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Ein deutscher Sonderweg Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR | APuZ 40/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 40/1994 Die Etablierung des Marxismus-Leninismus in der SBZ/DDR (1945-1955) War die DDR totalitär? Kein Recht gebrochen?. Das MfS und die politische Strafjustiz der DDR Ein deutscher Sonderweg Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR Die DDR -ein Blick aus Wünsdorf. Persönliche Eindrücke eines russischen Offiziers

Ein deutscher Sonderweg Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR

Jürgen Kocka

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Sozialgeschichte der DDR ist von ihrer Herrschaftsgeschichte nicht zu trennen. Diktatorische Herrschaft drang tief in alle Bereiche der DDR-Gesellschaft ein. Diese erwies sich als hochgradig politisch konstituiert, insofern künstlich. Doch die DDR-Gesellschaft war zugleich mehr als das Produkt diktatorischer Herrschaft. Denn vieles in ihr war älter als Staat und Partei. Das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben zeigte sich als sperrig und nur begrenzt steuerbar. Die Steuerung von oben löste bisweilen sogar Gegentendenzen aus. Drei Phasen der DDR-Sozialgeschichte lassen sich unterscheiden, die u. a. durch unterschiedliche Generations-Konstellationen gekennzeichnet waren: vom Anfang bis 1961; von 1961 bis zum Beginn der siebziger Jahre und vom Beginn der siebziger Jahre bis zur Revolution von 1989/90. Im Vergleich zur Bundesrepublik treten die Modernisierungsdefizite der DDR-Gesellschaft hervor. Im Vergleich mit den Nachbarländern im Osten erscheint die DDR als sehr deutsch: aufgrund ihrer wechselseitigen Beziehungen zur Bundesrepublik und ihrer Verankerung in deutschen Traditionen. In der DDR lebte mehr vom alten „deutschen Sonderweg“ weiter als in der Bundesrepublik.

Beim Umgang mit der DDR-Vergangenheit gehen derzeit Geschichte und Politik ungewöhnlich enge Verbindungen ein. In der Bundestags-Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland waren wissenschaftliche Wahrheitsfindungs-und politische Willensbildungsprozesse eigentümlich verknüpft. Behördeninteme Geschichtsforschung ist in Deutschland immer die Ausnahme gewesen, doch in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ist eine umfangreiche Forschungsabteilung entstanden, die sich der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit und darüber hinaus der DDR annimmt

Historiker verschiedener Provenienz betreiben DDR-Geschichte in unterschiedlicher Weise und oft ohne viel Kontakt miteinander. Historiker, die dem untergegangenen System verbunden waren und auch heute noch geschichtswissenschaftlich arbeiten, tun sich nicht immer leicht, jene Geschichtsabschnitte vorbehaltlos und kritisch zu durchleuchten, mit denen ihre Biographien engstens verknüpft waren. Und den Opfern des Systems, den Dissidenten und Oppositionellen, vermittelt der kühle, distanzierte, wissenschaftliche Umgang mit der Geschichte, die in besonderer Weise die ihre ist, manchmal das Gefühl, ihnen werde ein Besitz entwendet, auf dem ein guter Teil ihrer Identität", auch ihres Stolzes, beruht. Hermann Rudolph beschrieb dies vor kurzem und fügte hinzu: „Was kann denn bei der fast unauflösbaren Durchdringung von Zeitgeschichte und Gegenwartsproblemen, die bei der Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit zutage tritt, ohne Gefahr der Verletzung und Verdrängung , aufgearbeitet werden? Kann man diese so nahe und gleichzeitig schon ferngerückte Vergangenheit überhaupt ver-stehen, wenn man sie nicht am eigenen Leibe erfahren hat?“ Historiker aus dem Westen bleiben von diesen „Befindlichkeiten“ gleichwohl nicht unberührt und entdecken überdies bald, daß die Geschichte der DDR von der Geschichte der ostdeutsch-westdeutschen Beziehungen nicht scharf zu trennen ist und auch deshalb Teil ihrer Geschichte ist -mehr als es ihnen früher bewußt war.

Zweifellos liegen moralisches Urteil und wissenschaftliche Analyse, Erinnerung und Geschichte, Betroffenheit und Forschung derzeit in ungewöhnlich engem Gemenge. Dies kann auch kaum anders sein und ist letztlich zu begrüßen. Diktaturen stellen bedrückende Tiefpunkte in der Geschichte eines Volkes dar, böse Erfahrungen, die aufwendige, auch öffentliche Aufarbeitung erfordern. Was so bedrückend war und noch so nahe ist, kann kaum sine ira et Studio bearbeitet werden. An schrillen Tönen fehlt es nicht ganz. Doch die Gefahr der Verdrängung ist nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur ungleich geringer als nach dem Ende der ersten. Der Umgang mit der jüngsten Geschichte hat zu Recht verschiedene Formen. Die Wissenschaft besitzt dabei kein Monopol.

Aber sie hat ihren Beitrag zu leisten, und der kann nun einmal nicht primär in Anklage und Verteidigung, in Entrüstung oder Nostalgie, auch nicht in eilfertiger Enthüllungshistorie oder in Betroffenheitspflege bestehen. Vielmehr gehören Abwägung und Augenmaß, Genauigkeit und Zusammenhangseinbettung, Klarheit und Distanz, Kritik und Analyse zu ihren Prinzipien und Werkzeugen.

Das große Interesse an der DDR als Geschichte, die weitgehende Aufhebung der gängigen Sperrfristen und die ungewöhnliche Zugänglichkeit neu geöffneter Archive haben die Geschichte der DDR zu einem „Wachstumssektor“ gemacht. DDR-Geschichte ist „in“. 759 laufende Forschungsprojekte hat eine Erhebung in der zweiten Hälfte des Jahres 1993 registriert Ganz eindeutig steht derzeit die materialgesättigte Detailstudie im Vordergrund, die vereinigenden Fragestellungen und Begriffe treten noch nicht klar hervor. Der Informationsbestand wächst schneller als die Kapazität zu seiner analytischen Durchdringung. Das ist zweifellos legitim, auch typisch für die frühe Phase der Bearbeitung eines neuen Forschungsfeldes. Aber es kann nicht schaden, über systematische Zugriffe nachzudenken, die übergreifende Fragen, vorläufige Synthesen und Strukturierung erlauben.

Schließlich fällt auf, daß die Geschichte der DDR derzeit vor allem von ihrem Ende her thematisiert wird. Man ist noch beeindruckt von ihrem -überraschenden -Scheitern und fragt nach dessen Bedingungen und Ursachen. Das ist verständlich und legitim. Man wird allerdings zu vermeiden suchen, die Geschichte der DDR nur noch als Vorgeschichte ihres Endes zu interpretieren, denn dieser Blickwinkel allein führt zur Einseitigkeit. Er birgt die Gefahr in sich, die Frage nach möglichen Alternativen zu vernachlässigen, die in vergangenen Konstellationen eingeschlossen gewesen sein mögen. Im folgenden wird die Geschichte der DDR nicht primär von ihrem Ende her betrachtet, wohl aber -teilweise -von ihrem Anfang her

I. Durchherrschte Gesellschaft

Es ist üblich und zutreffend, die DDR begrifflich als Diktatur zu fassen Sie besaß ein Herrschaftssystem, das Menschen-und Bürgerrechte systematisch verletzte. Es fehlte an der wirksamen Begrenzung der Staatsmacht durch Verfassung und Recht, an Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz. Kennzeichnend waren die faktische Einparteienherrschaft, der Hegemonialanspruch einer institutionalisierten Ideologie, die Ablehnung von legitimer Opposition, die Verneinung des politisch-weltanschaulichen Pluralismus und das Fehlen eigenständiger intermediärer Institutionen. Das Regime setzte moderne Massenbeeinflussungs-und Massenüberwachungsmittel ein -Propaganda und Repression, Verführung und Terror -und erreichte zeitweise erhebliche Massenmobilisierung, im Unterschied zu traditionelleren Formen diktatorischer Herrschaft.

So oder so ähnlich läßt sich ein Begriff umschreiben, der die DDR als Diktatur des 20. Jahrhunderts vom Typus des liberal-demokratischen Verfassungs-und Rechtsstaats wie von älteren Formen diktatorischer Herrschaft unterscheidet und zugleich mit anderen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, kommunistischer wie faschistischer Prägung, vergleichbar macht. Dieser Vergleich -auch mit der nationalsozialistischen Diktatur -wird derzeit häufig gezogen, in der öffentlichen Diskussion wie in der Wissenschaft Er ist legitim, solange man weiß und ernst nimmt, daß das Wesen des komparativen Verfahrens nicht im Gleichsetzen besteht, sondern in der Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden wie in deren Erklärung und Deutung.

Der diktaturhistorische Ansatz erweist sich bei der Untersuchung des politischen Systems, des Herrschaftsapparats und der Herrschaftsmechanismen als besonders tragfähig, also etwa in Studien zur Staatspartei oder zu den Propagandamethoden des SED-Staats Aber der diktaturhistorische Ansatz läßt sich auch sozialhistorisch nutzbar machen. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die politischen Konstitutionsbedingungen der DDR-Gesellschaft, auf die staatlich-staatsparteiliche Lenkung und Kontrolle sozialer Prozesse durch Partei und Staat, auf die Durchherrschung der DDR-Gesellschaft sowie auf die Folgen und Grenzen dieses Prozesses.

Bekanntlich war die DDR eine Diktatur, die auf politische Steuerung, Kontrolle und Durchdringung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zielte und insofern mit totalitärem Anspruch auftrat Bekanntlich hat die Partei-und Staatsführung der DDR auf die radikale Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur unter sozialistisch-kommunistischem Vorzeichen gezielt und in den vierziger/fünfziger Jahren schrittweise ein radikales Veränderungsprogramm dekretiert, das einerseits den Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung entstammte, vor allem ihrem kommunistischen Zweig, andererseits unter dem starken Einfluß der sowjetischen Besatzungsmacht und damit des sowjetischen Modells entstand. Die Abschaffung der überkommenen kapitalistisch-bürgerlichen Wirtschafts-und Sozialordnung samt ihrer vorkapitalistisch-vorbürgerlichen Relikte, gleichzeitig die Anknüpfung an die „fortschrittlichen“ Werte bürgerlicher Hochkultur, die Errichtung einer neuen Eigentumsordnung, die Gewährleistung von Gleichheit einschließlich von Vorsorge und Sicherheit für alle, das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit von Wissenschaft, Technik und Industrie, schließlich die Erziehung eines neuen, nicht mehr am individuellen Eigennutz orientierten, sozialistischen Menschentyps -das waren die Ziele dieses revolutionären Umgestaltungskonzepts, das sich als eminent modern verstand und das politisch-diktatorisch initiiert, durchgesetzt und gewährleistet werden sollte, und zwar mit Hilfe eines dafür geeigneten allumfassenden Herrschaftsapparats, den die SED als „Partei neuen Typs“ schon bald nach ihrer Gründung und schon vor Entstehung der DDR aufzubauen begann

Als Sozialhistoriker interessiert man sich nun einerseits für die soziale Rekrutierung, die Organisation und Zusammensetzung, die alltägliche Praxis dieser Steuerungs-, Verwaltungs-und Kontrollapparate in ihrem Verhältnis zur politischen Spitze wie vor allem zu den Bürgern, zu den Objekten, den Opfern, auch den Nutznießern der Herrschaftsausübung. Am Potsdamer Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien läuft z. B. eine umfangreiche Untersuchung zur literarischen Zensur, die in der früheren DDR auf das „Amt für Literatur-und Verlagswesen“, auf andere Organe und auf die Verlage verteilt war. Diese Zensur wirkte nicht nur durch Verbot und Prävention verhindernd, sondern auch planend und literaturgestaltend, wobei kulturpolitische Ziele und ökonomische Möglichkeiten oft quer zueinander standen und frühzeitige Gesprächskontakte nebst Selbst-zensur bald wichtiger wurden als direkte Anordnungen und Verbote. Ein anderes Projekt am Potsdamer Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit der Sozialgeschichte der Volkspolizei. Dabei steht das System der „Abschnittsbevollmächtigten“ im Vordergrund, ebenso wie das Verhältnis der Polizei zu den Arbeiter-und-Bauern-Inspektionen, den örtlichen Volksvertretungen, den Massenorganisationen und gesellschaftlichen Gerichten

Seit kurzem liegen sozialgeschichtliche Untersuchungen über die „Staatssicherheit“ vor. Sie zeigen den dürftigen Bildungsstand, die politische Verläßlichkeit und die primitiven Methoden der ersten Mitarbeitergeneration in den fünfziger Jahren, dann das Wachstum und die allmähliche Professionalisierung des Mitarbeiterstammes, die Formen der Rekrutierung und die Inhalte der internen Indoktrination, die zunehmende Dichte -bis zu einem Informellen Mitarbeiter (IM) pro 120 Einwohner Mitte der achtziger Jahre -, die Veränderungen der Methoden und die Vielfalt der Aufgaben, zu denen Repression und „Zersetzung“ ebenso gehörten wie die „präventive Sozialsteuerung“ und die Informationsbeschaffung in einem Staat ohne funktionierende Öffentlichkeit. Die Sozialgeschichte der Kader und der Kaderpolitik kann auf wichtigen Arbeiten fußen, die die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik vor 1989 erarbeitet hat Vieles andere bleibt zu erforschen.

Zum anderen interessieren die sozialhistorischen Wirkungen diktatorischer Herrschaft; sie waren immens. Die politische Herrschaft prägte jene Gesellschaft bis in ihre feinsten Verästelungen. Mit Blick auf die fünfziger und sechziger Jahre sei ein zentrales Beispiel genannt: Teilweise waren politische Eingriffe für die massenhafte Migration von 2, 7 Millionen Ostdeutschen verantwortlich, die zwischen 1949 und 1961 die DDR verließen, ein Siebtel der Bevölkerung. Damit kam es zu massiven Verlusten an Qualifikation und Leistungsfähigkeit, zur Abwanderung möglicher Dissidenten und zur Eröffnung gewaltiger Mobilitätschancen für nachrückende Aufsteiger. Gezielte politische Maßnahmen kamen hinzu, die die Ausbildung und Rekrutierung des nachrückenden Nachwuchses so steuerten, daß Söhne und Töchter des Bürgertums diskriminiert und die Nachkommen von Familien aus der Unterschicht, besonders der Arbeiterschaft, privilegiert wurden. Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten und Vorstudienanstalten haben dazu ebenso beigetragen wie die Ergänzung, bisweilen Ersetzung fachlicher Qualifikations-und Auswahlkriterien durch soziale und politische Maßstäbe, vor allem durch die Kriterien: proletarische Herkunft und Mitgliedschaft in der SED. Als Konsequenz dieser politischen Setzungen und Maßnahmen hat in der DDR bis zum Anfang der siebziger Jahre ein kollektiver Aufstiegsprozeß sondergleichen stattgefunden, ein Austausch der Eliten, wie er in der modernen deutschen Geschichte präzedenzlos ist. Dieser geradezu revolutionäre, „von oben“ angestoßene und erzwungene Prozeß dürfte die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems geschwächt, die Legitimationsbasis des Staates in der Bevölkerung aber gestärkt haben. Im Detail ist das wohl noch nicht untersucht, wenngleich ein einschlägiges Forschungsprojekt unter der Leitung von Karl-Ulrich Mayer am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bereits erste Ergebnisse vorgelegt hat

Illustrativ sind einige Zahlen aus einer laufenden Untersuchung von Ralph Jessen über Hochschullehrer in der DDR. Während 1938 im Deutschen Reich zirka vier Prozent der Hochschullehrer aus Familien von Arbeitern und kleinen Angestellten stammten, wuchs dieser Anteil in der DDR bis 1954 auf Prozent und verdreifachte sich bis 1971 auf 39 Prozent, besonders ausgeprägt in den Geistes-und Sozialwissenschaften, am wenigsten in den Naturwissenschaften und der Medizin. Gleichzeitig nahm der Anteil der Habilitierten unter den Professoren ab, von zirka 90 Prozent direkt nach dem Krieg auf 71 Prozent 1965. Umgekehrt entwickelte sich die Parteizugehörigkeit. 1954 gehörten erst 29 Prozent der Professoren der SED an, 1971 dagegen bereits 61 Prozent 13.

Daran zeigt sich exemplarisch, daß unter den Bedingungen der Diktatur soziale Prozesse hochgradig politisch determiniert gewesen sind. Politische Herrschaft und soziale Prozesse waren aufs engste verbunden. Es ist bisweilen dringlicher, nach den politischen Bedingungen sozialer Prozesse zu fragen als umgekehrt. Sozialgeschichte ist als separate Teildisziplin (in Absetzung zur Politikgeschichte) bei der Untersuchung der DDR noch weniger möglich als sonst Die Gesellschaft der DDR war in hohem Maße ein Konstrukt diktatorischer Herrschaft. Von daher hatte sie etwas Antitraditionales, etwas geradezu Künstliches an sich.

Man kann die Wirkungen der Diktatur auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen nachzeichnen. Ähnliche Aufstiegsprozesse lassen sich für die fünfziger und sechziger Jahre etwa auch im administrativ-politischen Apparat und in bezug auf die wirtschaftlichen Funktionseliten nachweisen. Die Neu-Ansiedlung von zirka 210000 Neubauern zwischen 1945 und 1950 als Folge der Bodenreform und die Umwandlung von 84 Prozent der selbständigen Bauern in sogenannte Genossenschaftsbauern im Zuge der Zwangskollektivierung zwischen 1952 und 1961 waren ebenso Folgen staatlich-diktatorischer Herrschaft wie der Rückgang des Selbständigen-Anteils in der DDR-Wirtschaft insgesamt von rund 20 Prozent 1950 auf 5, 5 Prozent 1960, auf 3, 5 Prozent 1970 und 2, 2 Prozent 1989 Ein weiteres Beispiel: Als Folge diktatorischer Politisierung fand in den Verwaltungen so etwas wie Deprofessionalisierung statt. Relativ zur politischen Macht nahm das Gewicht des Fachwissens ab, in der Rekrutierung wie auch im Verwaltungsalltag. Recht und Verfahren traten hinter persönlich-politischen Machtbeziehungen zurück. Die Politisierung ließ den bürokratischen „esprit de corps“ bröckeln. Obwohl sich die Verwaltungen ausdehnten, änderten sich ihre inneren Strukturen und Personalverhältnisse so, daß man von Tendenzen der Entbürokratisierung sprechen kann, gemessen am Weberschen Idealtypus von Bürokratie

Und die DDR brachte eine illiberal-fürsorgliche, nachbürgerliche Variante des Sozialstaats hervor. Diese hat u. a. zur Veränderung der Geschlechter-verhältnisse beigetragen und den Frauen neue Möglichkeiten geschaffen. Sie hat das Verhältnis der Generationen zueinander verschoben, zugunsten der Jüngeren. Sie dürfte die ostdeutschen Mentalitäten langfristig geprägt haben -im Sinne hoher Erwartungen an Staat und Regierung -, mit dem Ergebnis betonter Hochschätzung von Sicherheit und geringerer Betonung von Selbständigkeit

II. Grenzen diktatorischer Gängelung

Weitere Beispiele könnten gebracht werden, doch ich verzichte darauf und kehre die Perspektive um. Denn die Gesellschaft, das Leben, der Alltag in der DDR gingen in ihrer diktatorischen Gängelung nicht auf. Von einer totalen Prägung jener Gesellschaft durch Partei und Staat kann man keinesfalls sprechen. Auch dies sei an einigen Beispielen erläutert

So manche ältere Tradition lebte weiter, indem sie sich gegenüber herrschaftlichen Rekonstruktionsversuchen als immun erwies und zum Teil mit neuen Aufgaben ausgestattet wurde. Man hat dies an geschwächten, aber fortlebenden Restbeständen des Bildungsbürgertums gezeigt, das -anders als das Wirtschaftsbürgertum -in der DDR nicht völlig vernichtet wurde. Das protestantische Pfarrhaus ist, wie Christoph Kleßmann zeigt, ein bildungsbürgerliches Refugium geblieben, hat starke Berufsvererbung unter den Pfarrern ermöglicht und eine gewisse Alternativkultur bewahrt, die in den achtziger Jahren teilweise Anschluß an entstehende Dissidentenmilieus fand. Alf Lüdtke und Peter Hübner betonen das Fortleben eines älteren Arbeiterstolzes auf gute -„deutsche“ -Wertarbeit, die Wirksamkeit von Traditionen, die nach 1945 in SBZ und DDR revitalisiert worden sind Und so sehr auch die parteilich-staatliche Durchdringung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eine neuartige Qualität besaß, so sehr konnte sie auf älteren, obrigkeitsstaatlichen Traditionen aufbauen, die die deutsche Entwicklung seit langem geprägt hatten.

Auch die Eigengesetzlichkeit der modernen Gesellschaft setzte der politischen Instrumentalisierung Grenzen. So mußte den Wissenschaftlern ein Minimum an Autonomie verbleiben, wenn sie denn in der Lage sein sollten, ihre Aufgaben wahrzunehmen und international anerkannte Leistungen zu erbringen, worauf die politischen Herrschaftsträger ja größten Wert legten Wie wenig es dem SED-Staat gelang, die Organisation der Lebensläufe in eigene Regie zu nehmen und die nachwachsende Jugend zu gewinnen, zeigen DDR-interne Umfragen und jüngere Untersuchungen nur allzu deutlich Auch blieb die Spannung zwischen staatlich-parteilichen und innerfamiliären Erziehungseinflüssen immer ausgeprägt. Die Familie hatte in der DDR zwar viel von den Funktio­ nen verloren, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft und vor allem im Bürgertum so wichtig machen: Nach den Enteignungen war sie kaum mehr der Ort für die Weitergabe materiellen Kapitals an die nächste Generation. Angesichts der frühen und umfassenden Einbeziehung der Kinder in öffentliche Erziehungseinrichtungen und außerfamiliale Gruppen von Gleichaltrigen nahm auch ihre Bedeutung für die Weitergabe kulturellen Kapitals ab. Ihr Zusammenhalt dürfte sich gelockert haben. Aber andererseits gewann die Familie an Bedeutung für das Leben des einzelnen hinzu: als Ort der Versorgung angesichts unterentwickelter Märkte und defizitärer öffentlicher Angebote, als wichtiges Glied in den sich herausbildenden informellen Beziehungsgeflechten und als Ort des Rückzugs vor politisch-gesellschaftlichen Zumutungen

Der Betrieb war ein prägender Ort der DDR-Gesellschaft. Denn er nahm in der DDR nicht nur wirtschaftliche Aufgaben im engeren Sinne wahr, er verteilte auch Sozialleistungen, war ein Ort der Kommunikation, organisierte die einzelnen in vielen Beziehungen. Die Brigade, die von oben geförderte Selbstorganisation der Belegschaft, hatte viele Gesichter: Sie organisierte die Arbeit, vermittelte bei Interessenspannungen zwischen Belegschaft und Werkleitung, sie war ein Zentrum der Kommunikation, eine Veranstalterin geselligen Lebens und eine Instanz der sozialen Kontrolle. Die Multifunktionalität war ein Markenzeichen der DDR-Betriebe. Ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat das wohl kaum gedient. Aber die Bedeutung des Arbeitsplatzes für das Alltagsleben der Menschen war enorm. In der DDR verbrachten mehr Menschen einen größeren Teil ihrer Zeit am außerhäuslichen Arbeitsplatz als in der Bundesrepublik. Der Stellenwert der Arbeit für das Selbstverständnis der Menschen war riesengroß, auch für sehr viele Frauen, deren Erwerbsquote hoch über der in der Bundesrepublik lag

Und auch hier erkennt man die Grenzen diktatorischer Kontrolle. „Wer den Arbeitsprozeß in der DDR mit der Vorstellung effektiver totalitärer Kontrolle (, Kommandowirtschaft') verbindet, würde erwarten, auch im Betrieb einen Ort vollständiger Entsubjektivierung anzutreffen. Die Realität sah anders aus. In der Forschungsliteratur besteht Übereinstimmung, daß der Spielraum und das Widerstandspotential der Beschäftigten im Betrieb hoch war -typischerweise höher als in der Bundesrepublik.“ Überall entdeckt man bei genauerem Hinsehen informelle Strukturen, inoffizielle Beziehungsgeflechte und alltägliche Praktiken, die auf Funktionsdefizite der offiziellen Struktur reagierten und auch zu Basen des Rückzugs, der Sperrigkeit, des stillen Widerspruchs werden konnten. Auch hierfür kann die Hochschullehrerrekrutierung als Beispiel dienen. Blickt man genauer hin, dann findet man unterhalb der professionellen und politischen Regelungsmechanismen, daß Hausberufungen zur Regel wurden, daß „Stallgeruch“ wichtig war, daß lokalistische Strukturen entstanden und einzelne Professoren viel persönliche Macht kumulierten -ganz im Gegensatz zu den Absichten der SED, die auf die „Inzucht“ im Hochschulbereich schimpfte und darin wohl zu Recht eine Grenze ihrer Durchsetzungsmacht sah

Die Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel spricht von „Widerstandsstrategien im Alltag“, die ohne jede Öffentlichkeit subtil funktionierten und die sich in vielfältigen Formen der Anpassung verkleiden konnten, um nicht entlarvt zu werden Auch wenn man den Widerstandsbegriff enger begrenzen will, wird man hier ein großes Thema sehen, das nicht auf die Wochenendfreuden des Datscha-Lebens und die vielzitierten „Nischen“ beschränkt war. Hier bleibt sehr viel zu untersuchen. Es kommt darauf an, das sich wandelnde Wechselwirkungsverhältnis zwischen der diktatorischen Herrschaft einerseits und den vielfältigen Formen andererseits zu erforschen, in denen die Menschen mit der diktatorischen Herrschaft umgingen. Das Spektrum reichte von überzeugter Kooperation und unkritischer Identifikation über opportunistische Anpassung, Apathie und Rückzug ins Private bis hin zu Resistenz und Opposition.

Die Arrangements der Menschen mit dem System waren vielfältig, teils traditional und teils neu. Zwar standen sie unter der Drohung des Ernstfalls. Kam es zum offenen Konflikt zwischen Lebenswelt und System, setzte sich bis zum Herbst 1989 die diktatorische Herrschaft durch: in Form von gewaltsamer Repression wie am 17. Juni 1953, in Form individuellen Terrors, harter Disziplinierung, Ausbürgerung oder Benachteiligung anderer Art. Aber ohne jene Arrangements, deren sich wandelnde Geschichte noch zu schreiben ist, wird man weder das Leben der DDR-Bürger gerecht rekonstruieren noch die relative Stabilität dieser Gesellschaft angemessen verstehen können.

III. Perioden der DDR-Geschichte

Die Quintessenz des bisher Gesagten: Die Sozial-geschichte der DDR ist von ihrer Herrschaftsgeschichte nicht zu trennen. Politik-und Sozialgeschichte, Herrschafts-und Gesellschaftsgeschichte verschmelzen geradezu. Diktatorische Herrschaft drang tief in die Poren dieser Gesellschaft ein. Die DDR-Gesellschaft erweist sich in erheblichem Ausmaß als politisch konstituiert. Doch die DDR-Gesellschaft war zugleich sehr viel mehr als das Produkt diktatorischer Herrschaft. Denn vieles in ihr war älter als Staat und Partei. Das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben erwies sich als sperrig, manchmal als eigensinnig, nur begrenzt steuerbar durch politisch-administrative und politisch-ideologische Mittel. Die Steuerung von oben löste bisweilen sogar Gegen-tendenzen aus und führte zu Ergebnissen, die den Steuerungsintentionen diametral widersprachen. Dies wird unübersehbar, wenn man auf den Zeitraum der vierzig Jahre in seiner Entwicklung blickt, vom Anfang zum Ende.

Nicht ohne Berechtigung werden häufig die Jahre zwischen 1945 und 1947/48 als eine noch vergleichsweise offene Phase zwischen den Diktaturen gedeutet, in der weder über den inneren noch über den äußeren Weg Ostdeutschlands schon wirklich entschieden war. Sicherlich, der Kalte Krieg folgte nicht unmittelbar auf den heißen. Weder die Zweiteilung Deutschlands noch die Sowjetisierung des östlichen Teils stand unmittelbar nach Kriegsende fest. Man spricht rückblickend von einer „Zusammenbruchsgesellschaft“ mit 20 Prozent Flüchtlingen und Vertriebenen, großer Not, viel Durcheinander, äußerer und innerer Zerstörung -eine kaum definierte Situation. Aber die jüngsten Forschungen machen doch deutlich, wie früh in der SBZ durch die sowjetische Besatzungsmacht -im Wechselspiel mit den Besatzungsmächten der westlichen Zonen -die Weichen gestellt wurden: mit der sofort einsetzenden Bodenreform unter Zwang und weitgehend ohne Entschädigung; mit der im wesentlichen administrativ erzwungenen Verschmelzung von KPD und SPD 1946 und der alsbald einsetzenden Umwandlung der SED in eine Partei neuen, diktatorischen Typs; mit dem Scheitern der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz im Juni 1947 als teilungspolitischer Weichenstellung

Wenn man diese kurze Phase des unentschiedenen Anfangs zunächst einmal einklammert, dann läßt sich die Geschichte der DDR unter den hier interessierenden Fragestellungen in drei große Phasen einteilen: vom Anfang bis 1961; von 1961 bis zum Beginn der siebziger Jahre; und vom Beginn der siebziger Jahre bis zur Revolution von 1989/90

Erstens: Die Einheit der ersten Phase bis 1961 bestand im Wechselspiel zweier Prozesse: Zum einen war da die politisch erzwungene, zum Teil gewaltsame, auf jeden Fall diktatorische, rasche Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat unter sozialistisch-kommunistischem Vorzeichen, eine Phase der Revolution von oben und -blickt man auf die Rolle der Sowjets -von außen, eine Phase voll überschießender Veränderungsstrategie und voll Repression, deren Höhepunkt 1953 erreicht wurde.

Man denke an die Entnazifizierung, an die radikale Umgestaltung und Neubesetzung des politischen und administrativen Systems, an den Aufbau ausgedehnter Kontrollsysteme, vor allem der „Staatssicherheit“ seit den frühen fünfziger Jahren, an die Abschaffung des Berufsbeamtentums, an Bodenreform und Zwangskollektivierung, an die Wellen der Enteignung und den Aufbau einer zentralen Verwaltungswirtschaft auch im gewerblichen Bereich, an die Entstehung der großen Mas­ senorganisationen wie Freie Deutsche Jugend (FDJ) und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB). Das war die Zeit der massenhaften Deklassierung und Abwanderung älterer Führungsschichten, die Phase der bereits erwähnten enormen Aufstiegsmobilität. Das überkommene kapitalistisch-bürgerliche Wirtschafts-und Gesellschaftssystem wurde nachhaltig zerstört, der Grundriß einer diktatorisch beherrschten sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung gelegt, mit viel Druck und Gewalt von oben, mit harten Konflikten, aber nicht ohne Zustimmung von unten, deren Ausmaß schwer zu bestimmen ist.

Zum andern: Die Führungspositionen wurden von alten Linken eingenommen, die größtenteils in der Weimarer Republik sozialisiert und vom Widerstand, vom Exil, von den harten Kämpfen bis 1945 geprägt waren. Die Positionen unterhalb der obersten Führungsebene wurden zunehmend von Angehörigen der sogenannten Aufbaugeneration gefüllt: zwischen 1910 und 1930 geboren, also 1949 zwischen 19 und 39 Jahre alt, zu einem erheblichen Teil unter dem Nationalsozialismus sozialisiert, nach 1945 häufig orientierungslos, ideologisch deshalb leicht gewinnbar, zur Abkehr vom Nationalsozialismus, zum Aufbau eines postfaschistischen Deutschlands entschlossen, von den Chancen des Aufstiegs im neuen Staat angelockt, diszipliniert und bald disziplinierend, ohne eigene Erfahrung in einer freien Gesellschaft, auf dem Weg von einer Diktatur in die nächste. Beide Generationen verglichen ihre Gegenwart mit der viel schlimmeren Vergangenheit, die sie zwischen Weltwirtschaftskrise und Zusammenbruch erlebt hatten. Beide gewannen aus diesem Vergleich und seiner antifaschistischen Deutung viel Motivation und auch die Bereitschaft zur Identifikation mit dem neuen System.

Das war die Phase, in der politische Steuerungsabsicht und gesellschaftliche Steuerungsergebnisse am wenigsten weit auseinanderklafften. Allerdings gab es Gegentendenzen. Der legitimationserzeugende Selbstvergleich mit der Zeit bis 1945 wurde zunehmend durch den Unzufriedenheit erzeugenden Selbstvergleich mit dem westlichen Deutschland ergänzt. Der Wohlstand wuchs nur sehr langsam. Die Repression war umfassend und hart. Sie trieb viele der Dagebliebenen zur inneren Abkehr, zur Flucht ins Private, zur Depolitisierung, die nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur ohnehin nahelag.

Zweitens: Nach dem Schock des Mauerbaus von 1961 hörte die massenhafte Abwanderung gezwungenermaßen auf. Die Phase der gewaltsamen Umgestaltung war weitgehend abgeschlossen, das Regime setzte auf Konsolidierung, zugleich aber auf wirtschaftliche Reform. Das Neue Ökonomische System (NÖS) sollte die zentrale Verwaltungswirtschaft durch vorsichtige Dezentralisierung ein wenig flexibilisieren und dadurch die Leistungskraft steigern. Ein neues Modernisierungsziel rückte in den Vordergrund, die Wissenschaftlich-Technische Revolution. Die DDR schien westlichen Beobachtern auf dem Weg zur leistungsorientierten Laufbahngesellschaft zu sein Die Pragmatik der Politik schien zuzunehmen, Technokraten schienen ihren Einfluß auf Kosten der Ideologen und Apparatschicks zu stärken, die soziale Differenzierung nahm zu. Konvergenztheorien waren im Westen verbreitet, Peter Christian Ludz konzipierte seine einflußreichen Bücher Bahr und Brandt ihre neue Deutschlandpolitik. Der Blick von außen wurde hoffnungsvoller, dem entsprachen gewisse Stimmungsumschwünge im Inneren der DDR. In der Rückschau erscheinen vielen die (späteren) sechziger und die frühen siebziger Jahre als relativ akzeptabel, gekennzeichnet durch steigende Konsummöglichkeiten, noch gute Aufstiegsmöglichkeiten und aufkeimenden Stolz auf die Leistungen, die man in der DDR -trotz alledem -erbracht hatte Auch bei den 20-bis 40jübrigen jenes Jahrzehnts scheint einige Bereitschaft vorhanden gewesen zu sein, dieses sozialistisch-kommunistische Experiment in Deutschland zu stützen, schließlich ging es ökonomisch wie politisch aufwärts, die böse Zeit des „Stalinismus“ schien vorbei.

Wenn es in der DDR eine Phase der Möglichkeit alternativer Entwicklung hin zu einem demokratischeren und leistungskräftigeren Sozialismus gegeben hat, dann waren es vermutlich die Jahre, vielleicht auch nur die Monate vor dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag und der Unterdrückung des dortigen Reformkommunismus im Sommer 1968. In der Folge verengten sich die Reformspielräume auch im Innern der DDR. Der Einmarsch in Prag scheint vor allem auf jüngere Intellektuelle desillusionierend gewirkt und sie zur inneren Abkehr veranlaßt zu haben Gleichzeitig scheiterte der Versuch, die Wirtschaft im Zeichen des NÖS zu reformieren, sie innovativer und langfristig leistungsfähiger zu machen. Die mittlerweile entstandene typische Spannung zwischen ökonomischer Lockerungs-und Innovationspolitik einerseits, sozialer Stabilitäts-und ideologischer Machterhaltungspolitik andererseits wurde auf Kosten des ökonomischen Neuansatzes gelöst. Der Über-gang von Ulbricht zu Honecker 1971 bekräftigte diese Weichenstellung. Seit Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre ließ die Erneuerungsenergie der SED-Politik -auch ihr utopischer Gehalt -merklich nach Unter dem Zeichen der „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“ kam es zwar schrittweise zum Ausbau sozialpolitischer Leistungen, zur Verbesserung des Konsums, zur Aufwertung der Freizeit, auch im Interesse einer „Stillstellung“ von Oppositionspotential. Dies fand Anklang in der Bevölkerung. Aber die wirtschaftliche Modernisierung blieb auf der Strecke, die notwendig gewesen wäre, um die staatlichen Aufwendungen für die Sozialleistungen, die Preissubventionen und den riesigen Kontrollapparat zu finanzieren, der Unsummen verschlang. Die Auswirkungen der Ölkrise von 1973 kamen hinzu. Seit Anfang der siebziger Jahre scheint die DDR über ihre Verhältnisse gelebt und den Wettlauf mit dem Westen definitiv verloren zu haben. Zunehmend lebte man von der Substanz Der reform-und entscheidungsgeschichtlichen Zäsur von 1968/1971 folgte der erfahrungsgeschichtliche Umschlag in Form zunehmender Enttäuschung und Entfremdung größerer Bevölkerungsgruppen allerdings erst im Abstand einiger Jahre, etwa seit 1974/75.

Drittens: Zwar gab es keine Rückkehr zu den brutalen Repressionsmethoden der fünfziger Jahre. Aber der Kontrollapparat der Staatssicherheit wuchs, er erreichte erst jetzt seine flächendeckende Ubiquität, er modernisierte seine Methoden. Auf den verschiedensten Gebieten zeigte das System nun Erstarrungssymptome. Das mittlerweile zur entscheidenden Aufstiegsschleuse gewordene Hochschulsystem wurde exklusiver, der Anteil der Studenten an der jeweiligen Generation fiel, der entspechende Anteil lag 1989 in der Bundesrepublik fast doppelt so hoch wie in der DDR. Auch der Arbeiteranteil an den DDR-Studenten war rückläufig, auch in dieser Hinsicht erwies sich das westdeutsche System bald als viel offener. Die Aufstiegschancen nahmen rapide ab, die Neigung der Intelligenz und der Führungsschichten zur Selbstrekrutierung nahm ebenso rasch zu. Die Jungen der achtziger Jahre sahen sich oft vor verschlossenen Türen, vor langfristig besetzten Stellen. Oft fehlte es offenbar auch an Aufstiegswillen. Die Einebnung sozialer Positionsunterschiede (unterhalb der schmalen politisch herrschenden Schicht) war weit vorangeschritten, es fehlte an Motivation. Die Jüngeren tendierten mehr zum Selbstvergleich mit dem Westen als zum Selbstvergleich mit der faschistischen Zeit, die immer weiter zurücklag, während der Westen nach den Erfolgen der sozialliberalen Ostpolitik nur noch schwer als feindliche Bedrohung zu verteufeln war. Seit den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren finden sich Ansätze zu einer neuen Jugendkultur, orientiert an westlichen Beispielen. Der Generationskonflikt nahm zu, die Nachwachsenden entzogen sich den staatlich sanktionierten Sozialisationszielen, unveröffentlicht bleibende Umfragen zeigten wachsende Unzufriedenheit und Mißstimmung unter den Jugendlichen, von der Erschaffung des neuen „sozialistischen Menschen“ war man weit entfernt

Dies waren wichtige Voraussetzungen der Revolution von 1989/90, die im übrigen viele andere Ursachen hatte, vor allem solche außerhalb der DDR. Es ist unübersehbar: Die politischen Steuerungsabsichten und die gesellschaftlichen Entwicklungen klafften weit auseinander. Die sozialen Bruchlinien der späten DDR, die zugleich potentiell politische Konflitklinien waren, entschlüsseln sich interessanterweise eher, wenn man nach Generationen statt nach Klassen und Schichten differenziert.

IV. Probleme der Modernisierung

Bisher wurde die Frage nach dem Verhältnis von diktatorischer Herrschaft und gesellschaftlicher Entwicklung als Leitfrage benutzt, um Grundlinien der DDR-Sozialgeschichte zu skizzieren, grundsätzlich zunächst und dann im chronologischen Längsschnitt. Was aber war das Besondere an der DDR-Geschichte? Kann man von der DDR als. einem deutschen Sonderweg sprechen? Wenn ja, in welchem Sinn? Wie vergleicht sich die DDR-Entwicklung mit den Entwicklungen in anderen Ländern? Dazu abschließend einige selektive Bemerkungen.

Je nachdem, mit wem man sich vergleicht, variiert das Ergebnis. Das ist in der historischen Komparatistik nicht viel anders als im persönlichen Leben oder in der Völkerpsychologie. Die Wahl des Vergleichspartners ist kein rein wissenschaftlicher Akt.

Heutigen Kommentatoren und Historikern liegt es nahe, die DDR mit der Bundesrepublik zu vergleichen. Auch vor 1989 war der deutsch-deutsche Vergleich weit verbreitet, vor allem in der DDR, wo der permanente Selbstvergleich mit dem westlichen Deutschland die Kritik an der eigenen Situation speiste und zur Destabilisierung beitrug, während umgekehrt der Selbstvergleich mit dem kleinen, häßlichen Bruder im Osten das Selbstbewußtsein der Bundesrepublik stärkte und stabilisierte. Auch in der obigen Darstellung war der West-Ost-Kontrast und damit der BRD-DDR-Vergleich implizit, schon durch die Wahl der Begriffe. Im so angelegten deutsch-deutschen Vergleich treten, auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht, die Unterschiede und damit die Eigenarten der DDR auffällig hervor. Man kann sie modernisierungshistorisch zusammenfassen.

Vieles an der DDR war ausgesprochen modern. Dazu gehören auch ihre Methoden diktatorischer Herrschaft, Propaganda und Kontrolle, durch die sie sich von Diktaturen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte unterschied. Die DDR war eine Diktatur des 20. Jahrhunderts, eine -in gewisser Hinsicht -moderne Diktatur. Aber wenn man Modernisierung in der Tradition Max Webers definiert -und das tun die meisten Sozialwissenschaftler heute, sofern sie sich mit dem Konzept überhaupt anfreunden mögen -, dann war das westdeutsche System unter den meisten Gesicht-punkten das modernere. Prüft man die Verteilung der Erwerbstätigen auf die drei Sektoren der Volkswirtschaft, dann ergibt sich ein Tertiärisie-rungsrückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik von 20 bis 30 Jahren, der sich in dieser Schärfe übrigens erst in den siebziger und achtziger Jahren herausgebildet hat. Die DDR hat die Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft wie zur Konsumgesellschaft nur zögerlich mitmachen können, stärker als die Bundesrepublik ist sie Industrie-und Arbeitsgesellschaft geblieben

Die Ausdifferenzierung in Teilsysteme mit je spezifischen Rationalitätskriterien gilt als Kriterium der Modernität von Gesellschaften, als Bedingung ihrer Leistungskraft und oft auch als Voraussetzung von Freiheit. Die Multifunktionalität der Betriebe und betrieblichen Arbeitsplätze in der DDR wurde dagegen bereits erwähnt. Die verwischte, wenngleich nicht ganz fehlende Ausdifferenzierung zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft war das Grundthema der bisherigen Ausführungen. Es ist noch einmal daran zu erinnern, daß es an der rechtlich-institutionellen Absicherung teil-autonomer intermediärer Bereiche in der DDR fehlte, mit der halben Ausnahme der Kirche. In diesem Sinn ist die Gesellschaft der DDR durch funktionale Entdifferenzierung und institutioneile Fusionierung gekennzeichnet -in ausgeprägtem Unterschied zur Bundesrepublik Daraus folgt und erklärt sich sehr viel: die unterschiedliche Leistungskraft des Systems, eine ganz andere Rolle des Rechts unterschiedliche Bedingungen für Freiheit und Selbstverwaltung.

Während die Verwischung der Grenze zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Programmatik des SED-Staats entsprach, bildete das so entdifferenzierte System ungeplante Ersatzlösungen aus: sehr personenbezogene, schwer berechenbare Patronageverhältnisse im politischen Bereich einerseits, auf Verwandtschaft und Freundschaft basierende, informelle und nach Regeln der Gegenseitigkeit funktionierende Netzwerke im Bereich der Produktion und Verteilung andererseits Man kann das als Demodernisierung analy-sieren, aber natürlich erklärt sich so auch, daß das Leben in der DDR oft weniger unpersönlich war als das im Westen, weniger spezialisiert und weniger „kalt“. In der Rückschau wird das sehr unterschiedlich bewertet.

Durch den Vergleich mit der Bundesrepublik treten weitere zentrale Eigenarten der DDR hervor, auch solche, die dem Bild der DDR als dem altmodischeren System widersprechen. Zu denken ist etwa an die größeren Gleichheitschancen für Frauen im Verhältnis zu Männern Der modernisierungshistorische Vergleich führt eben selten zu ganz eindeutigen Ergebnissen, sondern häufig nur zu Schlußfolgerungen nach Art des „einerseitsandererseits“.

Der Vergleich der DDR mit den realsozialistischen Nachbarländern steht sozialgeschichtlich leider noch ganz am Anfang. Ich beschränke mich auf kurze Bemerkungen zu drei Eigenarten der DDR, die aus der östlichen bzw. südöstlichen Vergleichs-perspektive deutlich werden. Zum einen war die DDR das industrialisierteste und sozialökonomisch entwickeltste sozialistische Land; seine relative Modernität wird im Vergleich mit den östlichen Nachbarn deutlich. Zum anderen wird klar, daß die Überstülpung des sozialistisch-kommunistischen Modells sowjetischer Machart in den sozial-ökonomisch rückständigeren Ländern neben Zerstörungen und neuer Erstarrung auch spezifische Modernisierungen zur Folge haben konnte, die in Ostdeutschland nicht oder kaum entstehen konnten, weil sie hier schon vorher realisiert worden waren. Jedenfalls weist man in Ungarn darauf hin, daß dort das kommunistische Regime mit seiner Politik der Enteignung des traditionalistischen Großgrundbesitzes, seinen tiefgreifenden Schulund Bildungsreformen wie mit seiner vehementen Industrialisierungspolitik ehemals tief eingewurzelte Modernisierungsbarrieren aus dem Weg geräumt und Entwicklungsschübe zustande bekommen hat, die der Zukunft Ungarns langfristig zugute kommen werden, wenn einmal die zerstörerischen und hemmenden Kurzzeitfolgen des kommunistischen Regimes überwunden sind

Das SED-Regime hat es wohl nur im Ausnahmefall zu diesen modernisierenden Langzeitwirkungen gebracht, u. a.deshalb, weil es einem Land aufgepropft worden ist, das auf dem Weg der Modernisierung schon viel weiter vorangeschritten war als die meisten seiner östlichen und südöstlichen Nachbarländer.

V. Deutsche Bindungen und Traditionen

Schließlich erscheint die DDR im Vergleich mit dem Osten als außerordentlich deutsch, als deutsch in zweifacher Hinsicht. Zum einen sind viele DDR-Entwicklungen nur aus dem Beziehungs-und Wechselwirkungsverhältnis heraus zu verstehen, das sie mit westdeutschen Entwicklungen verband Man denke an die Geschichte der Wanderungen, der deutsch-deutschen Verwandtschaftsverhältnisse, der Medien, des Verhältnisses zwischen den Kirchen, auch an die deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen und -einflüsse. Man denke an das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten, das vermutlich auf dem Gebiet der Sozialstaatsentwicklung Früchte trug. Und man denke an die besonderen Abgrenzungsanstrengungen, vor allem der östlichen Seite. So wie sich am Ende die besondere Bewegungslosigkeit der SED-Politik aus ihrer besonderen Konfrontation mit dem westdeutschen Konkurrenzsystem erklärt, so erklärt sich auch die besondere Schwäche der intellektuellen Dissidenz in der DDR aus der Möglichkeit ihrer Abwanderung nach Westen und aus der Nichtverfügbarkeit nationaler Argumente im Arsenal der Kritiker der DDR. Vieles in der DDR-Geschichte erklärt sich aus diesen deutsch-deutschen Beziehungen, bis hin zum Ende des Kommunismus in der DDR, das ohne die Bundesrepublik ganz anders verlaufen wäre. Es gab wirksame Restbestände einer gesamtdeutschen Geschichte, die das Wechselverhältnis und die inneren Zustände beider deutscher Gesellschaften beeinflußt haben.

Deutsch war die DDR -aus der Sicht der östlichen Nachbarn -aber auch, weil sie in deutscher Tradi-tion stand. Sicherlich, die DDR war viel mehr -und zugleich sehr viel weniger -als Preußen. Aber das Bild des „roten Preußen“ hing der DDR auch aus polnischer und ungarischer Perspektive bisweilen an, und man meinte damit unter anderem bestimmte Elemente der politischen, auch der wissenschaftlichen Kultur -Gründlichkeit und Linientreue zum Beispiel die man im internationalen Vergleich nicht übersehen konnte.

Wie steht es mit der Einbindung der DDR in die deutsche Geschichte? Viele Westdeutsche waren vor 1989/90 darüber erleichtert, daß es in der Bundesrepublik zur Errichtung einer neuen Ordnung gekommen war, die sich von der deutschen Geschichte vorangehender Jahrzehnte grundsätzlich unterschied, von der nationalsozialistischen Diktatur absetzte, die Bundesrepublik eindeutig in die politische Kultur des Westens eingliederte und den unglücklichen „deutschen Sonderweg“ zwischen Ost und West beendete. Nach ihrem Wirtschaftssystem, ihrer Sozialordnung, ihren Verfassungsprinzipien, ihrer Kultur und ihren Bündnissen wurde die Bundesrepublik allmählich -nicht sofort -zu einem relativ normalen und starken Staat westlicher Prägung; nur die offene nationale Frage machte sie weiterhin zu einer Besonderheit in Europa. Die lange beschworene Distanz der deutschen „Kultur“ zur westlichen „Zivilisation“, die deutsche Skepsis gegenüber Parteienstaat und Parlamentarismus, das Lob deutscher Innerlichkeit gegenüber westlichem Hedonismus, die alte Materialismus-und Kapitalismuskritik, all dies hatte viel an Kraft verloren, die „German divergence from the West“ schien zu Ende. Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ und Werner Sombarts „Händler und Helden“ konnten nur noch historisch verstanden werden, zum Glück

Und wie verhielt es sich damit in der DDR? Der Kontinuitätsbruch reichte östlich der Elbe zweifellos tief, zunächst tiefer als im Westen. Oben wurden die wichtigsten Brüche erwähnt: der Antifaschismus und die Entnazifizierung, die erzwungene sozialökonomische Neuordnung, die Enteignungen und der Exodus, der gewaltsame Elitenwechsel, die neue sozialistisch-kommunistische Ordnung überhaupt. Außen-und bündnis-politisch ging auch in der DDR der deutsche Sonderweg zwischen Ost und West zu Ende. Der Westbindung der Bundesrepublik entsprach spie-gelbildlich die Ostbindung der DDR. Keiner der beiden deutschen Staaten setzte die expansiv-imperialistische Politik des Hitler-Reichs fort. Auch sozialgeschichtlich unterschied sich das SED-System gründlich vom nationalsozialistischen Reich. Ein neues Deutschland entstand auch östlich der Elbe, nicht nur im offiziellen Selbstverständnis seiner Repräsentanten, sondern auch in der Realität

Doch blickt man genauer hin, wird der Befund ambivalenter. Unter der Decke der Entnazifizierung gab es auch im Osten viel personelle Kontinuität, z. B. in der Lehrerschaft, wenngleich sicher weniger als im Westen Immer häufiger wurde aus dem offiziellen Antifaschismus eine Legitimierungs-und Immunisierungsstrategie mit Stoßrichtung gegen die Bundesrepublik So sehr sich das politische System der DDR auch nach Inhalt und Form vom faschistischen Staat unterschied, so unbestreitbar ist doch, daß auch die zweite deutsche Diktatur tief in den Traditionen des Obrigkeitsstaats, des Antiparlamentarismus, des Illiberalismus, ja auch des Militarismus stand, also in jenen Traditionen, die den inneren Kern des „deutschen Sonderwegs“ ausgemacht hatten und die in der Bundesrepublik mit der Zeit abgeschwächt und schließlich weitgehend überwunden werden konnten. In der Bundesrepublik halfen dabei Erfahrungen mit, die der DDR verschlossen blieben. Man denke an die vielfältigen Kontakte mit dem westlichen Europa und mit Amerika, das rasante Wirtschaftswachstum seit den fünfziger Jahren und die Proteste, die Bewegungen, die Kulturrevolution, den Modernisierungsschub der sechziger Jahre -zentrale Erfahrungen, die in der DDR fehlten und die in der Bundesrepublik zur Entstehung einer einigermaßen funktionierenden Zivilgesellschaft westlichen Musters mindestens ebensoviel beigetragen haben wie die Weichen-stellungen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre. So könnte es sein, daß östlich der Elbe mehr von den Traditionen des deutschen Sonderwegs überlebt hat als im Westen der vereinigten Republik. Die Debatte darüber hat aber erst begonnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (= Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7820, 31. 5. 1994), bes. S. 7-14; K. -D. Henke (Hrsg.), Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten auf dem 39. Historikertag 1992, München 1993, S. 35-42. Das Folgende ist die gekürzte und durch Anmerkungen ergänzte Fassung eines öffentlichen Vortrags in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 15. Juni 1994.

  2. H. Rudolph, Das letzte Wort haben nicht die Historiker, in: Der Tagesspiegel vom 7. 5. 1994, S. 1.

  3. Vgl. Th. Heimann u. a. (Bearb.), Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte. Ergebnisse einer Umfrage des Arbeitsbereiches DDR-Geschichte im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim (1994). Im Auftrag der Enquete-Kommission (Anm. 1).

  4. Die folgende zusammenfassende Darstellung fußt vor allem auf ersten Zwischenergebnissen des 1992 gegründeten Forschungsschwerpunkts Zeithistorische Studien Potsdam sowie auf Tagungen des Arbeitskreises für moderne Sozial-geschichte (Bad Homberg).

  5. Zum folgenden ausführlicher J. Kocka, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 22-24.

  6. Beispielsweise Ch. Kleßmann, Zwei Diktaturen in Deutschland. Was kann die künftige DDR-Forschung aus der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus lernen?, in: Deutschland Archiv, 25 (1992), S. 601-606.

  7. Vgl. L. Kühnhard u. a. (Hrsg.), Die doppelte Diktatur-erfahrung. Drittes Reich und DDR. Ein historisch-wissenschaftlicher Vergleich, Frankfurt 1994.

  8. Man kann die Diktaturen des 20. Jahrhunderts nach dem Grad ihres totalitären Anspruchs und seiner Realisierung unterscheiden. Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren und sind mehr oder weniger totalitär. Doch gibt es verschiedene Begriffe des Totalitären. Ich bezeichne hier Diktaturen in dem Ausmaß als totalitär, in dem es ihnen gelingt, einen tendenziell totalen Zugriff auf die Individuen und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu realisieren, also Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu steuern und zu kontrollieren, u. a. mit Hilfe von Manipulation und Gewalt. So ähnlich auch S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt

  9. Vgl. M. Kaiser, Die Zentrale der Diktatur. Organisatorische Weichenstellungen, Strukturen und Kompetenzen der SED-Führung in der SBZ/DDR 1946 bis 1952, in: J. Kocka (Anm. 5), S. 57-86. Generell natürlich H. Weber, DDR. Grundriß der Geschichte 1945 bis 1990, Hannover 1991; D. Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungszone zum sozialistischen Staat, München 19872.

  10. Vgl. S. Lokatis, Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur. Das „Amt für Literatur und Verlagswesen“ oder die schwere Geburt des Literaturapparates in der DDR, in: J. Kocka (Anm. 5), S. 303-326. Zum Projekt über die Sozial-geschichte der Volkspolizei (Th. Lindenberger) vgl. Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH (Hrsg.), Tätigkeitsbericht 1993 der Geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte (1994), S. 27.

  11. Vgl. J. Giesecke, Die Hauptamtlichen 1962. Zur Personalstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit (= BF informiert 1/1994), hrsg. vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Abt. Bildung und Forschung, Berlin; H. Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1993, S. 322-356; C. Vollnhals, Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument totalitärer Herrschaftsausübung, in: ebd., S. 498-518.

  12. Vgl. Annäherungen an die soziale Wirklichkeit der DDR. Erste Ergebnisse (= Arbeitsbericht 1/1993 aus dem Projekt „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“), hrsg. v. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, bes. S. 65-125 (Beiträge von K. U. Mayer, J. Huinink u. H. Solga); K. U. Mayer/H. Solga, Mobilität und Legitimität. Zum Vergleich der Chancenstrukturen in der alten BRD oder: Haben Mobilitätschancen zu Stabilität und Zusammenbruch der DDR beigetragen? (= Arbeitsbericht 3/1993 ders. Reihe).

  13. Vgl. R. Jessen, Professoren im Sozialismus. Aspekte des Strukturwandels der Hochschullehrerschaft in der UlbrichtÄra, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 217-253.

  14. Vgl. P. Erker, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), S. 202-238; A. Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41 (1993), S. 1-29; H. G. Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, S. 3-19.

  15. Vgl. R. Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992, S. 97ff., 112ff.; A. Bauerkämper, Von der Bodenreform zur Kollektivierung. Zum Wandel der ländlichen Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und DDR 1945-1952, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 119-143; R. Thomas, Zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen. Plädoyer für ein neues Forschungskonzept, in: H. Timmermann (Hrsg.), Deutschland und Europa nach dem 2. Weltkrieg, Saarbrücken -Scheidt 1990, S. 663-677.

  16. Vgl. M. Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit. Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 31-61.

  17. Vgl. H. G. Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: M. Kaelble/J. Kocka (Hrsg.) (Anm. 11), S. 519-544; ders., Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, hrsg. v. J. Kocka u. a., München 1994, S. 790-804.

  18. Grundsätzlich dazu R. Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft (i. E.). Jessen antwortet auf S. Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschaftsund Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: ebd., 19 (1993), S. 5-14.

  19. Vgl. Ch. Kleßmann. Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), S. 29-53; P. Hübner, Die Zukunft war gestern. Soziale und mentale Trends in der DDR-Industriearbeiterschaft; sowie A. Lüdtke, „Helden der Arbeit“ -Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 171-213.

  20. Am Beispiel der Geschichtswissenschaft: J. H. Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit: Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels, Frankfurt 1992; K. H. Jarausch (Hrsg.), Zwischen Parteilichkeit und Professionalität. Bilanz der Geschichtswissenschaft der DDR, Berlin 1991.

  21. Vgl. D. Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 404-425.

  22. Vgl. R. Geißler (Anm. 15), S. 264ff.; J. Huinink, Familienentwicklung und Haushaltsgründung in der DDR. Vom traditionellen Muster zur instrumenteilen Lebensplanung?, (= Arbeitsbericht 5/1993 aus dem Projekt „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“), hrsg. v. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin; H. Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: ders. /J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 559-580, 563-565.

  23. Vgl. M. Kohli (Anm. 16), bes. S. 38-51; J. Roesler, Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der Arbeitswelt?, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 144-170; P. Hübner, Vor Ort. Soziale Interessen, Arrangements und Konflikte im Industriearbeiteralltag der SBZ und der DDR 1945-1970, Berlin 1994 (i. E.).

  24. M. Kohli (Anm. 16), S. 48f.

  25. Vgl. R. Jessen (Anm. 13), S. 232-236.

  26. Vgl. I. Merkel, Leitbilder und Lebensweisen von Frauen in der DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 359-382, 379.

  27. Zur „Zusammenbruchsgesellschaft“ vgl. D. Wierling, Is there an East German Identity? Aspects of a Social History of the Soviel Zone/German Democratic Republic, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 19 (1990), S. 193-207, insbes. S. 195-197; Ch. Kleßmann/G. Wagner (Hrsg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, München 1993; H. Graml, Vom Kriegsende bis zur doppelten Staatsgründung 1945-1949, in: W. Weidenfeld/H. Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 35-47.

  28. Konsens über die sozialgeschichtliche Periodisierung der DDR-Entwicklung ist noch nicht erreicht. Vgl. H. Weber, Die DDR 1945-1986, München 1986 (Gliederung), und den Periodisierungsvorschlag bei M. Fullbrook, The Two Germanies, 1945-1990. Problems of Interpretation, London 1992, S. 12-26.

  29. Vgl. P. Mitzscherling u. a., System und Entwicklung der DDR-Wirtschaft, Berlin (West) 1974; D. Cornelsen, Die Volkswirtschaft der DDR: Wirtschaftssystem -Entwicklung -Probleme, in: W. Weidenfeld/H. Zimmermann (Hrsg.) (Anm. 27), S. 258-275, bes. 263-269; J. Roesler, Das Neue Ökonomische System -Dekorations-oder Paradigmenwechsel?, Berlin 1993.

  30. Vgl. P C. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung, Köln 1968.

  31. Entsprechende Umfrageergebnisse zitiert D. Wierling (Anm. 27), S. 201.

  32. Hartmut Zwahr berichtet davon. Generell zu 1968 in der DDR: A. Mitter/St. Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, Kap. IV.

  33. Vgl. zum Abbruch der Wirtschaftsreformpolitik im Übergang von Ulbricht zu Honecker J. Roesler, Einholen wollen und aufholen müssen, in: J. Kocka (Anm. 5), S. 263-286, bes. 276f., 284. Vgl. D. Mühberg, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 70.

  34. Vgl. H. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. llf.

  35. Vgl. R. Geißler (Anm. 15), S. 212-235, bes. 214, 216, 226ff.; Anm. 12; M. Lötsch, Arbeiterklasse und Intelligenz in der Dialektik von wissenschaftlich-technischem, ökonomischem und sozialem Fortschritt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 33 (1985), S. 31-41; R. Jessen (Anm. 18); I. Merkel (Anm. 26), S. 373-376.

  36. Aus der sozialwissenschaftlichen Literatur zum Problem vgl. W. Zapf, Der Untergang der DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, in: B. Giesen/C. Leggewie (Hrsg.), Experiment Vereinigung, Berlin 1991, S. 38-51; I. Strubar, War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 43 (1991), S. 415-432.

  37. Zahlen zur Verteilung der Erwerbstätigen auf die Wirtschaftssektoren bei R. Geißler (Anm. 15), S. 118; vgl. auch M. Kohli (Anm. 16). ,

  38. Vgl. M. R. Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. 11), S. 17-30.

  39. Vgl. G. Dilcher, Politische Ideologie und Rechtstheorie, Rechtspolitik und Rechtswissenschaft, in: ebd., S. 469-482.

  40. Zu den informellen „Umverteilungsnetzen“ auf der Grundlage von Gegenseitigkeit vgl. M. Diewald, Informelle Beziehungen und Hilfeleistungen in der DDR: Persönliche Bindungen und instrumentelle Nützlichkeit (= Arbeitsbericht 4/1993 aus dem Projekt „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“), hrsg. v. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin.

  41. Dies ist ein komplexes Problem, das hier nicht weiter verfolgt wird. Vgl. die beiden Beiträge von U. Gerhard und I. Merkel, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.) (Anm. ll), S. 359-403; ebd., S. 574f., Kaelbles Betonung von Ähnlichkeiten zwischen DDR und Frankreich; G. Helwig/H. M. Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Berlin 1993; H. Trappe, Selbständigkeit -Pragmatismus -Unterordnung. Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und staatlicher Sozialpolitik, Diss. soz. -wiss., FU Berlin 1994.

  42. So Ivän Berend in einer Diskussion in der Mitteleuropäischen Universität in Budapest am 30. 3. 1994.

  43. Auch zum folgenden: Ch. Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, S. 30-41; P. Bender, Ansätze zu einer deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Merkur, 47 (1993), S. 197-206.

  44. Vgl. J. Kocka, Ende des deutschen Sonderwegs, in: W. Ruppert (Hrsg.), „Deutschland, bleiche Mutter“ oder eine neue Lust an der nationalen Identität?, Berlin 1992, S. 9-31.

  45. Vgl. R. Badstübner, Die Anfänge der DDR -gesellschaftsgeschichtliche Deutungsmuster. Ein Beitrag zum Thema Aufarbeitung und Bewertung von DDR-Geschichte, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 35 (1993), S. 3-18.

  46. Vgl. J. Petzold, Die Entnazifizierung der sächsischen Lehrerschaft 1945, in: J. Kocka (Hrsg.) (Anm. 5), S. 87-103; B. Hohlfeld, Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945-1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat, Weinheim 1992.

  47. Vgl. J. Danyel, Die geteilte Vergangenheit, in: J. Kocka (Hrsg.) (Anm. 5), S. 129-147, bes. 133f.

Weitere Inhalte

Jürgen Kocka, Dr. phil., Dr. phil. h. c., geb. 1941; Professor für Geschichte der industriellen Welt an der FU Berlin; ständiges wissenschaftliches Mitglied am Wissenschaftskolleg zu Berlin; kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunkts Zeithistorische Studien in Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, insbesondere der Sozial-geschichte.