I. Japan an der „Wirtschaftswende“?
Mit den politischen Turbulenzen in Japan wird einmal mehr ein Ende des phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes prophezeit. Solche Vermutungen sind leichtfertig; eine wohlbegründete Theorie fehlt nämlich. Ebenso voreilig wird behauptet, daß die gegenwärtige Rezession in Japan einen so dramatischen Einschnitt verkörpere wie vor ihr nur die erzwungene Öffnung des Landes (1853) und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg (1945) Die Ölpreiserhöhungen von 1973/74 und 1978/79 wurden allerdings als ähnlich einschneidend empfunden, und die bislang vorletzte „Japanuntergangsstimmung“ griff 1985/86 anläßlich der unerwartet massiven Aufwertung des Yen um sich.
Das Verkünden von „Krisen“ scheint also (fast) ein Grundzug des japanischen Wirtschaftssystems zu sein. Ältere Autoren haben diesen meist mit der mangelhaften Ressourcenausstattung des Landes in Zusammenhang gebracht, die als beständige Bedrohung erfahren werde. Der „Ressourcenmangel“ wird aber im internationalen Dialog so offensichtlich als taktisches Argument eingesetzt, daß fraglich ist, ob es tatsächlich als „letzte Ursache“ für eine bestimmte Geisteshaltung angesehen werden kann Entscheidender dürfte deshalb ein anderer Zusammenhang sein: In Japans Wirtschaftsgesellschaft spielt die Organisation von Kooperation eine wichtige Rolle. Bei Kooperationen besteht aber stets die Gefahr, daß sie in Kollusionen abgleiten, d. h. nicht zur Effektivität bzw. Effizienz beitragen, sondern zur Umverteilung zugunsten mehr oder weniger versteckter Interessenkartelle (Rent seeking) eingesetzt werden. Japanische Organisationen müssen vor diesem Hintergrund beständig nach Wegen suchen, dieses Verhalten zu vermindern. Ein Mittel besteht darin, den Eindruck einer latenten Bedrohung zu kultivieren, was die Individuen motiviert, die Verfolgung wirtschaftlicher Effektivität und Effizienz nicht aus dem Auge zu verlieren
Wenn demnach auf Stimmungen kein Verlaß ist, müssen analytisch fundiertere Techniken herangezogen werden. Die folgenden Ausführungen nehmen zwei Fragenkreise auf. Erstens: Inwieweit befindet sich Japans Wirtschaft gegenwärtig in einer Krise, d. h., inwieweit ist ein wirtschaftlicher Aufschwung fraglich? Diese Frage umfaßt kurz-, mittel-und langfristige Aspekte. Zweitens: Ist es angemessen, von einem tiefgreifenden Wandel des Systems zu sprechen? Zwei Unterpunkte enthält die Frage nach dem Wandel, zumindest aus der Sicht des Auslandes. Zum einen: Ändern sich die Mechanismen der außenwirtschaftlichen Einbindung Japans? Und zum anderen: Ändert sich das gesamte sozio-ökonomische System in einer grundlegenden Weise?
Auf kurze Sicht ist auf die gegenwärtige Konjunkturlage hinzuweisen Die wichtigsten in Japan gängigen Konjunkturindikatoren weisen darauf hin, daß die Talsohle der Rezession im Frühsommer 1994 erreicht wurde Setzt man den vorausgegangenen Konjunkturgipfel mit April 1991 an, so hat der Abschwung über drei Jahre gedauert -eine außerordentlich lange Zeit. Der Einbruch war außerdem besonders tief: Die industrielle Produk-
II. Japan in der Krise?
1. Rezession in Japan: Die Talsohle ist durchschritten tion ging absolut zurück; die Wirtschaft ist 1993 nicht gewachsen. Auch für 1994 erwartete die Regierung (im Februar) lediglich 2, 4 Prozent reales Wachstum, was trotz der inzwischen sich tatsächlich abzeichnenden Trendwende immer noch zu hoch gegriffen ist. Die Daiwa Bank rechnete im Juli 1994 mit 1, 2 Prozent auf das Jahr bezogen. Selbst gegenwärtig weisen noch nicht alle Konjunkturindikatoren nach oben. Das ist freilich angesichts eines gerade durchschrittenen Konjunkturtiefs typisch. So gehen die privaten Investitionen immer noch zurück -mittlerweile im dritten Jahr. Immerhin dürfte damit der Überhang des Kapitalstocks, der in den Jahren des Booms durch billig(st) es Geld entstanden ist, bald weitgehend abgebaut sein.
Die Konjunktur wird nach Einschätzung fast aller Beobachter nur langsam in Fahrt kommen. Maßgeblich hierfür ist die vorwiegend pessimistische Beantwortung der Frage, welcher Teil der Nachfrage die Rolle des Konjunkturmotors übernehmen könnte Die Investitionen werden kaum bedeutend zunehmen, zumal die Kreditvergabe der Banken immer noch zurückhaltend ist. Höchstens die de facto eher dem Konsum zuzurechnenden Investitionen im Wohnungsbau tragen zur Erholung bei. Die Exporte werden angesichts des starken Yens ebenfalls gebremst, und durch eine Import-zunahme könnten der Binnenkonjunktur weitere positive Impulse verlorengehen. Von entscheidender Bedeutung für die nächste Zukunft ist offenbar der Kurs des Yen, der sich nach Angebot und Nachfrage auf den Kapitalmärkten bildet. In den vergangenen Monaten haben sich private und institutioneile Investoren aus Japan sehr zurückgehalten, im Ausland zu investieren. Sollte sich die Zinsschere zwischen In-und Ausland auseinander-entwickeln, kann nicht ausgeschlossen werden, daß Japans Investoren das Ausland „wiederentdecken“ und der Yen sich etwas abschwächt. Dies ist jedoch eher eine Minderheitenmeinung. Bei weiter sich hinschleppenden „Framework-Verhandlungen zwischen Japan und den USA über die Öffnung der Gütermärkte wird eher ein weiterer Druck der Kapitalmärkte in Richtung Yen-Stärke erwartet.
Motor der Konjunktur kann also höchstens der Konsum sein. Obwohl der Lohnanstieg 1994 (enttäuschend) gering ist und sich die Konsumenten von den Hochpreisprodukten abwenden, hoffen viele auf eine Anregung durch die indirekten Effekte der Ausgabenprogramme der Regierung und insbesondere auf den Nachfrageeffekt einer temporären Einkommensteuersenkung. Es muß aber als fraglich gelten, ob diese Mechanismen wirklich greifen können, was nicht der Fall sein wird, wenn die bisher verhaltenen Investitionen nicht auf das konjukurpolitische „Strohfeuer“ reagieren -zumal im Gefolge der Einkommensteuersenkung über kurz oder lang eine entsprechende Erhöhung von indirekten Steuern droht. 2. Die mittelfristige Strukturanpassung: nicht vollendet, aber in vollem Gange Härte und Länge des Abschwungs, die sich wohl in einem schwerfälligen Aufschwung spiegeln werden, haben ihre Ursache darin, daß die japanische Volkswirtschaft einige mittelfristige Anpassungen zu leisten hat
Die wichtigste Hürde ist die Konsolidierung der Finanzwirtschaft. Die Überhitzung der Finanzmärkte in den Jahren der Finanzblase (Bubble) hat dazu geführt, daß viele Geschäfte getätigt wurden, die sich real nicht rechneten. Viele Firmen wurden dadurch mittlerweile zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Zwar steigt aufgrund der langen Rezession die Zahl der Insolvenzen noch immer an, doch ist der durchschnittliche Wert der dabei realisierten Verluste wieder zurückgegangen. Dies wird als Hinweis darauf angesehen, daß diejenigen Konkurse, die auf größere Spekulationsverluste durch die Bubble zurückgehen, inzwischen weitgehend abgewickelt sind.
Auch die Finanzinstitute, namentlich die Banken, haben das Platzen der Finanzblase noch nicht überwunden. Die „problematischen“, d. h. wohl abzuschreibenden Kredite dürften bei ca. fünf Prozent des gesamten Kreditvolumens bzw. fünf Prozent des Bruttosozialproduktes liegen Langfristig am nachhaltigsten könnte sich auswirken, daß aufgrund der Finanzskandale der Bubble-Jahre das fast irrationale Vertrauen in die Fähigkeit des Finanzministeriums geschwunden ist, mit jeder Belastung der Finanzmärkte fertigzuwerden. Im nachhinein ist deutlich geworden, daß das Ministerium Kurseinbrüche der Aktienmärkte im Gefolge der Weltbörsen in den Jahren 1987 und 1990 nur dadurch verhindert hat, daß mit Änderungen der sogenannten Marginpolitik Anpassungskosten auf die privaten Anleger abgewälzt wurden Auch die Politik zur Regulierung der neuartigen Derivat-märkte war Anfang der neunziger Jahre nicht sehr kompetent Noch immer versuchen Japans staatliche Stellen, die Finanzmärkte über eine nur partielle Deregulierung eigenen wirtschaftlichen Zielen dienbar zu piachen.
Ein zweites grundlegendes Anpassungserfordernis stellt die Umstrukturierung des Produktionsapparates dar. Der hohe Yen-Kurs zwingt zu einer konsequenten Auslagerung in Japan nicht mehr wettbewerbsfähiger Produktionssegmente. Wie bereits 1985/86, während der ersten Yen-Aufwertungskrise, ist auch seit 1993, der zweiten Yen-Krise, wieder die Angst vor einer industriellen Aushöhlung (Kudoka) zu beobachten. Diese Sichtweise konkretisiert sich etwa in der Befürchtung, daß aufgrund des Personalabbaus in manchen Branchen und einer aufgrund von Strukturproblemen nur verzögerten Aufnahme der Freigesetzten in neuen Branchen die Arbeitslosenquote in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auf vier bis fünf Prozent steigen könnte Im August 1994 wurde bereits die Dreiprozentmarke erreicht. Während so manche Prognose -wie bereits 1985/86 -überzogen sein könnte, dürfte eine gewisse Abkehr vom System der Lebensbeschäftigung in den größeren Unternehmen, ein Sichtbarwerden der verdeckten Arbeitslosigkeit durch den Abbau von Personalreserven und das Ausscheiden vieler technologieschwacher Mittelständler mit ihrer bisherigen Funktion als Arbeitsreserve doch zu einer strukturellen Erhöhung des Arbeitslosenstandes beitragen
Die Notwendigkeit, über Umstrukturierung ernsthaft nachzudenken, betrifft auch sehr grundlegende Managementansätze, die für viele Beobachter gerade den scheinbaren Kern eines „japanischen Managements“ ausmachen. Angesichts des Wegfalls unangemessen billiger Finanzierungsmöglichkeiten müssen die Unternehmen stärker auf ihre Rentabilität achten als früher, als aus verschiedenen Gründen vielfach das Wachs tumsziel im Vordergrund stand Auch das soge-nannte „Toyota-Produktionssystem“ ist ein bedrohter Eckpfeiler japanischen Managements (obwohl es in seiner konsequenten Umsetzung immer nur an wenigen Stellen zu finden war) Der Grundgedanke des Systems ist, daß jeder Fortschritt von der betrieblichen Ebene („shopfloor“) ausgeht, deren Arbeiter durch inkrementale Verbesserungen (kaizen) Verschwendung (muda) zu vermeiden suchen. Dieser Ansatz ist aus zwei Gründen gefährdet: Zum einen geht die fast schon absolute Verfügbarkeit über Zeit und Einsatzkraft der Arbeitnehmer zurück. Zum anderen erlauben es moderne kommunikations-und computergestützte Planungstechniken, „von oben“ her neue Produkte und Produktionsprozesse zu optimieren. Die relative Bedeutung des „unten“, d. h.des shopfloor, geht zurück 3. Die lange Sicht: das Wachstumspotential der Wirtschaft Über die mittelfristigen Anpassungsprozesse hinaus wird langfristig das Wachstumspotential angebotsseitig von der Entwicklung der wichtigsten Produktionsfaktoren begrenzt. Wir beschränken uns hier auf die Diskussion von Arbeit, Kapital(bildung), Umwelt/Ressourcen und gesamtwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung. Der vielleicht wichtigste Einzelfaktor ist die Alterung der Bevölkerung. Sie wird Arbeit und Kapitalbildung negativ tangieren. Das Maximum der Arbeitsbevölkerung (Alter 15 bis 64) wird bereits 1995 erreicht, die Bevölkerungsspitze im Jahre 2011. Bei der gleichzeitig sich abzeichnenden Verkürzung der Tages-und Jahresarbeitszeit entsteht ein Druck auf das Wachstumspotential, der aber wohl erst jenseits der Jahrtausendwende deutlicher spürbar wird. Die Alterung führt darüber hinaus zu einem Entsparen seitens der Rentnergeneration, also zu einem Rückgang der Sparquote. Gewöhnlich wird daraus auf einen Druck auf die Investitionsquote geschlossen Bei international mobilem Kapital und integrierten Märkten kann aber eine entstehende Spar-Investitions-Lücke leicht geschlossen werden. Wahrscheinlicher ist deshalb, daß der Rückgang der Sparquote zumindest langfristig einen spürbaren Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse bewirkt (vgl. dazu Abschnitt III. 1).
Der Faktor Umwelt/Ressourcen -in den siebziger Jahren im Mittelpunkt der japanischen Besorgnisse -kann zwar kurzfristige Krisen auslösen, dürfte aber die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten immer weniger treffen: Japan hat sich bereits stark zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelt, und selbst die Industrieprodukte werden immer kleiner und leichter. Der materielle Input und Emissionen sind nur in wenigen Fällen der kritische Engpaßfaktor.
Auf den Produktivitätsfortschritt wirken konfliktäre Kräfte ein. So wird eine weitere Deregulierung über die Wettbewerbseffekte die Produktivität fördern -gerade auch durch die Ausschaltung unterdurchschnittlich leistungsfähiger Unternehmen. Im bereits überdurchschnittlich operierenden Segment werden aber weitere Fortschritte schwieriger: Japans nachholende Modernisierung ist abgeschlossen; nun müssen eigene Innovationen auf Weltniveau folgen. Selbst insoweit ein verlangsamter Fortschritt auf dieser Basis möglich ist, müssen sich Wirtschaft, Ausbildungs-und Forschungssystem dieser neuen Aufgabenstellung erst noch anpassen Die Alterung der Bevölkerung erschwert diese Anpassung zusätzlich, so daß der Gesamtfortschritt trotz Deregulierung kaum über jenen ein bis zwei Prozent p. a.der Niedrigwachstumsphase (ab 1970) liegen wird.
Obwohl auf lange Sicht die Angebotsbedingungen entscheidend sind, wird in Japan häufig auf einen möglichen Nachfrageeffekt, die drohende Konsumsättigung, hingewiesen -ein im Grunde sehr altes Argument. Japans Verbraucher sind mit langfristigen Konsumgütern gut versorgt. Es ist zumindest fraglich, inwieweit die Arbeitszeitverkürzung markanten zusätzlichen Freizeitkonsum hervorrufen kann. Eine auch längerfristige Konsumbelebung könnte im Wohnungsbau erhofft werden, doch sind die Möglichkeiten beschränkt, solange keine Dezentralisierung aus den überfüllten Zentren heraus gelingt. Gerade in der gegenwärtigen Rezession findet eine Besinnung auf einen „einfachen“ Lebensstil statt -wobei die Extrapolation aber problematisch ist. Wahrscheinlich ist wiederum ein Angebotsfaktor langfristig entscheidend: neue Produkte. Seit einiger Zeit hat es welt-weit keine wirklich revolutionär neuen Produktlinien mehr gegeben. Solange kein wirklicher Durchbruch hinsichtlich neuer Produkttechnologien und -ideen erfolgt, könnte über Sättigungseffekte tatsächlich eine dämpfende Wirkung auf die Wirtschaft ausgehen.
III. Wandelt sich Japans Außenwirtschaft -ein Ende der JaPanik?
Neben Krisenerscheinungen können Wandlungstendenzen untersucht werden. Bezüglich der Außenwirtschaft sind dabei allerdings auch einige Mythen über den gegenwärtigen Zustand auszuräumen. 1. Japans Leistungsbilanzüberschüsse -ein Problem?
Von großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit werden die hohen Handelsbilanzüberschüsse bzw. die etwas geringeren Leistungsbilanzüberschüsse als Bedrohung empfunden. Die simple Frage, ob sich an diesen Salden etwas ändern könne, geht aber an zentralen ökonomischen Zusammenhängen vorbei und ist von daher unpräzise gestellt. Zunächst ist festzuhalten, daß bilaterale Defizite zu erwartendes Ergebnis einer internationalen Arbeitsteilung sind; höchstens Gesamtsalden einer Volkswirtschaft sind also ein Problem. Von daher sind die hohen Gesamtleistungsbilanzsalden Japans -zuletzt 131 Milliarden US-Dollar im Jahre 1993 -interpretationsbedürftig. Sind die Über-schüsse, wie oft unterstellt, durch Importschranken und besondere Exportförderungsmaßnahmen verursacht? Solche mikroökonomischen Faktoren können zwar die sektorale Struktur der Salden beeinflussen; der Gesamtsaldo wird aber von mß& roökonomischen Zusammenhängen geprägt. Bilanztechnisch entspricht dem Leistungsbilanz-saldo der Zahlungsbilanz, die insgesamt ja immer ausgeglichen ist, ein entsprechender Saldo der Kapitalverkehrsbilanz sowie ein entsprechender Unterschied zwischen Sparen und Investieren gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Netto-kreditaufnahme des Staates. Entscheidend für die Saldenbildung sind demnach die relativ flexiblen und rasch reagierenden Kapital-und Finanzmärkte. Zudem kann der (reale) Wechselkurs Saldenänderungen herbeiführen: Eine Aufwertung wirkt zumindest auf mittlere Sicht in Richtung Passivierung der Leistungsbilanz. Auch hier dürfte die Dynamik aber von den Kapitalmärkten ausgehen. Umgekehrt wäre kaum erklärbar, warum Japans Leistungsbilanzüberschüsse gerade in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre Rekordhöhen erreichten (mit einem kleinen Rückgang um 1990), als -zumindest von der Tendenz her -Japan ‘seine Gütermärkte liberalisierte und deregulierte. Etwas verkürzt interpretiert ist Japans Leistungsbilanzüberschuß Resultat des Überhangs des Sparens gegenüber dem Investieren Japans hohe private Sparneigung ist bekannt. In den achtziger Jahren trug zudem die fiskalische Konsolidierungspolitik des Staates zum „Sparen“ als gesamtwirtschaftlichem Aggregat bei. Der 1dichte Rückgang der Leistungsbilanzüberschüsse Ende der achtziger Jahre erklärt sich vornehmlich durch die hohen Investitionen während der Bubble-Jahre, d. h. durch eine Verringerung des Sparüberhangs; die neuerliche Ausweitung der Überschüsse ist auf den rapiden Rückgang der Investitionen in der gegenwärtigen Rezession zurückzuführen.
Was bedeutet das für die Zukunft? Die Investitionen werden sich aus ihrem rezessiven Tief herausbewegen, der Staat wird über längere Zeit keine forcierte Defizitpolitik betreiben. Entscheidende Bedeutung kommt deshalb dem privaten Sparen zu. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung ist mit einem leichten Rückgang der Sparquote und der Leistungsbilanzüberschüsse zu rechnen, nicht jedoch mit einer Umkehr. Ein japanisches Defizit wäre aus globaler Sicht auch nicht wünschenswert, da der entsprechende Kapitalimportüberschuß knappe Mittel aus der Welt abziehen und in ein ohnehin (relativ) reichlich mit diesem Faktor ausgestattetes Land transferieren würde. 2. Japans Marktzutrittsschranken -Realität oder Fiktion?
Zölle und nicht-tarifäre Handelsschranken (Importquoten etc.) spielen seit längerer Zeit im Japangeschäft praktisch keine Rolle mehr. Erinnerungen daran, daß ihnen etwa beim Aufbau der Computerindustrie tatsächlich eine entscheidende Rolle zukam, können nicht Anlaß zur Vermutung geben, ähnliches wäre immer noch möglich. Zumindest auswärtiger Druck würde dies heute verhindern. Die entscheidenden Argumente der Japan-Kritik sind deshalb andere, nämlich -die hohen direkten Markteintrittskosten (Immobilienpreise, Gehälter etc.); -die zahlreichen Regulierungen auf Branchen-ebene, die einen Markteintritt be-oder sogar verhindern; -die große Bedeutung langfristig angelegter Kooperation im japanischen Geschäftsleben, die den Markteintritt von Außenseitern ebenfalls erschwert.
Diese Argumente haben einiges Gewicht. Jedoch ist die Liste der notwendigen Relativierungen lang. Zunächst einmal gelten die Argumente gar nicht so sehr für Ausländer, als vielmehr für alle Außenseiter bzw. Neueinsteiger. Daß viele westliche Firmen -freilich keineswegs alle -oft schlechter abschneiden als Japans dynamische Außenseiter-unternehmen, hat von daher auch etwas mit hausgemachten Problemen bzw. Schwächen zu tun Inzwischen kommt den Auslandsfirmen übrigens eine wichtige Hilfe zugute: Überdurchschnittlich leistungsfähige Großunternehmen aus Japan sehen ihre Expansionsmöglichkeiten im nur noch langsam wachsenden Binnenmarkt als beschränkt an. Als ein Ausweg bietet sich der Eintritt in die bisher oft aus sozialpolitischen Erwägungen geschützten Marktsegmente an, etwa durch die Ausgliederung entrepreneurischer Tochterfirmen. Dazu fordert der mächtige Unternehmerverband Keidanren seit einiger Zeit eine entsprechende Deregulierung und Liberalisierung Andere Faktoren kommen hinzu, die auf einen weiteren Abbau der Schranken hinwirken: Mit der Rezession sind die direkten Eintrittskosten erheblich zurückgegangen. Die Immobilienpreise sind je nach Standort von ihrem Höchststand um 30 bis 50 Prozent gesunken. Die diffizilen Personalfragen lassen sich durch ein geschicktes Management zumindest zum Teil überwinden Die Allgegenwart kooperativer Bindungen unterliegt zumindest insoweit einem Wandel, als starre vertikale und horizontale Verflechtungen zunehmend durch flexiblere und damit offenere Netzwerke ergänzt bzw. ersetzt werden (vgl. Abschnitt IV). Das Aufkommen internationaler strategischer Allianzen ist nur ein Indiz in dieser Richtung. 3. Regionalismus in Pazifisch-Asien -nur ein Trugbild?
Vielfach wird unterstellt, Japan richte sich in seinen Außenwirtschaftsbeziehungen verstärkt auf den pazifisch-asiatischen Raum ein; das Pazifische Becken könne aufgrund seiner hohen wirtschaftlichen Dynamik zum entscheidenden politisch-wirtschaftlichen Gravitationszentrum der kommenden Jahrzehnte werden. Tatsächlich ist die Zunahme der japanischen Außenwirtschaftsbeziehungen mit dieser Region eindrucksvoll. Dennoch sind entsprechende Informationen mit einiger Vorsicht aufzunehmen -Im Vergleich zur Gesamtdynamik der einzelnen Länder ist der Zuwachs Japans mfroregionaler Aktivitäten nicht besonders ausgeprägt. -Die Preise in der Region sind kaum interdependent -Die vielfältigen Produktionsverflechtungen sind erst seit wenigen Jahren markant. -Eine „ostasiatische EU“ als Wirtschaftsblock ist aufgrund der Heterogenität der Länder nicht möglich. -Regionale Kooperation als Leitbild wird oft mit verdeckten Interessen vertreten, welche diese Kooperation durchaus sprengen könnten.
Insgesamt basieren Regionalisierung und Regionalismus in Ostasien nicht auf ehernen historischen Gesetzen; sie sind nicht notwendigerweise Japans Zukunft: Das „Spiel“ ist offen. 4. Japan und der Westen: Zusammenprall der Zivilisationen?
Ein zweites, noch weiter greifendes Argument um grundsätzlich weltpolitische bzw. weltwirtschaftspolitische Konstellationen hat 1993/94 Aufsehen erregt: Samuel Huntingtons These vom Zusammenprall der Zivilisationen nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes der Nachkriegszeit. Sie bietet Ersatz bei der gedanklichen Strukturierung der turbulenten Welt. Im Zentrum der zukünftigen Konflike stehen demnach vor allem die Gegensätze von Zivilisationen, die entlang ihrer „Frontlinien“ besonders deutlich hervortreten. Auch die Wirtschaftsbeziehungen müßten sich zwischen kulturell bzw. zivilisatorisch verwandten Regionen . besonders eng darstellen. Huntingtons Hauptthema ist zwar das Spannungsverhältnis zwischen dem Islam und der abendländischen Zivilisation. Aber die These ist auch für Japan bzw. Ostasien und sein Verhältnis zum Westen bedenkenswert, denn für viele Beobachter sind dabei in der Tat mehr als wirtschaftliche und politische Interessen-gegensätze) involviert: nämlich „zivilisatorische“ Grundbefindlichkeiten.
Wenn man die Huntington-These jedoch konsequent anzuwenden versucht, stellen sich bald Schwierigkeiten ein. Huntingtons Aufteilung von fünf bis sechs namhaften Weltzivilisationen, bei denen er Japan und die „konfuzianischen Länder“ unterscheidet, vermag kaum zu überzeugen. Sowohl Japan als auch der Rest Ost-bzw. Südostasiens sind kulturell mehrdimensional. Es gibt neben starken westlichen Einflüssen selbstverständlich auch konfuzianische Traditionen, die jedoch von Land zu Land unterschiedlich und in vielfältige religiöse Zusammenhänge eingebunden sind. In Japan etwa wurde eine bestimmte konfuzianische Schule von Staats wegen gefördert (die besonders die Unterordnung unter Autoritäten lehrte), gleichzeitig blieben jedoch Elemente einer Volkskultur erhalten. Dazu wirkten der von außen kommende und in bestimmter Weise rezipierte Buddhismus sowie der einheimische Shintoismus, dessen Fortbestehen im Schatten der Modernisierung aber auch sehr komplex ist. Wenn nun Japan mit dieser eigentümlichen Mischung aus Einflüssen der Status einer Zivilisation eingeräumt wird -wohl mit der durchaus nicht unbestreitbaren These, Japan fühle sich keinem höheren Zivilisationskreis zugehörig so müßte dies auch für andere Länder gelten, etwa für das stolze Korea.
Zivilisatorische Frontlinien lassen sich in und um Pazifisch-Asien also nicht eindeutig ziehen, womit die Kraft der These Huntingtons gebrochen scheint. Seine Überlegungen umfassen jedoch noch eine bedenkenswerte zweite Ebene: Zum Teil rühre die Bedeutung der Zivilisation für die Politik der Zukunft nicht so sehr vom objektiven Vorliegen zivilisatorischer Umstände her, sondern von ihrer bewußtseinsmäßigen Wahrnehmung. Wenn ein Land sich etwa politischer Unterstützung versichern wolle, so könne es heute nicht mehr auf eine bestimmte politisch-ideologische Blockzugehörigkeit zählen. Zumindest eine scheinbare zivilisatorische Zugehörigkeit verspricht dann Hilfe. Auch umgekehrt könnte dieses Prinzip wirksam werden. Wo sich zivilisatorische Unterschiede zumindest scheinbar abzeichnen, könnten sie von Interessenvertretern aufgegriffen werden, die sich damit einen Schutzraum gegenüber einer zu starken Öffnung verschaffen wollen.
Auf Japan angewandt werfen diese Überlegungen ein bezeichnendes Licht auf die Frage, warum von vielen Amerikanern ein japanisches Engagement in den USA so vehement abgelehnt wird, während entsprechende europäische Interessen sehr viel konzilianter hingenommen werden. Vertreter der durch japanische Importe oder Investitionen bedrohten Wirtschaftssegmente sehen eine Chance, diese Aktivitäten durch den Hinweis auf ihr „Anderssein“ herabzusetzen und damit Konkurrenz zum Teil abzuwehren. Auch in Japan gibt es Interessen, die durch Hinweis auf die „Andersartigkeit“ des Westens Vorteile erzielen wollen. Die Debatte um die Reisimporte liefert dafür das sinnfälligste Beispiel.
Dieser Fragenkreis darf offenbar nicht der Demagogie überlassen werden. Der Wirtschaftswissenschaftler hat die Möglichkeit zu fragen, inwieweit Japans Wirtschaftssystem tatsächlich so einzigartig ist und ob sich ein Wandel abzeichnet.
IV. Japans Wirtschaftssystem und sein möglicher Wandel
1. Die gängigen Theorien und ihre Hilflosigkeit Sowohl die universalistischen Ansätze, die Japan vor dem Hintergrund einer allgemeinen System-typologie einzuordnen versuchen, als auch die fallspezifischen Ansätze, die unter weitgehender Ausblendung von Vergleichsfällen Japan (und gegebenenfalls die anderen Ostasien-„Wunder“ ökonomien) zu charakterisieren bemüht sind, werden der Realität nur unzureichend gerecht. Die meisten fallspezifischen Theorien konzentrieren sich auf das Verhältnis von Politik, Bürokratie und Management der Großunternehmen. Es gibt inzwischen eine schier unüberschaubare Vielzahl von Ansätzen, die jeweils ein spezifisches „Bedeutungsgemisch“ der genannten Akteurklassen unterstellen Abgesehen von der theoretischen Frage, ob der Blick auf ein Land tatsächlich das Wesentliche hervortreten läßt, sind die vermuteten Zusammenhänge so subtil, daß empirisch abgesicherte Aussagen pro oder contra kaum beizubringen sind. 2. Generalisierte Austauschbeziehungen: der Kern des japanischen Wirtschaftssystems?
Es gibt einen in letzter Zeit zunehmend aufgenommenen Ansatz, der eine Brücke zwischen universalistischen Ansprüchen und fallweisen Interpretationsversuchen schlägt. Danach werden -nicht nur auf Japan bezogen -zwei grundsätzliche Mechanismen des Austausches zwischen Menschen unterschieden Im ausgeglichenen Austausch werden kurzfristig bestimmte Mengen von Gütern getauscht, womit die Beziehung dann endet. Oft ist auf der einen Seite Geld involviert. Die Leistungen sind im Prinzip meßbar; von daher ist die Einhaltung des Tauschvertrages auch relativ leicht kontrollierbar. Eine Alternative, gerade auch für Leistungen, die nicht gut meßbar sind, bietet der generalisierte Austausch. Hier herrscht eine langfristige Verbindung, in der in bestimmten Abständen mehr oder weniger schwer faßbare Leistungen vorgenommen werden, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind.
Japan, so die hier relevante Anwendung, ist durch ein hohes Ausmaß solch generalisierter Austausch-beziehungen gekennzeichnet. Man findet sie im Verhältnis von Staat und Wirtschaft, die sich langfristig gegenseitig stützen, man kann sie aufspüren im Verhältnis von Unternehmen und Mitarbeitern und sie sind auch charakteristisch für die engen Bindungen innerhalb des Zuliefer-bzw. Subkontraktwesens. Der Gedanke des generalisierten Austausches stellt also eine Klammer für zumindest drei Phänomene dar, die immer wieder als typisch für Japan angeführt werden. Seine universalistische Formulierung läßt aber Fragen zu, die über die Ad-hoc-Bestätigung hinausgehen. Warum ist, so die wichtigste Frage, der Ansatz so häufig in Japan, während er in anderen Ländern zwar auch vorkommt, aber doch eine zumeist geringere Rolle zu spielen scheint? Der generalisierte Austausch bietet in vielen Fällen Vorteile -etwa bei einer langfristigen industriellen Zusammenarbeit von Firmen mit verschiedenen Kompetenzen -, ist aufgrund seiner Komplexität aber an verschiedene Voraussetzungen geknüpft: So müssen die Beteiligten mangels externer Standards selbst einschätzen können, welche Leistungen gerade angemessen sind, und die Erbringung von Leistungen -und vor allem die von Gegenleistungen -muß erzwungen werden können, damit kein kurzfristiger Profiteur aus dem oft nur impliziten langfristigen Vertrag ausschert. Beide Grundbedingungen sind in Japan weitgehend erfüllt. Schon Japans Jugend lernt in Familie und Schule das subtile Miteinander in der Gemeinschaft. Zwei Traditionen wirken dabei zusammen: zum einen die eher horizontal angelegte Kultur des „Teamgeistes“, wie sie u. a. für die kollektive Bewirtschaftung der Naßfelder im Dorf kennzeichnend war, und zum anderen die eher vertikale Lehnsherr-Vasall-Denkstruktur, wie sie vom staatlich geförderten Konfuzianismus verbreitet wurde. Wo der Kulturfundus solche Anlagen bereitstellt, konnte sich der generalisierte Austausch auch in modernen Wirtschaftsstrukturen einbürgern. Umgekehrt wird von daher klar, daß sich ein Land wie die USA mit einer sehr heterogenen Bevölkerung vornehmlich auf den einfacher zu handhabenden ausgeglichenen Austausch einließ. Auch die zweite Grundbedingung wird in Japan erfüllt: Die Vielfalt der Bindungen, gerade auch über die Wirtschaft hinaus in die Gesellschaft hinein, stellt sicher, daß die impliziten Kontrakte des generalisierten Austauschs eingehalten werden
Das Vorherrschen des generalisierten Austausches kann im übrigen die häufig erwähnte An passungsflexibilität der japanischen Wirtschaft erklären Wirtschaftliches Handeln orientiert sich nicht an festgefügten Prinzipien und Formen, die für das Abwickeln ausgeglichener Austausche wichtig sind, sondern ergibt sich im informellen, flexiblen Zusammenwirken der Teammitglieder des langfristigen Austauschs. 3. Wandelt sich das Austauschsystem?
Zeichnet sich ein Wandel ab? Genauer: Zeichnet sich eine Abkehr Japans vom Vorherrschen generalisierter Austauschbeziehungen ab, verschieben sich für das Land also Nutzen und Kosten dieses Beziehungstyps? Zumindest zwei Kräfte kommen zur Wirkung, die aber zum Teil gegeneinander gerichtet sind. Zum einen nehmen die Kontrollmöglichkeiten der Kontrakteinhaltung durch Internationalisierung, Auffächerung sozialer Lebensräume, Möglichkeit von Berufswechseln auch während der Karriere u. ä. ab. Ein zweiter Trend dürfte freilich darin bestehen, daß die Vorteile generalisierter, vielfach vernetzter Beziehungen zunehmen. Der Hintergrund ist die technische Entwicklung. Die Vielzahl der über die Grenzen herkömmlicher Industrien hinaus einsetzbaren Technologien und die immer weitere Aufgliederung technischer Kompetenz hat zur Folge, daß einzelne Akteure (insbesondere Firmen) immer weniger in der Lage sind, das Gesamtfeld der für sie relevanten Technologien kompetent zu vertreten. Sie sind auf Netzwerkbildung angewiesen, die offenbar denen leichter fällt, die das Agieren in solchen längerfristigen, wenn auch nicht starren Beziehungsformen gewohnt sind.
Fazit: Während Japans absolute Vorteile bei der Nutzung generalisierter Austauschbeziehungen zurückgehen, sich insofern also ein Systemwandel hin zu einer Konvergenz mit dem Westen abzeichnet, gewinnt gerade dieser Beziehungstypus auf weltwirtschaftlicher Ebene immer mehr an Bedeutung. Japans relative Vorteile bei der Nutzung dieses Organisationsmodus müssen also nicht zurückgehen, sie könnten sogar noch zunehmen. Von daher wäre es verfehlt, von einem Systemwandel auf ein Ende der Leistungsfähigkeit der japanischen Wirtschaft zu schließen. Gerade die gegenwärtige Krise, die von den Betroffenen als Herausforderung zur Anpassung verstanden wird, bestätigt diese Einsicht. Japans Wirtschaft ist keineswegs am Ende.