Dabei wird immer wieder der Bezug zur Arbeit bzw. zur Einstellung der Japaner zur Arbeit erstellt, unter anderem deshalb, weil das Bild vom arbeitswütigen Japaner nach wie vor das hervorstechendste Stereotyp im Westen ist. Dabei bestätigt sich Sugaharas Vermutung, daß die traditionellen Werte Japans degenerieren und zu einer Belastung für die Gesellschaft werden, nur teilweise. Es stellt sich die Frage, ob sich Japan statt dessen den westlichen Normen annähert.

II. Wachsender Unwille zu arbeiten

Sugahara Mariko stellt das Klischee des arbeitswütigen Japaners grundlegend in Frage: Der unermüdliche Einsatz für die Arbeit sei keine angeborene Eigenschaft der Japaner, sondern habe sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, als man sich gemeinsam an den Wiederaufbau der Wirtschaft machte. Doch es war nicht dieses Ziel allein, das die Japaner zur Arbeit motivierte, sondern vor allem die Überzeugung, daß sich der Einsatz am Ende materiell auszahlen werde. Die Unternehmen hätten es aber nicht geschafft, diesen Einsatz auf Dauer angemessen zu belohnen, sondern statt dessen immer höhere Forderungen an die Einsatzbereitschaft gestellt. Gleichzeitig werden heute in den Medien nicht mehr die fleißigen Salarymen -die (männlichen) Festangestellten eines großen Unternehmens, die sich als Angehörige „ihrer“ Kaisha (Firma) fühlen -als Vorbild gepriesen, sondern der Genuß der Freizeit als erstrebenswerter Wert dargestellt. Die junge Generation beginne schon, sich diese Wertvorstellungen zu eigen zu machen. Dem japanischen Angestellten fehlen somit heute, Sugahara zufolge, sowohl die materiellen als auch die sozialen Anreize zum bedingungslosen Einsatz. Die weitverbreiteten Arbeitsbedingungen wie unbezahlte Überstunden bis spät in die Nacht oder Arbeit am Wochenende förderten in dieser Situation um so mehr eine allgemeine Abneigung gegenüber der Arbeit. Der Trend zur Verkürzung der Arbeitszeit, den die Regierung mit dem Ziel, den Handelsbilanzüberschuß abzubauen, seit einigen Jahren propagiere, sei in Wirklichkeit nur ein Ausdruck des wachsenden Unmuts der Menschen zu arbeiten. Kürzere Arbeitszeiten wiederum gewöhnten die Menschen an immer mehr Freizeit, was dann das Arbeitsethos noch weiter sinken lasse.

Folgt man Sugahara, so sind die Japaner -entgegen allen Klischees -kein Volk von Workaholics, die dem Wohl (und Profit) der Firma nicht nur ihren Urlaub und ihr Familienleben opfern, sondern in Extremfällen sogar ihr Leben. Karoshi, der plötzliche Tod durch Überanstrengung, dem in den vergangenen Jahren mehrere Hundert japanischer Firmenangestellter zum Opfer fielen, machte nicht nur in Japan Schlagzeilen. Die offiziellen Statistiken deuten allerdings nicht darauf hin, daß sich die Arbeitsamkeit der Japaner gravierend geändert hätte. Zwar sinkt die Zahl der Arbeitsstunden auch in Japan Jahr für Jahr und lag 1993 zum zweitenmal unter 2000 Stunden pro Jahr (1908), doch damit liegt sie immer noch weit über den 1600 Stunden in Deutschland. Aber die reine Menge gibt keinen Aufschluß über die Motivation, die hinter diesem Einsatz steht. Sugaharas Behauptung, daß auch Japaner sich nicht völlig „selbstlos“ für ihre Firma aufopfem, sondern dies in Erwartung einer Belohnung tun, wird in anderen Untersuchungen bestätigt, so z. B. in einer Meinungsumfrage der bereits erwähnten Management and Coordination Agency im Mai 1992. Auf die Frage, nach welchen Kriterien sie ihren Arbeitsplatz ausgewählt hätten, gaben die meisten der Befragten (57 Prozent) die sehr pragmatische Antwort, dasGehalt sei gut. Erst an zweiter und dritter Stelle, aber deutlich seltener, wurden immaterielle Überlegungen genannt, nämlich das gute menschliche Umfeld (49, 5 Prozent) und die Überzeugung, daß die Arbeit dem eigenen Charakter entgegenkomme (47, 9 Prozent) Auch die Frage, warum sie arbeiten, beantwortete die überwältigende M Prozent) und die Überzeugung, daß die Arbeit dem eigenen Charakter entgegenkomme (47, 9 Prozent) 3. Auch die Frage, warum sie arbeiten, beantwortete die überwältigende Mehrheit der befragten Männer ebenso pragmatisch: 87 Prozent gaben als Grund an, daß sie für ihren Lebensunterhalt sorgen müßten. Mit weitem Abstand war der nächsthäufig genannte Grund, zu arbeiten sei selbstverständlich, „atarimae“ (46, 3 Prozent) 4.

Mit dieser Prioritätensetzung entsprechen die Japaner im internationalen Vergleich Amerikanern, Deutschen oder Franzosen. In allen vier Ländern ist das wichtigste Ziel der Arbeit das Geldverdienen. In Japan stieg die Priorität des Geldverdienens seit Anfang der siebziger Jahre deutlich an, während sie in Deutschland an Bedeutung verlor. Da gleichzeitig die gesellschaftliche Pflicht in Japan nur halb so oft als Arbeitsziel genannt wurde wie in Deutschland (7 gegenüber 14, 2 Prozent), läßt sich das Bild vom uneigennützigen Japaner wohl kaum aufrechterhalten. Der dritte Aspekt „Selbstentfaltung“ wurde 1988 in allen Ländern (mit Ausnahme von Frankreich) in etwa gleich hoch bewertet 5. Diese Zahlenbeispiele sollen lediglich deutlich machen, daß japanische Arbeitnehmer prinzipiell von den gleichen Motiven zur Arbeit bewegt werden wie ihre westlichen Kollegen. Sie bestätigen die Aussage Sugaharas bezüglich der Erwartung einer „Belohnung“.

Doch bedeutet die vorwiegend materielle Motivation, die, wie oben gezeigt, kein neues Phänomen ist, noch nicht, daß die Einstellung zur Arbeit keine ethische ist, daß ihr keine moralischen Werte und Normen zugrunde liegen. Der Wunsch, weniger zu arbeiten, impliziert nicht den Verlust jeglicher positiven Einstellung zur Arbeit und zum Unternehmen. Denn Einsatz bei der Arbeit wird ja durchaus auch immateriell „belohnt“, sei es durch das soziale Ansehen, das eine höhere Position mit sich bringt, oder auch durch die inhaltliche Befriedigung, die der einzelne durch seine Arbeit erfährt. Hier weisen Umfragen allerdings Widersprüchlichkeiten auf, die darauf hindeuten könn-ten, daß die Arbeit doch einen wesentlichen Teil des Lebensinhalts (ikigai) darstellt. Auf die Frage, in welchen Momenten sie Erfüllung empfinden würden, wurde 1992 die Arbeit bzw. das Studium erst weit nach der Familie, den Kindern und sogar nach den Hobbies genannt. Umgekehrt jedoch, nach den Objekten gefragt, auf die sich diese Empfindung der Erfüllung beziehe, wurde die Arbeit kaum weniger häufig genannt als die eigenen Kinder (43 Prozent bzw. 45, 9 Prozent) Auch die oben erwähnte Antwort, daß Arbeit für einen Mann atarimae sei, zeigt deutlich, wie wichtig die Arbeit im sozialen Kontext nach wie vor ist.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht übertrieben, den Trend zu kürzeren Arbeitszeiten als Katalysator zur Schwächung des Arbeitsethos verantwortlich zu machen, wie dies Sugahara tut, arbeiten doch die japanischen Arbeitnehmer im Durchschnitt immer noch weitaus länger als die europäischen Umfragen von 1992 ergeben wiederum kein eindeutiges Bild darüber, wie stark der Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit bzw. nach mehr Freizeit in der Bevölkerung ausgeprägt ist. Im Juni 1992 zeigten sich immerhin 53 Prozent der Befragten zufrieden mit der Freizeit, die ihnen zur Verfügung steht Noch im Februar des gleichen Jahres hingegen hatten 61 Prozent den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit geäußert, deutlich mehr als bei der gleichen Umfrage 1986 (48, 8 Prozent)

Was qualitativ hinter dem quantitativ zunehmendem Wunsch nach mehr Freizeit steckt, läßt sich nicht eindeutig klären. Sei es nun die Unzufriedenheit mit den eigenen Arbeitsbedingungen oder sei es schlicht Erschöpfung -für beide Möglichkeiten lassen sich Anzeichen finden. Immer mehr Menschen äußern den Wunsch, die Stelle zu wechseln, und immer mehr tun es auch. Die Differenz zwischen beiden Gruppen ist allerdings beträchtlich, nicht zuletzt deswegen, weil sich ein Stellenwechsel im japanischen Lohnsystem, das auf Betriebszugehörigkeit basiert, nachteilig auswirkt. Vor einigen Jahren erschienen häufig Berichte über junge Menschen, die ihre Stellen schon nach kurzer Zeit aufgaben. Allerdings war dies während der Boomjahre, als sich die Unternehmen um die Absolventen guter Universitäten rissen. Heute ist der Markt eher ein Käufermarkt geworden. Hinter dem Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit steckte ebenso oft das Bedürfnis nach psychischer und körperlicher Erholung (wichtigster Wunsch bei Frauen) wie nach besseren Möglichkeiten, die Freizeit zu nutzen und ein erfülltes Leben führen zu können (besonders Männer)

Daß der Wunsch, weniger zu arbeiten, nicht einfach aus dem Westen importiertes Gedankengut ist, zeigt auch ein Blick in die japanische Geschichte. In einem Artikel des Wirtschaftsmagazins Ekonomisuto führt der Soziologe Kato Tetsuro eine Reihe von Beispielen dafür an, daß die Japaner in der vormodernen Zeit durchaus ihre Freizeit genossen Erst die Industrialisierung und fortschreitende Technologisierung der Arbeit brachten striktere Anforderungen mit sich; die Produktionsmaschinen mußten nun möglichst lange und ohne Unterbrechung ausgelastet werden. Die Maschinen uniformierten den Arbeitsablauf und stellten gleichzeitig eine der Ursachen für ein weiteres Merkmal der japanischen Arbeitswelt dar: das Prinzip der lebenslangen Anstellung. Denn je komplexer die Maschinen bzw. die Arbeitsprozesse wurden, desto länger dauerte die Schulung der Arbeitnehmer dafür und desto mehr war den Unternehmern daran gelegen, diese Arbeitnehmer auch auf Dauer zu halten, damit sich die Investitionen in die Ausbildung der Arbeitnehmer auch rentierten. Kato schließt aus diesen Überlegungen, daß der berüchtigte japanische Arbeitseifer in Wahrheit ein Mythos (kinben shinwa) und zudem erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sei. Seine Interpretation vom „Arbeitsmythos“ der Japaner stimmt im wesentlichen mit der von Sugahara Mariko überein, allerdings ziehen die beiden Autoren daraus unterschiedliche Schlußfolgerungen. Kato will die Erkenntnis, daß es sich um einen „Mythos“ handelt, zum Anlaß nehmen, dessen Nährboden zu beseitigen. An die Stelle absoluter Loyalität gegenüber der Firma soll mehr Aufrichtigkeit gegenüber der Arbeit treten.

Diese Meinung wird auch von anderen Experten geteilt. Für Sugahara stellt demgegenüber gerade die Gewöhnung an die Freizeit die Wurzel für den weiteren Niedergang des Arbeitsethos dar, womit sie sich gegen die Regierungsparole von der „Supermacht der Lebensqualität“ ausspricht. Es stellt sich die Frage, ob man diesen vermeintlichen Niedergang des Arbeitsethos nicht auch als eine Hinwendung zu einer Lebenseinstellung betrachten kann, die auf einem entspannteren Verhältnis zur Arbeit beruht und größeren Wert auf Lebensqualität“ legt. Die materiellen Voraussetzungen dafür sind in Japan sicherlich gegeben, der großen Mehrheit der Bevölkerung geht es finanziell gut. Dieser Wohlstand ist im übrigen unbestritten eines der Verdienste des harten Einsatzes der japanischen Arbeitnehmer in den vergangenen knapp 50 Jahren. Insofern hat sich die Erwartung auf eine „Belohnung“ des Einsatzes für die meisten generell erfüllt. Seit jedoch die Wohlstandssteigerungen durch die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums eine gewisse Sättigung erfahren, sind die materiellen Belohnungen nicht mehr so deutlich sichtbar.

III. Die Falle der Homogenität und Konformität

Sugahara Mariko beschreibt Japan als eine Nation, die von einer hohen ethnischen Homogenität sowie einem überaus einheitlichen Bildungsstand geprägt ist und in der es außerdem nur ein geringes Wohlstandsgefälle gibt. Diese starke Homogenität werde in vielen Situationen verstärkt, in der Menschen miteinander wetteifern und nach einheitlichen Maßstäben bewertet werden. Das beginne in der Schule, werde aber von den Unternehmen weiter gefördert, indem sie möglichst junge Arbeitnehmer einstellen und diese nicht nur in bezug auf die Arbeit trainieren und formen, sondern auch in außerberuflichen sozialen Situationen. Die Mehrzahl der Arbeitnehmer unterwerfe sich dieser Formung, weil die Zugehörigkeit zur Gruppe die Voraussetzung für den Erfolg im Unternehmen sei. Gleichzeitig neige die Gruppe dazu, Außenseiter auszugrenzen. Diese Konformität der Japaner sei zweifellos nützlich, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. In Zukunft jedoch rücke die Welt näher zusammen und es käme darauf an, auch mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenzuarbeiten. Die japanische Gesellschaft grenze nicht nur Ausländer aus, sondern auch Japaner, die nicht den Normen entsprächen, und diskriminiere auch Frauen in vielen Bereichen. Sugahara meint, es sei wichtig für die japanische Gesellschaft, diese Neigung zur Ausgrenzung zu überwinden, denn nur durch den Austausch mit Personen oder Einflüssen von „außen“ könne sich ein Organismus weiterentwickeln.

Die hohe Konformität des japanischen Volkes ist ein Stereotyp, das im Ausland fast ebensoweit verbreitet ist wie das des fleißigen Arbeiters. Oder ist auch die Konformität nur ein verzerrtes Stereotyp? Viele Japaner betonen selbst häufig mit einem gewissen Stolz ihre Homogenität und sehen in ihr eine der Grundlagen für die Erfolge (und die Einzigartigkeit) der Nation. Auch die Statistiken bestätigen die Homogenität auf den ersten Blick: Über 90 Prozent der Bevölkerung zählen sich selbst zur Mittelschicht, 53, 6 Prozent sogar zur „mittleren Mittelschicht“ Auf der anderen Seite gibt es verschiedene Zeichen für eine zunehmende Differenzierung in der Gesellschaft So entziehen sich immer mehr junge Leute dem üblichen Lebensziel, eine Familie zu gründen, und entscheiden sich statt dessen für mehr Freiheit und mehr Geld. Der Anteil der doppelt verdienenden kinderlosen Ehepaare (DINKS: Double /ncome No Kids) in der Altersklasse von 30 bis 34 Jahren wird bis zur Jahrtausendwende wohl bis auf 20 Prozent ansteigen; 1990 lag er noch bei 14 Prozent. Bei den unter 30jährigen sind es noch mehr, die die Entscheidung für Kinder zumindest aufschieben; hier wird der Anteil von DINKS von 30 Prozent bis zum Jahr 2000 auf rund 38 Prozent steigen Dadurch, daß die Arbeitszeit kürzer wird und die Lebenserwartung steigt, sinkt die relative Bedeutung, die das Arbeitsleben in der Lebensspanne des einzelnen hat. Mehr arbeitslose“ Zeit bietet aber auch mehr Raum für individuelle Aktivitä­ ten und Entwicklungen. Manche Autoren haben schon seit den siebziger Jahren einen eindeutigen Trend zu mehr Individualismus in Japan festgestellt. Als Folge davon, daß mit dem Erreichen eines allgemeinen Wohlstandes die nationalen Ziele verschwunden seien, hätte der einzelne sein Interesse stärker auf seine direkte Umgebung gelenkt und besonders im Konsumverhalten sehr unterschiedliche Präferenzen und Bedürfnisse entwickelt

Daß mehr Freizeit mehr Raum für unterschiedliche Aktivitäten bietet, ist leicht nachvollziehbar, aber wie sieht es in der Arbeitswelt aus? Dort galt die Gruppe der Salarymen geradezu als Sinnbild dieser Homogenität. In den letzten Jahren traten aber immer mehr Frauen in die Arbeitswelt ein, darunter viele als Part-time-Angestellte. Wenn aber immer mehr Beschäftigte in „anderen“ Formen arbeiten, bedeutet das, daß die Norm des Salaryman langsam ihren Status als Regelform verliert. Der Beschäftigungssektor wird insgesamt uneinheitlicher: differenzierter. Wenn aber die bisherige „Norm“ Minderheitsform wird, dann kann sie irgendwann die vermeintlichen „Außenseiter“ nicht mehr ausgrenzen. Noch ist es aber nicht so weit. Untersuchungen in Firmen, die gleitende Arbeitszeiten eingeführt hatten (um die tägliche Rushhour in den Zügen zu entzerren), zeigten, daß die Arbeitnehmer von der Möglichkeit zur Flexibilität kaum Gebrauch machten. Einige Firmen hatten die Modelle darum bald wieder aufgegeben

IV. Mangel an Kreativität und Vitalität

Das dritte Symptom, das Sugahara Mariko benennt, ergibt sich aus dem zweiten, denn schöpferische Menschen sind oftmals nonkonformistisch: Wenn aber Anpassung honoriert wird, wird Anderssein skeptisch betrachtet. Solche „anderen“ Menschen würden im modernen Japan „erdrückt“. Die Autorin stellt denn auch fest, daß es zu wenig risikofreudige Menschen gebe. Einen Grund dafür sieht sie in der ökonomischen und emotionalen Abhängigkeit des einzelnen vom Unternehmen, einen anderen in der allgemeinen materiellen Sättigung. Den insbesondere unter jüngeren Menschen auszumachenden stärkeren Drang nach Individualität wertet Sugahara lediglich als oberflächliche Egozentrik. Die Aussage, daß in der heutigen Gesellschaft auffällige Menschen „erdrückt“ würden, ist insofern nicht ganz korrekt, als das japanische Sprichwort vom herausragenden Nagel, der eingeschlagen werden muß, -und die dahinterstehende Denkweise -nicht erst in diesem Jahrzehnt entstanden ist. Dieses Sprichwort geht mit der oben erwähnten Konformität -der Orientierung auf die Gruppe und dem Streben nach Harmonie in dieser Gruppe -einher. Die Interpretation, daß dadurch Vitalität verlorengeht, wird auch von anderen japanischen Autoren geteilt. Shimada Haruo beispielsweise wies bereits 1986 darauf hin, daß sich vor allem die unflexiblen großen Unternehmen ändern müßten. Mit der Strategie „Big is beautiful“ allein sei nichts mehr zu gewinnen Diese These scheint sich in der gegenwärtigen Rezessionsphase zu bestätigen, in der reine Massenproduktion immer mehr ins kostengünstigere Ausland verlegt wird. Das bedeutet für die Angestellten im Inland, daß sie sich nicht mehr unbedingt auf die Versorgung durch das Unternehmen verlassen und darauf ausruhen können. Die Not könnte also erfinderisch machen und Anlaß für kreative Vitalität sein, die neue Geschäftsbereiche eröffnet.

V. Massen ohne bürgerliche Moral?

Indikator für den Verlust von Moral sind für Sugahara Mariko die derzeitigen Korruptionsskandale in der Bauwirtschaft, die sie als Angestelltenkriminalität bezeichnet. Die Angestellten oder Manager der Unternehmen hätten keine Hemmungen, etwas Unmoralisches zu tun, solange es dem Wohl des Unternehmens diene. Der Zweck heiligt die Mittel, und die allgemeine Moral wird der internen Ethik der Organisation unterworfen. Einen Grund für diese Handlungsweise sieht die Autorin wiederum in der hohen Abhängigkeit der einzelnen von den Organisationen, die Kritik an diesen von vornherein ersticke. Diese unternehmensorientierte Ethik sei in der internationalen Gemeinschaft jedoch nicht akzeptabel. Japan brauche einen offeneren Wettbewerb mit klaren Richtlinien für unabhängige Individuen. Dieser Appell richtet sich besonders an die japanischen Unternehmen.

Sugahara geht sehr weit mit ihrer Kritik, denn wenn sie Japans „unternehmensorientierte Ethik“ als „unmoralisch“ bezeichnet, spricht sie Japan ab, eine Ethik zu haben, die in der internationalen Gemeinschaft (des Westens?) anerkannt werden kann. Ist es tatsächlich so schlecht um die öffentliche Moral in Japan bestellt? In der Tat ist das Handeln des einzelnen häufig auf das Wohl der Gruppe ausgerichtet und kann dabei je nach Situation und Erfordernissen und von Gruppe zu Gruppe variieren. Ein „Fehler“ ist nur, was von der Gruppe als solcher empfunden wird, wobei sich „Gruppe“ im übrigen nicht nur auf das Unternehmen bezieht

Sugaharas Urteil scheint insofern auch von der japanischen Öffentlichkeit bestätigt, als die Mehrheit der Bevölkerung (60, 8 Prozent) Ende 1993 der Meinung war, die öffentliche Moral werde nicht aufrechterhalten In den letzten fünf Jahren sind die kritischen Stimmen lauter geworden, insgesamt jedoch ist seit Mitte der siebziger Jahr in zunehmendem Maße eine uneinheitliche Einschätzung zu beobachten, d. h., die Zahl derjenigen, die meinten, die Moral werde eingehalten, gleicht sich immer mehr der jener an, die dem nicht zustimmten. Fragt man nach den Gründen für die Unzufriedenheit, so wird nicht etwa die Bestechlichkeit von Politikern angegeben, sondern alltägliche Verfehlungen wie die Verschmutzung der Natur und das Nichteinhalten der Verkehrsregeln werden genannt. Übrigens haben seit dem Beginn der Umfrage stets die Stimmen derjenigen überwogen, die die öffentliche Moral gefährdet sehen. Die Entrüstung ist also kein neues Phänomen. Die weit unter der anderer Industrienationen liegende Kriminalitätsrate Japans zeigt jedoch, daß der Verfall der öffentlichen Moral so weit denn doch nicht geht.

Auch bei der öffentlichen Moral -im Sinne von Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft -ist keine Verschlechterung zu beobachten: In der Meinungsumfrage vom Dezember 1993 stellten 39 Prozent der Befragten das Wohl der Nation über das Wohl des einzelnen (23 Prozent). Der Anteil derjenigen, die etwas für die Gemeinschaft beitragen wollen, wächst seit Jahren beständig. Bis Mitte der achtziger Jahre spaltete diese Frage die Bevölkerung in zwei nahezu gleichgroße Teile; seit 1986 jedoch zeigen immer mehr Menschen die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft einzusetzen. Sugaharas Forderung nach unabhängigen Individuen, die für sich nach den Regeln einer verantwortungsbewußten „allgemeinen“ Ethik handeln, käme einer vollständigen Umkehr der bisherigen gruppen(wohl) orientierten Ethik der japanischen Gesellschaft gleich. Das Individuum als zentrales Handlungsorgan zu betrachten, das klingt sehr nach einer Anpassung an die westlichen Vorstellungen und wird sich kaum durchsetzen können.

VI. Frauen und Alte als Last?

Sugahara Mariko stellt fest, daß japanische Frauen in Politik und Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielen. In ihrer beruflichen Karriere werden sie -angeblich nicht fähig, sich in den männlich geprägten Kreis der Unternehmen einzufügen -diskriminiert und letztlich oft entmutigt. Dabei hat sich der Lebensverlauf der japanischen Frau geändert. Wenn die Kindererziehung beendet ist, ist sie jünger als die Frauen der Generation ihrer Großmutter, die mehr Kinder hatten, und es bleiben ihr noch viele Jahre und viel Energie, sich außerhalb der Familie zu betätigen. Dieses Potential nicht zu nutzen, ist Sugahara zufolge eine Verschwendung menschlicher Ressourcen. Das gleiche gilt für alte Menschen. Viele sind fähig und willens, über das übliche Rentenalter hinaus zu arbeiten (auch Lohnarbeit) und sich sinnvoll zu betätigen. Beide soziale Gruppen werden (nicht nur) in der japanischen Gesellschaft diskriminiert. Für eine emotional gesunde Gesellschaft ist es aber wichtig, daß sich alle Gruppen Selbstachtung und Unabhängigkeit erarbeiten können.

Frauen sind in der politischen Öffentlichkeit Japans unterrepräsentiert. So muß beispielsweise immer wieder die Sozialistin Doi Takako als Gallionsfigur herhalten, und im derzeitigen Kabinett von Murayama Tomiichi sitzt mit Tanaka Makiko nur eine einzige Frau Dabei sind die japanischen Frauen im Erwerbsleben -mehr als die Hälfte der japanischen Frauen ist berufstätig -mit rund 40 Prozent der japanischen Erwerbstätigen alles andere als unterrepräsentiert. Allerdings sind ihre Tätigkeiten meistens wenig qualifiziert oder verantwortungsvoll; Beispiele für erfolgreiche Unternehmerinnen oder Frauen in den Chefetagen großer Unternehmen sind immer noch selten. Obgleich die meisten Frauen eine ebenso gute Schul-bildung besitzen wie ihre männlichen Kollegen, verläuft der klassische Berufsweg von (akademisch gebildeten) Japanerinnen immer noch in zwei Phasen: Nach dem Hochschulabschluß arbeiten sie für einige Jahre, wobei die Absicht, nach der Heirat oder der Geburt des ersten Kindes aufzuhören, weder den Ehrgeiz der Frauen beflügelt noch die Motivation der Firmen, in die Ausbildung dieser Frauen zu investieren. Die Heirat findet heute zwar später statt als noch vor 20 Jahren, auch ist die Zahl der Kinder gesunken, aber insgesamt ist es bei der „Familienpause“ geblieben. Der zweite Teil der weiblichen Berufstätigkeit beginnt, wenn die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Jetzt sind es in erster Linie die fehlenden Erfahrungen und Fachkenntnisse, die die nunmehr 40-bis 45jährigen Frauen zwingen, eine unqualifizierte Tätigkeit anzunehmen. Häufig handelt es sich zudem um eine Teilzeitbeschäftigung, die es ihnen ermöglicht, weiter ihre Aufgaben in der Familie zu erfüllen. Dahinter steckt immer noch die klassische Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern: Die Frau kümmert sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder, und der Mann verdient (atarimae) das Brot für die Familie. Diese Verteilung wird in Japan nicht nur von den Männern befürwortet: Die große Mehrheit von Männern und Frauen ist der Meinung, daß der Mann mehr Geld verdienen sollte als die Frau

Der hohe Anteil der Frauen im Erwerbsbereich zeigt deutlich, daß die japanische Wirtschaft auf die Frauen angewiesen ist. Trotzdem werden sie oft nur als „Puffer“ benutzt. Wenn Frauen dennoch versuchen, eine Karriere aufzubauen, müssen sie sich nicht nur gegen ihre männlichen Arbeitskollegen durchsetzen, sondern auch noch die Versorgung ihrer Kinder organisieren. Angesichts der ungenügenden Zahl von Kindertagesstätten-plätzen und der mangelhaften Unterstützung, die japanische Frauen bei der Kinderversorgung von ihren Ehemännern erwarten können, ist es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit „nur“ einen Teilzeitjob sucht.

In ihrem Buch über die japanische Frau kommt Iwao Sumiko allerdings zu einem anderen Schluß; sie glaubt, daß die vielfältigen und flexiblen Arbeitsformen langfristig die Beschäftigungsverhältnisse insgesamt beeinflussen und die Unternehmen immer stärker auf die Frauen angewiesensein werden. Schließlich würden auch die Männer dazu animiert, kürzer zu arbeiten und sich mehr zum Familienleben hin zu orientieren

Bei der Frage nach Werten und Wandel in der Gesellschaft kommt auch Japans Senioren eine große Bedeutung zu, die sogar noch zunehmen wird. Japan hat eine alternde Bevölkerung: 1993 lag der Anteil der über 65jährigen noch bei 13, 5 Prozent, bis zum Jahr 2025 wird er voraussichtlich auf 25, 8 Prozent klettern. Die japanische Bevölkerung hat schon heute die höchste Lebenserwartung der Welt. Das bedeutet, daß es einerseits in Zukunft immer mehr alte Japaner geben wird, die sowohl körperlich als auch geistig in der Lage sind zu arbeiten und dies auch möchten, andererseits aber auch mehr Rentner, die von der Allgemeinheit unterstützt, sowie eine wachsende Zahl von alten Menschen, die krank und pflegebedürftig sind und versorgt werden müssen. Die Mehrheit der alten Menschen werden Frauen sein, deren Lebenserwartung höher als die der Männer ist; außerdem sind es zum größten Teil die Frauen -Ehefrauen, Töchter oder Schwiegertöchter -, die die Betreuung der pflegebedürftigen alten Eltern übernehmen. Das Problem der überalterten Gesellschaft -der koreika shakai -wird in Japan in den letzten Jahren immer intensiver diskutiert, meistens im Hinblick auf die Sicherung der Renten und die Frage der Pflege. Die Regierung möchte die alten Menschen (aus finanziellen Überlegungen) länger arbeiten lassen und beschloß eine Anhebung des Rentenbezugsalters. Außerdem subventioniert sie die Weiterbeschäftigung von älteren Menschen. Allerdings ist es schwierig, genügend passende Stellen für die alten Menschen zu finden, zumal in Zeiten, in denen die Betriebe Personal abbauen. Die Bereitschaft der alten Menschen zu arbeiten, ist hoch, ebenso die der Frauen. Insofern gibt es sicher einen großen Fonds an Erfahrungen, Bildung und Energie, der zum Nutzen der Gesellschaft eingesetzt werden könnte, wie Sugahara Mariko meint.

VII. Fazit

Die Sorge um den Verfall der gesellschaftlichen Werte ist nicht neu. Auch die Phänomene, die Sugahara Mariko als Beleg für den Verfall anführt, sind es nicht. Fast alle Argumente waren schon vor zehn Jahren in der Presse zu finden; und die japanischen Statistiken, auf die sich auch Sugahara immer wieder beruft, belegen nicht, daß sich die Mißstände -oder die Symptome dafür -seither gravierend verschärft haben. Daher scheint die pessimistische Schlußfolgerung der Autorin übertrieben. Die Wünsche nach Arbeitszeitverkürzungen sind (noch?) zurückhaltend; es ist nicht anzunehmen, daß die Mehrheit der Arbeitnehmer Japans in den nächsten fünf Jahren eine 35-Stunden-Woche oder 30 Tage Urlaub fordern wird. Die Korruptionsskandale in der Bauwirtschaft und der Politik haben die allgemeine Moral der Bevölkerung kaum beeinflußt. Das System der Kontrolle durch die Gruppe scheint noch zu funktionieren. Allerdings sind durchaus gesellschaftliche Veränderungen festzustellen, wobei der Wandel der Wertvorstellungen den quantitativen Veränderungen erheblich hinterherhinkt. So arbeiten zwar immer mehr Frauen in Angestelltenverhältnissen, statt in den Familienbetrieben zu „helfen“, aber das Image von Frauenarbeit als „Nebentätigkeit“ hat sich kaum verändert. Der wirtschaftliche Aufschwung wird sich hier möglicherweise als Katalysator erweisen, würde er doch die Arbeitnehmer (vor allem die junge Generation) in eine Position versetzen, in der sie es wagen können, mehr Rechte und Freiheiten zu fordern. Vor allem aber werden die demographischen Veränderungen in Japan -mehr alte Menschen und immer weniger Kinder -einen Wandel der Wertvorstellungen nach sich ziehen, denn durch sie wird sich die Struktur der Familien verändern und damit die Aufgaben und Funktionen der einzelnen Familien-mitglieder. Doch auch wenn es -vor allem in der jüngeren Generation Japans -einige Anzeichen für ein Aufbrechen des traditionellen Konformismus und für die Ausbreitung von Pluralismus gibt, ist Japan insgesamt doch weit davon entfernt, eine Gesellschaft nach westlichem Muster zu werden, in der das Individuum und nicht die Gruppe im Mittelpunkt steht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sugahara Mariko, Nihon byo itsutsu no shojo (Fünf Symptome des japanischen Leidens), in: Chuo Koron, April 1994, S. 108-116; in dt. Übersetzung in: Japan Echo, 21 (1994) 2, 8. 85-93.

  2. Die Meinungsumfrage zur Lage der Nation wird seit 1969 jeweils am Jahresende durchgeführt (1970 und 1973 fand sie nicht statt). 10000 Bürger über 20 Jahre werden zu den Themen Bewußtsein gegenüber der Gesellschaft, Bewußtsein gegenüber dem Staat, Bewußtsein gegenüber der internationalen Gesellschaft sowie zur Akzeptierung und Beurteilung der gegenwärtigen Situation von Staat und Gesellschaft befragt. Bei der jüngsten Umfrage vom Dezember 1993 lag der Rücklauf der Befragten bei 70, 8 Prozent. Veröffentlicht in: Gekkan seron chosa -shakai ishiki (Meinungsumfrage zum gesellschaftlichen Bewußtsein), Management and Coordination Agency, Juni 1994.

  3. An vierter Stelle wurde ein Kriterium genannt, das wohl besonders in Japan einen hohen Stellenwert hat: der günstige Anfahrtsweg zum Arbeitsplatz (39, 0 Prozent).

  4. Vgl. Claudia Kolatek, Zur Arbeitseinstellung japanischer Beschäftigter: Das japanische Selbstbild und die Entstehung „typisch" japanischer Arbeitsbeziehungen, in: Norbert R. Adami/Claudia Kolatek, Lebenslust statt Arbeitswut?, München 1991, S. 44 f.

  5. Vgl. Gekkan seron chosa -chosa mini-gaido (Meinungsumfrage, Kurzumfrage), Management and Coordination Agency, Juli 1992. Der Ehepartner rangierte in dieser Reihe übrigens erst an neunter Stelle.

  6. Der Fünfjahresplan „Seikatsu Taikoku“ (Supermacht an Lebensqualität), den die Regierung von Ministerpräsident Miyazawa 1992 vorlegte, sollte (u. a. durch eine Verringerung der jährlichen Arbeitsstunden) mehr Lebensqualität für die Bevölkerung bringen und die Grundlagen für eine Koexistenz in einer globalen Gemeinschaft legen.

  7. Vgl. Gekkan seron chosa -kyuka to ryoko (Meinungsumfrage zu: Freizeit und Reisen), Management and Coordination Agency, Juni 1992.

  8. Bei der Befragung fiel auf, daß der Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung um so stärker ausgeprägt ist, je größer das Unternehmen ist, in dem die Befragten beschäftigt waren. In Firmen mit mehr als 1000 Beschäftigten plädierten 84, 3 Prozent, unter den Angestellten des öffentlichen Dienstes gar 85, 7 Prozent, für eine Verkürzung. Vgl. Gekkan seron chosa -rodo jikan -shukyo futsukasei (Meinungsumfrage zu: Arbeitszeit und 2-Tage-Wochenende), Management and Coordination Agency, Februar 1992.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. Kato Tetsuro, Nihonjin no kinbenshinwa ga dekiru made (Bis der Arbeitsmythos entstand), in: Ekonomisuto vom 13. September 1994, S. 68-71. Kato bezieht sich dabei auf eine Studie des halbstaatlichen Forschungsinstituts NIRA von 1988 über eine historische Analyse des Lebensstandards. Er bezeichnet den heutigen Arbeitsrhythmus als widernatürlich. In der vorindustriellen Zeit der Agrarwirtschaft wurde der Arbeitsrhythmus von den Jahreszeiten bestimmt, und selbst in der Meiji-Zeit (1868-1912) seien die Arbeitszeiten in der Verwaltung je nach Jahreszeit unterschiedlich gewesen. In den heißen Sommermonaten wurde lediglich am Vormittag gearbeitet. Auch Berichte von europäischen Japanbesuchern jener Epoche betonen immer wieder, daß die Japaner dem Vergnügen und dem Sake durchaus zugeneigt seien und insgesamt eine eher laxe Arbeitshaltung an den Tag legten.

  11. Vgl. Gekkan seron chosa -Kokumin seikatsu (Meinungsumfrage zu: Leben der Bevölkerung), Management and Coordination Agency, Oktober 1992.

  12. Eine Befragung durch eine Kommission der Wirtschaftsplanungsbehörde zeigte im November 1993 eine höhere Bereitschaft, „andere“ Lebensformen zu akzeptieren als 1986. So gab es gegenüber Elternteilen, die ihre Kinder nach einer Scheidung allein erziehen, kaum noch Vorbehalte. Diese Toleranz erstreckte sich allerdings nicht auf homosexuelle Paare, die Zusammenleben. Nikkei Weekly vom 4. April 1994.

  13. Vgl. Schätzungen des Institute of Population Problems, in: Nikkei Weekly vom 20. Juni 1994.

  14. Vgl. Yamazaki Masakazu, Signs of a new individualism, in: Japan Echo, 11 (1984) 1, S. 8-18.

  15. Vgl. Nikkei Weekly vom 28. März 1994.

  16. Vgl. Shimada Haruo, Human-Resource Strategies for a Creative Society, in: Japan Echo, XIII (Special Issue 1986), S. 40-46.

  17. In Ergänzung zu Sugaharas Interpretation, der Zweck heilige die Mittel, meint Norbert R. Adami, daß zuweilen auch das Mittel über dem Erfolg stehe. Der Einsatz eines einzelnen für seine Gruppe werde beispielsweise honoriert, auch wenn er letztendlich gar nicht zum gewünschten Erfolg führt. Vgl. Norbert R. Adami, Zum Stellenwert der Arbeit in der japanischen Kultur: Hintergründe und soziales Umfeld, in: N. R. Adami/C. Kolatek (Anm. 5), S. 141 f.

  18. Nur 26, 8 Prozent waren der Meinung, sie wird aufrechterhalten; shakai ishiki 1994 (Anm. 2).

  19. Doi Takako war Parteichefin der Sozialisten und ist heute Sprecherin des Unterhauses. Tanaka Makiko, die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Tanaka Kakuei, ist Generaldirektorin (= quasi Ministerin) der Science and Technology Agency.

  20. Die Frauen bejahten diese Aussage sogar noch entschiedener als die Männer (78, 2 bzw. 63 Prozent). Vgl. Gekkan seron chosa -dansei no raifusutairu (Meinungsumfrage zur Lebensweise von Männern), Management and Coordination Agency, Mai 1994. In der gleichen Umfrage gaben außerdem 70 Prozent der Frauen an, Job und gesichertes Einkommen seien wichtige Voraussetzungen für die Auswahl eines Ehemannes.

  21. Vgl. Iwao Sumiko, The Japanese Woman, New York-Don Mills 1991, S. 175ff. Als das Buch verfaßt wurde, waren die Chancen der Frauen noch besser als heute, weil allgemein ein Mangel an Arbeitskräften herrschte. In den vergangenen zwei bis drei Jahren der rezessionsbedingten Umstrukturierung fielen seither vor allem Frauen aus dem Erwerbsbereich heraus.

Weitere Inhalte

Friederike Bosse, M. A., geb. 1962; Studium der Japanologie in Hamburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Asienkunde (IfA) Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: regelmäßige Wirtschaftsberichterstattung in: Japan -Wirtschaft, Politik und Gesellschaft (IfA); Überalterung der Bevölkerung stellt neue Anforderungen an Japans Sozialpolitik, in: Manfred Pohl, Japan Jahrbuch 1993/94, Hamburg 1994.