I. Einleitung
Als halbwegs professionalisierte Sparte bedarf die politische Erwachsenenbildung der eigenen Reflexion über ihre Voraussetzungen, Arbeitsweisen und Wirkungen. Zumeist äußert sich diese Notwendigkeit der kritischen Weiterentwicklung im Wechsel thematischer Schwerpunkte: Vorgestern war es der Systemkonflikt zwischen Demokratie und Totalitarismus, gestern waren es die Dritte Welt und die neuen Informationstechnologien, heute sind es eher Europa und der Rechtsextremismus. Auf diese Weise findet sicher auch Entwicklung statt, aber darf diese sich so auf einen alle anderen Dimensionen überdeckenden thematischen Bezug beschränken? Ob dieser sich als Didaktik eines Fachs versteht oder aber als Bindung an ein politisches oder soziales Projekt: Beide Zugänge entsprechen der vorfindlichen Realität, wenn sie auch schon lange der Kritik ausgesetzt sind.
Daneben haben sich aber auch offenere Profile erwachsenenpädagogischer Praxis ausgebildet -vielleicht nicht so fundamental neu, wie es in manchen abgrenzenden Darstellungen erscheint, aber von solchen Suchbewegungen und Nuancen aus ist eine vorsichtige empirische Gewißheit für Vorschläge eines erweiterten Selbstverständnisses politischer Erwachsenenbildung zu beziehen.
Zunächst sei ein Ausflug in die Institutionalisierungsgeschichte politischer Erwachsenenbildung und deren bisherige Selbstbilder gestattet. Wir fragen dann nach den Trends der soziologischen, politischen und pädagogischen Diskussionen, die unseres Erachtens politische Erwachsenenbildung in eine geänderte Situation drängen.
Es ist nicht zuletzt der immer noch unabgeschlossene Institutionalisierungsprozeß der Erwachsenenbildung und damit der politischen Bildung, der diese immer wieder in bedenkliche Abhängigkeit zur Politik bringt -der Umstand, daß der Ausbau der Erwachsenenbildung zur vierten Säule des Bildungssystems in manchen Bundesländern kaum nennenswert in Angriff genommen worden ist. Aber auch dort, wo eine entwickelte Vielfalt anerkannter Bildungseinrichtungen und eine gesetzlich gesicherte Finanzierung vorzufinden sind, bleibt der Institutionalisierungs-und Professionalisierungsprozeß prekär insofern, als durch wechselnde Sonderprogramme und hektische Eingriffe in die Finanzierungsgrundlagen Planungssicherheit als Voraussetzung eines unabhängigen Selbstbewußtseins nicht aufkommt. Die Institutionen -auch die öffentlichen Träger -sind permanent zum Lobbyismus gezwungen, und das heißt auch: zur Notlüge angeblich greifbarer Wirkungen.
Umgekehrt haben die wichtigen politischen Parteien die politische Bildung gern zu ihrem Vorhof erklärt, in dem es aus ihrer Sicht um die Sicherung programmatischer Hegemonie und personeller Ressourcen (sprich: den Nachwuchs) sowie die Überzeugung der Wähler geht. Zwär war die Etablierung der Parteiendemokratie nach 1945 angesichts der in der Zwischenkriegszeit verbreiteten Verachtung der Parteien ein wichtiges Moment gelingender Demokratie, was möglicherweise auch zu einer an jene stark angelehnten politischen Bildung führte; zu fragen bleibt aber, inwiefern diese Nähe noch zu legitimieren ist und ob sie nicht Wichtigerem im Wege steht. Nur wenige Institutionen konnten sich aus diesem Sog lösen -am ehesten vielleicht noch die großen Akademien.
Darüber hinaus wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltungen politischer Bildung vielfach als formbares „Material“ begriffen, das zur Hinnahme von Politik zu bewegen sei, und weniger als politische Subjekte, die ihre Meinung und Haltung überprüfen, ergänzen, eventuell auch ändern. Unterschiedliche Akzentuierungen zwischen 1945 und heute seien nicht geleugnet; die Zeit zwischen der Protestbewegung 1968 und den achtziger Jahren kann als eine der nachholenden Demokratisierung und Öffnung angesehen werden.
Weiterhin aber wurde ein gewisser Paternalismus in der politischen Erwachsenenbildung ausgeübt -in den siebziger und den folgenden Jahren aus einer politischen und sozialwissenschaftlichen Überdetermination heraus: Das richtige Wissen schien vorgängig durch seine wissenschaftliche Dignität oder aus der Unabweisbarkeit des Geschichtsprozesses heraus gesichert. Natürlich sollen Rationalitätsgewinne und Modernisierungszuwächse in der politischen Bildung durch die wissenschaftlichen Konzepte dieser Phase nicht abgestritten werden, aber in der Selbstsicherheit, mit der sich politische Bildung auf ein fachliches Zentrum bezog, lag ein gerüttelt Maß naiver Wissenschaftsgläubigkeit
Was „Bildung“ in diesem Kontext sein könnte -die pädagogische Seite solcher Prozesse -geriet zur Marginalie. Ganz unbemerkt blieb dieses Defizit jedoch nicht; so beklagte etwa Wolfgang Sander kürzlich: „In den Fachdiskussionen zur politischen Erwachsenenbildung wird kaum auf den Stand der politikdidaktischen Theorieentwicklung Bezug genommen“ womit er allerdings die Politikdidaktik für die Sekundarstufen meint. Diese Entfremdung wäre u. E. zu verschmerzen, aber die Klage akzentuiert unterschiedliche Adressaten, Voraussetzungen, Problemlagen und Ambitionen. Eine sich kulturellen und psychosozialen Dimensionen öffnende politische Bildung wird mitunter beschuldigt den Boden der Aufklärung zu verlassen und wissenschaftlich-methodische Standards aufzugeben; dabei wäre aber zunächst zu fragen, inwieweit für die Schule entwickelte Professionsverständnisse überhaupt im Feld des Erwachsenenlernens Anwendung finden können. Wir meinen, daß dieses pädagogische Feld eher in Relation zu anderen medialen, kulturellen Angeboten zu untersuchen wäre: Seminare der politischen Bildung konkurrieren mit historischen Museen, soziokulturellen Zentren, Reisen, aber auch mit den klassischen und neueren Medien.
In Abgrenzung zu den skizzierten Mißverständnissen, Überschätzungen, Instrumentalisierungen schlagen wir vor, politische Erwachsenenbildung als eine Variante demokratischer Öffentlichkeit zu begreifen, die zwischen absoluter Privatheit und politischer Verfassung spezifische kommunikative Aufgaben erfüllen kann und soll: Aufgaben, die etwas mit den modernen Individuen abverlangten Reflexionsleistungen, mit gesellschaftlicher Integration unter pluralistischen Vorzeichen, den Notwendigkeiten heutiger Demokratien und den immanenten Entwicklungstendenzen einer Erwachsenenbildung auf der Höhe der Zeit zu tun haben. Es ginge somit um einen von den politischen Entscheidungszwängen im engeren Sinne befreiten Diskurs über die gemeinsame Gestaltung der Zukunft und die Erinnerung der Vergangenheit. Wie wir zu dieser Bestimmung gelangen, sei im folgenden aus drei fachwissenschaftlichen Perspektiven eingekreist.
II. Soziologische Diagnosen
In der Geschichte und dem Selbstverständnis der politischen Erwachsenenbildung ist ihre Nähe zu politischen und gesellschaftlichen Großorganisationen und Milieus unübersehbar. Das gilt natürlich in ganz besonderem Maße für die Arbeiter-bildung, die ohne Gewerkschaften, Kirchen und Arbeiterparteien nicht denkbar war und sich an dieses organisatorische Gefüge eng anschmiegte. Parteien und ihr „Vorfeld“ waren zwar meist moderne bürokratische Organisationen, ihr Lebenselixier bezogen sie aber aus den Lebenswelten, den sozialen und moralischen Imperativen der Milieus und Klassen. Die Herkunft dieser den Alltag prägenden Vorstellungen des guten und richtigen Lebens war aber oft religiös oder quasireligiös beeinflußt, jedenfalls vorbewußt. Auch die politische Erwachsenenbildung hat in der Vergangenheit von hier aus immer wieder wie selbstverständlich Zugang zu ihren Zielgruppen, aber auch Orientierungen und Formen der Darstellung und Vermittlung gewonnen.
Die relativ schlichten Modelle der soziologischen Analysen der Sozialstruktur, das Zweiklassen-und Dreischichtenmodell, werden nun schon seit einiger Zeit von differenzierteren Vorstellungen des sozialen Raums abgelöst. In diesen mehrdimensio-nalen Konstruktionen sozialer Ungleichheit werden für die Positionen der Individuen im sozialen Raum nicht nur Beruf und Einkommen, sondern auch Bildungsstand, kulturelle Alltagspraktiken, soziale Beziehungen und Werthaltungen berücksichtigt Das Ergebnis ist die Feststellung einer Vervielfältigung und Pluralisierung von sozialen Klassen, Milieus, Szenen, Lebensstilen und Mentalitätstypen als Folge wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Modernisierungsprozesse. So beschreiben Vester u. a. im Ergebnis ihrer Studie neun unterschiedliche lebensweltliche Sozial-milieus, die im mehrdimensionalen Raum der Macht und Ungleichheit in klassischer Weise oben, in der Mitte oder unten zu finden sein können, die aber auch nach kulturellen Praktiken als modernisiert oder traditionell eingestuft werden. Dabei handelt es sich zwar um unterschiedliche Merkmalsgruppen: Die traditionellen Milieus weisen noch Züge der alten Klassen auf, während moderne Milieus in ihrer Binnenkonstruktion weniger hermetisch, flüchtiger sind, zum Teil auch nur generationenspezifische Züge aufweisen. Entscheidend für uns ist aber, daß die traditionellen Milieus abnehmen und die modernisierten wachsen
Vor allem die modernisierten Milieus sind diejenigen, in denen wir die Erscheinungen von Individualisierung und Pluralisierung finden. Während in den traditionell geprägten Lebenswelten die Übernahme von Rollen, Wertvorstellungen und ästhetischer Praxis eher schematisch, teilweise unbewußt oder sogar zwangsläufig erfolgt, gibt es in den neuen Milieus und Lebensstilgruppen verstärkt das Problem der Möglichkeit, ja des Zwanges der Wahl zwischen mehreren Alternativen des Genusses, der kulturellen Selbstverortung und vor allem der Lebenslaufplanung. Identitätsentwicklung muß stärker als bisher im Kontext sozialer Beziehungen und Konkurrenzen, in Abgrenzung zu alten und neuen Vergemeinschaftungsformen reflektiert und gelebt werden. Der Zwang zur Entscheidung ist nach wie vor auch einer zur Unterscheidung, aber gleichzeitig eröffnen sich neue Optionen und Freiheiten. Wie ambivalent dieser Prozeß auch sein mag, wie man ihn im Lichte einer normativen Modernisierungstheorie bewerten mag -es kommt zu einer Radikalisierung der Bedeutung von Subjektivität.
Wir legen Wert auf die Überlegung, daß dieser Individualisierungsprozeß nicht kulturkritisch als Vereinzelungs-und Entwurzelungsprozeß verstanden wird, ebensowenig wie zu übersehen ist, daß kulturelle und soziale Öffnungsprozesse gleichzeitig auch Schließungen im sozialen Raum hervorrufen. Soziale Lagen und kulturelle Selbstentwürfe sind nicht in jeder Hinsicht beliebig wählbar, trotzdem vermuten wir in den neuen sozialen Vergemeinschaftungen und kulturellen Praktiken ein Rationalitätspotential, das für die künftige politische Bildung von immenser Bedeutung ist. Denn mit der Macht der Unterscheidung, dem Zwang zur Wahl, der tendenziellen Flüchtigkeit kultureller Selbstdefinitionen wächst die Notwendigkeit der permanenten individuellen, aber auch öffentlichen Selbstrechtfertigung.
Es ist gewiß kein Zufall, daß -wenn angesichts des säkularen Enttraditionalisierungstrends die Debatten um Werte und Tugenden, um Verantwortung und solidarische Gemeinschaft eher zunehmen -sich in diesen Verantwortungsdiskursen plötzlich die Vertreter ganz unterschiedlicher alter und neuer Lager zusammenfinden Entgegen skeptischen Zeitdiagnosen sehen wir in diesen Debatten einen Fort-und keinen Rückschritt. Was früher manch einem -selbstverständlich nicht allen -durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse, einem politischen Lager oder einem religiösen Bekenntnis vorgängig gesichert und nur noch der macht-gesteuerten Durchsetzung bedürftig schien, bedarf nun aufwendiger Begründung, Erörterung und Kooperation.
Wo können die Menschen das einüben? Innerhalb des erwachsenenpädagogischen Mehrspartenwesens hat die frühere Leitdisziplin der politischen Bildung an Aura und Resonanz stark verloren. Und das ist angesichts des rapide wachsenden Interesses an beruflicher Qualifikation oder an kultureller, gesundheitlicher und psychosozialer Bildung mehr als eine vorübergehende Durststrecke; die konkurrierenden Bereiche versprechen, das Politische, das Basteln an biographischer Konstruktion und kulturellem Kapital en passant mitzuerledigen.
III. Demokratietheoretische Argumente
Die Epochenwende 1989 hat auch zur Konjunktur neuer und alter politiktheoretischer Konzepte beigetragen. Neben der Wiederentdeckung der Totalitarismustheorie Hannah Arendts gehört dazu vor allem die durch ost-und mitteleuropäische Intellektuelle vorbereitete Diskussion um die „zivile Gesellschaft“. Wie andere theoretische Stichworte (z. B. „Pluralismus“) zwischen analytischen und normativen Aspekten changierend, lenkt es die Aufmerksamkeit auf gesellschaftlich-kulturelle Ressourcen, auf Chancen der Verständigung, Meinungsbildung und Organisation, in denen der Ausgang dieser Prozesse weder politisch noch ideologisch vorherbestimmt ist; es bedarf eines Klärungsprozesses zwischen der Vielzahl auseinanderstrebender Haltungen und Diskurse einerseits und der verfaßten Politik andererseits
Solche Räume, die für das Funktionieren aufgeklärter Demokratien unentbehrlich sind, kommen kaum vor in den Gebäuden der orthodoxen, auf Regierungsbildung und „decision-making“ orientierten Politikwissenschaft, und ebensowenig in den zukunftsgewissen sozialistischen Strategien, die allenfalls „Transmissionsriemen“ zwischen den Kommandohöhen der Politik und der Gesellschaft kannten -von Stalinisten an der Macht einmal ganz zu schweigen: Die Zerstörung autonomer gesellschaftlicher Räume gehört zu den frühesten Erfahrungen totalitärer Herrschaft, wie sowohl die Totalitarismustheorie als auch die antitotalitäre Prosa eines Jewgenij Samjatin oder George Orwell festgehalten haben.
Besonders die Kommunikationsrechte (Meinungsund Pressefreiheit, Koalitions-, Versammlungsund Demonstrationsrecht) lenken den Blick auf diese Essenz moderner demokratischer Verfassungen; nicht um Zutaten guter Herrschaft geht es dabei, auch nicht um Reservate „des Geistes“ gegen die Macht, sondern um konstituierende Elemente des Politischen! Faktisch hat die Bundesrepublik Deutschland -was erst allmählich bewußt wird -einen ungeheuren Aufholprozeß vollzogen von der „autoritären Ermächtigungsdemokratie“ der fünfziger Jahre hin zu einer Verfassung, in der soziale Akteure, Vereine und Initiativen, Kirchen und Gewerkschaften, Medien und Demonstranten entscheidende Beiträge zur politischen Willensbildung leisten. Die außerparlamentarische Opposition der sechziger Jahre, aber auch die „neuen sozialen Bewegungen“ der siebziger und achtziger Jahre haben mit ihrer zum Teil überzeugenden, zum Teil überzogenen Kritik an der Selektivität des repräsentativen Politikmodells solche Entwicklungen beschleunigt, die aber ebenso aus der Hilflosigkeit politischer Klassen und gesamtgesellschaftlichem Wertewandel erwuchsen.
Die genannten Aufbrüche wurden nicht nur von sozialistischen oder anarchistischen, sondern auch von liberalen Utopien angestoßen: Neben den klassischen Abwehrrechten gegen staatliche Übergriffe haben immer Fragen der Öffentlichkeit und der Medien, der Wahrheit öffentlicher Rede und der wissenschaftlichen Begründung von politischen Entscheidungen eine wichtige Rolle bei der Kritik von Oppositionen gespielt. Die Ambivalenzen und Kinderkrankheiten dieser „sozialen Bewegungen“ sollen nicht hinwegidealisiert werden: Schwarz-Weiß-Denken, Alarmismus, Anti-Institutionalismus usf. Ihre Bedeutung liegt aber in der von ihnen ausgelösten Rehabilitierung des „Gesellschaftlichen“, einer eigenständigen Sphäre zwischen Staat und Privatheit. Nicht mehr „Unregierbarkeit“ und „Wir lassen uns von der Straße nicht erpressen!“ sind heute dominante Reaktionen auf Einmischung von Bürgerinnen und Bürgern, sondern ein mehr oder minder ausgeprägtes, ernsthaftes oder auch nur taktisches Hinhören der Politik. Die Erfahrung der ostdeutschen Revolution und ihrer Wortführer hat zu Vorschlägen geführt, solcher Öffnung des politischen Prozesses auch verfassungsrechtlich Rechnung zu tragen; z. B. wurden im Verfassungsentwurf des Runden Tischs der DDR gesellschaftlichen Vereinigungen konkrete Rechte des Gehörs, der Intervention und der öffentlichen Förderung zugestanden.
Nicht um dichotomisch gedachte „Gegenöffentlichkeit“ geht es hier, sondern um den Ernstfall des Pluralismus in Gestalt nicht vermachteter Assoziationen. „Solche Assoziationen sind auf die Erzeugung und Verbreitung praktischer Überzeugungen, also darauf spezialisiert, Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu entdecken, Beiträge zu möglichen Problemlösungen beizusteuern, Werte zu interpretieren, gute Gründe zu produzieren, andere zu entwerten. Sie können nur auf indirekte Weise, nämlich dadurch wirksam werden, daß sie über einen breitenwirksamen Einstellungs-und Wertewandel die Parameter der verfaßten Willensbildung verschieben.“
Wenngleich die soeben abgeschlossene Verfassungsreform sich allen Anfechtungen, das Politik-monopol der Parteien zu relativieren, zunächst verschlossen hat, ist der Umschwung nicht zu leugnen: Plebiszitäre und diskursive Ergänzungen des repräsentativen Verfahrens sind keine randständigen oder gefährlichen Ideen mehr, sondern Gemeingut politischer Rede über politische Erneuerungen, beginnende Praxis in Parteien, allmählich sich ausbreitende Chance in Kommunen und Verbänden.
Sowohl die politische Theorie und Publizistik als auch die Debatte um politische Erwachsenenbildung kennen den heftigen Streit um „das Politische“, seine notwendige oder auch gefährliche Entgrenzung. Einerseits ist ein weiter Begriff dessen, was Politik (und damit Gegenstand politischer Bildung) sei, selbstverständlich geworden; niemand kann und will trotz mancher „Deregulierungs“ -Debatte die Ausweitung öffentlicher Angelegenheiten prinzipiell zurücknehmen -familiäre und andere Lebensgemeinschaften sowie der staatliche Umgang damit stehen zur Diskussion, private Lebensführung (Rauchen, Sport) gerät im Kontext der Sozialversicherung zum Politikum, der Arbeitsvertrag und die „private“ Investitionsentscheidung sind seit Beginn des Jahrhunderts Gegenstand politischer Beeinflussung, mit neuen Problemen, Werthorizonten und Grundrechts-interpretationen geraten Technikfolgen, Verkehrs-verhalten, Gewalt in der Familie ins Visier hilfloser, aber anspruchsvoller Politik Eine politische Bildung, die aus dem Gehege enger politologischer Fachgrenzen ausbricht, folgt also lediglich dem Auswandern der Politik aus streng umzäunten Ressorts.
Andererseits aber geht in den Zunftdiskussionen der politischen Erwachsenenbildung unabhängig von diesen Voraussetzungen das Gespenst der „neuen Subjektivität“ um: die Befürchtung nämlich, ein weiter Begriff des Politischen könne zur Ablenkung vom „wirklich“ Politischen und zur „Bauchnabelzentriertheit“ führen. Demgegenüber halten wir an der Notwendigkeit fest, „Entgrenzungsprozesse mit(zu) vollziehen, ohne selbst grenzenlos zu werden“ (Jürgen Heinen-Tenrich), d. h. auf einem weiten Blick zu bestehen und an normativen Stützpfeilern der Verständigung festzuhalten: sprachliche Auseinandersetzung über Kontroverses, Reflexion des Alltags und der Lernkommunikation, Aneignung und Kritik von Sachinformationen unter Berücksichtigung der Dimensionen von Macht und Herrschaft „Demokratien ruhen letztlich darin, daß unter ihren Bürgern eine , horizontale Solidarität* sich bildet; gegen die zahlreichen vertikalen Solidaritäten, die Abhängigkeits-, die Patronageverhältnisse, in die die Bürger zugunsten von Machthabern und Herrschenden immer wieder eingefangen werden.“ In Veranstaltungen der politischen Erwachsenenbildung können sich solche Bürgerinnen und Bürger versammeln, die die totale Delegation des Politischen an die Politiker aufheben oder relativieren wollen; sie können sich sachkundig machen unter Einbeziehung von Expertenwissen und lebensweltlichen Kompetenzen; sie können sich begründete Meinungen bilden und -so sie eine aktive Rolle wünschen -Strategien der Einflußnahme erörtern und planen. Die Kränkung der Erwachsenenbildner darüber, daß derartige Werkstätten in so bescheidenem Umfang Akzeptanz finden, sollte nunmehr der Analyse von Hindernissen weichen: Wird diese Chance tatsächlich geboten, oder gibt es zuviel „Politiker-Politik“ in den Programmen? Welche Arbeitsformen entsprechen solchen Zielen? Werden in der Selbstdarstellung diese Möglichkeiten ausreichend akzentuiert?
Die etwa 20 Prozent der Bevölkerung, die die Bildungsstatistik als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an „allgemeiner“ und „politischer" Weiterbildung ausweist, würden ihre Intentionen sicherlich nicht allesamt mit Jürgen Habermas als „Belagerung“ der politischen Willensbildung verstehen, aber die Lebensprobleme, die sie in die Veranstaltungen treiben, im politischen Feld zur Sprache zu bringen könnte zu einem neuen Motivationsschub in Sachen Weiterbildung und politische Beteiligung beitragen. Inszenierte offene politische Räume in Volkshochschulen, Akademien und anderen Bildungseinrichtungen können sicherlich nicht die ganze Last der Verantwortung für das gesellschaftliche Kommunikationsgeflecht tragen, aber sie können stimulieren, stabilisieren, qualifizieren und verstärken, was einzelne Personen und bürgerschaftliche Gruppen zu reflektieren und zu tun für wichtig halten. Ihre Stärke gegenüber anderen Öffentlichkeiten ist ihre geringe Macht-nähe und Vermachtung, der Umstand, daß Asymmetrien hier viel eher aufhebbar sind als etwa in Massenmedien, wissenschaftlichen Diskursen, juristischen Verhandlungen. Parteinahme, Entscheidungen, Handlungsbezug sind Möglichkeiten, aber keine Erfordernisse des Lernprozesses, und die zeitweilige Entlastung von Entscheidungszwängen des Alltags und der Politik bietet die Möglichkeit einer sonst ungekannten inhaltlichen Radikalität, d. h. „Grundsätzlichkeit“
IV. Pädagogische Fragen und Versuche
Die politische Erwachsenenbildung hat sich zweifelsohne immer schwer damit getan, der pädagogischen Seite ihres Tuns eine angemessene Aufmerksamkeit entgegenzubringen, die Eigenlogik des Pädagogischen zu respektieren. Zu wenig ist aber auch die pädagogische Profession insgesamt vergangenen und heutigen Zumutungen entgegengetreten, sie möge Köpfe und Herzen der Menschen besetzen und „der neuen Zeit“ zum Durchbruch verhelfen. Bereitwillig ließen sich Pädagogen zu Hilfswissenschaftlern oder Anwendungsfachleuten degradieren -übrigens quer durch alle Lager und zu allen Zeiten. Unsere begründete Hoffnung für die künftige Entwicklung lautet, daß die politischen Unbestimmtheiten, die kulturellen Pluralisierungen und partiellen sozialen Öffnungen die Erwachsenenpädagogik von vergangener Überdetermination befreien und den pädagogischen Kern der Erwachsenenbildung freilegen helfen.
Didaktik wurde in der Vergangenheit vornehmlich als eine Theorie der Auswahl von Inhalten und von Techniken des Lehrens und Lernens betrieben -mit der Folge einer „naturwüchsigen“ Dominanz der Lehrenden, ihres Faches und der Institution. Neuere empirische Untersuchungen betonen nun stärker die Inkongruenz des Lehrens und des Lernens in der Erwachsenenbildung und die , eigensinnigen 1 Dimensionen der Aneignung und Verwendung von Lehr-Lern-Situationen und Wissen Zur erwachsenenpädagogischen Professionalität gehört auch die Anerkennung der unterschiedlichen Handlungslogiken Lehrender und Lernender sowie die Kenntnis der Differenz zwischen Wissenschaftswissen, pädagogischem Handlungswissen und lebensweltlichen Wissensbeständen wie Deutungsmustern
Damit werden die Eigengesetzlichkeit des pädagogischen Feldes und die Perspektiven der teilnehmenden Subjekte stärker als bisher ins Zentrum des Interesses gerückt. Wiederbelebt wird die Grundeinsicht pädagogischer Theorietraditionen, daß über den Teilnehmer nicht verfügt werden kann, daß er ein gleichberechtigtes und selbsttätiges Subjekt im intersubjektiven Prozeß der Aneignung von Wissen, Erfahrungen und Einstellungen darstellt, daß pädagogische Tätigkeit immer die Aufforderung zur Selbsttätigkeit beinhaltet. Trotzdem enthält die Erkenntnis, daß pädagogisches Handeln in der politischen Erwachsenenbildung kommunikatives Handeln ist, heute verschärfte Brisanz insofern, als sie sich eben von den vergangenen Situations-und Vermittlungsgewißheiten verlassen wissen muß
Auch hier werden wir auf die Relevanz der Öffentlichkeit verwiesen: Bildung als Selbstbildung war von Anfang an ohne Dialog und Austausch nicht denkbar. Das private und das öffentliche Gespräch, der Brief, das Buch, die Zeitung, der Salon stellen mehr oder weniger entwickelte Stufen öffentlicher Selbstverständigung dar Wir begreifen große Teile der Erwachsenenbildung als eine eigenständige Form der öffentlichen Selbstthematisierung der Gesellschaft; sie konkurriert dabei mit den Massenmedien, kann aber, wenn man die täglichen Teilnehmerzahlen betrachtet und vergleicht, mit ihrer „Gesamteinschaltquote“ durchaus zufrieden sein.
Die Stärke der Angebote der politischen Erwachsenenbildung läge nun vergleichsweise in ihrer thematischen und methodischen Offenheit und Vielfalt sowie ihrer Teilnehmerzentrierung. Soweit solches in der politischen Bildung nicht möglich war, gab es Abwanderungsbewegungen in benachbarte Fachbereiche, allerdings auch vielfältige Anstrengungen, das Methoden-Repertoire zu erweitern. Auffällig ist auch die Tendenz, mit der Erlebnispädagogik und den reformpädagogischen Ansätzen erfahrungs-und handlungsbezogene Dimensionen der Aneignung wieder zu stärken. Auch das biographische Lernen ist ein Beleg für die gestiegene Bedeutung des Subjekts; hier verschränken sich allgemeine historische Betrachtungen mit den persönlichen Lebensentwürfen Allerdings müssen sich diese Bemühungen ständig gegen den Verdacht wehren, gegenüber der gesellschaftlichen Realität unkritisch zu werden, die Bedeutung des Wissens unterzubewerten oder gar heimlich noch alten jugendbewegten Idealismen anzuhängen.
Unser Plädoyer für thematische und methodische Öffnungen der politischen Erwachsenenbildung soll aber keine antipädagogischen Ambitionen stärken in dem Sinne, es laufe nun alles wie von selbst. Wir glauben im Gegenteil, daß die professionellen Anforderungen in Zukunft steigen werden, wenn sich künftig die methodischen Reflexionen den Inhaltsdimensionen gegenüber als gleichwertig durchsetzen können Aus den hier erinnerten Analysen und Axiomen resultiert also keine Lehrverweigerung, die Wissensdisparitäten nivellieren würde, sondern Vielfalt, Ernsthaftigkeit und ein professioneller „Takt“, der ansonsten unter „schon Erzogenen“, außerhalb pädagogischer Arbeitsfelder, immer selbstverständlicher zu den Grundvoraussetzungen kreativen und kooperativen Tuns gezählt wird.
V. Für eine multiperspektivische Politik und Bildung
Was aber ist zu tun, damit die Botschaften der „kleinen Öffentlichkeiten“ -nicht linear, aber spürbar -ankommen in den Sphären der Partei-und Parlamentspolitik? Nicht Träume vom grünen Tisch aus sind hier ausgebreitet, sondern Perspektiven auf eine in Ansätzen erkennbare Praxis -„ein Stück davon, das gibt es schon“ innerhalb und außerhalb der Erwachsenenbildung; und neben der Ausdifferenzierung eines entsprechenden Selbstverständnisses politischer Bildnerinnen und Bildner mangelt es lediglich an Ermutigung, Freiheitsspielräumen und bürokratischer Phantasie, in solchen Spielräumen nicht das Chaos und den Mißbrauch ausbrechen zu sehen. Politische Versammlungsöffentlichkeiten -in Regie von Kommunal-verwaltungen, Parteien, Gewerkschaften oder Kirchengemeinden -sind bereits, obwohl vom Nachdenken über Demokratie wenig wahrgenommen, selbstverständlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens
Wenn die Träger von Volkshochschulen die Norm der Lehrplanfreiheit etwas ernster nähmen als bisher, wären die Lokalpolitik begleitende Bildungsangebote zur Stadtentwicklung, Verkehrsplanung, zur lokalen Schulpolitik etc. verbreiteter als bislang. Eine intelligentere, reflexive Planung auf vielen Gebieten mit dem Instrument der Planungszelle, also einer befristeten Mobilisierung von Alltagskompetenzen im öffentlichen Auftrag, wird von Politikwissenschaftlern seit vielen Jahren -relativ vergeblich -vorgeschlagen. Methode und Konzept der Zukunftswerkstatt haben es in vielen Bildungseinrichtungen vermocht, soziale und politische Phantasie zutage zu fördern und in politische Diskurse einzubringen. Mißtrauisch belauert von Arbeitgebern und wenig informierter Presse, gibt es in Bildungsurlaubs-Veranstaltungen endlich ein Zeitbudget für didaktische Vielfalt und Phantasie; mündige Teilnehmerinnen und Teilnehmer erzwingen die Abkehr vom „Offenbarungs-und Bekehrungslernen“ bereits landauf, landab. Wenn all diese Ansätze ermutigt und ausgebaut würden, ginge es wohl ohne die skizzierte „begrenzte Entgrenzung“ der Lerngegenstände und des Methodenrepertoires nicht ab: Nur durch die Öffnung zur Stadtteil-und Sozialarbeit, zur kulturellen Bildung, zu Kunst, Literatur und zu den Lokalmedien sind die eingefahrenen Gleise folgenloser Information und „Politikvermittlung“ zu verlassen.
Was bedeutet all dies für den politischen Umgang mit politischer Bildung? In erster Linie lehrt ein Verständnis politischer Erwachsenenbildung als Teil demokratischer Öffentlichkeit, daß kontinuierliche Angebote von Diskussionsräumen und -aniässen das Wichtigste sind -weitaus bedeutender als Teilnehmer-und Stundenzahlen. „Kontinuität“ heißt in diesem Zusammenhang auch Langfristigkeit und Langsamkeit, was den Abschied von allen Illusionen über die Wirkung von Bildungsarbeit als „Feuerwehr“ nahelegt. Die Prozesse öffentlicher und halböffentlicher Verständigung, wie sie hier möglich werden, wären in ihrer Ergebnisoffenheit zu akzeptieren; und diejenigen, die über ihre öffentliche Förderung zu befinden haben, müssen endlich lernen, daß diese relative Offenheit (und nicht abgesegnete Lehrpläne) das demokratische Gütesiegel solcher Bildungsprozesse sind.
Ein kritischer Einwand könnte lauten, hier werde wiederum ein recht elitäres Modell der Verständigung und impliziten Demokratisierung vorgeschlagen; für derlei anstrengende und zeitintensive Prozesse interessiere sich -außer in Übergangszeiten -erneut nur die meinungsfreudige Mittelschicht, die schon abgelegene Akademien und VHS-Semestereröffnungen am Leben erhalte. Dazu ist zu sagen: Erstens scheint das Bewußtsein eines kritischen Punktes der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der Bevölkerung stärker und früher entwickelt zu sein als in der politischen Klasse und in Funktionärskreisen -das Minimalprogramm des „Weiter so!“ ist sowohl angesichts der ökologischen Frage als auch angesichts der politischen Brüche nach 1989 in breiten Kreisen stark diskreditiert. Und zweitens sind die Chancen, daß aktive Minderheiten sich vergrößern, in den hier aufgezeigten offenen, fluiden Formen der politischen Bildung deutlich besser als in selbst-zufriedenen (oder auch frustrierten, jedenfalls aber milieubornierten) „Gemeindegottesdiensten“ Zur Professionalität der an solchen Gelegenheiten Arbeitenden gehört es natürlich, neue und alte Mechanismen der Ausschließung aufmerksam zu analysieren und zu beobachten
Für „die“ Politik in der Bundesrepublik könnte eine Stärkung und eine stärkere Wahrnehmung der Gesprächsmöglichkeiten politischer Bildung eine Befreiung aus manchen Selbstblockaden des politischen Systems mit sich bringen. Wenn die raumschiffartige Abkapselung der politischen Sphäre nicht nur die Wahlbevölkerung provoziert, sondern die Politikerinnen und Politiker selber unter den Überforderungen leiden, die die Arbeitsteilung produziert, so wäre eine Verstärkung gesellschaftlicher Sensorien, wären Hilfen für vielfältige Artikulation und vermehrte Diskursangebote zwischen , Normalmenschen 4, aber auch zwischen solchen und der Politik für beide Seiten mehr als nur Kosmetik: Sie könnten (Pardon für das biologistische Bild!), wenn denn die verkalkten Arterien und Venen zwischen Staat und Gesellschaft nicht mehr genügend Zirkulation der Ideen und Interessen erlauben, den lebensrettenden Bypass eröffnen. „Lebensrettend“ darum, weil mehr Reflexivität und Multiperspektivität, Verlangsamung der Entscheidungen über großtechnische Pfade, die Einübung in Relativismus und Ambivalenzen, eine Kultur des Zweifels, der Vielstimmigkeit und des Aushandelns nicht Sahnehäubchen auf dem luxusdemokratischen Dessert sind, sondern notwendige Existenzbedingung einer zivilisierten Moderne, in der jedem partizipierendem Objekt der Versuch zugemutet ist (und zugemutet werden muß), Fremdsichten, Expertenwissen und Zukunftsperspektiven zur Kenntnis zu nehmen „Stärker als Massenmedien zuzuhören, sie zu lesen oder ihnen zuzuschauen, ist es letzten Endes das Gespräch von Mensch zu Mensch, das wirklich Meinungen verändert.“ (C. W. Mills) Diese aus der Wahlforschung geborene Grundthese des „Two Step Flow of Communication“ kann nicht nur elitetheoretisch (als Entdeckung der Meinungsführer) gelesen werden, sondern auch als Demokratisierungsprogramm öffentlicher Kommunikation: Politische Manipulation hat ihre Grenzen; versuchen wir es also mit organisatorisch und thematisch breit angelegten, niedrigschwelligen Angeboten, die zur Orientierung und Verständigung der Menschen und damit auch zur „Wiederaufforstung“ des Sozialen (C. Offe) und zur Humanisierung von Politik und Subpolitik ein Scherflein beitragen. Politische Bildung als „relativ kontinuierliche Geselligkeit unter Fremden“ kann wie wenige andere Institutionen und Orte die Chance bieten, „den kommunikativen, identitätsstiftenden Sinn von Argumentation zu erfahren“ -ein Wert, der ohne ausreichende öffentliche Förderung erneut zum bildungsbürgerlichen Privileg würde.