Mitte April 1994 gerieten deutsche Staatsbürger im ruandischen Bürgerkrieg in unmittelbare Lebensgefahr. Elf Mitarbeiter der Deutschen Welle waren in einer Relaisstation in der Nähe von Kigali eingeschlossen. Die Bundesregierung untersuchte unverzüglich alle Möglichkeiten zur Rettung der Betroffenen. Dazu gehörten auch Überlegungen zum Einsatz von Fallschirmjägern der Bundeswehr. Die Einsatzplanung konnte abgebrochen werden, als bekannt wurde, daß belgische Fallschirmjäger die Deutschen bereits evakuiert hatten Der Vorfall hat jedoch grundsätzliche Bedeutung. Er zeigt, daß der Einsatz deutscher Streitkräfte nicht nur dann erforderlich ist und kalkuliert werden muß, wenn das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder das eines NATO-Verbündeten unmittelbar angegriffen wird.
Zu den großen Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Kriegs zählt die Durchsetzung grundsätzlicher Menschenrechte wie z. B. die Absicherung der Rechte von ethnischen Minderheiten und Volksgruppen Die Rechtsbrecher bleiben hier regelmäßig unterhalb der Schwelle des bewaffneten Angriffs („armed attack“, Art. 51 UN-Charta) und haben zumeist weder individuelle noch kollektive Maßnahmen der Selbstverteidigung zu befürchten.
Auch wenn das Völkerrecht die Einhaltung grundlegender Menschen-und Gruppenrechte zum Gegenstand internationaler Sorge macht, sind auswärtige Staaten, die die Interessen bedrohter Menschen, Minderheiten und Volksgruppen verfolgen, zunächst auf die unverbindlichen und deshalb meist fruchtlosen Methoden der friedlichen Streiterledigung (Kap. VI UN-Charta) verwiesen.
I.
Das klassische Völkerrecht der Epoche bis zum Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen verfügte über ausreichende Mittel, die unmenschliche Behandlung der Bevölkerung fremder Staaten zu unterbinden. Das Recht zur humanitären Intervention -auch mit militärischer Gewalt -war völkergewohnheitsrechtlich anerkannt, wenn ein Staat nicht fähig oder willens war, Leben und Freiheit der Bewohner seines Territoriums zu schützen
Bereits Hugo Grotius legte sich die Frage vor, ob ein Krieg zur Verteidigung fremder Untertanen rechtmäßig ist -„an justa sit belli causa pro subditis alienis“. Nach eingehender Auseinandersetzung mit dem aus dem Altertum überlieferten Fallmaterial gelangte er zu der Ansicht, daß ich einen anderen mit Krieg überziehen kann, auch wenn er von meinem Volke getrennt ist, aber das seinige mißhandelt: „Sic Seneca estimat bello a me peti posse, qui a mea gente sepositus suam exagitat." Auch der Mißbrauch der humanitären Intervention zur Durchsetzung eigener Interessen der Großmächte ist Grotius nicht verborgen geblieben: „Scimus quidem ex veteribus novisque historiis, alieni cupiditatem hos sibi quarere obtentus; sed non ideo statim jus esse desinit, siquid a malis usurpatur. Navigant et piratae; ferro utuntur et latrones.“ Allein die Güterabwägung zwischen dem Schutz Unschuldiger einerseits und der Gefahr des Mißbrauches einer humanitären Intervention andererseits wird heute -im Zeitalter des universellen Gewaltanwendungsverbots -etwas differenzierter betrachtet. Aus heutiger Sicht bleibt aber bedeutsam, daß wichtige Kapitel der Kolonialgeschichte unter der Überschrift „humanitäre Intervention“ geschrieben wurden Das gilt vor allem für die Interventionen im Osmanischen Reich. Sie beruhten auf der Überlegung „daß uncivilisierten Völkern gegenüber seitens civilisierter Staaten nicht derselbe Maßstab angelegt werden kann, wie bei letzteren untereinander: das Völkerrecht beruht auf Gegenseitigkeit, und diese wird von rohen oder fanatischen Völkern nicht beobachtet, sie bieten nicht die Gewähr fester staatlicher Ordnung, weshalb die Berührung civilisierter Staaten mit ihnen, wie Frankreich in Algerien, Rußland in Mittelasien, England in Indien, der Vereinigten Staaten in ihren Beziehungen zu den Indianern zu fortwährenden Interventionen führen“.
Weder Völkerbundsatzüng (1919) noch Kellogg-Pakt (1928) berührten die humanitäre Intervention als eine Maßnahme der Selbsthilfe, die unter der Schwelle des Krieges blieb („measures short of war“). Immerhin wurden schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen die mit der Akzeptanz einseitiger humanitärer Interventionen einhergehenden Gefahren für die zwischenstaatlichen Beziehungen klar erkannt Humanitäre Anliegen konnten leicht als Vorwand dienen, um mit anderer Zielsetzung in das innerstaatliehe Recht fremder Staaten gewaltsam einzugreifen
Eine neue Einschätzung der Anwendung grenzüberschreitender militärischer Gewalt zur Durchsetzung von Recht und Ordnung brachte Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, der den Staaten in den internationalen Beziehungen jede Androhung oder Anwendung von (militärischer) Gewalt untersagt -also auch die sog. „measures short of war“ (gewaltsame Repressalien nach Friedensrecht) zur Aufrechterhaltung der Völkerrechtsordnung. Gewalt darf nicht „gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtet oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar“ sein. Immerhin erklärt Art. 1 Ziff. 3 es zu einem der in Art. 2 Ziff. 4 angesprochenen möglichen Ziele der Vereinten Nationen, die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“. Insoweit stellt sich die Frage, ob die humanitäre Intervention mit Waffengewalt, die dann noch näher zu definieren und abzugrenzen wäre, eine mögliche Ausnahme vom ansonsten universell geltenden Gewaltanwendungsverbot sein kann.
Die humanitäre Intervention zählte in den vergangenen Jahren zu den rechtlich umstrittensten Fragen des Gewaltanwendungsverbotes Zieht man das Kriterium der Staatsangehörigkeit der durch humanitäre Interventionen geschützten Personen heran, lassen sich drei Fallgruppen bilden 1. Der intervenierende Staat schützt eigene Staatsangehörige im Ausland. 2. Der intervenierende Staat schützt Fremde in deren eigenem Land. 3. Der intervenierende Staat schützt Fremde in einem dritten Staat.
Der Schutz Fremder in einem dritten Staat erscheint regelmäßig als Annex des Schutzes eigener Staatsangehöriger im Ausland. Bei Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus (z. B. Schiffs-oder Flugzeugentführungen), aber auch in Bürgerkriegssituationen (Grenada) werden im auswärtigen Bereich eigene wie fremde Staatsangehörige betroffen. Im Vordergrund steht aber regelmäßig der Aspekt des Schutzes eigener Staatsangehöriger, denn es ist fast ausschließlich die Betroffenheit der eigenen Staatsangehörigen, die den handelnden Staat zur Intervention veranlaßt. Deshalb wird die humanitäre Intervention heute im allgemeinen unter zwei rechtlichen Gesichtspunkten behandelt -Der Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausland. -Der Schutz Fremder in deren eigenem Land, die humanitäre Intervention im engeren und eigentlichen Sinn des Wortes.
Bis in die jüngste Zeit hat sich die Staatenpraxis darauf berufen, daß das universelle Gewaltanwendungsverbot (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) die Anwendung auch militärischer Gewalt zur Rettung eigener Staatsangehöriger nicht ausschließe, wenn deren Leben, Gesundheit oder Freiheit in einem fremden Staat, der den Schutz nicht wahrnehmen kann oder will, gefährdet sind. Zu den bedeutsameren Vorfällen zählen: -das Vorgehen der USA im Libanon 1958 -Belgiens Eingreifen im Kongo 1960 -die Maßnahmen Belgiens und der USA in der Kongo-Krise 1964, insbesondere die belgisch-amerikanische Rettungsaktion von Stanleyville -die Aktion der USA in der Dominikanischen Republik 1965 -Israels Flugzeugbefreiung in Entebbe 1976; -die versuchte Befreiungsaktion der USA im Iran 1980; -die vorübergehende Besetzung der Insel Grenada durch die USA und karibische Staaten 1983. -Im September 1991 und im Januar 1993 eskalierten erneut die inneren Unruhen in Zaire.
Nachdem Ende Januar 1993 der französische Botschafter in Kinshasa von meuternden Streitkräften erschossen wurde, waren belgische und französische Soldaten bei der Evakuierung von 300 Ausländern -darunter 60 Deutschen -
behilflich. -Zur Zeit laufen noch humanitäre Aktionen in Ruanda.
Die Befreiungsaktion der Bundesrepublik Deutschland in Somalia (Mogadischu) 1977 war keine Intervention zum Schutz eigener Staatsangehöriger, weil sie von der ausdrücklichen Einwilligung des Territorialstaates gedeckt war.
Die Völkerrechtslehre beurteilt die Maßnahmen zum Schutz eigener Staatsangehöriger auf fremdem Territorium sehr unterschiedlich: 1. Zur Verteidigung der Rettungsaktionen wird vorgetragen, daß diese, wenn sie sich im Rahmen des unbedingt Erforderlichen halten, regelmäßig in Ausmaß und Umfang nur unter relativ geringfügiger Gewaltanwendung durchgeführt werden und die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit des betroffenen Staates zumindest nicht nachhaltig beeinträchtigen; sie sollen deshalb auch nicht gegen Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta verstoßen 2. Andere Autoren erkennen eine Pflichtenkollision, die sich für die Mitglieder der Vereinten Nationen aus dem Umstand ergibt, daß die Charta gleichermaßen den Schutz der Menschenrechte (Art. 1 Ziff. 3) fordert und die Anwendung von Gewalt als einzig taugliches Mittel verbietet (Art. 2 Ziff. 4). Die Pflichtenkollision wird durch Güter-abwägung entschieden und gestattet dem Heimatstaat auch gewaltsame Schutzaktionen, die sich aber an das unbedingt Erforderliche halten müssen 3. Schließlich wird der Standpunkt vertreten, der Angriff auf Freiheit, Leben und Gesundheit eigener Staatsangehöriger im Ausland sei ein Angriff auf Teile des Staatsvolkes und damit auf das wichtigste Element des Staates selbst Die erforderlichen Schutzmaßnahmen seien deshalb durch Art. 51 UN-Charta oder durch einen Satz des Völkergewohnheitsrechts gerechtfertigt. 4. Im Gegensatz zu den geschilderten Meinungen vertritt die derzeit in Deutschland wohl herrschende Auffassung den Standpunkt, daß der gewaltsame Schutz eigener Staatsangehöriger gegen den Willen des Aufenthaltsstaates nicht rechtmäßig ist. Sie verweist darauf, . daß Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta jede -auch relativ geringfügige -Gewaltanwendung untersagt und auch nicht durch die in Art. 1 Ziff. 3 UN-Charta gebotene Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten eingeschränkt wird. Andererseits sei das Gewalt-verbot gebietsbezogen. Ein „Angriff“ auf Fremde auf eigenem Staatsgebiet kann folglich auch nicht das Selbstverteidigungsrecht des Heimatstaates auslösen.
Der Internationale Gerichtshof hat sich zu den angesprochenen Fragen noch nicht rechtsverbindlich geäußert. Während der Teheraner Geiselaffäre und dem gescheiterten Rettungsunternehmen der Vereinigten Staaten war ein Verfahren über den amerikanisch-iranischen Streitgegenstand beim Internationalen Gerichtshof (IGH) anhängig und der Gerichtshof hätte Gelegenheit gehabt, sich zum gewaltsamen Schutz eigener Staatsangehöriger rechtlich zu äußern; lediglich in einem „obiter dictum“ seiner Entscheidung brachte der IGH einerseits „understanding“ und andererseits „concern“ über die Geiselbefreiungsaktion zum Ausdruck
Das Bild bei der völkerrechtlichen Einschätzung der humanitären Intervention im engeren und eigentlichen Sinne (Schutz fremder Bürger, Minderheiten oder Volksgruppen vor schweren Verletzungen der . Menschen-oder Gruppenrechte) entspricht weitgehend dem Ergebnis beim Schutz eigener Staatsangehöriger im Ausländ
Ein nicht unbeachtlicher Teil der Völkerrechtslehre hält die gewaltsame humanitäre Intervention unter engen Voraussetzungen für rechtmäßig. Das gilt vor allem für die sich mehr an den zwischenstaatlichen Gegebenheiten -nämlich mangelnde Funktionsfähigkeit kollektiver Mechanismen zur Sicherung der Menschenrechte -orientierende amerikanische Völkerrechtswissenschaft. Es wird vorgetragen, daß die Anwendung bewaffneter Gewalt zur Verhinderung oder Beseitigung massiver Menschenrechtsverletzungen in einem fremden Staat in Einklang stehe mit den fundamentalsten zwingenden Normen der Charta und sich weder gegen die territoriale Unversehrtheit noch gegen die politische Unabhängigkeit der Verletzer-Staaten richte. Blende man bei der Auslegung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta die Funktionsfähigkeit kollektiver Mechanismen zur Sicherung der Menschenrechte einfach aus, komme dies einer „doktrinären Manipulation“ der tatsächlich bestehenden internationalen Lage gleich Die wohl herrschende Meinung in der deutschen Völkerrechtsliteratur sieht demgegenüber die humanitäre Intervention wiederum nicht in Einklang mit dem geltenden Völkerrecht. Sie rückt die uneingeschränkte Geltung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta in den Mittelpunkt der Argumentation: Außer bei der Selbstverteidigung i. S.des Art. 51 UN-Charta muß die Gewaltanwendung als Mittel der internationalen Politik „schlechthin der Disposition der einzelnen Staaten entzogen“ bleiben.
Bei der Bewertung der aktuellen Staatenpraxis darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Anwendung bewaffneter Gewalt zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen in einem fremden Staat vom zuständigen UN-Organ, dem Sicherheitsrat, nie verurteilt wurde; es sind auch bislang keine Zwangsmaßnahmen gegen die gewaltsam intervenierenden Staaten verhängt worden. In der Staatenpraxis ist die Tendenz unverkennbar, die Schutzmaßnahmen zwar nicht generell zu rechtfertigen, aber doch im Einzelfall in Anbetracht der besonderen Notlage der Betroffenen, die andere wirksame Hilfe nicht erwarten läßt, zu tolerieren Eine andere Haltung wäre wegen der zunehmenden Bedeutung des völkerrechtlichen Schutzes der Menschen-und Gruppen-rechte politisch gar nicht vorstellbar. Nach dem Ende des Kalten Krieges stellt sich die Frage, wie der Schutz der Menschen-und Gruppenrechte weiterentwickelt werden kann, um den alten und neuen Herausforderungen weltweit gerecht zu werden.
Berücksichtigt man die weltweite Perspektive der Problematik, erscheint es nicht mehr geboten, zwischen der Anwendung bewaffneter Gewalt zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen in einem fremden Staat einerseits und dem Schutz eigener Staatsangehöriger mit Waffengewalt im Ausland andererseits zu differenzieren. Der einzige die Differenzierung stützende rechtliche Gesichtspunkt, die Privilegierung des humanitären Schutzes eigener Staatsangehöriger im Ausland unter dem Aspekt des Angriffs auf das Staatsvolk als konstitutives Merkmal der Staatlichkeit, hat sich als unbeachtlich erwiesen, da Art. 51 UN-Charta den „bewaffneten Angriff“ („armed attack“) auf den Staat in seiner territorialen Verankerung zur Voraussetzung hat. Die besondere „Notlage“ des Staates, dessen Bürger in einem fremden Staat massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, ist lediglich ein politischer Gesichtspunkt, der sich nicht nur mit staatsangehörigkeitsrechtlichen, sondern auch mit ethnischen, nationalen oder religiösen Bindungen begründen läßt Entscheidend für die künftige Rechtsentwicklung sollte sein, daß der Schutz eigener Staatsangehöriger wie auch der fremder Personen im Ausland primär humanitär motiviert ist und nur die zunehmende Bedeutung des völkerrechtlichen Schutzes universeller Menschenrechte die Intervention rechtfertigen kann.
Die zweite, wichtigere Frage ist, ob der völkerrechtlich gebotene Schutz der Menschen-, Minderheiten-und Volksgruppenrechte künftig durch ein humanitäres Interventionsrecht einzelner Staaten oder durch den weiteren Ausbau der Funktionsfähigkeit kollektiver Mechanismen zur Sicherung der Menschen-und Gruppenrechte gewährleistet werden soll.
Schon gegenwärtig bietet die Tatsache, daß die Staatengemeinschaft die Anwendung auch bewaffneter Gewalt zur Rettung von Menschenleben im Ausland politisch toleriert, zumindest aber rechtlich nicht unterbindet, einen begrenzten faktischen Schutz der Menschenrechte vor besonders zynischen Angriffen. Aus dem „politischen Tolerieren“ könnte sich die für die Entstehung eines entsprechenden Satzes des Völkergewohnheitsrechts notwendige „opinio iuris“ bilden Aber auch dann bleiben grundsätzliche Bedenken bestehen: Soll das universelle Gewaltanwendungsverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta nicht seine Bedeutung für die zwischenstaatlichen Beziehungen verlieren, muß -von der eng begrenzten Möglichkeit des Art. 51 UN-Charta abgesehen -die Anwendung militärischer Gewalt als Mittel der internationalen Politik schlechthin der Entscheidungsbefugnis einzelner Staaten, die im Konfliktfall Richter in eigener Sache wären, entzogen bleiben. Der Vorzug ist damit eindeutig dem weiteren Ausbau der Funktionsfähigkeit kollektiver Mechanismen zur Sicherung der Menschenrechte einzuräumen.
II.
Die Charta der Vereinten Nationen hat die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu einem ihrer wichtigsten Ziele erklärt (Art. 1 Ziff. 3) und alle Mitgliedstaaten verpflichtet, „gemeinsam und jeder für sich“ (Art. 56) dieses Grundziel anzustreben. Damit ist der Schutz der Menschenrechte der rein nationalen Verfügungsgewalt entzogen und zu einer internationalen Aufgabe gemacht worden. Dreh-und Angelpunkt eines wirksamen Schutzes der Menschenrechte im Rahmen der UNO ist Art. 39 UN-Charta. Dem Sicherheitsrat obliegt die für Mitglieder verbind-liehe Feststellung, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. „Bedrohung des Friedens“ oder „Bruch des Friedens“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Bei der Rechtsanwendung eröffnen sich dem Sicherheitsrat weite Ermessensspielräume, die bereits zu Zeiten des Kalten Krieges gelegentlich genutzt wurden, nunmehr aber im Interesse der Menschenrechte instrumentalisiert werden können.
Am 16. Dezember 1966 entschied der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 232, daß durch die einseitige Unabhängigkeitserklärung der weißen Minderheitsregierung in Rhodesien eine besondere Lage entstanden war und verpflichtete die Mitgliedstaaten zu einem umfassenden Wirtschaftsboykott. Auch die Generalversammlung verurteilte die Einsetzung einer Minderheitsregierung („such a minority rule") als Friedensbruch, da sie mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und der Selbstbestimmung unvereinbar sei Am 4. November 1977 verurteilte der Sicherheitsrat mit der Resolution 418 einstimmig die Apartheid-Politik der südafrikanischen Regierung, deren Gewalt-maßnahmen gegenüber der schwarzen Bevölkerung sowie deren Angriffe gegenüber Nachbar-staaten. Auf der Grundlage des VII. Kapitels (Art. 39ff. UN-Charta) wurde gegen Südafrika ein mandatorisches Waffenembargo verhängt.
Die Fälle Rhodesien und Südafrika zeigen, daß auch innere Zustände in einem Staat, wie z. B. die massive Verletzung der Menschenrechte, eine objektive Bedrohung des Weltfriedens bilden können. Dies erscheint möglich, wenn der Friede nicht ausschließlich negativ (im Sinne der bloßen Abwesenheit zwischenstaatlicher militärischer Gewalt) definiert, sondern als gute Ordnung verstanden wird, die den Völkern und Menschen angemessene Existenzbedingungen gewährleistet Friedensbedrohend wirkt sich dann vor allem die Verletzung der erga omnes wirkenden Normen des ius cogens aus, wie z. B. das Verbot des Völkermordes, das Verbot der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit und das Gewaltverbot. Friedensbedrohend sind Minderheiten-und Volksgruppenkonflikte, wenn das bestehende System der friedlichen Streiterledigung (VI. Kapitel UN-Charta) vom Rechtsbrecher gezielt unterlaufen wird oder grenzüberschreitende Fluchtbewegungen ausgelöst werden.
Maßnahmen, die der Sicherheitsrat bei festgestellter Friedensbedrohung nach dem VII. Kapitel der UN-Charta ergreift, sind keine Intervention; sie sind gemäß Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta ausdrücklich von dem sonst geltenden Verbot an alle UN-Organe ausgenommen, sich in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten einzumischen.
Die jüngsten Krisenherde im Irak, auf dem Balkan und in Somalia haben menschen-, minderheiten-und volksgruppenschützende Maßnahmen des Sicherheitsrats unter dem Gesichtspunkt der Friedensbedrohung erneut akzentuiert:
Mit seiner am 5. April 1991 gegen den Irak gefaßten Resolution 68833 -verurteilt der Sicherheitsrat „die in vielen Teilen Iraks, insbesondere auch in allerjüngster Zeit in den kurdischen Siedlungsgebieten, stattfindende Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung, deren Folgen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit in der Region bedrohen 1, 1;
-verlangt der Sicherheitsrat, „daß der Irak als Beitrag zur Beseitigung der Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in der Region die Unterdrückung sofort einstellt“.
Aus dem Wortlaut der Resolution ergibt sich eindeutig, daß der Sicherheitsrat die Unterdrückung der kurdischen Volksgruppe, aber auch der schiitischen religiösen Minderheit durch die irakische Regierung als eine Bedrohung des Friedens ansieht.
Nicht restlos geklärt ist allerdings, ob die Resolution 688 vom April 1991 die im Herbst 1992 von den USA, Großbritannien und Frankreich -nach Konsultationen mit Rußland -verhängte „no fly zone“ für irakische Flugzeuge deckt. Abgesehen vom zeitlichen Abstand zur Resolution verlangt diese vom Irak -als Vorstufe zu etwaigen Sanktionen -nur die Unterlassung des völkerrechtswidrigen Tuns Rechtlich umstritten ist auch die Wie-deraufnahme der alliierten Luftangriffe auf den Irak, als dieser Mitte Januar 1993 -ohne die erforderliche Zustimmung der UN einzuholen -nach Kuweit vordrang, um dort im neu geordneten Grenzbereich Waffen und Material abzuholen. Dieses Vorgehen und die Bedrohung alliierter Flugzeuge in der „no fly zone“ durch die irakische Flugabwehr wertete der Sicherheitsrat als Verstoß gegen den Waffenstillstand. Über diese Feststellung hinaus wurden keine weiteren Sanktionen verhängt.
In Anbetracht der Kampfhandlungen in Jugoslawien qualifiziert die Sicherheitsratsresolution 713 vom 25. September 1991 „die schweren Verluste an Menschenleben und Sachschäden“ als eine „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Der Sicherheitsrat beschließt „nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, daß alle Staaten zur Herstellung von Frieden und Stabilität in Jugoslawien die Lieferung von Waffen und militärischen Ausrüstungen an Jugoslawien sofort mit einem allgemeinen und vollständigen Embargo belegen werden, bis der Sicherheitsrat nach Konsultationen zwischen dem Generalsekretär und der Regierung Jugoslawiens etwas anderes beschließt“.
Mit der Resolution 757 erweiterte der Sicherheitsrat gegenüber Serbien und Montenegro, die nunmehr die Bundesrepublik Jugoslawien bilden, das Handels-und Luftembargo durch weitere nichtmilitärische Sanktionen. Obwohl die UNO eine größere Friedenstruppe in Jugoslawien unterhält der gemäß VI. Kapitel UN-Charta die Konfliktparteien zugestimmt haben, steht fest, daß der Sicherheitsrat den Unruheherd Jugoslawien als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ansieht, sich Sanktionen nach dem VII. Kapitel vorbehält und sich beim Schutz der Menschen-, Minderheiten-und Volksgruppenrechte nicht nur auf „peacekeeping", d. h. auf friedenserhaltende Operationen, beschränken will.
Schon die Autorisierung des militärischen Schutzes der Konvois, die Hilfsgüter für die Zivilbevölkerung nach Bosnien-Herzegowina bringen, durch die Sicherheitsratsresolutionen vom 15. Mai und 13. Juli 1992 überschreitet die Schwelle vom VI. zum VII. Kapitel der UN-Charta, da die Zustimmung des von der Maßnahme betroffenen Staates nicht eingeholt wurde.
Schließlich hat die Somalia-Krise die Bereitschaft des Sicherheitsrates bekräftigt, bei massiven innerstaatlichen Konflikten die Möglichkeiten auch des VII. Kapitels zu nutzen. Bereits mit der Resolution 733 vom 23. Januar 1992 wurden die Weichen für ein, wenn nötig, auch gewaltsames Eingreifen gestellt. Die Aktionen wurden mit dem Ziel, Frieden und Stabilität in Somalia herzustellen („establishing peace and stability“), eingeleitet. Der Sicherheitsrat verhängte ein allgemeines und vollständiges Waffenembargo und autorisierte die Entsendung von Friedenstruppen nach Somalia zum Schutz der Verteilung der Hilfslieferungen für die hungernde Zivilbevölkerung.
Die neue Sicht der Interventionsbefugnisse bei massiven Menschenrechtsverletzungen dokumentiert die Resolution 794 vom 3. Dezember 1992 -Der Sicherheitsrat stellt eindeutig fest, daß die menschliche Tragödie, die durch die Behinderung der Verteilung von Hilfsgütern bewirkt wurde, eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dartellt („constitutes a threat to international peace and security“).
-Er zeigt sich entschlossen, Frieden, Stabilität sowie Recht und Ordnung wiederherzustellen, um den Aussöhnungsprozeß in Somalia voranzutreiben, erkennt aber gleichzeitig an, daß das somalische Volk die letzte Verantwortung für die nationale Aussöhnung und den Wiederaufbau seines eigenen Landes trägt.
-Im operativen Teil der Resolution 794 stellt der Sicherheitsrat nochmals die Bedeutung des VII. Kapitels für die ins Auge gefaßten Maßnahmen heraus: „... that action under Chapter VII of the Charter of the United Nations should be taken in order to establish a secure environment for humanitarian relief operations in Somalia as soon as possible" In Wahrnehmung seiner Befugnisse nach dem VII. Kapitel autorisiert der Sicherheitsrat den Generalsekretär und die mit ihm zusammenarbeitenden Mitgiiedstaaten „to use all necessary means to establish as soon as possible a secure environment for humanitarian relief operations in Somalia“ -Schließlich wird parallel zur Anwendung bewaffneter Gewalt zur Beseitigung massiver Menschenrechtsverletzungen das „peace-keeping“
nach dem VI. Kapitel aktiviert. Der Sicherheitsrat verlangt vom Generalsekretär die Vorlage eines Plans, der sicherstellt, daß die Friedensstreitmacht (UNOSOM) ihre Aufgaben nach Abzug der Interventionsstreitmacht zu erfüllen vermag
III.
In ersten Stellungnahmen ist die Somalia-Resolution 794 zu Recht als eine „historische Entschließung“ gewertet worden, weil sie den humanitären Aktionsradius der Vereinten Nationen entscheidend erweitert. Systematische, schwere Verletzungen der Gruppen-und Menschenrechte können künftig nicht mehr als bedauerliche innerstaatliche Betriebsunfälle betrachtet werden, die wirksame Sanktionsmaßnahmen der Staatengemeinschaft nach dem VII. Kapitel der UN-Charta ausschließen. Erstmals in der UN-Praxis wird ein Bezug zwischen friedensbewahrenden und friedensschaffenden Maßnahmen hergestellt. Die systematische Behinderung von Peacekeeping-Operationen kann Sanktionen und Anwendung von Gewalt nach dem VII. Kapitel zur Folge haben.
Der praktische Nutzen jeder Sanktionsmaßnahme muß im Einzelfall überprüft werden. Es wäre verfrüht, von einer neuen „Weltinnenpolitik“ der UNO oder gar von einem „Weltinnenrecht“ des Sicherheitsrates zu sprechen. Eine neue „UNORule of Law“ als Maßstab internationalen Handelns bedeutete nicht nur eine Ausweitung des Völkerrechts in völlig neue, vornehmlich innerstaatliche Bereiche, sondern verlangte auch eine grundsätzliche Umstrukturierung der Organe der Vereinten Nationen und ihrer Verantwortungsbereiche. Die Frage, warum man Somalia hilft, nicht aber Bosnien, warum der Irak bestraft wird, andere Staaten aber nicht, müßte nach Rechtsgrundsätzen beantwortet werden. Eine Weltinnenpolitik unter der Herrschaft des Sicherheitsrates als „Großmachtdirektorium“ würde rasch neue Konflikte aufbrechen lassen. Bleibt der (revolutionäre) Schritt zu einem Weltinnenrecht und zu einer Welt-innenpolitik Utopie, so kommt es auch weiterhin auf das organische Wachstum der Rechtsnormen im genossenschaftlichen Verband an.
Mit seinem Urteil vom 12. Juli 1994 hat das Bundesverfassungsgericht in staatsrechtlicher Hinsicht klargestellt, daß sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Streitkräften an allen Sanktionsmaßnahmen im Rahmen von UNO und NATO-Bündnis beteiligen kann Das wiedervereinigte souveräne Deutschland kann damit die Herausforderung, dem Frieden zu dienen und die Menschenrechte -nötigenfalls mit Waffengewalt -zu schützen, weltweit aufnehmen.