I. Neue historische Identität für die vereinten Deutschen?
„Jenes gesunde Gefühl der Unzerfallenheit -der Identität -mit sich selbst, das ich endlich einmal den bisher von einem Extrem ins andere taumelnden Deutschen wünschte, wäre so frei von Zerknirschtheit wie von jeder Überheblichkeit und Aggressivität gegenüber Fremden, gerade an deren Fehlen wäre es zu erkennen. Ein unbesorgtes, ungebrochenes nationales Identitätsgefühl wird den Deutschen nie wieder beschieden sein. Die deutsche Geschichte, die jüngere zumal, steht dem für alle Zeit entgegen ... Es gibt überhaupt nur einen ehrlichen Weg: nichts ableugnen, nichts wegschieben, fest und unverbrämt im Auge behalten, womit Deutschland einmal bewirkt hat, , daß (es) unter den Völkern sitzet/Ein Gespött oder eine Furcht (das schrieb Brecht), zu verstehen, wie es dahin kam und nichts zu verzeihen. Alles andere wäre Lüge, das Lügengebäude bräche eines Tages zusammen, und dieser Kollaps wäre für uns selber nicht weniger gefährlich als für unsere Nachbarn.“
Sechs Monate vor der Wiedervereinigung bezeichnet Dieter E. Zimmer in seinem Beitrag in „Die Zeit“ das Zentralproblem der neuen Herausforderung für alle Deutschen mit dem Begriff der Identität, läßt keinen Zweifel daran, daß Identität immer auch historisch ist und nennt die Bedingungen, unter denen sie allein erreichbar ist, so „besorgt“ sie auch immer sein wird. Nur der ehrliche Weg führe zur „Einsicht in das, was man wohl oder übel ist“ und zur elementaren -Kritik implizierenden -Zustimmung dazu.
Es geht Zimmer um die kollektive Identität der wiedervereinigten Deutschen; die Formulierungen „Unzerfallenheit mit sich selbst“ und „Einsicht in das, was man ... ist“ verweisen jedoch auf das Individuum und nicht nur auf das Kollektiv. Und in der Tat beginnt er mit eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Diese hätten ihn dazu geführt, sich als Deutscher zu sehen und sich „trotzdem halbwegs zu akzeptieren“ -individuelle Identität und kollektive Identität, Lebensgeschichte und . große* Geschichte. Zimmer ist kein Geschichtsdidaktiker; er schlägt aber das Thema an, dem sich die Disziplin Geschichtsdidaktik seit der Herausforderung durch die Einheit besonders verpflichtet weiß: Identität und Geschichtsbewußtsein, denn ohne einen lebensgeschichtlichen Bezug gelangt historisches Lernen nicht zu differenzierten Bewußtseinsformen.
Der Identitätsbegriff erfuhr mit der Wiedervereinigung eine außerordentliche Konjunktur: „Wenn freilich ein Begriff dem Jahr 1992 den Stempel aufgedrückt hat, dann war es der Begriff der Identität. Wer sind wir, was wollen wir?“
Nation durch politischen Willen Doch nicht erst die Vorgänge von 1989 weckten die Frage nach der historischen Selbstvergewisserung der Deutschen. Es sei u. a. nur an die Kontroverse darüber erinnert, wie der 8. Mai 1985 angemessen zu begehen sei. Und im Angesicht der Diskussion um die Konzeptionen der Historischen Museen in Berlin und Bonn stellte der Geschichtsdidaktiker Karl Ernst Jeismann skeptisch die Frage: „Identität* statt , Emanzipation"?" Diese beiden Begriffe stehen für ihn für die Frage nach dem Ziel des Umgangs mit der Geschichte überhaupt: Befreiung von ihr oder Geborgenheit in ihrem Kontinuum? Diese Ende der sechziger Jahre entstandene Alternative greife jedoch zu kurz: „Es sind vielmehr unterschiedliche Identifikationstraditionen, die sich auf diese Weise gegenübertreten.“
Diese Identifikationstraditionen zu bestimmen wäre ein Schritt auf dem einzigen ehrlichen Weg der historischen Aufklärung im Verständnis Zimmers. Identität kann nicht bedeuten, eine Sichtweise auf Kosten aller anderen zu verabsolutieren. Identität erweist sich gerade im Ertragen von Spannung. Und gleichsam im Vorgriff auf die damals nicht für möglich gehaltene baldige Vereinigung konstatierte Jeismann: „Die deutsche Einheit ist kein Monolith, sondern die spannungsreiche Kom-munikation historisch gewordener, unterschiedlicher Identitäten, deren Recht nicht aus der . Nation* abgeleitet werden kann; sie konstituieren vielmehr in gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Geschichte erst die Nation durch den politischen Willen. Dieser Wille würde durch den Zwang, sich als , une et indivisible’ zu begreifen, gelähmt.“
Konstituieren die unterschiedlichen Identitäten die Nation mittels politischen Willens, so findet dieser Wille seinen Ausdruck in der politischen Verfaßtheit der Gesellschaft, d. h. ihrer Verfassung und deren Realisierung. Hier ist an die . gedachte Ordnung der Staatsbürgernation im Verständnis von M. Rainer Lepsius wie an die neue Diskussion über Dolf Stembergers Idee der . lebenden Verfassung* -einen wünschenswerten Verfassungspatriotismus, der neben dem passiven auch einen aktiven Bürgerstatus impliziert -zu denken. Von einer durch aktiven Bürgerstatus von unten „vitalisierte(n) Öffentlichkeit“ erwartet Ulrich Sarcinelli die demokratische Weiterentwicklung einer offenen Gesellschaft im Verständnis Poppers, in der die Menschen immer wieder neu Entscheidungen und Vereinbarungen zu treffen gehalten sind
Zu diesen Vereinbarungen muß in Deutschland auch der in Permanenz notwendige, spannungsgeladene Diskurs über die historische Selbstvergewisserung gehören -als ein Teil der komplexen und geschichteten kollektiven Identität der Nation. Dieser Diskurs muß notwendigerweise kontrovers bleiben, aber der dauerhafte Wille zum Diskurs selbst ist schon identitätsfördernd. Ein derartig differenziertes Geschichtsbewußtsein, das die „Erfahrung mit dem Sorgehorizont der Gegenwart“ verknüpft, ist aber nicht einfach da -es muß vermittelt und erlernt werden. Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik haben in diesem Zusammenhang ihre identitätsstiftende Aufgabe „in der Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins, das zu einer ... Spannungen aushaltenden Balanceleistung befähigt“
Neue gesamtdeutsche Geschichtsdidaktik?
Gibt es schon eine gesamtdeutsche Geschichtsdidaktik? Ist sie im derzeitigen additiven Zustand überhaupt in der Lage, in die gewünschte Richtung zu wirken? Wendelin Szalai und Horst Kuss beschreiben im vorliegenden Heft die Unterschiedlichkeit der Disziplinen Geschichtsmethodik und Geschichtsdidaktik in den voneinander unabhängigen Entwicklungen in „Ost“ und „West“. Seit 1990 findet der Ost-West-Dialog nun statt. Aber er ist leider von eklatanter personaler Asymmetrie gekennzeichnet, deren Gründe wohlbekannt sind. Der neuen gesamtdeutschen Geschichtsdidaktik muß es jedoch um die Substanz gehen, d. h. um das, was beide . historischen* Disziplinen in den Diskurs einzubringen haben. Von ostdeutscher Seite ist dies vielleicht mehr, als bisher angenommen wird.
Nur über ein komparatistisches Projekt, dessen mögliche Konturen Bernd Mütter zeichnet lassen sich Komplexität, Qualität und Reichweite der evidenten Unterschiede ebenso nachweisen wie die Problemparallelen. „So sticht beispielsweise das unbestreitbare Verhaftetsein beider Disziplinen in die jeweiligen Kontexte und Entwicklungsstadien ihrer politisch-sozialen Systeme besonders hervor ... Die regulative Idee angemessener wissenschaftlicher und vor allem pädagogischer Autonomie war und ist auch im Westen allenfalls annäherungsweise erreicht worden.“ Eine andere Problemparallele besteht im unübersehbaren Mangel an empirischer Kenntnis des gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins wie der Wirkungen von Geschichtsunterricht.
Schon diese Andeutungen lassen erkennen, „daß die Wiedervereinigung keineswegs eine starke und erfolgreiche Geschichtsdidaktik West und eine abgewirtschaftete Geschichtsmethodik Ost zusammengeführt hat, sondern in mancherlei Hinsicht zwei Disziplinen, die beide in der Krise steckten und stecken, wenn auch in unterschiedlichen Dimensionen“ Gemeinsam sind die Geschichtsdidaktiker aus den alten und neuen Bundesländern gehalten, eine konsensfähige Geschichte des historischen Lernens zu erarbeiten, ohne die es „keine tragfähige Basis für eine neue gesamtdeutsche Geschichtsdidaktik“ gibt Erst sie ermöglicht Einsichten in Kategorien, Dauerprobleme, Struktur und Funktionen der Disziplin.
II. Individuelle historische Identität
Parallel zur Rückschau ist die Geschichtsdidaktik jedoch zur Mitgestaltung von Gegenwart und Zukunft verpflichtet. Die Anstrengungen erfolgen auf verschiedenen Ebenen Ein Schwerpunkt der Bemühungen ist die Erforschung der Bedingungen und Mechanismen für die Bildung von Identität und Geschichtsbewußtsein. Bedingungen, Leistungen und Risiken von Identitätsbildung generell hat neuerlich Hartmut Voit beschrieben Die identitätsstiftende Funktion des Geschichtsbewußtseins hat Werner Weidenfeld zu definieren versucht und Klaus Bergmann überarbeitet derzeit seinen Beitrag über Identität im Handbuch der Geschichtsdidaktik In Anlehnung an Habermas betont er die Wichtigkeit der Zugehörigkeit zur übergreifenden Identität einer Gruppe für die individuelle Identitätsbildung und bezeichnet das historische Selbstverständnis einer Gruppe als deren historische Identität
Identität und Lebensgeschichte Die neue Debatte, an der sich auch der ostdeutsche Philosoph Karl-Friedrich Wessel beteiligt, richtet sich auf die historische Identität des Individuums. Wessel sieht jedes Individuum in einen doppelten Käfig gesperrt: „Der größere hat seine Grenze durch die Epoche und den uns dadurch möglichen Raum, der kleinere, uns immer selbst betreffend, ist die Lebensgeschichte, unser eigenes Gewordensein.“ Gemeint sind damit weniger Fesseln und Unvermögen, als vielmehr die lebenslange Herausforderung, sich mit Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie so zu verarbeiten, daß sie das eigene Selbstverständnis fördert und stabilisiert. Die Beschwernisse des Lebensvollzugs infolge unterschiedlicher eigener Dispositionen und wechselnder Lebensbedingungen in Gestalt politischer und gesellschaftlicher Vorgänge auf der Makroebene, ökonomischer und geistiger Konstellationen im Nahbereich sowie der das Individuum täglich umgebenden Menschen lassen die Identitätsbildung nicht zum Abschluß kommen und machen immer wieder Revisionen notwendig
Indem sich das Individuum diesen ständigen -mal mehr, mal weniger virulenten -Herausforderungen stellen muß, ist es auch gehalten, seine Lebensgeschichte immer wieder umzuschreiben oder neu zu interpretieren. Unter dem Begriff „Geschichte als Lebensverhältnis“ war dieser Sachverhalt bereits Erich Weniger und der geisteswissenschaftlichen Pädagogik insgesamt „klar bewußt“ Und der oral historian unserer Tage, der mit Hilfe des retrospektiven Interviews sich u. a. bei der Erinnerung sich vollziehenden Vorgängen zu nähern versucht, findet die Erkenntnis Wilhelm Diltheys bestätigt, daß die sich im Lebenslauf ändernde Zeiterfahrung zu unterschiedlichen Deutungen der eigenen Vergangenheit führt Diese unterschiedlichen Deutungen der eigenen Vergangenheit sind nicht nur kognitive Vorgänge, sie erfassen den ganzen Menschen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften und bestimmen somit auch sein Selbstwertgefühl, dem eine emotionale Bindung an Werte eigen ist, die Sinnstiftung ermöglicht
Den autobiographischen Bestandteil der Identität akzentuiert auch Jochen Huhn, indem er an Erik Eriksons Erkenntnisse anknüpft und Identität als Selbstwahrnehmung des Menschen in dem Sinne begreift, daß sie zugleich in der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit wie in der Wahrnehmung besteht, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen, deren Zustandekommen aber ohne die integrierende Deutung der im Lebensverlauf sich ereignenden Widersprüche und Kontinuitätsbrüche undenkbar ist Diese autobiographische Integrationsleistung muß sich auch in der vom Individuum permanent geforderten Interaktionsbalance (im Verständnis Lothar Krappmanns) bewähren, damit es für seine Umwelt stets verständ-lieh bleibt. Wie es scheint, kann der Stellenwert der Autobiographie für die Identitätsbildung nicht überschätzt werden.
Meint das auch Rolf Schörken, wenn er Geschichte als den nächsten Umweg zum Ich und als „unentbehrliches Medium der Selbsterkenntnis“ bezeichnet? Karl-Friedrich Wessel geht so weit, zu sagen, daß das Individuum nichts hervorbringen könne, das nicht in der eigenen Biographie liege. Die Gegenwart erkennen, sie verstehen und gestalten geschehe über den Umweg über die Vergangenheit, aber auch über die Zukunftsvorstellungen, welche die biographisch gebundene Erfahrung vermittle. Individualentwicklung sei ein Prozeß der Symmetriebildung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Indem sich der Mensch seine innere Vergangenheit erarbeiten müsse, sei er infolge wachsender Erfahrung im Lebensprozeß, aber auch von Außenanforderungen wie Umwelt und situativen Faktoren stets gefordert, diese Symmetrie neu auszubalancieren: „Fortwährend, natürlich bedingt durch Brüche, werden neue Verhältnisse hergestellt.“ Diese Balance ist etwas anderes als die Interaktionsbalance Krappmanns, die damit nicht etwa aufgehoben ist. Die Ausbalancierung der Symmetrie betrifft eine tiefere Schicht und geht der Interaktionsbalance voraus. Im Identitätsbildungs-und -revisionsprozeß wechseln sie wohl einander ab.
Wie vollzieht sich der Umgang des Individuums mit der eigenen Lebensgeschichte? Wessel und Steinbach messen der Erfahrung einen zentralen Stellenwert zu. Steinbach konstatiert, daß das Individuum geschichtliche Erfahrungen durch erinnernde Nachbereitung im Bewußtsein verankert und in den Kontext der eigenen Biographie stellt, um seiner selbst innezuwerden: „Durch Erinnern gewinnen Ursprungserlebnisse einen lebens-geschichtlichen Stellenwert.“ Und Wessel formuliert: „Die Selbsterfahrung, die das Individuum vollzieht, ist erinnern, primär und zuvörderst, obgleich die Mechanismen des Erinnerns sehr verschieden sind .. .“
Werden die lebensgeschichtlich verankerten Vorstellungen von Geschichte aber wirklich nur durch Erfahrungen und die Erinnerung an diese herausgebildet und genährt? Hans-Jürgen Pandel hat darauf aufmerksam gemacht, daß die geschichtlichen Vorstellungen wohl in noch größerem Maße als durch Erfahrung durch in kultureller Kommunikation vermittelte Informationen über Geschichte bestimmt werden „Die Fähigkeit, Geschichte zu verstehen und zu erzählen, ist nicht aus Erfahrung allein gespeist. Geschichte wird uns tradiert. Wir erinnern uns nicht an sie, sondern sie wird uns in einer kulturellen Kommunikation vermittelt.“ In das historische Selbstverständnis eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens gehen folglich aus Erfahrung gewonnene und kulturell tradierte Elemente von Geschichte ein.
Jüngst hat Pandel gleich vier Zugänge zur Geschichte unterschieden: den existentiellen, den identitiven, den lebensweltlichen sowie den intellektuellen Hat er damit den Zugang über die Erfahrung noch weiter relativiert? Der in kultureller Kommunikation vermittelte Zugang wird hier als lebensweltlicher bezeichnet: „Er wird durch die kulturelle Umwelt gekennzeichnet, die ausgefüllt ist mit Deutungen von Vergangenheit, die nicht als besondere Ereignisse oder dramatische Veränderungen erlebt werden, sondern eher eine langfristige Wirkung ausüben. Belletristik, Denkmäler, Feste, Spielfilme, Straßennamen und Publizistik sind hier wirksam. Sie können eine Veränderung des Geschichtsbewußtseins nach sich ziehen, wenn sie ein gewisses Maß an existentieller oder identitiver Wirkung erreichen.“
Mit dem Rückbezug auf den existentiellen und den identitiven Zugang hebt Pandel die scheinbare Relativierung wieder auf und gibt ihnen eine neue Akzentuierung, denn beide Zugänge erweisen sich als nur zu analytischen Zwecken aufgebrochene Einheit: Während der existentielle über prägende „Lebenslagen und Ereigniserfahrungen“ -Schlüsselerlebnisse - erfolgt, eröffnet sich der identitive „durch Verunsicherungen des Selbstbewußtseins und der Lebensdeutung, die eine Neuinterpretation der eigenen Lebensgeschichte nötig machen“ Hier ist dasselbe gemeint, was Pandel in seiner Charakterisierung des Problemorientierten Geschichtsunterrichts auf die Gruppe bezogen „Infragestellung sozialer Identität“ nannte und unter das Betroffenheitskriterium subsumierte Identität als strukturierendes Zentrum des Geschichtsbewußtseins Mit dieser Ausdifferenzicrung und Neuakzentuierung gelingt es, sich dem Zustandekommen lebensgeschichtlich verankerter Vorstellungen von Geschichte weiter zu nähern und die Autobiographie als engstens mit der Identität verbunden zu erkennen. Prägende Lebenslagen, Schlüsselerlebnisse, wie immer geartete Verunsicherungen des Selbstverständnisses und die kulturell vermittelten -lebensweltlichen -Rezeptionen von Vergangenheitsdeutungen, die den Alltag unauffällig begleiten, die aber virulent werden, sobald sie die Existenz berühren und damit identitätsrelevant werden: aus diesen Bestandteilen bildet jedes Individuum sein eigenes Netz von Vorstellungen über Geschichte, das nach Jochen Huhn im Zentrum der Identität liegt: „Wir können die Identität als strukturierendes Zentrum des Geschichtsbewußtseins sehen. Wenn wir das Bild konzentrischer Kreise nehmen, läge im Zentrum dieser eng mit der Identität verbundene Komplex. Er beeinflußt die historischen Interpretationen, und diese wiederum geben den Ereignissen und Personen größeres oder geringeres Gewicht im Geschichtsbewußtsein nach Maßgabe ihrer Bedeutung für dessen Identität.“
Geschichtsbewußtsein ist für Huhn die Gesamtheit der geschichtlichen Bewußtseinsinhalte -gleich, ob sie wissenschaftlichen Kriterien genügen oder nicht. Diese Gesamtheit ist aber nicht nur bei jedem Individuum eine andere; von entscheidender Bedeutung ist vielmehr ihre Altersabhängigkeit: „Wer auf eine relativ kurze Biographie zurückblickt und den größeren oder doch einen großen Teil des Lebens noch vor sich hat, urteilt über Vergangenheit und Zukunft prinzipiell anders als derjenige, der den größten Teil seines Lebens schon hinter sich hat ... Vor allem und immer geht es beim Durchlaufen der verschiedenen Lebensalter um die Einschätzung des Stellenwertes von Vergangenheit und Zukunft überhaupt.“ Neben die altersspezifischen Identitäten setzt Mütter die generationsspezifischen, die durch epochenspezifische Schlüsselerlebnisse (s. o.) entstehen und die Verständigung über Geschichte zwischen den Generationen erschweren.
Mangel an Lebenserfahrung bei Schülern Wie sieht das Netz der Vorstellungen von Geschichte beim Jugendlichen aus? Er verfügt nur über einen bescheidenen Schatz an geschichtlichen Erfahrungen. Wessel und Steinbach denken primär an den Erwachsenen und messen deshalb der Erinnerung an die Eigenerfahrungen eine so große Bedeutung zu. Selbst wenn man den lebens-geschichtlichen Erfahrungen auch bei Jugendlichen einen gewissen Anteil an der Gesamtheit ihrer Geschichtsvorstellungen zuerkennt, die ihnen Symmetrieleistungen im Sinne Wessels ermöglichen, ist doch der weitaus größere Teil von der in kultureller Kommunikation tradierten Geschichte ausgefüllt: „Aus der Tatsache, daß bei Schülern und Schülerinnen tradierte Geschichte und die erlebte Gegenwart dominieren, ergeben sich die besonderen Vermittlungsprobleme von Unterricht, da stabile, auf Geschichte gerichtete Motivationsstrukturen, die auf ... Erfahrungen beruhen, noch nicht ausgebildet sind.“
Das würde bedeuten, daß die Autobiographie dann allein kaum der geeignete Ausgangspunkt für geleitetes historisches Lernen sein kann. Indem Huhn Geschichte als das definiert, „was wir von Vergangenheit erinnern“ gebraucht er Erinnerung in einem weiteren Verständnis: „Von zentraler Bedeutung für historisches Lernen ist, was wir uns wissenschaftlich von der Vergangenheit erarbeiten, sozusagen das wissenschaftliche Erinnern.“ Dieses wird dem alltäglichen Erinnern gegenübergestellt, das mehr sein muß als nur das Vergegenwärtigen lebensgeschichtlicher Erfahrungen, also auch die tradierten historischen Informationen umfaßt. In Erinnerung gerufen werden kann somit nicht nur Erfahrenes, sondern auch Erlerntes: „Aufgabe der Geschichtsdidaktik ist, zwischen beiden Formen des Erinnerns zu vermitteln, den Anteil des wissenschaftlich kontrollierten Erinnerns zu vergrößern und auf diese Weise historisches Lernen zu ermöglichen.“
Psychologie historischen Lernens Die Frage, wie historische Vorstellungen erinnert werden und wie wissenschaftlich kontrolliertes Erinnern veranlaßt werden kann, führt zu einem von der Geschichtsdidaktik bisher nicht gelösten Problembündel -der Psychologie historischen Lernens. Bisher ist es nicht gelungen, die Ergebnisse der neueren Entwicklungs-, Denk-und Lernpsychologie so zu verarbeiten, daß die Spezifika historischen Lernens mit dem von der Psychologie bereitgestellten Instrumentarium zufriedenstellend erfaßt worden wären. Über Addition von Befunden und eine gewisse Plausibilität ist man bisher nicht hinausgekommen; eine diesbezügliche Sektion auf der Augsburger Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik 1983 vermittelte sogar den Eindruck von Resignation.
Neuerlich sind ostdeutsche Vertreter der Geschichtsdidaktik angetreten, befriedigendere Antworten auf die alte Fragestellung zu geben. Dagmar Klose ist dabei, den kognitionspsychologischen Ansatz Joachim Lompschers zu rezipieren und für das historische Lernen nutzbar zu machen. Es geht ihr um die Erschließung individueller Mechanismen von Wahrnehmung und Verarbeitung und deren spezifische Potenzen für individuelle historische Sinnbildungsprozesse, um auf diese Weise neue Erkenntnisse für den Geschichtsunterricht zu gewinnen Die Diskussion darüber hat eingesetzt die Ergebnisse werden sicher auch zur Vertiefung der Kenntnisse über die Bildung historischer Identität beitragen.
III. Kollektive historische Identität
Wenn Huhn die Aufgabe der Geschichtsdidaktik in der Vermittlung zwischen dem alltäglichen und dem wissenschaftlichen Erinnern sieht, um den Anteil des wissenschaftlich kontrollierten Erinnerns zu vergrößern, dann meint er, daß auf diesem Wege historisches Lernen eine Identität und ein Geschichtsbewußtsein fördern würde, die offen seien „für den Diskurs zwischen unterschiedlichen Positionen, ohne den unsere Demokratie nicht existieren“ könne. Damit wird deutlich, daß er keine inhaltlich bestimmte Identität vermitteln will, sondern eine, „die einer pluralistischen Demokratie entspricht“
Demokratische Identität, komplex und geschichtet Bei dieser Qualifizierung von historischem Lernen und Identitätsaufbau stellt sich die Frage nach der eingangs bereits angesprochenen kollektiven Identität erneut. Läßt sich -selbst wenn das Ziel historischen Lernens auf breiter Basis erreicht würde und eine Vielfalt von Individuen, begabt mit der erwünschten Ich-Identität, das Geschichtsbewußtsein eines Volkes bestimmte -das , Wir‘ ohne eine inhaltliche Füllung des Gemeinten formulieren? Huhns Skepsis richtet sich mit Recht gegen eine von außen verordnete Identität. Kollektive Identität wird s. E. durch einen Geschichtsunterricht, wie er ihn sich vorstellt, erreicht. Aber Huhn bedarf, um dieses sagen zu können, selbst einer Orientierungsmarke und findet sie im Kernbereich des Grundgesetzes, im Pluralismus. Hier macht er die gesellschaftlich erwünschten Identitäten fest und schlägt damit durchaus einen Inhalt für die kollektive Identität vor.
Es ist sicher ganz wichtig, daß in der neuen geschichtsdidaktischen Diskussion der Weg über die . Innenansicht der Identität gewählt worden ist. Damit ist ein Pol eines Spannungsfeldes beschrieben, ohne den historisches Lernen als Streben nach Einheit von Geschichtsbewußtsein und Identität im Individuum nicht so deutlich erkennbar geworden wäre. Der andere Pol aber ist notwendigerweise die kollektive Identität. Und die Frage muß sein, ob beide Pole in immerwährender Spannung einander zuzuordnen sind, ob z. B. Pluralismus so ausdifferenziert werden kann, daß der angestrebte Diskurs über verschiedene Positionen ohne Verordnung von außen über ein breit-gefächertes Instrumentarium von kollektiv anerkannten gesellschaftlichen Werten auch wirklich tagtäglich praktiziert werden kann.
Gibt es denn überhaupt ein in Ost-und Westdeutschland gleichermaßen anerkanntes Spektrum gesellschaftlicher Werte? Es ist bekannt, daß im Osten das im Westen entwickelte Spektrum nur sehr äußerlich rezipiert wird und daß die neue nostalgische DDR-Identität den Diskurs beeinträchtigt. Marion Klewitz hat den Begriff der Revisionskompetenz in die geschichtsdidaktische Diskussion eingeführt und darauf hingewiesen, daß diese bei solchen der von ihr befragten Studenten größer gewesen sei, die sich bewußt im System der DDR verortet hatten, als bei denen, die weniger über ihre Sozialisationsbedingungen nachgedacht hatten. Ließe sich dieser Befund verallgemeinern, so könnte ein gezielt auf individuelle Identität ausgerichteter historischer Unterricht in Schule und Erwachsenenbildung in West-und Ostdeutschland den Lernenden zukünftig mehr Revisionskompetenz vermitteln und sie erfolgreicher zum Diskurs über das in sich geschichtete Spektrum der kollektiven Identität der wiedervereinigten Deutschen befähigen. Über Huhn hinausgedacht, wäre nun die Anerkennung des Pluralismus Grundbedingung neuer gemeinsamer Identität und damit Basis des denkbaren Spektrums, aber zugleich auch dessen Begrenzung. Wer den Pluralismus nicht anerkennt, verwirft demokratische Identitätsbildung. Bernd Mütter denkt, daß es aber möglich sein müsse, das Spektrum verfassungskonformer Identitätsausprägungen so weit zu fassen, daß darin sowohl der christliche Entwurf als auch das sozialistische Modell marxistischer Provenienz Platz finden: „Verfassungskonform heißt hier das rückhaltlose Bekenntnis zu den fundamentalen Menschenrechten, zum politischen Diskurs und Konflikt mit demokratischen Mitteln, prinzipielle Anerkennung der Legitimität konkurrierender Identitäten, Verzicht auf deren Ausschaltung durch bloße Überwältigung oder gar Vernichtung, Konsensfindung durch Kompromiß.“ Eine derartige Identität ist auch historisch legitimiert, wie Christian von Krockow nachgewiesen hat, der von komplexer Identität spricht, in die auch die nationale integrierbar sei, der sich die vereinten Deutschen zu stellen hätten
Identitätsbildung durch Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Sie ist die beste Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die integraler Bestandteil jeder vernünftigen Identität der Deutschen sein muß. Identität heißt hier, den „einen ehrlichen Weg“ gehen (s. o. D. E. Zimmer) und schonungslos auch gegenüber den eigenen Vorfahren die Wahrheit suchen und annehmen. Annahme heißt hier, sich ungeachtet unterschiedlichster Perspektiven und Einschätzungen einig zu sein in der dauerhaften, uneingeschränkten Bereitschaft zum kritischen Durcharbeiten so schmerzlich die Ergebnisse für manche Ich-Identität auch sein oder werden mögen. So kann die Beschäftigung mit der Geschichte des Dritten Reiches zu in ganz anderer Weise positiven Wirkungen führen und eine kollektive Identität in der Negation stiften. Die DDR hat es abgelehnt, diesen ehrlichen Weg zu gehen; die Bundesrepublik hat sich nach langer Zeit der Verdrängung sehr schwergetan, diesen Weg zu finden. Das gilt bis hin zum Historikerstreit über die Einmaligkeit der nationalsozialistischen Verbrechen.
Identifikationsangebote Ist die Bereitschaft, sich im Geschichtsunterricht dem Nationalsozialismus gegenüber in dieser Weise zu verhalten, gewährleistet, dann sollte nicht auf positive Identifikationsangebote, die die gesamte Geschichte der Nation wahrnehmen, verzichtet werden. Angebote sind keine von außen verordneten Identitäten; sie können diskutiert, angenommen oder auch abgelehnt werden. Da ist beispielsweise das von Jeismann vorgeschlagene Angebot, die , Einung* betreffend. Hier handelt es sich um ein die Zentralisierung der Macht verhinderndes Prinzip des deutschen Herrschaftssystems, das vom 10. Jahrhundert an durch die gesamte deutsche Geschichte -mit Ausnahme des Dritten Reiches -nachweisbar ist Da ist das Wartburgfest von 1817, das Thomas Nipperdey im Juli 1990 unter dem Titel „Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein“ auf seine Identitätsfähigkeit hin befragte und dessen Bedeutung er im Anspruch des Volkes auf politisches Handeln sah
Identifikationsangebote zur Geschichte der deutschen Teilung müssen erst gefunden werden. Entscheidend ist, die Epoche von 1945 bis 1990 wieder als gemeinsame Geschichte zu sehen und ihre beiden Stränge so aufeinander zu beziehen, daß kein , Kontrastprogramm entsteht. Gleichwohl darf die stalinistische DDR nicht geschönt werden; es sollte aber auch die 68er-Bewegung in Westdeutschland von politisch Andersdenkenden nicht mehr verteufelt, sondern endlich in ihrer Bedeutung für die Demokratieentwicklung gewürdigt werden. Deshalb brauchen extrem maoistische Tendenzen noch lange nicht gutgeheißen zu werden.
Gerade die Ostdeutschen bedürfen neuer Identitätsangebote, die nicht verdächtig sind, Westimport zu sein, sozialistische Modelle nicht diskreditieren und auch für die Westdeutschen akzeptabel sind. Veränderte Perspektiven und neue Fragestellungen sind dabei gefordert, so etwa die Rückbesinnung auf Konzepte für eine bessere Zukunft nach 1945 infolge der im Dritten Reich gemachten Erfahrungen, die den meisten Deutschen gemeinsam waren. Wer wäre damals eher berufen gewesen, diese bessere Zukunft mitzugestalten, als die Häftlinge von Buchenwald, die Hermann Brill zum Buchenwälder Manifest für Frieden und Freiheit inspirierten? Die Geschichte Brills, der die Teilung der Arbeiterklasse in einem Bund demokratischer Sozialisten überwinden wollte und mit dem Placet der amerikanischen Besatzer Thüringens rechnen konnte, ist jüngst geschrieben worden Das Konzept scheiterte an Ulbricht, der nach der Übernahme Thüringens durch die Sowjetische Militäradministration diesen Weg abschnitt, um dann 1958 Buchenwald unter geschichtsfälschenden Vorzeichen für die DDR zu reklamieren. Die Hoffnung auf die bessere Zukunft der DDR wurde vom stalinistischen Regime zerstört und führte zum 17. Juni 1953 um die Verhältnisse doch noch zu ändern. Und im Westen? Die Angst, die bessere Zukunft zu verpassen. führte zur Diskussion über die vertane oder nicht vertane Chance infolge der Ablehnung der Stalin-Noten durch die Westmächte und Adenauer. Im Westen haben noch immer nicht alle Wissenden begriffen, daß Gustav Heinemann und vergleichbar Gesonnene nicht einfach einen Mythos in die Welt setzten, auch wenn die wirklichen Beweggründe Stalins erst jetzt geklärt werden können Daß die Angst vor einem falschen Weg seine Berechtigung hatte, sollte nach der Wiedervereinigung endlich anerkannt werden.
Diesem Ost-und Westdeutsche gemeinsam betreffenden Identifikationsangebot sollten andere folgen. Die Archive sind offen, die Fragestellungen sind maßgeblich.
Regionale historische Identität als Schicht der kollektiven Identität Das gilt auch für die regionale Perspektive, die aus ihrer ausschließlich raumbezogenen Enge zu lösen ist. Die Regionalität des Menschen ist durch die Figuration bestimmt, in der sich jedes Individuum befindet. Es sind dies all die verschiedenen, sich vernetzenden Beziehungen menschlicher, natur-und kulturräumlicher, institutioneller, aber auch wert-und normgeprägter Bestimmungsfaktoren, in die der einzelne von Geburt an einbezogen ist, die sich mit seinem Willen wie auch ohne ihn verändern. Sie sind sein engerer Lebensbereich und machen damit seine Regionalität aus. Indem die Figuration aber nicht vom Raum allein determiniert wird, enthält sie immer auch das Potential, jederzeit und nicht erst nach in konzentrischen Kreisen verlaufenden Lernprozessen vom Nahen zum Fernen die Regionalität zu transzendieren, regionalitätsbestimmte Identitäten mit national, europäisch und weltweit ausgreifenden zu verknüpfen. Diese Fähigkeit zur Identitätserweiterung gründet in der Regionalität des Menschen. Auf sie ist er emotional angewiesen, will er die Eine Welt ertragen.
In diesem erweiterten Verständnis der Bindung des Menschen an die Region wird man der Diagnose Bernd Lüdkemeiers und Michael Siegels zustimmen können, daß die Abschaffung der Länder und die Einführung der Bezirksstruktur einer der großen Fehler der DDR gewesen sei, „denn die gewaltsame Unterbindung der Identifikation mit einer Region verhinderte letztlich auch die Identifikation mit dem Gesamtgebilde DDR. Die Menschen haben eben nie aufgehört, sich als Thüringer, Sachsen, Anhaltiner oder Mecklenburger zu fühlen und auch zu bezeichnen. Aber es bestehen große Defizite im Wissen über die neuerstandenen Länder, über deren regionale Traditionen in Geschichte, Kunst und Kultur.“ Diese Defizite beseitigen zu helfen, ist eine der wichtigen Aufgaben der Geschichtsdidaktik, die sich diesem Thema derzeit stellt
Europäische Identität der vereinigten Deutschen So wichtig 'nationale und regionale Identitäten auch sind, so müssen sie im Zeitalter der modernen Industriegesellschaft doch zunehmend die europäische wie die globale Perspektive integrieren. Jeismann hat dies in seinem Identifikationsangebot , Einung'getan: „Die Begründung des komplexen Zusammenhanges der deutschen Nation durch das Mittel unterschiedlicher Föderation auf verschiedenen Ebenen hat diese Nation immer schon in enge, oft nationsübergreifende Verbindung mit anderen Völkern, Territorien, Staaten und Landesherren wie Kommunen im europäischen Nachbarfeld gebracht. Die Nation der Einungen war nicht nur nach innen, sondern auch nach außen kein Phänomen integraler Identität, sondern nur die definierbare Verdichtungszone vieler über sie hinausgehender Verbindungen.“ Das Problem einer europäischen Identität wird gerade auch im Angesicht der Erweiterung nach Osten viel diskutiert: „Europa ist auch Osteuropa!“
Die Geschichtsdidaktik hat eine Chance, europa-orientiertes historisches Lernen zu fördern, wenn sie kategorial gestützte Antworten auf die Frage nach der „inneren Einheit“, der „historischen Identität“ Europas geben könnte, so Rolf Westheider „Wo liegen die Wurzeln der europäischen Tradition, deren man sich im heutigen Europa verpflichtet fühlt (Dauerhaftigkeit)? Welche Inhalte sind für diese Tradition konstitutiv (Normalität)?“ Dagmar Klose sieht diesen Ansatz für produktiv an, hält aber dagegen, daß auch mit Blick auf die ost-und südosteuropäischen Entwicklungen „die Geschichte Europas gegenwärtig immer noch die Westeuropas“ sei. „Die Einbindung des europäischen Ostens (und Südostens?) in die bestehende Struktur des Westens stellt eine enorme Herausforderung dar, denn es müßte sowohl die Geschichte der beteiligten Völker . mitertragen als auch die Wohlstandsgrenze an Oder und Neiße abgebaut werden.“ Als günstige Zeichen einer Annäherung in den Reaktionen deutscher Schulgeschichtsbücher könnten aber „Bemühungen um Ausgleich ehemaliger ideologisch figurierter Kontroversen gewertet werden“
Globalhistorisches Lernen in Deutschland Eine neue deutsche Identität ist undenkbar ohne die globale Verantwortung der geeinten Nation für die außereuropäische Welt. Peter Knoch hat -gleichsam als sein didaktisches Vermächtnis -ein globalhistorisches Lernen als Beitrag zu einer Didaktik des globalen Überlebens gefordert: „Globalhistorisches Lernen in Deutschland’ bezeichnet einen Standort, an dem gelernt wird, bezieht sich auf eine der reichsten Industrienationen mit demokratischer Verfassung in einer Welt mit ungleichen Verfassungen und einer ungleichen Verteilung von Wohlstand und Armut.“ Die Didaktik des globalen Überlebens sei ebenso angewiesen auf historische Aufklärung wie auf utopisches Denken, wobei er an neue Menschen-und Gesellschaftsbilder denkt.
Die Problemfelder sind sicher unstrittig, strittig ist die Realisierung. So hat die fünfhundertste Wiederkehr der Entdeckung Amerikas nur allzu deutlich gemacht, daß die Menschenrechte bei Teilen der Bevölkerung Lateinamerikas als europäisches und damit koloniales Produkt angesehen werden und folglich fragwürdig sind. Es bedarf einer gründlichen Historisierung der Menschenrechte, um sie überhaupt vermittelbar und vielleicht schließlich auch konsensfähig zu machen Aufgabe der Geschichtsdidaktik ist es, die Erkenntnis zu vermitteln, daß globalhistorisches Lernen zunächst einmal Einüben von Fremdverstehen sein muß. Notwendig sind „weniger zahlreiche Themen mit größerer Gründlichkeit, mehr intensive , Nahaufnahmen', in denen die Perspektiven der Beteiligten detailliert ausgebreitet, die Regeln des fremdartigen Verhaltens'aus der Situation entwickelt und die Operationen des Perspektivenwechsels praktisch eingeübt werden“
Fremdverstehen -Selbstverstehen Dieser Gedanke verweist wieder zurück auf die oben behandelte individuelle Identitätsbildung und relativiert die Suche nach neuen Inhalten. Auf Identitätsbildung gerichtetes historisches Lernen muß vorrangig den Umgang mit Geschichte kultivieren und so im Verständnis Jochen Huhns (s. o.) den Anteil des wissenschaftlichen Erinnerns gegenüber dem des alltäglichen vergrößern. Zentrale Aufgabe dabei ist es, die Perspektivität historischer Erkenntnis begreifbar zu machen. Perspektivität ist der Zusammenhang von Perspektive und Bezugsrahmen. „Dabei handelt es sich nicht um durch Definition zu erfassende Inhalte, sondern um ein Suchinstrument für Beziehungen, die die Wahrnehmung beeinflussen. Die Art der Wahrnehmung beeinflußt wiederum Reden und Handeln der Menschen, das wir deshalb erst zu verstehen beginnen, wenn wir uns ihrer Perspektive nähern.“
Das Suchinstrument unterscheidet zwei Zeitebenen der Perspektivität, die Ebene der in einer vergangenen Epoche Lebenden und die der heute Lebenden, die Vergangenheit betrachten Die Lernenden in Schule und Erwachsenenbildung erfahren dabei auch die Perspektivität ihrer eigenen Sicht. Und damit wird nicht nur Fremdverstehen, sondern auch Selbstverstehen gefördert.
Historische Identität -individuell wie kollektiv -auf diesem Wege zu veranlassen gehört zum Beitrag der Disziplin Geschichtsdidaktik zur inneren Wiedervereinigung der Deutschen, zur „Unzerfallenheit" im Verständnis des Eingangszitates dieses Aufsatzes.