Zur Neuformierung Europas nach dem Kalten Krieg
Es war der Permafrost des Kalten Krieges, der in Europa die nationalen, kulturellen, religiösen oder sonstigen Differenzen unter dem Daumen hielt. Der Fall der Mauer wirkte politisch zwar befreiend, chaotisierte aber die Zeitläufe Von jener , neuen Weltordnung, die Präsident George Bush am 11. September 1990 vor dem US-Kongreß kommen sah, ist nirgends mehr die Rede.
Im Osten des Erdteils löste der Umschwung von der Bevormundung zur Eigenverantwortung mehr Beschwerden aus als Freude. Das zeigt von Litauen bis Ungarn nicht zuletzt die erstaunliche Wiederkehr der eben noch vor aller Welt blamierten Kommunisten Allerdings treten ihre nach-sowjetischen Parteigebilde in den verschiedensten politischen Verkleidungen auf, nur nicht länger als Abkömmlinge der , Realsozialisten früherer Tage.
Das Jaltasystem hat reichlich Altlasten hinterlassen. Selbst in den Ländern Westeuropas führte die Veränderung der Weltlage daher zu politischen Verwerfungen Zwar beabsichtigt die Mehrzahl dieser Staaten, sich auf absehbare Zeit zu einer „Politischen Union“ zusammenzuschließen Doch erweisen sich inzwischen nicht nur die bisherigen, sondern auch die in Maastricht (1991/92) beschlossenen Strukturen der diplomatischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit kaum als zeit-und problemgemäß.
Auch die Rolle und Stellung Deutschlands hat sich verändert, so daß die bedingten Reflexe der Nachkriegszeit nicht länger gelten. In Bonn/Berlin ist eine Neubestimmung des Standortes gefragt. Die Deutschen hüben wie drüben haben in den vergangenen Jahrzehnten keine jeweils eigene, geschweige denn gemeinsame sozial-, kultur-oder außenpolitische Rollenidentität entwickelt, auf die jetzt Verlaß wäre, unter völlig modifizierten Rahmenbedingungen. Die Langzeitperspektiven unserer Politik nach dem Ende der westalliierten beziehungsweise sowjetischen Kuratel lassen sich kaum Vorhersagen. Obschon Bonn das Wort Kontinuität unablässig im Munde führt, besteht für die Außenpolitik keine berechenbare Kohärenz zwischen der Altbundesrepublik und Deutschland.
Es hat nicht viel genützt, sondern wirkte einer Emanzipation wohl eher entgegen, wie sich heute erweist, daß wir seit 1949 vermieden haben, so etwas wie eine deutschland-und nationalpolitische Verantwortungsethik nicht nur zu entwerfen, sondern auch im Alltag umzusetzen
Selbstvergessen
Im Vorfeld der durch die deutsche Wiedervereinigung ausgelösten Hektik, die EG in einen Bundesstaat zu verwandeln, hatte die englische Premierministerin Margaret Thatcher den mit diesem Vorhaben verbundenen Verschmelzungsdruck in der Gemeinschaft gerügt. Das erscheint heute, inmitten der Nach-Maastricht-Ernüchterung klug gewesen zu sein: Nur 16 Prozent der Bundesbürger sehen noch Vorteile in einer EU-Mitgliedschaft, und weit weniger als zehn Prozent der deutschen Manager meinen, der Binnenmarkt biete ihnen wirtschaftliche Extrachancen Auch John Major, der von der Themse aus mit großem Schwung „at the heart of Europe“ zielen wollte, mußte erfahren, daß die Brüsseler Geschäftigkeit keine Her-zensangelegenheit zu sein scheint, weder für seine Landsleute, noch überhaupt für die EU-Europäer.
Auch dazu paßt, was Charles Powell berichtet hat. Vor einigen Jahren wurde Frau Thatcher aus Anlaß einer Staatsvisite am Rhein vom deutschen Bundeskanzler eingeladen, mit ihm ein paar Stunden im heimatlichen Rheinland-Pfalz zu verbringen. Der Besuch war als freundliche Geste gedacht, und es wurde ein heiterer Tag. Nachmittags fuhr die Gruppe nach Speyer. Dort, in der Krypta des Doms, während Frau Thatcher die Relikte eines früher einmal vereinten Abendlandes besichtigen konnte, nahm der Kanzler Powell beiseite. „Nachdem sie mich nun hier auf meiner heimatlichen Erde an der Grenze zu Frankreich und im Herzen Europas gesehen hat“, so überliefert der Zeitzeuge den Auftrag des Bundeskanzlers, „wird Frau Thatcher wohl endlich begreifen, daß ich nicht deutsch bin, sondern europäisch. Versuchen Sie doch bitte, ihr das beizubringen.“
Mehr mit gespielter Tapferkeit denn aus Überzeugung versprach der Berater, sein Bestes tun zu wollen. Kurz danach bestieg die englische Besucherin ihr Flugzeug, um nach London zurückzukehren. Während Powell darüber nachsann, wie er sich des heiklen Auftrags entledigen könne, lehnte sich Frau Thatcher in ihrem Sitz zurück, streifte erleichtert die Schuhe von den Füßen und verkündete mit jener Entschiedenheit, für die sie nicht nur in der Downingstreet bekannt war: „Mein Gott, Helmut ist ja so deutsch!“
Eine amüsante Geschichte, sicherlich, doch eine Szene mit doppeltem Boden. Dem Blick über den Tellerrand war zwar schon lange klar, daß die Deutschen gerade dann, wenn sie nachdrücklich weitläufig, friedensliebend, naturverbunden oder auch gesellschaftsutopisch sein möchten, dem Ausland immer sonderbar Vorkommen. Je internationalistischer wir sprechen, desto mittelhochdeutscher scheint das für fremde Ohren zu klingen. Diese Exotik strahlen wir (noch) immer aus, auch ohne die nachbarlichen Vorurteile, die einen langen Atem besitzen Und wenn wir gar lauthals betonen, aus welchen Gründen auch immer keine Deutschen mehr sein zu wollen, dann wirken wir vollends , tümelnd‘, und damit eben gerade echt , germanisch.
Wo doch sonst kein Mensch nachzuweisen versucht, seine Identität abgelegt zu haben und eines derartigen, mit Adalbert von Chamisso gesprochen, „Schattens“ auch gar nicht zu bedürfen Immer wenn es auf dem Alten Kontinent also irgendwie fundamentalistisch wird oder nur ausgesprochen gründlich zugeht, ist laut Außenwahrnehmung das Deutsche nicht fern, nicht zuletzt bei der Selbstverleugnung Everybodys darling bis zur Selbstaufgabe, als Richtschnur des deutschen Selbstbildes und damit als Leitlinie der eigenen Außendarstellung, so hätten wir es gern? Ohne kollektive Symbolsicherheit ist Integration nach innen wie außen im Sinne der Quasiformel Offenheit = (f) Zugehörigkeit jedoch kaum zu haben. Zwar gehört die Nichtannahme des eigenen Volkes als „Zutrauenssphäre“ (Plessner) laut Karl Otto Hondrich fraglos zu den Hypotheken der Verfehlungen unserer jüngeren Zeitgeschichte; die resultierende „split identity“ kann sich aber als Quelle neuer politischer Fehlleistungen herausstellen.
Was passiert, wenn die als „Verfassungspatriotismus“ (Sternberger) ausgegebene Entbehrlichkeit der Eintracht unter Streß gerät? Etwa weil -frei nach einer Bemerkung von Graham Greene -„national honour which had survived Belsen depended now on a rate of exchange of the deutschmark“? Die Fixierung des kollektiven Selbstbewußtseins auf den Wirtschaftserfolg *m*uß das Funktionieren der politischen Gemeinschaft belasten, falls in Abschwungphasen das ökonomische Wohlbefinden einer allgemeinen Jammer-stimmung weicht.
Der Bundeskanzler hat in Speyer aus lauterem Herzen gesprochen. Und dem steht nicht entgegen, daß er ansonsten so oft und so gerne das Wort vom Vaterland im Munde führt. Der selbst-ernannte Enkel Adenauers glaubt im Geist der frühen Nachkriegsjahre an eine Europäität als (im Sinne Hegels) „Aufhebung“ jener vielgeschmähten Last der eigenen Geschichte
Solche Flucht in die fremde/europäische Identität wirkt jedoch nicht nur absonderlich, sondern ist erwiesenermaßen riskant. Ihr fehlen alle Anschlußstellen, weil es keine „europäische Staats-nation“ (Aron) gibt. Überdies mutet sie in einem drastisch veränderten Umfeld nur noch neurotisch an und ist derart für andere unberechenbar. Die mehr oder weniger verborgene Logik der bundes-republikanischen Gegebenheiten der letzten vierzig Jahre verlangte immerhin, daß man zumindest das außenpolitische Eigeninteresse den Verbündeten von den Lippen abzulesen trachtete.
Laut Arnulf Baring besteht das Beunruhigende der neuen Lage für uns und die Nachbarn darin, daß das wiedervereinigte Land erst lernen muß, was es wollen soll, seit die klaren Fronten der Nachkriegspolitik der Vergangenheit angehören Der Berliner Politikwissenschaftler erläutert überzeugend, warum sich „viel mehr ändern wird, als uns lieb ist“. Im Rückblick wird deutlich, daß es sich mit der bisherigen Rheinbundmentalität so gut leben ließ, weil Bonn in der Welt bis dato unter alliierter Kontrolle auftrat
Fluchtpunkt Europa?
Aber von derartigen Unbeschwertheiten einmal abgesehen hatte das Auftreten Westdeutschlands durchaus Einfluß, vor allem durch sein gefülltes Scheckbuch Im Windschatten der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges können wir nicht länger verweilen, selbst wenn wir es wollten, die eigenen Konturen sind zu sperrig geworden. Es geht dabei gar nicht um eine Korrektur unserer Westorientierung darüber wird bislang nur am Rande des politischen Spektrums gemunkelt. Inzwischen bewegen wir uns aber in einer veränderten Architektur der internationalen Politik, so daß die überkommenen Verhaltensmuster zum Teil überholt wirken
Selbst der Verweis auf Europa, nach 1945 die Fluchtburg unserer beschädigten Identität, schafft keine neuen Bezugsgrößen. Denn mittlerweile verblaßt der föderalistische Traum und auch in Deutschland wird deutlich, was woanders immer klar war: Daß durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit allein kein überstaatliches Zusammenwachsen des Alten Kontinentes erreicht wird. Und schon gar nicht eine gemeinschaftliche Staatszwecklehre beziehungsweise ein europäisches Bundesgefühl als politisch tragender Grund des gemeinschaftlichen Handelns auch unter Streß oder Zeitdruck.
Die Differenzen, die sich seit drei, vier Jahren bei fast jeder Einforderung politischer Gemeinsamkeit in den Hauptstädten der EU beobachten lassen, sind keineswegs auf mangelnden Willen der politischen Kaste zur Kursabstimmung zurückzuführen. Sie spiegeln unterschiedliche Traditionen, Lage-bedingungen, Entwicklungsunterschiede oder/und besondere historische Erfahrungen der vielen Mitspieler in der Brüsseler Gemeinschaft.
Es ist eine Binsenweisheit, daß die Existenz gegeneinander konkurrierender, gar um weltpolitischen Einfluß ringender integraler Nationalstaaten mit dem Gedeihen Europas nicht mehr kompatibelist 25. Viele Probleme, etwa im Umweltbereich, können nicht länger einzelstaatlich gelöst werden. Aber daß eine kontinentale Identität ohne die Zwischenstufe des Nationalstaates als des zuständigen öffentlichen Raums möglich sei, in dem allein sich Teilnahme, Solidarität oder Freiheit lernen, gestalten und erhalten lassen, das war von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis zu Helmut Kohl eine der Utopien der Bundesrepublik Deutschland 26. An ihr hielt und hält man fest, obschon sich die EU-Bürger auch hierzulande längst sicher sind, daß der beschrittene Weg in die Europäische Union nötig ist; mittlerweile droht jedoch Wohltat zur Plage zu werden, falls die zwischenstaatliche Kooperati Viele Probleme, etwa im Umweltbereich, können nicht länger einzelstaatlich gelöst werden. Aber daß eine kontinentale Identität ohne die Zwischenstufe des Nationalstaates als des zuständigen öffentlichen Raums möglich sei, in dem allein sich Teilnahme, Solidarität oder Freiheit lernen, gestalten und erhalten lassen, das war von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis zu Helmut Kohl eine der Utopien der Bundesrepublik Deutschland An ihr hielt und hält man fest, obschon sich die EU-Bürger auch hierzulande längst sicher sind, daß der beschrittene Weg in die Europäische Union nötig ist; mittlerweile droht jedoch Wohltat zur Plage zu werden, falls die zwischenstaatliche Kooperation weiter zu einem riesigen Zentralstaat fehlmodernisiert werden sollte.
Man kann mit Burkhard Wehner in der gegenwärtigen Umbruchszeit sicherlich darüber spekulieren, ob es nicht leistungsfähigere Staatsformen gibt als die überkommenen Nationalstaaten. Der Politologe nimmt die Idee von Präsident Woodrow Wilson für unser Jahrzehnt wieder ernst und entwickelt gleichsam die Vision einer Art von fließender Landkarte, auf der jede Zusammengehörigkeitsgruppe sich ihren Staat schaffen darf, gegebenenfalls gleich mehrfach, je nach Bedarf oder Gelegenheit.
Obschon der Autor davon ausgeht, solchermaßen zur Entfeindung nicht nur auf dem Alten Kontinent beizutragen, ist sein Lösungsvorschlag angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan oder in Ruanda anzuzweifeln. Das Gedeihen der zivilisierten Moderne hängt ab von der Fähigkeit der Großgruppen, Unterschiede nicht nur auszuhalten, sondern mit Hilfe von universalisierenden Gesetzen den Sozialverkehr der untereinander Uneinigen reibungsarm zu halten.
Denn Politik machen heißt, Differenzen zu regeln. Die Herstellung von Konsens in allem und jedem, wie es die moderne Diskurstheorie suggeriert, wird hingegen nicht verlangt oder sie ist gar nicht möglich. So gesehen waren die Nationalstaaten zur Zeit ihrer Einführung ein Modernisierungselement par excellence. Sie entsprechen im Idealfall aufklärerischen Vorstellungen einer Vergesellung als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 28, sind mithin ein Modus der Verfeindungskontrolle.
Das auftrumpfende regionale Selbstbestimmungsrecht hingegen hat sich historisch als Vehikel der Abgrenzung erwiesen und damit zu Zeiten auch als Instrument der Barbarisierung 29. Selbstredend ist jede Vergemeinschaftung, das hatte Präsident Wilson ursprünglich im Auge, auf Legitimität und damit auf Loyalität angewiesen. Und diese Zustimmung geriet immer dann zur knappen Ressource, wenn sich eine der Einheiten, aus denen die Staatsträgerschaft zusammengesetzt ist, gegenüber den anderen Gruppen hervorzutun suchte. Solcher Vorherrschaftsdrang läßt sich im verflossenen Jugoslawien ebenso ausmachen wie in der ehemaligen UdSSR: Einmal waren es die Serben, die sich als Titularnation aufspielten, das andere Mal wollten die Russen alles bestimmen. Durch solche Bestrebungen erst kommt es zur gesellschaftlichen Fragmentierung, eine Spirale des ethnischen, religiösen oder auch nur historisch-psychologischen Gegeneinanders beginnt. Und diese Konfrontation kann, wie heute in Bosnien, bis zur wechselseitigen Auslöschung führen, wohl auch in der allerdings verfehlten Absicht, das Unheil für alle Zukunft abzuwehren, indem man es heute der anderen Seite antut.Wer mithin die Zersplitterung vermeiden will, auch jene, die heute unter dem ebenso lyrischen wie politisch oft nicht zu Ende gedachten Schlagwort des Regionalismus gehandelt wird, hat den Zusammenfassungs-oder Mehrgruppenstaat zu pflegen. Dabei sollte für die EU angemahnt werden, daß das Prinzip des angemessenen Umfangs derartiger Gebilde nicht aus den Augen verloren werden darf. Schon der Sozialökonom Leopold Kohr hat von einer , kritischen Größe der Staaten gesprochen.
Miteinander
Gleichwohl stellt ein dem Gemeinsinn verpflichteter Staat die modernste Form der politischen Komplexitätsminderung dar wie Erich Hobsbawm es in einer kritischen Studie über Mythos und Realität von Zugehörigkeitsgruppen seit 1780 dargelegt hat Der englische Autor vertritt allerdings eine Weitsicht ä la Metternich, indem er Umfassungsstaaten das Wort redet, ohne das tragende Zugehörigkeitsbewußtsein, zumeist also das Nationalgefühl, zu beachten. Mit Blick auf die Geschichte scheint Hobsbawm also jener Zusammengehörigkeitsmythos riskant zu sein, den Nietzsche in seiner Schrift über „Die Geburt der Tragödie“ (1872) zur Ökologie einer jeden Gesellschaft zählte, weil er die Meßlatte seiner ethischen Erwartungen bilde.
Hobsbawm hält diese Übereinstimmung statt dessen für ausgrenzend. Darum äußert er sich, und mit ihm die politische Linke, gegen die Nation als „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson). Freilich unterschätzt der Historiker das Bedürfnis der Menschen nach Eintracht Mit dieser Fehlgewichtung mentaler Handlungsmotive befindet er sich in guter Gesellschaft. Die Intellektuellen haben stets die historisch so augenfällige Dynamik von Gefühlen vernachlässigt. Vor allem ignoriert der moderate Materialismus eines Hobsbawm, daß es weniger solche Zugehörigkeitspathetik als vielmehr elitäre Machtinteressen waren, die in den letzten Jahrhunderten die Völker aufeinander gehetzt oder aber Feindschaften im Inneren durch Wir-ihr-Hysterien gefördert haben. Selbst der übelste Auswuchs des Fremdenhasses, der Antisemitismus als Massenphänomen, ist per se keineswegs eine Resultante des National-oder Zugehörigkeitsgefühls, sondern war zumeist Auswuchs verfehlter Sozialpolitik oder aber das Ergebnis gezielten Anstiftens beziehungsweise bewußter Unterlassungen
Paradoxerweise können nur florierende National-beziehungsweise Nationalitätenstaaten zur trans-nationalen Konfliktregelung bestimmte Zuständigkeitsbereiche an eine übergeordnete, im europäischen Fall also Brüsseler Instanz abtreten ohne allzu große Sorgen um Identitätsverluste. Das kann gelingen, solange maßvoll vorgegangen wird, ohne damit einen neuen, diesmal nationalitätenstaatlichen Zentralismus zu schaffen. Ihm dürfte es in Zukunft kaum anders ergehen als den Riesenreichen früherer Zeiten, die von ihrer jeweiligen Epoche gehaßt wurden, weil sie sich zu Völkergefängnissen aufblähten.
Im diplomatischen Geschäft von heute sind der Nationalstaat, jederlei Zugehörigkeitsgruppen oder auch die Legitimität von politischen Gebilden jedenfalls Faktoren von Gewicht. Wem das nicht deutlich sein sollte, der sei auf die Veröffentlichungen des französischen Managers und Publizisten Alain Mine verwiesen. Erschöpfend diskutiert der Bestsellerautor die Ecken und Kanten der Neuformierung auf dem Alten Kontinent nach dem Ende der Systemauseinandersetzung. Das Buch ist aus Pariser Sicht geschrieben, entsprechend nervös richtet sich der Blick nach Mitteleuropa, wo sich jenes „vaste empire“ (Brissot) der Deutschen wieder einzurichten scheint, das die französische Politik seit den Zeiten des Kardinal Richelieu so beunruhigt hat. Nicht daß der Autor anti-deutsch argumentiert, das tut er ganz und gar nicht. Er sieht nur die Gewichte auf dem Erdteil verschoben, wodurch die bisherige Diplomatie Frankreichs überdacht werden muß. Und er legt offen, daß das Nachbarland etwa mit Blick auf die Verteidigungspolitik über kurz oder lang zu einer Neu-oder wenigstens doch Umdefinition seiner Haltung genötigt sein dürfte. Obschon Alain Mine die europäische Kooperation in Form der EU also fortdenkt, erscheint es ihm illusorisch anzunehmen, daß die nationalen Standortfragen damit gelöst sind.
Vor allem die Entstehung neuer Nationalstaaten in Mittel-und Osteuropa habe dem europäischen Theater einen anderen Spielplan beschert. Wenn man Unsicherheiten wie die ruinöse Lage Rußlands oder die Risiken einer Ausdehnung der Konfliktualität am südöstlichen Saum Europas bedenke, lasse sich schon jetzt absehen, daß auf dem Kontinent ein „Wiederaufleben des politischen Denkens“ zu erwarten sei. Dadurch aber stellten sich nicht allein innenpolitische Fragen wie die Staats-und Ordnungspolitik neu zur Debatte, sondern ganz fraglos auch außenpolitische Sicherheitsfragen.
Deutschland ist nach Jahrzehnten der Außenlenkung in die „Zone eigenster Verantwortung“ (Ludwig Dehio) gerückt. Das ist zwar nicht die Ursache der Lageveränderung in Europa, es verlangt aber eine Sichtung der Bestände in diesem Land, das zusammenfinden muß. Offenbar ist die Nachkriegszeit auch insofern zu Ende gegangen, als die Wessis unter ziemlichem Abschiedsschmerz erkennen müssen, was die Ossis ohnedies ahnten: Daß die Wiedervereinigung sich weder aus der Porto-kasse bezahlen läßt, noch ohne mentale Veränderungen abgeht.
Die altbundesrepublikanische Befindlichkeit ist in einem geradezu nostalgischen Buch beschrieben worden. Mustergültig aufbereitet und schon mit historischem Flair versehen, finden sich hier Daten, Deutungen und Selbstbilder aus der vierzigjährigen Chronik der Bonner Republik. Sie gibt es nun nicht mehr, selbst wenn das immer noch nicht allen Altbundesbürgern klar sein dürfte. Den Autoren selbst scheint nicht ganz bewußt gewesen zu sein, daß es sich bei ihrer Studie um einen Schwanengesang handelt, wenngleich zu lesen steht, daß „die Geschichte der deutschen Standort-entwürfe Gefährdungen enthält“. Zu hoffen sei indes, daß die Zukunft nichts anderes bringe als eine Fortsetzung der bisherigen Rheinbundstaatlichkeit. Dieses Wunschdenken hat sicherlich damit zu tun, daß die Verfasser, Mainzer Politologen, der Zustandsrationalität der Bonner Vergangenheit ebenso verpflichtet bleiben wie der demoskopischen Datenlogik, die am Ende nur noch das erheben kann, was vorher als political correctness denküblich war
Neuanfang
Im Rückblick wird erkennbar, daß die Bundesbürger ihre Wirklichkeit verzerrt wahrgenommen haben und allerlei Illusionen frönten: in der Deutschlandpolitik, in der Europapolitik, womöglich auch in der Sicherheitspolitik. Zudem unterstellte die Wirtschaftspolitik einen linearen Aufschwung, der bei der Festigung des Weststaates am Rhein eine besondere Rolle gespielt hatte. Angesichts der Misere nach dem verlorenen Krieg und der Teilung des Landes bestand die damalige , Lösung der deutschen Frage also in einer Vertagung der Forderung des Grundgesetzes, eine vertretbare Identität der Deutschen zu formulieren: -Wir flohen lieber in die Abendlandidee und damit in den Westen und überließen die vielbeschworenen „Brüder und Schwestern in der SBZ“ ihrer Unterdrückung. -Wir ersetzten die Pflege eines Zugehörigkeitsgefühls, auch Patriotismus genannt, durch einen reichlich aufgeplusterten Stolz auf unsere wirtschaftliche Tüchtigkeit Als Ersatzheimatgefühl begleitete diese Wohlstandsseligkeit die Bonner Jahre. Unter dem Stichwort , Wirtschaftswunder läßt sich geradezu von einer Geburt der westdeutschen Demokratie aus dem Geist der Prosperität sprechen. Bereits am 12. Dezember 1948 hatte jedoch Theodor Heuss in Heppenheim gefordert: „Wir brauchen ein neues Nationalgefühl in dem Sinne einer freien bekenntnishaften Haltung.“ Das Wort , Patriotismus träfe das Bedürfnis besser, einem Gemeinwesen anzugehören, dessen Erfolg mit dem eigenen Engagement korrespondiert. Loyalität läßt sich nicht allein auf Konsumfreude begründen. Unser Mangel an Zugehörigkeitsgefühl, das eine gedeihliche Balance von Selbstverwirklichung und Sozialwillen schafft, würde mithin einzig durch unser traditionell starkes Ordnungsbewußtsein ausgeglichen
Aber heute, da in der Massenwahrnehmung alles unübersichtlich wird und sich aufzulösen scheint, fehlt das beruhigende Gefühl, einem mitverantworteten Ganzen anzugehören, das die Turbulenzen überstehen kann. Bleibt in dieser Lage der Wirtschaftserfolg nachhaltig aus, kann sich die Demokratie als Schönwetterveranstaltung entdecken.
Patriotismus als ein Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl, das auch in Durststrecken wenigstens Bezugspunkte bietet, ist nicht gepflegt worden. Vielmehr mauserte sich der jeweilige Eigennutz zur Maxime der Bonner Republik. In Versorgungs-und/oder Orientierungskrisen könnte bei der Suche nach Sinnstiftendem daher nicht nur die Bevölkerung auf hysterische Formen der Panikkontrolle zurückgreifen.
Damit aber würde die landesübliche Denunzierung, kollektive Emotionen seien irrational, zur sich selbst erfüllenden Prophetie. Wohingegen es doch darum gegangen wäre, eine demokratische Primäridentität mittels affektiver Bindungen an das Gemeinwesen zu pflegen, um Anomie im eigentlichen Wortsinn abzuwehren.
Es mag wie Rechthaberei klingen, aber das gegenwärtig so spürbare Fehlen von Gemeinsinn ist die Quittung dafür, daß die Debatte darüber bislang vermieden wurde, welche Pflichten der einzelne gegenüber dem Gemeinwohl übernehmen muß, damit nicht alles auseinanderläuft.
Themenwechsel
Ist die Veröffentlichungsflut über den Nationalismus und die nationale Frage ein Ausdruck dafür, daß wir es mit einem Mangel zu tun haben? Es gibt nicht nur Verweise auf eine Renaissance des Nationalen im wilden Osten. Vor allem mit Blick auf Deutschland wird -z. B. in einer von Petra Braitling und Walter Reese-Schäfer herausgegebenen Aufsatzsammlung -vor Rückfällen gewarnt. Dieses Buch ist darum so bezeichnend für den Diskussionsstand, weil die beteiligten Autoren ihrer Fragestellung eher spröde gegenüberstehen, wenngleich der Tübinger Philosoph Rüdiger Bubner vermutet, daß „fremd verordnete Einheitlichkeit ... auf die Dauer nicht hingenommen wird“.
In einer philologisch angelegten Studie wurde der Versuch unternommen, so etwas wie eine „Moral des Patriotismus“ zu entwickeln. Die Autorin macht das Akzeptieren der Identität abhängig von der Ausformung lebensweltlicher Einbettungen. Oder aus der Ich-Perspektive formuliert: Warum soll ich mich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern, etwa zum solidarischen Teilen bereit sein, wenn ich mich mit der Gesellschaft, in der ich lebe, nicht identifizieren kann oder will?
Auch die Soziologie, die sozialethischen Fragen seit langem aus dem Weg gegangen ist, stürzt sich inzwischen auf die Frage nach dem Wesen und Wirken von verhaltensleitenden Inklusionscodes. Ein Reader beschäftigt sich beispielsweise mit der historischen Funktionalität des öffentlichen Bewußtseins. Der Band liest dabei, wie könnte es anders sein, die Herausbildung von Übereinstimmung gegen den Strich. Nationale oder andere Zugehörigkeitsbilder werden als Kodifizierungen entlarvt. Wir hätten es mit Zugehörigkeitsmythen zu tun, durch Sinneliten in bestimmten geschichtlichen Situationen vermittelt. Der Leser ist beeindruckt von dem Theorieverzehr der Autoren wenngleich er sich über die temporale Begrenzung eines Phänomens wundert, das bis tief in die dynastische Epoche zurückreicht. Zu kurz kommt über dies die Erfahrung, daß Weltbilder, die für real gehalten werden, weil sie einen Gefühls-oder Gebrauchswert als Orientierung haben, ziemlich immun sind gegen die Aufdeckung als Ideologie.
Der Aufwand der »Enthüllungen ist mithin eine Übung in Vergeblichkeit, falls damit der Weg in eine „postnationale Identität“ geebnet werden soll. Er ist auch deswegen vertan, weil zu dieser angestrebten Befindlichkeit weder Alternativen aufgezeigt werden noch überzeugend dargetan wird, inwiefern eine Zugehörigkeit unter dem Namen „Europäität“ als Gefühlsgröße wertvoller sein sollte als die überkommene „Nationalität“.
So löst die seit 1989 zu verzeichnende, an sich ebenso legitime wie erfreuliche Ausweitung der Selbstbestimmung auf dem Alten Kontinent mittlerweile mehr Besorgnis aus als Zustimmung
Die europäische Gegenwart reagiert nervös auf die vielen neunationalen Sprüche. Gleichwohl scheint die Zeit des Nationalstaates als der ausschließlichen Bezugsgröße vorbei zu sein. Westeuropa hat sich auf den einheitlichen Wirtschaftsraum, eine Art von kontinentalem Staatenverbund und damit auf innovative politische Konstellationen einzustellen. Nimmt aber mit dem Zuständigkeitsschwund der Nationalstaaten auch unser Zugehörigkeitsempfinden ab? Im Zuge der Befreiung Osteuropas hat sich herausgestellt, daß dör Zeitgeist die nationale Frage wieder einmal unterschätzt hat.
Wir Deutschen reagieren aus verständlichen Gründen hellhörig auf nationale Töne und malen vorschnell den Teufel an die Wand. Dennoch vermittelt die Einbindung in zwischenstaatliche Gebilde nicht selbstläufig eine neue Einbettung. Unsere Enkulturation zehrt vielmehr von Vorhandenem. Die komplizierte Dialektik solcher Zurechnungen läßt die vielen Unruheherde und Problemzonen ahnen. Da wir es in Brüssel mit einem regierungsamtlichen Kunstprodukt zu tun haben, bildet Europa in Form der EU bisher jedenfalls keine demokratisch verankerte Symbolfigur welche die herkömmlichen Bezüge ablösen kann. Doch ist das Bedürfnis der Menschen nach einer heimischen Sphäre, zu der und in der man zählt, und damit nach einer wenigstens imaginären Behausung sozialpsychologisch unumstritten.