„Das Vaterland existiert nicht mehr! Nationalgefühl? Wie borniert! Patriotismus? Welch ein zurückgebliebener Standpunkt! Es gibt kein anderes Vaterland als die Freiheit, kein anderes Nationalgefühl als das Bewußtsein der Bildung und der Humanität..."
Diese Worte stammen nicht von heutigen Kritikern nationalorientierten Denkens, sondern aus einem Disput zwischen zwei liberalen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, die sich über den Sinn der Nationsbildung nicht einig waren. Während der kritische Arnold Rüge eine „Auflösung des Patriotismus in Humanismus“ forderte, plädierte sein Kontrahent Robert Prutz für eine Verbindung von vaterländischem und freiheitlichem Denken, die ihm weniger weltfremd zu sein schien: „Das Volk weiß mehr vom Vaterlande, von dem es sich umgeben fühlt, das zu ihm spricht im Rauschen seiner Bäume, im Duft seines Weines, im geheiligten Laut seiner Sprache, in tausend und abertausend Erinnerungen und Denkmalen, als von der Freiheit, von der es nicht weiß, wo sie wohnt, deren Zauber es nie empfunden hat, die ihm keine Gestalt, kein Bild, keine Anschauung gewährt, auch wenn Du ihm sagen wolltest, daß sie krapprote Hosen trägt.“
Die Deutschen taten sich also nicht erst seit dem Fiasko ihres Nationalstaats unter Hitler mit der Nation schwer. Schon lange vor Bismarcks Reichs-gründung finden sich zahlreiche Äußerungen, die ein Unbehagen an nationaler Orientierung des Denkens erkennen lassen. Dabei fällt auf, daß der Begriff der Nation verschieden gefaßt sein konnte. Er ließ sich im Sinne einer ethnischen Abstammungsgemeinschaft auffassen und an Herders Volksverständnis anknüpfen, er konnte aber auch, wie in Frankreich, mit politischen Inhalten verbunden sein und eine moderne Gesellschaftsform im Gegensatz zur alten Ständegesellschaft meinen. Beide Konzeptionen waren möglich und traten auch häufig in Mischformen auf.
Dementsprechend hatte auch der Begriff des Patriotismus vielfältige Schattierungen. Er konnte im Sinne von Ernst Moritz Arndt den Stolz auf die Zugehörigkeit zu einem ethnisch und kulturgeschichtlich zusammengewachsenen Volk meinen („So weit die deutsche Zunge klingt...“). Er ließ sich aber auch als Liebe zum Land mit seiner politischen Geschichte verstehen und hatte dann sogar häufig zwei Ausdrucksformen: ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber dem Territorialstaat mit seinem Landesherrn (besonders ausgeprägt in dem Groß-staat Preußen) oder eine überkommene Bindung an das alte Reich, wie sie noch beim Freiherrn vom Stein lebendig war. So gab es bis zur Bismarckschen Reichsgründung nebeneinander her und in verschiedenen Verbindungen einen Volkspatriotismus, einen Landespatriotismus und einen Reichs-patriotismus, die das Denken der Deutschen nachhaltig prägten.
Auch nach 1871 bestanden diese Verschiedenheiten deutscher Zugehörigkeitsgefühle fort. Zwar nahmen die integrativen Kräfte zu, aber zu einer in sich ausgeglichenen Verbindung der Identitäten sollte es nicht kommen. Eine Integration gelang, wenn überhaupt, immer nur um den Preis einer Überanstrengung der Loyalitäten. Insbesondere im Verhältnis zwischen Preußen und dem neuen Reich gestaltete sich der Ausgleich der Identitätsbindungen schwierig. Entweder führte er zu einer Überdehnung der (obrigkeits-) staatlichen Elemente im neudeutschen Reichsgebilde (Verpreußung Deutschlands), oder er endete in einer Übertreibung der volksbezogenen, ethnischen Komponenten der zusammengefügten Einzelstaaten (Germanisierung Preußens etc.). In beiden Fällen war die Integration mit Störungen und Unausgeglichenheiten des Nationalbewußtseins verbunden -lange vor Hitler.
Wovon reden wir aber heute, wenn wir fragen: „Nation muß sein. Aber wozu?“ Sprechen wir von jenem Volk der Überlebenden nach dem Inferno des von Hitler entfesselten Weltkriegs, das sich schlecht und recht in zwei deutschen Staaten wiederfand? Oder haben wir die Menschen im Auge, die heute in der größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland wohnen und ihre Existenz in diesem Lande begründen?
Es gibt Klärungsbedarf an dieser Stelle. Denn in den Diskussionen unserer Tage über den Sinn nationaler Ordnungen wird häufig übersehen, daß diese sich wesentlich wandeln können. So unterscheidet sich das, was wir heute Deutschland nennen, erheblich von dem, was -nach dem verlorenen Kriege auf sich selbst zurückgeworfen -auch noch als geteiltes Land deutsch bis in die Wurzeln war. Heute ist Deutschland in mindestens zweierlei Hinsicht weniger national bestimmt als damals. Es ist zum einen eingebunden in die Europäische Gemeinschaft und muß sich folglich stärker auch an deren Normen orientieren. Und es ist zum andern faktisch Einwanderungsland geworden und insofern Heimat nicht nur deutschstämmiger Bürger. Deutschland ist nicht mehr so deutsch, wie es früher einmal aussah.
Beide Veränderungen sind in den vergangenen Jahren zunehmend sichtbar geworden: die erste im Zusammenhang des Vertrags von Maastricht, die zweite im Laufe der langwierigen Asyldebatte. Aber sind sie uns auch in ihrer Tragweite für unser Verständnis deutscher nationaler Lebenswirklichkeiten genügend ins Bewußtsein getreten?
Jedesmal, wenn ich aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehre, stelle ich fest, daß wir Deutschen über die europäische Einigung und die Migrationsbewegungen diskutieren, als berührten sie nicht unsere Identität. Die Bejahung oder Ablehnung des Vertrages von Maastricht ist in diesem Lande in erster Linie eine Frage nach der Stabilität der D-Mark. Und die sogenannte Asyldebatte dreht sich vornehmlich um das Thema, wieviel Ausländer bei uns aufgenommen oder abgeschoben werden können. Während in Frankreich das ganze Volk bei einem Referendum leidenschaftlich darüber stritt, ob und wie weit die Nation in ihren Lebensformen durch den europäischen Integrationsprozeß einerseits und die Einwanderungsvorgänge andererseits verändert oder gar beeinträchtigt wurde, reduzierten die Deutschen die Debatte weitgehend auf Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Stabilität und setzten im übrigen auf die Bundesbank als Hort ihrer legendären D-Mark. Es schien sich wieder einmal zu bewahrheiten, daß die Deutschen sich im Kern als Wirtschaftsnation verstehen und, Hand aufs Herz, zu einem D-Mark-Nationalismus Zuflucht nehmen, wenn optiert werden muß.
Kann man auf diesem Hintergrund also verantwortlich die Frage stellen: Dürfen Deutsche Patrioten sein? Wäre es nicht besser, die Finger von dem Zeug zu lassen und mit einem Minimum an nationalem Profil im europäischen Einigungsprozeß mitzuschwimmen, so unauffällig wie möglich? Ich meine, daß dies keine überzeugende Haltung ist und mit Sicherheit nicht ausreicht, um in der Gemeinschaft der Völker Europas zu bestehen. Bevor wir jedoch die entscheidende Frage nach dem Sinn und Zweck einer nationalen Ordnung stellen, müssen wir genau angeben, um welche es dabei gehen soll. „Nation muß sein. Aber welche?“ So muß gefragt werden, bevor wir über das „wozu“ des Ganzen reden.
Statt vieler Theorien über das Wesen der Nation möchte ich einen Satz aus dem letzten Werk eines der bedeutendsten linksrepublikanischen Historiker des heutigen Frankreich zitieren, einen Satz aus dem Alterswerk Fernand Braudels, das unter dem Titel „Die Identität Frankreichs“ erschienen ist und mit einem modernen Nationsbegriff gegen verengte Nationalismen kämpft. Es heißt dort: „Eine Nation kann nur existieren, wenn sie sich unablässig selber sucht, sich im Sinne ihrer eigenen logischen Entwicklung transformiert..., sich mit dem Besten und Wesentlichsten, über das sie verfügti identifiziert, sich also in Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt sind.“
Hier kommt eine Vorstellung von nationaler Identität zum Ausdruck, die im heutigen Deutschland kaum verankert ist. Weder andere ausgrenzend (wie häufig bei deutschen Rechten) noch geschichtsphilosophisch aufgeladen (wie häufig bei Marxisten) ist Braudels Identitätsbegriff zugleich zukunftsoffen und geschichtsträchtig, ungeheuer integrationskräftig und dabei empfänglich für Neues und Fremdes. Es erstaunt bei diesem Ansatz nicht, daß der der Bevölkerungsgeschichte Frankreichs gewidmete zweite Band des Werks auf das Einwanderungsproblem unserer Zeit zuläuft und der jetzt lebenden Generation der Franzosen am Beispiel früherer gelungener Integrationsvorgänge zu Weiterentwicklungen der eigenen Identität Mut macht. Es heißt dort in kühner Zuspitzung: „So viele , Einwanderer'sind von der Prähistorie bis in die jüngste Zeitgeschichte hinein in Frankreich gestrandet und ohne viel Aufhebens in der großen Masse seiner Bevölkerung aufgegangen, daß man mit Blick auf die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende spaßeshalber sagen könnte, daß alle Franzosen , Einwanderersöhne'sind.“
Die Nation als historisch gewachsene Formation im Auf und Ab von Wanderungs-und Siedlungsprozessen ist ein Nationsbegriff, der im Bewußtsein von Deutschen kaum vorhanden ist. Während bei unseren Nachbarn in Frankreich die Nation als geschichtlich geformte politische Lebensgemeinschaft verstanden wird, ist sie bei uns in Deutschland nach wie vor eine bloße ethnische Abstammungsgemeinschaft, ein biologisch begründeter Stammesverband, der aller politischen Willensbildung vorangeht. Und das ist nicht nur vorsintflutlich, das ist auch schädlich für das Zusammenleben von Menschen in der modernen Welt.
Es gibt ein anschauliches Beispiel für diese verschiedenen Natiohsbegriffe in unserer Nähe, das ältere Menschen noch in Erinnerung haben: der Streit um die nationale Zugehörigkeit der Elsässer. Während die Deutschen in ihnen auf Grund ihrer Abstammung und Sprache Deutsche sahen, nahmen die Franzosen sie wegen ihrer politischen Willensbekundungen und historischen Erfahrungen für Frankreich in Anspruch. „Die Menschen fühlen in ihrem Herzen“, so sagte einer der großen französischen Historiker des vorigen Jahrhunderts, Pustel de Coulanges, „daß sie ein und dasselbe Volk sind, wenn unter ihnen eine Gemeinsamkeit der Gedanken, Interessen, Neigungen, Erinnerungen und Hoffnungen besteht... Deswegen wollen die Menschen einen gemeinsamen Weg gehen, gemeinsam arbeiten, gemeinsam kämpfen, füreinander leben und sterben. Das Vaterland ist das, was man liebt.“ Und so entschieden sich die Elsässer trotz ihrer deutschen Abstammung für Frankreich.
Wie bewirkt man es aber, daß Menschen ein Land als „Vaterland“ empfinden, für das sie sich ersetzen? Auch hier gibt die französische Geschichte eine einfache Antwort, die auch für beutschland gelten müßte: Man schafft Bürgerrechte und die Voraussetzungen für politische Mitwirkung und Partizipation. Seit der Französischen Revolution von 1789 gilt es jenseits des Rheins als ausgemacht, daß Menschen-und Bürgerrechte zusammengehören und daß die Nation aus der politischen Teilhabe ihrer Bürger lebt. Die „citoyennete“, wie die Franzosen sagen, ist die Grundlage und Substanz der „nationalitä“: Das Bürgersein ist die Grundlage und Substanz der Nationszugehörigkeit.
Wenn wir heute nach dem Sinn und Zweck der Nation fragen, dann kann es also nur um eine Variante gehen: um die Staatsbürgernation, die auf den Mitwirkungsrechten ihrer Bürger beruht. Nur sie hat die Integrationskraft, deren wir vor allem in schwierigen Zeiten bedürfen; nur sie ist auch in der Lage, unser Land in die europäische Gemeinschaft einzufügen und den Bau eines vereinigten Europa mitzutragen. Das aber hat zur Folge, daß wir den Umgang mit Ausländern verändern müssen, allen voran mit denen, die unter uns wohnen und unsere Mitbürger sind und sein wollen. Warum, um mit dem Sprachgebrauch zu beginnen, reden wir eigentlich von jemandem, der in unserem Land geboren ist und unsere Sprache besser beherrscht als die seiner Eltern, als „Ausländer“? Ist er nicht vielmehr ein Inländer aus einer Einwandererfamilie, der dieselben Rechte und Pflichten wie ein Inländer deutscher Herkunft haben sollte? Die Franzosen bezeichnen ihre algerischen und portugiesischen Mitbürger nie als „Ausländer“, sondern als „immigres“, als Einwanderer.
Es geht jedoch nicht nur um den Sprachgebrauch, es geht auch um konkrete Handlungen. So darf sich die sogenannte Ausländerdiskussion nicht in einer bloßen Asyldebatte erschöpfen. Die Frage nach den Grenzen unserer Aufnahmekapazitäten ist eine Sache, die Frage nach den Voraussetzungen der Einbürgerung eine andere. Und diese zweite scheint mir gegenwärtig den Vorrang haben zu müssen: Was kann geschehen, damit Menschen, die in unserem Land geboren sind und sich uns zugehörig fühlen, deutsche Bürgerrechte erhalten? Ist eine zweite Staatsbürgerschaft ein Mittel, um die Integration zu fördern, oder gibt es noch bessere Wege? Die Franzosen bieten den Kindern ihrer Einwanderer ein einfaches Recht an, das auch wir erwägen sollten: le droit du sol, das ius soli, das jedem, der im Land geboren ist, die Möglichkeit gibt, die vollen Bürgerrechte zu erhalten -nicht nur das kommunale Wahlrecht, an dessen Diskussion wir uns abarbeiten.
Freilich sind mit der juristischen Einbürgerung noch nicht alle Probleme gelöst. Die soziale und kulturelle Integration muß folgen. Wenn der Sohn eines türkischen oder italienischen Einwanderers keine Aufstiegschancen hat, wird ihm der deutsche Paß nicht viel nützen. Wann wird es an unseren Hochschulen endlich mehr Professoren aus Einwandererfamilien geben und nicht nur Ausländer in den Fußballmannschaften? In Frankreich ist noch vor wenigen Monaten der Sohn eines ukrainischen Einwanderers Ministerpräsident gewesen. Er hieß Beregovoy und hat sich auf tragische Weise das Leben genommen. Aber daß er es als Einwanderersohn bis an die Spitze des Staates gebracht hat, darüber ist bei uns wenig gesprochen worden.
Ich will das französische Beispiel der Einbürgerung nicht als Lösung aller Probleme darstellen. Auch bei unseren Nachbarn jenseits von Rhein und Saar sind noch viele Fragen offen, so vor allem die, ob es besser sei, die volle, auch kulturelle Integration der Einwanderer anzustreben oder nur ein Zusammenleben der Menschen verschiedener Kulturen, eine „multikulturelle Gesellschaft“ vorzubereiten. Für beide Modelle gibt es gute Gründe. Bei uns in Deutschland, wo die kulturellen und politischenIntegrationsfähigkeiten seit jeher schwächer entwickelt sind als bei unserem westlichen Nachbarn, gehen die Neigungen, wenn überhaupt, eher in die zweite Richtung.
Dies alles wäre Stoff genug für die Arbeit einer ganzen Generation, wenn nicht mehrerer. Aber die Geschichte hat es an sich, daß sie uns gerne vor mehrere Herausforderungen gleichzeitig stellt. So haben wir Deutschen, wenn wir heute über unseren Weg als Nation nachdenken, nicht nur die Aufgabe, die Stellung unserer Mitbürger fremder Herkunft zu verbessern, wir müssen auch mit gleicher Dringlichkeit das Zusammenwachsen der Ost-und Westdeutschen nach dem Ende der Teilung unseres Landes fördern. Dies um so mehr, als die mehr von den Bürgern der DDR als von denen der alten Bundesländer herbeigeführte Vereinigung keine Wiederherstellung des Zustandes vor der Teilung sein kann. Eine Restauration des Nationalstaats in der Bismarckschen Reichstradition kann es nicht geben.
Was aber ist sie dann, die viel gepriesene und doch so mühselige Vereinigung der beiden Staaten, die nach dem Zusammenbruch des menschenverachtenden Hitlerreiches auf deutschem Boden entstanden waren? Eine bloße Föderation von Regionen, deren Bewohner durch gemeinsame Sprache und Herkunft miteinander verbunden sind? Oder eine postnationale Gesellschaft, die sich nach den schlechten Erfahrungen mit dem alten Nationalstaat als Entwurf einer möglichst nationsfreien Ordnung versteht?
Mir scheint die eine wie die andere Alternative unrealistisch zu sein. Nach über vierzigjähriger Trennung, bei welcher der eine Teil des Landes die Hauptlast für den von allen Deutschen verschuldeten und verlorenen Krieg zu tragen hatte, während dem anderen Teil das Glück der Aufnahme in die industriell entwickelte westliche Völkergemeinschaft zuteil wurde, kann man nicht die Augen vor der Pflicht solidarischen Handelns verschließen. Mehr denn je und mit vermehrtem Inhalt ist das notwendig, was in den Jahren vor dem Fall der Mauer als „Verantwortungsgemeinschaft“ der Deutschen beschrieben und gefordert worden ist. Trotz der inzwischen erfolgten staatlichen Vereinigung ist nichts an dem damals formulierten Satz zu ändern: daß die Deutschen gemeinsam für das Erbe und die Hinterlassenschaft ihrer Geschichte verantwortlich sind, und zwar mit dem Blick in die Zukunft und auf das Zusammenleben mit den Völkern der Welt.
Dies alles läßt das Herz noch nicht höher schlagen, wenngleich wir Anlaß haben, für den friedlichen Prozeß der Vereinigung nach dem Fall der Mauer dankbar zu sein. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in zahlreichen ehemaligen Staaten des Ostblocks erinnern uns jedenfalls daran, daß vieles auch hätte anders kommen können. Patriotismus, um den Begriff unserer Fragestellung aufzugreifen, wird sich jedoch erst einstellen können, wenn die innere Einigung der Deutschen durch einen langen Prozeß solidarischen Handelns gelungen ist. Wenn die Integration auf wirtschaftlicher, sozialer und menschlicher Ebene so weit gediehen sein wird, daß die Deutschen in Ost und West wieder unverkrampft „Wir“ zueinander sagen und ein gemeinsames Bürgerbewußtsein haben, dann wird man davon sprechen können, daß zwischen Saar und Oder nicht nur ein Verband von deutschen Stämmen, sondern eine politisch verantwortliche Nation, eine Staatsbürgernation lebt.
Dies freilich ist kein Zweck an sich und macht unsere Frage „Nation -wozu?“ keineswegs überflüssig. Im Gegenteil, sie wird jetzt erst möglich, nachdem geklärt ist, welche Vorstellungen mit dem Begriff der Nation verbunden werden sollten. Ich möchte also zum Schluß in einigen Punkten aufzuzeigen versuchen, an welchen Maßstäben wir uns orientieren müssen, wenn wir das Leben als Nation für erstrebenswert und sinnvoll halten. 1. Auf dem Hintergrund der Vorgänge in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen müssen wir uns die Frage stellen, ob und wieweit die Formation der Nation das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft fördert oder erschwert. Ist sie ein Faktor des inneren Friedens und des Ausgleichs von divergierenden Interessen oder vermehrt sie Ängste und Bedrohtheitsgefühle, so daß kulturelle Minderheiten und Andersdenkende sich stärker ausgegrenzt sehen als in regionalen oder lokalen Strukturen? Wenn der größere nationale Lebenszusammenhang dazu beiträgt, daß spießbürgerliche Enge und Intoleranz, die häufig der Nährboden gewalttätiger Aggressionen gegen Fremde sind, überwunden werden, dann sollte man ihn aufrichtig bejahen und stärken. Die Nation als Raum größerer Entfaltungsmöglichkeiten hat einen Sinn. 2. Vor allem die deutsche Nation wird daran gemessen, ob sie den Frieden in der Welt bewahren hilft oder stört. Nicht nur die Frage steht auf dem Prüfstand, ob die internationalen Spannungen besser durch ein vereintes Deutschland als durch ein geteiltes gemildert oder behoben werden können, sondern auch die weiterreichende, ob von dem wiedervereinigten Land mehr Impulse, für gewaltfreie Lösungen von Konflikten ausgehen werden. Angesichts von kriegerischen Grausamkeiten wie denen im ehemaligen Jugoslawien wird sich deutsche Friedenspolitik freilich mehr denn je in internationaler Abstimmung vollziehen müssen; nationale Alleingänge kommen nicht in Betracht. Solange es jedoch keine kohärente europäische Sicherheitspolitik gibt, wird Deutschland gehalten sein, mit eigenen Beiträgen politische Verantwortung wahrzunehmen. Die Nation als Faktor internationaler Friedenspolitik hat noch keineswegs ausgedient.
3. Die Nation ist und bleibt ein unentbehrlicher Ort demokratischer Bewährung. Wer Willy Brandts Ausspruch „Mehr Demokratie wagen“ noch nicht ganz vergessen hat, der muß sich fragen, auf welchen Ebenen dies am besten zu verwirklichen ist: auf der regionalen, auf der nationalen, auf der europäischen? Hier scheint es mir nach den Diskussionen um den Vertrag von Maastricht klar zu sein, daß demokratische Mitwirkungsstrukturen in Europa zur Zeit wenig Aussicht auf Weiterentwicklung haben. Die Brüsseler Entscheidungen werden mehr durch einen Konsens der Regierungen als durch parlamentarische Beschlüsse herbeigeführt. Und ein europäisches Bürgerrecht gibt es nur in Ansätzen. Da drängt es sich auf, an den demokratischen Institutionen der Nation festzuhalten und die Handlungsspielräume für die Einübung demokratischer Verfahrensweisen in diesem Rahmen auszubauen. Die Nation als Ort der Verwirklichung demokratischer Freiheiten hat ihren Sinn nicht verloren.
4. Dem Demokratiebedarf entspricht die Notwendigkeit, die Nation als Raum der politischen Öffentlichkeit zu bewahren. Wer die großen Diskussionen über die Lebensfragen der Menschen in unserem Lande verfolgt, der weiß, daß sie an bestimmte Voraussetzungen der Verständigung gebunden sind. Gleiche Sprache und gleiche kulturelle Prägungen bedeuten viel im Prozeß der politischen Meinungs-und Urteilsbildung einer Gesellschaft. Eine nüchterne Bilanz gebietet es jedoch festzustellen, daß hieran Mangel im europäischen Rahmen herrscht. Eine europäische Öffentlichkeit, die den Namen verdient, gibt es kaum. So wären wir leichtfertig, wenn wir den nationalen Rahmen unserer Bemühungen um Standortbestimmung vernachlässigen würden. Wir brauchen ihn, um uns über Grundfragen des gesellschaftlichen, politischen und geistigen Lebens zu verständigen, wie es nicht zuletzt die Veranstaltungen des Kirchentages zeigen. Die Nation als Raum der politischen Öffentlichkeit ist notwendig.
5. Nicht weniger wichtig ist unter den heute gegebenen Umständen die Bewahrung der Nation als Fundament der sozialen Sicherheit. Wer die Ergebnisse von Maastricht in dieser Hinsicht betrachtet, der wird feststellen müssen, daß zentrale Fragen der Sozialpartnerschaft auf europäischer Ebene nicht geregelt sind. Sowohl die Stellung der Arbeitnehmer als auch die der Arbeitslosen ist in den meisten Ländern der Europäischen Union schlechter fundiert als bei uns. Ein Europa jedoch, das den Wirtschaftsinteressen dient, ohne gleichzeitig die sozialen Belange zu sichern, ist nicht nur unzureichend, es kann auch den inneren Frieden gefährden. Die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Gestalt bedarf also der Ergänzung durch nationale Strukturen zur Gewährleistung sozialer Sicherheit.
6. Umstrittener, wenn auch nicht weniger wichtig, ist die Nation als Ort der Auseinandersetzung um die Rechte der Frauen. Wenn nach dem Karlsruher Urteil zum § 218 auch kein Anlaß besteht, die Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht als besonders freizügiges Land zu betrachten, so bleibt doch festzustellen, daß die Frauenbewegungen in Europa so verschiedene historische Verläufe haben, daß eine Synchronisierung der Forderungen nicht immer leicht möglich ist. Man kann sich zwar von fortschrittlicheren Regelungen der Abtreibungspraxis in anderen europäischen Ländern eine stimulierende Wirkung auf die weitere Diskussion in Deutschland erhoffen, man kann jedoch angesichts der sehr unterschiedlichen sozialen Rahmenbedingungen der Frauenrechte in Europa kaum erwarten, daß Brüssel den deutschen Frauen in ihrer schwierigen Lage wesentlich hilft. Die nationale Ebene als Ort der politischen Auseinandersetzung um Rechte wie die der Frauen bleibt weiter notwendig.
7. Nicht zu vergessen ist ein zentraler Aspekt, der unser Land in spezifischer Weise betrifft: die Nation als Ort der Austragung teilungsbedingter Identitätskonflikte. Deutschland ist nicht nur über 40 Jahre lang staatlich und gesellschaftspolitisch geteilt gewesen, es hat auch in der Diskussion der Ursachen, die zu dieser Teilung geführt haben, nicht zusammenfinden können. So entsteht neben dem aktuellen politischen auch ein historischer, das Geschichtsbewußtsein erfassender Integrationsbedarf, der weder nur in einem lockeren regionalen Verbund noch in einer übernationalen europäischen Gemeinschaft befriedigt werden kann. Im Blick auf die durch die Teilung verhinderte gemeinsame Bewältigung der schuldbeladenen Vergangenheit kann man geradezu von der Notwendigkeit einer nachholenden Integration sprechen. Und diese läßt sich nur im Rahmen einer politisch bewußten Nation vollziehen.
8. Nicht zuletzt ist auch ein Zusammenhang zu betonen, der die Nation als Ort der Kirchengeschichte ernst nimmt: die Nation als Heimat kirchlicher Traditionen und Frömmigkeitsformen. Lutherbibel, Gesangbuchlieder und Katechismus erinnern uns daran, daß die Reformation und ihre Folgen untrennbar mit der Geschichte der Deutschen insgesamt verbunden sind. Folglich sind auch die Konfessionalisierungs-und Säkularisierungsprozesse nicht nur in regionalen Wirkungszusammenhängen zu sehen. In ihren Frömmigkeitsprägungen und mentalen Strukturen erscheinen die Deutschen dem Ausland unvermindert als Deutsche.
9. Am stärksten wird die Nation im Rahmen des Bildungswesens als Lebenswirklichkeit erfahren. Die Schulen sind Träger eines Bildungsguts, das bei aller Weltoffenheit doch national geprägt ist. Und auch die Hochschulen sind Stätten, in denen die Begegnung mit den Wissensbereichen der Weltgeschichte zunächst in nationalen Verständnistraditionen erfolgt. Dies gilt insbesondere für die Geistes-und Humanwissenschaften, die ohne die Lebenswelt der Nation nie ihre Ausstrahlung gewonnen hätten. Obwohl der europäische Einigungsprozeß zunehmend auch in Austauschprogrammen für Studierende und Lehrende seinen Ausdruck findet, sind die Studiengänge nach wie vor von den Bildungstraditionen der jeweiligen Länder und Staaten geprägt. Formen und Inhalte dieser Traditionen wirken trotz vielfacher Veränderungen fort.
10. Trotz und in mancher Hinsicht auch wegen aller Zerreißproben hat die Nation als Erinnerungsgemeinschaft ihre Bedeutung behalten. Sie bewahrt in ihrem kollektiven Gedächtnis Erfolge und Mißerfolge, Glücks-und Leidenserfahrungen, Hoffnungen und Ängste. Wie sehr dies zutrifft, wird bei Gedenktagen deutlich, die in den einzelnen Ländern verschiedene Gefühle wecken. So können Deutsche die Jahrestage des Kriegsendes nicht in gleicher Weise begehen wie die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges; nationales Gedenken ist für sie mehr als für andere mit kritischer Selbstbesinnung verbunden. Eine Internationalisierung des historischen Gedächtnisses, der „memoire historique“, ist nicht unbegrenzt möglich.