War die DDR totalitär? Diese Frage war bis zu ihrem Kollaps, der zu einem tektonischen Umbruch und schnurstracks zu einer Angliederung an die Bundesrepublik führte, mehr oder weniger rhetorischer Natur. Für den Mainstream der westdeutschen DDR-Forschung bestand in den siebziger und achtziger Jahren kein Zweifel: Die DDR galt überwiegend nicht als totalitär. Der Begriff des Totalitarismus spielte ohnehin kaum eine Rolle in der einschlägigen Forschung. Die „doppelte Bilanz“ des „Deutschland-Handbuches“ etwa vermied den Begriff Totalitarismus -wie andere Studien auch -und untersuchte auf informative Art „in parallelen Beiträgen den gleichen Gegenstand für Deutschland (West) wie für Deutschland (Ost)“ ohne allerdings zu einem eigentlichen Vergleich vorzudringen.
Heutzutage, nach der von keiner Richtung der DDR-Forschung vorhergesagten Implosion der DDR scheint die Frage wiederum rhetorischer Natur zu sein. Nahezu kanonische Geltung kommt der Auffassung zu, daß es sich bei der DDR um ein totalitäres System gehandelt habe -trotz der faktisch fehlenden Gegenwehr 1989/90 (bei mannigfacher Vertuschung diktatorischer und Festschreibung sozialistischer Elemente gleichermaßen durch die Modrow-Regierung) So sehr der Be griff früher auf Ablehnung stieß, so häufig findet er heute Anwendung. Auch Autoren, die früher dem Totalitarismuskonzept ablehnend gegenüberstanden, scheinen ihren Frieden mit dem Begriff geschlossen zu haben. Selbst Gerhard Lozek, an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED einst führender Ideologe beim Kampf gegen die „Totalitarismus-Doktrin“ sieht sich nun bemüßigt, „das Totalitarismuskonzept ernst [zu] nehmen“ und nennt gar „das totalitäre System“ als eines der markanten Merkmale der politischen Ordnung der DDR. Augenfällig und eigentümlich zugleich ist bei dieser -sei es offenkundigen, sei es scheinbaren -Aufwertung des Totalitarismusbegriffs der Sachverhalt, daß eine Begründung in der Regel unterbleibt, von Hinweisen auf die Hypertrophie der Staatssicherheit abgesehen.
Wie ist dieser Wandel binnen kurzem zu erklären? Offenbar spielt auch für Wissenschaftler die normative Kraft des Faktischen für die faktische Kraft des Normativen eine große Rolle -um nicht zu sagen: der Zeitgeist. Ein System, das gescheitert ist, wird weitaus kritischer wahrgenommen. Dabei besteht zwischen Legitimität und Stabilität kein direkter Zusammenhang. Vom Standpunkt des demokratischen Verfassungsstaates wäre eine siegreiche DDR ebenso diskreditiert, wie es eine nicht mehr existierende DDR ist. Durch ihren Kollaps sind im Kern keine Fakten bekannt geworden, die es gestatten, das moralische Urteil über die DDR zu verschärfen. Wer sehen wollte, konnte auch vorher sehen. Offenkundig hatten manche derer, die den totalitären Charakter der DDR bestritten, den Eindruck gewonnen, sie sei ein „politischsoziales System sui generis“, „eine neben anderen möglichen Formen der Organisation hochindustrialisierter Gesellschaften. Es wird akzeptiert“, so Gert-Joachim Glaeßner, einer der tonangebenden DDR-Forscher, „daß der umfassende Regelungsanspruch dieses Systems nicht totalitärer Willkür [... ] entspricht“ Wer die DDR als politisches System sui generis angesehen hat, konnte sich nicht darauf einlassen, für die DDR jene Maßstäbe zugrundezulegen, an denen sich auch die Bundesrepublik messen lassen mußte und muß.
I. Aufbau, Fragestellung und Bedeutung der Thematik
Zunächst werde ich die Frage erörtern, ob -und warum -die DDR als Diktatur zu gelten hat, welcher Observanz auch immer. Danach ist auf das vielschichtige Totalitarismuskonzept einzugehen. Wer die Frage prüfen will, ob die DDR totalitärer Natur gewesen ist, muß seine Maßstäbe offenlegen. Für die vielleicht etwas überraschend anmutende Antwort scheint mir eine gewisse Unterscheidung zwischen verschiedenen Phasen angebracht. Mir kommt es insbesondere auf die zweite Hälfte der achtziger Jahre an. Es geht mir weiter darum, Gründe für den Wandel des diktatorischen Charakters der DDR zu benennen. Meine These ist, daß sich die DDR von einem durch und durch totalitären System in den ersten Jahren in eine zunehmend auch von autoritären Zügen bestimmte Diktatur umgeformt hat. Ist aber nicht das unselige Wirken der Staatssicherheit ein gewichtiges Argument für den totalitären Charakter des Systems? Nähere ich mich mit der These, eine allmähliche Abkehr von einer totalitären Ordnung sei eingetreten, der Auffassung von Günter Gaus, dem ersten Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, der andere deutsche Staat sei eine Nischengesellschaft gewesen
Die Fragestellung ist nicht von scholastischer Natur, sondern für eine an der Leitfrage nach einem menschenwürdigen Leben orientierte Politikwissenschaft essentiell wichtig: Nach dem Ende tatsächlicher oder vermeintlicher totalitärer Systeme läßt sich über den Sinn und die Grenzen des Totalitarismusbegriffs gelassener streiten, da die Gefahr politischer Instrumentalisierung weitaus geringer geworden ist. Aufgrund der Hinterlassenschaft der kommunistischen Diktatur besteht eine günstige Voraussetzung zur Klärung von Fragen, deren Antworten früher mehr oder weniger-z. B. wegen unzureichender „Feldforschung“ -auf Glaubensbekenntnissen oder politischen Annahmen beruhten. DDR-Forschung, die auf Spekulationen verzichten kann, ist eigentlich erst jetzt in vielen Bereichen möglich. Insofern hat die vielbeschworene Transformationsforschung die Auseinandersetzung mit dem sogenannten „realen Sozialismus“ in der DDR zur Voraussetzung. Eine kritische Analyse baut einer Nostalgie wie einer Dämonisierung der DDR vor. Mit Karl Dietrich Bracher gilt es, „einer Betrachtungsweise weiterhin Gehör zu verschaffen, die nach 1945 so wesentlich die Neubegründung und Entfaltung einer freiheitlich-demokratischen Politikwissenschaft getragen hat“ -zumal nach der Jahrhundertzäsur, dem plötzlichen Hinscheiden des sogenannten „realen Sozialismus“, der eine merkwürdige „sklerotische Stabilität“ aufwies -„fast völlige Starrheit und Unbeweglichkeit oder Zusammenbruch“ Tertium non datur.
Die DDR war für die meisten Westdeutschen ein unbekannter Nachbar, obwohl die großen Parteien an der einen „deutschen Nation“ festhielten. Umgekehrt war in der DDR weitaus mehr von dem anderen deutschen Staat bekannt, obwohl die politische Führung Abgrenzung vom „kapitalistischen Staat“ zum Programm erhob und es erschwert, wenn nicht gar unmöglich war, sich ein angemessenes Bild zu verschaffen.
Die bis Ende der 60er Jahre im Westen so genannte „sogenannte Deutsche Demokratische Republik“ war nicht deutsch, nicht demokratisch und auch nicht republikanisch. Basierend auf den Bajonetten der Sowjetunion, erwies sie sich als ein willfähriges Satellitenregime, lange eine Art „Musterknabe“ des Ostens. Ihr fehlte es durchgängig an demokratischer Legitimität, wie dick auch die demokratische Schminke aufgetragen war. Als republikanisch läßt sie sich ebensowenig charakterisieren, interpretiert man diesen Begriff mit Immanuel Kant im Sinne einer gewaltenteiligen Verfassung (und nicht als bloße Negierung einer wie auch immer gearteten Monarchie).
Die DDR war eine Diktatur -von Anfang an, in allen Etappen ihrer Entwicklung. Gleich nach 1945 wurde mit dem Aufbau einer, so der euphemistische Ausdruck, „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ begonnen, dem der „Aufbau des Sozialismus“ im Jahre 1952 konsequenterweise folgte. Das Sowjetsystem lieferte den Bauplan der politischen Ordnung, auch wenn formal ein Mehrparteiensystem zum Tragen kam. In Art. 1 der DDR-Verfassung wurde 1968 das politische Monopol der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei festgeschrieben. Die Lehre von der Diktatur des Proletariats galt als „das Kernstück der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie“ Das Herrschaftssystem war monistisch ausgerichtet, ein Pluralismus unterschiedlicher Interessen wurde nicht anerkannt, der Inhalt des Gemeinwohls vorgegeben, der Eigenwert demokratischer Spielregeln geleugnet.
Immer wieder ist in der Literatur von „Stalins DDR“ die Rede. Die These, die DDR sei stalinistisch gewesen, reicht bis in die Reihen der PDS und der Trotzkisten Sie ist unzutreffend und basiert entweder auf einer Dämonisierung oder einer Verharmlosung des diktatorischen Charakters der DDR. Eine Dämonisierung liegt insofern vor, als die Zustände, die sich gemeinhin mit der Stalinzeit verbinden (Verschleppung, Schauprozesse, GU-LAG-System, Klassenmord), in der DDR so nicht existiert haben, schon gar nicht in den letzten Jahrzehnten. Eine Verharmlosung ist gegeben, insofern der Ausdruck Stalinismus eine Abweichung vom „Weg der Tugend“ suggeriert: Fehlerhaft sei nicht das sozialistische System an sich, sondern seine (behauptete) Deformierung aufgrund des Personenkultes. Es ist eine Paradoxie: Der scheinbar heftigsten Kritik liegt nicht nur ein klamm heimliches Einverständnis mit den Prinzipien des Marxismus-Leninismus zugrunde. Die Perhorreszierung des „Stalinismus“ soll gegen Kritik an der als unbefleckt geltenden Idee des Sozialismus immunisieren.
Nach einem ebenso jähen wie unerwarteten Kollaps einer Diktatur im Zangengriff zwischen Auswanderungs-und Demonstrationsbewegung sprießen Mythen und schießen Halbwahrheiten ins Kraut. Zu ihnen gehört die These, die sogenannte „Wende“ sei von der Staatssicherheit initiiert worden, ihr dann aber aus den Händen geglitten zählt auch die Auffassung nicht nur Heiner Müllers, innerhalb der SED habe es eine „viel bewußtere Opposition gegen DDR-Strukturen als in der parteilosen Bevölkerung“ gegeben. Und um Legenden handelt es sich auch bei den beiden folgenden Positionen, die einander widersprechen: Die eine lautet, daß es gerade die Blockparteien gewesen seien, die sich bei der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft durch Übereifer und Linientreue ausgezeichnet hätten. Tatsächlich rekrutierten sich ihre Mitglieder vielfach aus Angepaßten, die von der SED in Ruhe gelassen werden wollten. Die andere geht in die umgekehrte Richtung, bei ihnen habe sich schon immer eine heimliche Opposition formiert. Sie war so heimlich, ließe sich ironisch ergänzen, daß es nicht einmal die mißtrauische Staatssicherheit wußte. Durch diese und andere Mythen wird die kommunistische Diktatur nicht erhellt. Gehört dazu auch die heute weithin geteilte These von der totalitären DDR?
II. Der Totalitarismusbegriff im Vergleich zum Autoritarismusbegriff
Wer die Frage nach dem diktatorischen Charakter der DDR-Gesellschaft bejaht, und daran zu zweifeln besteht kein begründeter Anlaß, hat damit noch nicht die nach ihrem totalitären Charakter beantwortet: Jedes totalitäre System ist diktatorisch, aber nicht jede Diktatur ist totalitär. Zu den Diktaturen sind solche autoritärer und totalitärer Observanz zu rechnen. Was versteht man unter autoritär, was -vor allem -unter totalitär? Der totalitäre Staat hebt sich nach Meinung von Totalitarismustheoretikern erstens vom Typus des demokratischen Verfassungsstaates ab, zweitens von einer autoritären Diktatur und drittens von allen früheren Formen der Autokratie. Der Totalitarismus ist damit antidemokratisch, pseudodemokratisch und postdemokratisch gleichermaßen. Als totalitär gelten jene politischen Systeme, die den Bürger durch eine Ideologie zu formen, durch Kontrolle zu erfassen und gleichzeitig zu mobilisieren suchen.
An dieser Stelle kann naturgemäß kein Überblick zur verschlungenen Geschichte der Totalitarismusforschung geboten werden Aufgrund der Existenz des sowjetischen Systems unter Stalin und des deutschen unter Hitler bildete sich ein besonders nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst aufblühender Zweig der Forschung heraus, der unter Anknüpfung an das faschistische Italien -von dort hatte der Totalitarismusbegriff seinen Ausgangspunkt genommen -bestimmte politische Ordnungen als totalitär bezeichnete. Totalitäre Herrschaft firmiert vielfach als Phänomen des 20. Jahrhunderts -aufgrund der Monstrosität der Verbrechen, der pseudodemokratischen Legitimierung, des angemaßten geschichtlichen Auftrags der Herrschenden sowie des Propagandaeinflusses. In der Folgezeit bildeten sich Totalitarismusansätze heraus, begleitet von heftiger, unterschiedlich motivierter Kritik, die bald die Oberhand gewann. Die vielleicht bekannteste Version stammt von Carl Joachim Friedrich und seinem damaligen Mitarbeiter Zbigniew K. Brzezinski. Sie stellten auf den Herrschaftsapparat ab, orientierten sich an einem basically-alike-Prinzip, wonach „die totalitäre Diktatur historisch einzigartig und sui generis ist und ... die faschistischen und kommunistischen totalitären Diktaturen in ihren wesentlichen Zügen gleich sind, d. h., daß sie sich untereinander mehr ähneln als anderen Systemen staatlicher Ordnung, einschließlich älterer Formen der Autokratie“ Laut Friedrich und Brzezinski zeichnen sich totalitäre Staaten durch sechs gemeinsame, jeweils spezifisch charakteri-sierte Merkmale aus -eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, Nachrichten-und Waffenmonopol sowie eine zentralisierte Wirtschaft.
Meine Analyse greift nicht auf das wirkungsträchtige Sechspunktesyndrom dieser beiden Autoren zurück sondern auf einen in Deutschland bisher leider nach wie vor wenig beachteten Typologie-versuch des spanischen, in den USA lehrenden Politikwissenschaftlers Juan J. Linz. Für ihn ist Autoritarismus neben Demokratie und Totalitarismus ein dritter Regimetypus, also kein zwischen Demokratie und Totalitarismus angesiedelter Verlegenheitsbegriff. Vor allem in drei Haupt-dimensionen unterscheiden sich nach Linz totalitäre von autoritären Diktaturen: dem Grad des politischen Pluralismus, dem Grad der ideologischen Ausrichtung und dem Grad der gelenkten politischen Mobilisation Damit sind drei wesentliche Elemente eines diktatorischen Systems genannt. Man müßte noch den Grad der politischen Repression als viertes Kriterium hinzunehmen, da er für die Einordnung einer politischen Herrschaftsform von außerordentlichem Belang ist Ein totalitäres System werde durch systematische, willkürliche Verletzung der Menschenrechte bestimmt, ein autoritäres gewähre mehr Rechtssicherheit, auf die freilich kein einklagbarer Anspruch bestehe.
Ein totalitäres System zeichne sich durch ein Machtzentrum aus, während ein autoritäres begrenzten Pluralismus aufweise. Ein totalitäres System mache sich eine exklusive und ausgearbeitete Ideologie zu eigen, ein autoritäres beruhe auf einer traditionellen, nicht festgefügten Geisteshaltung; forciere ein totalitäres System die Mobilisierung der Massen, so verzichte ein autoritäres auf gelenkte Partizipation, begnüge sich also mit politischer Apathie. Die Frage der jeweiligen Indikatoren und der Operationalisierbarkeit wirft viele, hier nicht zu erörternde Fragen auf. Wie ist es mit der DDR nach diesen drei Kriterien bestellt? War sie -zumal in ihrer Schlußphase -eher autoritär oder stärker totalitär?
Die Frage, ob die DDR totalitär gewesen ist, läßt verschiedene Antworten zu, auch ein „mehr oder weniger“ -je nach dem Standort des Analytikers und dem eigenen Totalitarismusverständnis. Das Deutungsproblem ist also auf einer anderen Ebene angesiedelt als die Frage, ob Chemnitz auf dem 51. Grad nördlicher Breite und auf dem 13. Grad östlicher Länge liegt.
III. Prüfung des Linzschen Kriterienkatalogs
1. Monismus versus begrenzter Pluralismus
Das politische System in der DDR zeichnete sich durch das Fehlen pluralistischer Elemente auf allen Ebenen aus. Der Monopolanspruch der kommunistischen Partei, die die „Avantgarde der Arbeiterklasse“ sei, stand nicht zur Disposition. Aus ihren Reihen übernahmen Kader eine „Kapillar“ -Funktion. Gewaltenvereinigung wurde als notwendig proklamiert. Die SED war in Theorie und Praxis durch das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ bestimmt, das Politbüro „die eigentliche Kommandozentrale der Macht“ Das Recht stand unter dem Primat des Politischen.
Im Vergleich zur Ulbricht-Zeit nahm in den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren bei manchen Schwankungen im Sanktionsvollzug der Spielraum für politisch Andersdenkende zu. Nicht, daß ein wie auch immer gearteter Pluralismus von der politischen Führung Billigung oder gar Anerkennung fand. Doch blieb ihr angesichts der sich nicht nur ökonomisch und außenpolitisch zugespitzten Lage wenig anderes übrig. Die Bewegungsfreiheit der „Kirche im Sozialismus“ etwa wurde größer, so daß sich unter ihrem Dach allmählich auch Kräfte Gehör verschaffen konnten, die, wenngleich zunächst vorsichtig, auf Distanz zur SED gingen. Immerhin blieb bei der Kommunalwahl im Mai 1989 ein beachtlicher Prozentsatz der Wahl fern oder stimmte ungültig; Oppositio-nelle kontrollierten die Stimmenauszählung und machten die Wahlmanipulation einer ohnehin schon manipulierten Wahl publik. Die SED reagierte eher hilflos, ging gegen diese Zirkel, die zum Teil sogar kleine (Untergrund-) Zeitschriften herausgaben, nicht entschlossen vor. Unter Ulbricht wäre eine solche Dissidenz undenkbar gewesen. Wie ein ins Wasser geworfener Stein mußten derartige Aktionen Kreise ziehen. Gleichwohl unterscheidet sich die „Dissidentenbewegung“ von denen in den meisten anderen osteuropäischen Diktaturen durch zwei Befunde: Erstens war sie weitaus weniger machtvoll als etwa in Polen oder in der Tschechoslowakei, bis zum Herbst 1989, entgegen manchen Mythen, geradezu bedrückend klein; zweitens blieb sie im Dunstkreis sozialistischer Grundvorstellungen gefangen, während woanders sich eine systemüberwindende Opposition, die kein Hehl aus ihrer Ablehnung sozialistischer Maximen machte, herauszubilden begann. Sicherlich hängt das in mannigfacher Hinsicht mit der deutschen Sondersituation eines geteilten Landes zusammen.
Nach den in der DDR erhobenen Daten nahm das Vertrauen ihrer Bürger -zumal der jungen -in den achtziger Jahren ab, zum Teil beträchtlich. Nun gilt das für viele als Indiz des Sinkens politischer Loyalität Ist aber die Annahme nicht plausibler, daß sich der Druck gegenüber früher gelockert hat und die Interviewten eher bereit waren, ungeschminkter ihre Auffassung zu sagen? Insofern ruht die verbreitete These von einem Vertrauensverlust in der DDR auf einer schütteren Basis, stützt sie sich, wie das vielfach geschieht, auf Meinungsumfragen So ließe sich die größere -nicht: große -Kritikbereitschaft nicht im Sinne vermehrter Unzufriedenheit deuten, sondern paradoxerweise im Sinne größerer -nicht großer -Zufriedenheit. Wer hingegen davon spricht, die Honecker-Führung habe „den lange Zeit einge-räumten Vertrauenskredit“ verspielt, stellt die Verhältnisse auf den Kopf.
Das kommunistische System in der DDR -auf sich allein gestellt -wäre vermutlich zu jeder Zeit ohne die Sowjetunion ungeachtet aller kräftigenden Elemente sozialer Sicherheit wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen -in den fünfziger Jahren ebenso wie in den sechziger und siebziger. Ligaturen konnten sich angesichts des fehlenden Interessenpluralismus nicht herausbilden. Für alle Versäumnisse wurde der allmächtig erscheinende Staat verantwortlich gemacht. Jeder Versuch einer Reform war angesichts der fehlenden Legitimität -und selbst des unzureichenden Loyalitätsglaubens als einer schwächeren Form der Legitimität -zum Scheitern verurteilt. Mehr noch -Reformeifer mußte den Untergang geradezu beschleunigen. Wie wenig pluralistisches Gedankengut anfangs selbst bei Teilen mutiger Opponenten ausgebildet war, läßt nicht nur der Aufruf „Für unser Land“ vom November 1989 erkennen: „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“ Die hier anklingende Verfallstheorie ist ein Mythos. Insofern muß die Haltung der SED-Spitze als konsequent gelten, sich nicht oder nur tastend der ohnehin nicht geradlinigen Gorbatschow-Linie anzuschließen, und der bisweilen gutgemeinte Ratschlag, die DDR solle sich doch reformieren, war ein Bärendienst. Die DDR, ein „Kunstprodukt des Kalten Krieges“ konnte sich auf begrenzten Pluralismus zielende Reformen nicht leisten, weil diese dem Realsozialismus das ihm eigene Fundament entzogen hätten. Der Realsozialismus brauchte aber tiefgreifende Reformen, um konkurrenzfähig zu bleiben; wirksame Reformen mußten jedoch systemsprengende Konsequenzen zeitigen. Das war sein unentrinnbares Dilemma.
2. Ideologisierung versus Nichtideologisierung
Nach marxistisch-leninistischer Sichtweise ist die sozialistische Ideologie entsprechend der Einheit von Theorie und Praxis „wissenschaftlich begründet, offen parteilich und eine Anleitung zum praktisch-revolutionären Handeln“ gewesen. „Ideologische Diversion“, wie das nächste Stichwort im „Kleinen Politischen Wörterbuch“ hieß, wurde schwer geahndet. Im Laufe der Jahre hatte die Ideologie immer stärker eine manipulativ ersetzbare Rechtfertigungs-als eine Anleitungsfunktion.
Wäre ein Untergang des kommunistischen Systems bei einem Rückzug der sowjetischen Besatzungsmacht angesichts seines Legitimitätsdefizits jederzeit wohl binnen kurzem unvermeidlich gewesen, hätte früher der Staatsapparat -mit Partei und Staatssicherheitsdienst -angesichts des revolutionären Enthusiasmus nicht einfach kapituliert. Mittlerweile war die Ideologie aber so entkräftet, der Behauptungswille der Partei derart geschwächt, daß sie in einem fließenden Übergang die Abdankungsprozedur mittrug, ohne daß es -wunderbar und wundersam zugleich -zu Toten kam.
Um allerdings kein teleologisches Mißverständnis aufkommen zu lassen: Die Entwicklung mußte nicht so geradlinig verlaufen. Die Vorgänge etwa in Leipzig am 9. Oktober 1989 sind noch immer nicht ganz aufgehellt, und vielleicht wird sich auch nicht mehr die Konstellation -ähnlich wie am 9. November in Berlin -exakt klären lassen, die zu einem Verzicht auf einen militärischen Einsatz anläßlich der Massendemonstration geführt hat. Wäre der gerontokratischen Führung die Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen im Sinne der Herrschaftssicherung bewußt gewesen, hätte es vielleicht eine „chinesische Lösung“ im Sinne eines totalitären Rückschlages gegeben. Bei der politischen Führung muß folglich mehr als ein Gran an ideologischem Missionseifer vorhanden gewesen sein.
Die Fixierung im Osten auf den Westen wurde durch die Propaganda gegen die westliche Lebensweise noch gestärkt. So machte in der DDR folgender Sinnspruch zuweilen die Runde: „Die Leute im Westen haben keine Ideale mehr. Die Leute im Osten haben ein Ideal -den Westen.“ Der Glaube an die Kraft der Ideologie war vielfach geschwunden. Wer mit Intellektuellen sprach, die in den achtziger Jahren aus dem Wissenschaftsgral der DDR gekommen waren, gewann den merkwürdigen, geradezu paradox anmutenden Eindruck, daß dem Marxismus im westlichen Deutschland mehr Lebenskraft innezuwohnen schien als im östlichen. Die mangelnde Durchschlagskraft des Marxismus-Leninismus sollte durch eine Vereinnahmung von Persönlichkeiten aus der deutschen Geschichte kompensiert werden. Auch die Friedensfixierung war angesichts der allseits unglaubwürdig gewordenen marxistisch-leninistischen Ideologie dazu gedacht, den Loyalitätsglauben der Bevölkerung zu stärken.
Die Entspannungspolitik in den siebziger und achtziger Jahren konnte -ungeachtet mancher Eiszeiten -nicht ohne Rückwirkungen auf die eigene Ideologie bleiben. Der „Klassenfeind“ ließ sich nicht mehr so verteufeln wie früher. Bei der Politik der „friedlichen Koexistenz“, die bisher auch als „wichtige Form des internationalen Klassenkampfes“ firmierte, geriet der konfrontative Aspekt mehr und mehr in den Hintergrund. Das „neue politische Denken“, das bereits mit Andropow begann, von Gorbatschow forciert fortgesetzt wurde und wohl nicht zuletzt wirtschaftlich motiviert war, forderte seinen Tribut: Angesichts einer drohenden Menschheitskatastrophe bestehe im Atomzeitalter die Notwendigkeit, die Konflikte zum politischen Gegner zu verringern. Es gäbe nicht nur Interessendivergenzen, sondern aych 'Gemeinsamkeiten. Man bescheinigte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gar bürgerlichen Anhängern einer Entspannungstheorie, die den realexistierenden Sozialismus -schon dieser Terminus nimmt im Grunde wenn nicht Abschied, so doch Abstand von einer sozialistischen Utopie -als ein „totalitäres Gesellschaftssystem“ betrachteten, durchaus Realitätssinn, geleitet von „humanistisch geprägten Auffassungen“ Einige Jahre zuvor agierten bei demselben Autor die Befürworter der sogenannten „Totalitarismus-Doktrin“ noch als Entspannungsfeinde
Im August 1987 legten die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ein Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vor. Ob man es wollte oder nicht: Die verän derte Wahrnehmung des Gegners in „außen-politischer“ Hinsicht mußte sich auch auf die Innenpolitik auswirken, wenngleich in eher dosierter Form. In dem gemeinsamen Papier etwa hieß es, neben anderen Passagen, die die SED als Erfolg für sich verbuchen konnte: „Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Mißerfolge, Vorzüge und Nachteile, muß innerhalb jedes Systems möglich sein. Wirklicher Wettbewerb setzt sogar voraus, daß diese Diskussion gefördert wird und praktische Ergebnisse hat. Nur so ist es möglich, daß öffentlich eine vergleichende Bilanz von Praxis und Erfahrungen beider Systeme gezogen wird, so daß Mißlungenes verworfen, Gelungenes festgehalten und gegebenenfalls übernommen und weiterentwickelt werden kann.“ Gewiß hat die Praxis in der DDR auch in der Spätphase ganz anders ausgesehen, aber für Widerstrebende bot dieses Papier eine Art Berufungstitel. Daß weder SED-noch manche SPD-Initiatoren dies beabsichtigten, steht auf einem anderen Blatt -dem der unberechenbaren Dialektik.
3. Massenmobilisation versus Entpolitisierung
In der ersten Hälfte der Geschichte der DDR nahm die Rolle der Mobilisation weitaus handfestere Formen als später an: Massenaufmärsche, Transparentlosungen, eine stärkere Militarisierung der Gesellschaft. Versuche, die Bevölkerung zu mobilisieren, blieben zwar bis in den zu Recht so genannten „deutschen Herbst 1989“ erhalten, doch Erlahmungstendenzen waren sowohl bei den Herrschenden als auch den Beherrschten unverkennbar.
Wenig effektiver Widerstand wurde dem fortschreitenden „Zerfall des realen Sozialismus“ entgegengesetzt, Kehrseite der kaum noch vorhandenen Mobilisierung. Mit Hilfe eines verlogenen Antifaschismus glaubte sich die politische Führung über die Runden retten zu können. Allerdings ließ sich die Bevölkerung davon nicht mehr leiten.
Es bedarf der Prüfung, ob sich in der DDR neben einer „ 53er-Generation“ zunehmend auch eine „ 68er-Generation“ herausgebildet hat War für die „ 53er-Generation“ die fehlgeschlagene Volks-erhebung vom Juni 1953 ein traumatisch wirkendes Indiz der Unveränderbarkeit des kommunistischen Systems, ließe sich die'„ 68er-Generation“ -bestimmt einerseits durch die Aufbruchbewegung im Westen, andererseits durch die gewaltsame Unterdrückung des „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ -dahingehend charakterisieren, daß der Glaube an eine Reform des Systems im Sinne eines besseren Sozialismus erhalten geblieben war. Aber weder die eher antikommunistische „ 53er-Generation“ noch die stärker antikapitalistische „ 68erGeneration“ verspürte einen Drang, die „Politik der Arbeiterklasse“ offensiv zu verteidigen.
In den achtziger Jahren wurde die SED sowohl in der Genehmigung der Ausreisewünsche in den Westen als auch in der Bewilligung von Westreisen großzügiger, nachdem bereits in den siebziger Jahren nach Abschluß entsprechender Verträge Westbesucher ihre Kontakte vertiefen konnten. Was eine Ventilfunktion haben sollte, erwies sich jedoch als beständiges Element der Unzufriedenheit. Die Ausgereisten ließen Kontakte zu den -in des Wortes zweifacher Bedeutung -Zurückgebliebenen nicht abreißen, förderten so Mißmut. Und manche aus dem „goldenen Westen“ zurückgekehrten Besucher verloren vielfach Illusionen über die gepriesenen „Errungenschaften“ ihres Systems. Damit ging auch die Bereitschaft zurück, sich für das eigene System über das als nötig empfundene Maß des Arrangements hinaus einzusetzen. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg durch diese Erfahrungen -und seien es nur Erfahrungen aus zweiter Hand gewesen -kontinuierlich weiter. Sie soll Ende der achtziger Jahre bei fast einer Million gelegen haben Wer regelmäßig das Westfernsehen empfangen konnte, und dies war nicht mehr verboten wie Jahrzehnte zuvor, ließ sich nur noch schwer für „sozialistische Errungenschaften“ gewinnen.
In der DDR der achtziger Jahre mußte man nicht mehr mit Haut und Haaren für das System sein. Die revolutionäre Dynamik war längst zum Erliegen gekommen. Um in Ruhe leben zu können, reichte es, daß man sich nicht systemkritisch gebärdete. Gerade dadurch zeichnet sich wesentlich ein autoritäres Regime aus. Allerdings vergrößerte sich der Freiheitsspielraum des einzelnen durch die erlahmende revolutionäre Dynamik nicht notwendigerweise, zumal der Prozeß durchaus umkehrbar erschien.
IV. Vergleich der früheren und späteren Entwicklung
Die Gesamtbewertung will bei zahlreichen Gemeinsamkeiten in der Grundstruktur vor allem den Kontrast zur früheren Entwicklung erhellen. „Bis zum Herbst 1989 schienen die DDR und die Tschechoslowakei unter dem bleiernen Mantel des Totalitarismus zu schlummern, während Rußland eine Demokratisierung ohnegleichen erlebte.“ Die Vorboten für den Umbruch in den Satelliten-staaten gingen zwar indirekt vom „Vaterland der Werktätigen“ aus, doch war dieses weitaus stärker totalitär strukturiert als etwa die DDR in ihrer Endphase, wie mannigfache Nachwehen zeigen.
Wandlungstendenzen in der DDR lassen sich auch bei einem Vergleich mit zwei historischen Knotenpunkten aus ihrer Anfangs-und Mittelphase verdeutlichen. Sie bildeten für viele Menschen -für die Akteure wie für die Beherrschten -Schlüssel-erfahrungen: der 17. Juni 1953, der leider nicht der Tag der deutschen Einheit geblieben ist, obwohl der 3. Oktober 1990 ihn vollendete, und der 13. August 1961, der am 9. November 1989 plötzlich unter bewegenden Szenen rückgängig gemacht wurde.
Die „Volkserhebung“ am 17. Juni kam für die in ihrem Sendungsbewußtsein geblendete SED (wie auch für den Westen) ganz überraschend, zumal nach der Kollektivierung in der Landwirtschaft und einer Fluchtwelle am 9. Juni auf sowjetischen Druck hin ein -taktisch und strategisch motivierter -„neuer Kurs“ eingeschlagen wurde. Auf das Brodeln in der Bevölkerung konnte sich die politische Führungsspitze keinen rechten Reim machen und goß durch das Festhalten an der Normerhöhung Öl ins Feuer. Ein Funke entzündete das Pulverfaß. Einem Lauffeuer gleich verbreiteten sich die Meldungen vom Streik der Bauarbeiter, der zum Flächenbrand ausuferte und sich nur durch die Sowjetarmee ersticken ließ. Westlicher „Feuerteufel“ wurde man nicht habhaft, wie man intern einzuräumen gezwungen war. Die traumatische Erinnerung an den 17. Juni blieb vielen DDR-Bürgern eingebrannt -auch und gerade den Spitzen-funktionären, die einen neuen 17. Juni witterten. Man wußte, wie schnell ein frischer Wind -aus dem Osten oder dem Westen -revolutionäres Feuer entfachen kann. Am 31. August 1989 fragte Erich Mielke einen Obersten: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“ Es folgte kein aufrührerischer 17. Juni, sondern ein friedlicher 9. November, der das System auf andere Weise in seinen Grundfesten erschütterte und den 13. August rückgängig machte.
Der Mauerbau am 13. August 1961 kam hingegen für die Beherrschten ganz überraschend, obwohl sich vorher wachsende Unzufriedenheit gezeigt hatte -in Form von Betriebsstreiks, im Anschwellen der Fluchtbewegung, in einer Zunahme sogenannter „Hetzlosungen“ und auch der Versorgungsschwierigkeiten. Auf der Tagesordnung stand mit Ulbrichts Worten die „Vergenossenschaftlichung“ der Landwirtschaft -mit ideologischem Drill, repressivem Druck und mehr oder weniger (eher mehr als weniger) unsanften Drohungen. Der symbolträchtige Mauerbau erhob achtundzwanzig Jahre lang die „Absurdität zum Alltag“. Die Abriegelungsmaßnahmen am 13. August zogen die größte Verhaftungswelle seit dem 17. Juni nach sich. Die Mauer firmierte in der Tat als die „existentielle Grundlage der DDR“ aber zugleich stellte dieses Monstrum deren existentielle Grundlage immer wieder in Frage.
Beide Ereignisse samt ihren Folgen zeigen anschaulich den totalitären Charakter der DDR, spiegel-bildlich zugleich auch die permanente Gefährdung eines Systems. Was war die DDR? Ein System, das sich niemals seiner Bürger sicher sein konnte, ungeachtet allen Drucks, aller Versprechungen und des sozialistischen Paternalismus. Daran sollte sich bis zur Modrow-Zeit nichts ändern. Das Parteimonopol ließ sich nicht aufbrechen. Abstriche an der ideologischen Orientierung blieben lange aus. Das Individuum wurde der eigenen Würde beraubt. Das war die DDR!
Was sich aber allmählich -zumal in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre -zu wandeln begann, sind bestimmte Elemente der politischen Struktur des Staates gewesen. Das Ergebnis ist widersprüchlich, jedenfalls nicht auf einen Begriff zu bringen. War die DDR nach dem Kategoriengerüst von Juan J. Linz in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zunehmend eine autoritäre Diktatur mit totalitären Einsprengseln, eine totalitäre Diktatur mit autoritären Einsprengseln -oder eine Gemengelage autoritärer und totalitärer Elemente? Zu leugnen ist gradueller Wandel nicht: Der totalitäre Anspruch des Partei-und Staatsapparats blieb bis zum Schluß erhalten; aufgrund einer Reihe von so nicht gewünschten Rahmenbedingungen begann sich die totalitäre Struktur wider den Willen der Machthaber zwar nicht aufzulösen, aber beträchtlich abzuschwächen.
Damit ziehe ich aus den letzten Jahren der DDR und ihrem Kollaps -nicht zuletzt der Art des Zusammenbruches -eine andere Konsequenz als die meisten Autoren, für die gerade das totalitäre Element durch das Ende der DDR sichtbar geworden sei. Hielt der Verfasser die DDR vor ihrem jähen Verschwinden für ein genuin totalitäres System scheint mir diese Charakterisierung, will man den Begriff des Totalitarismus nicht überdehnen, für die Endphase so nur bedingt zu gelten. Aber die Art meiner Begründung unterscheidet sich von jenen Positionen, die vor 1989 die DDR als autoritär -wenn überhaupt -betrachtet haben, und zwar im Sinne der Abschwächung diktatorischer Elemente.
Dem Problem, ob die DDR totalitär strukturiert gewesen ist, lassen sich viele untersuchungswürdige Aspekte abgewinnen. Nur einige Beispiele: Wie ist Manfred Stolpes „Drei-Säulen-Theorie“ zu bewerten, und welche Gewichtung existiert zwischen der staatlichen Ebene, der Partei und der Staats-sicherheit? Wer eine polykratische Machtstruktur entdecken könnte, hätte damit per se noch kein Argument gegen die totalitäre Struktur geliefert, wie auch das Beispiel des Dritten Reiches lehrt. Oder: Wie beeinflußten äußere Rahmenbedingungen -die Hegemonialmacht Sowjetunion auf der einen, die Konkurrenzmacht Bundesrepublik auf der anderen Seite -die diktatorischen Mechanismen des politischen Systems? Die Hegemonialmacht wurde in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in gewisser Weise zur Konkurrenzmacht (und die Konkurrenz-macht zur Hegemonialmacht): Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen -dieser tibetanischen Gebetsmühlen gleich wiederholte und einst omnipräsente Slogan erwies sich allmählich als subversive Parole. Dabei ergab sich häufig eine Kluft zwischen Intention und Wirkung. So ist auch die Geschichte der Deutschlandpolitik in den siebziger und achtziger Jahren geradezu eine Geschichte sich merkwürdig kreuzender Paradoxien Intendierte Stabilisierung zog vielfach das Gegenteil -unbeabsichtigte Labilisierung -nach sich.
V. Staatssicherheitsdienst als Beispiel für das Modell eines totalitären Staates?
Bisher ist eine Institution -das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) -so gut wie gar nicht berührt worden, deren Tätigkeit gemeinhin als das schlagendste Argument für die These gilt, die DDR sei gerade in ihrer Endphase das Modell eines totalitären Staates gewesen -und zwar aufgrund der Rolle des zunehmend flächendeckend agierenden Staatssicherheitsdienstes, nach verbreiteter Ansicht „Hauptinstrument des DDR-Totalitarismus“ zumal dieses als Werkzeug der Partei figurierte, deren „führende Rolle“ entgegen manchen Legenden sowohl dem Selbstverständnis als auch der realen Politik gemäß unbestreitbar ist.
In der „Richtlinie Nr. 1/76“ der Staatssicherheit hieß es folgendermaßen: „Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufs, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben.“ Wie bekannt, blieb es nicht bei dieser papieren-zynischen Feststellung. Jugendliche wurden nicht nur „zersetzt“, sondern auch für die Zwecke des Staatsapparats eingespannt. Eine Kommentierung aus einer Lektion des Ministeriums für Staatssicherheit über „Entwicklungs-und Verhaltensbesonderheiten junger Menschen und ihre Beachtung in der Gestaltung der inoffiziellen Zusammenarbeit“ lautet: „Die optimale Gestaltung der Zusammenarbeit mit Jugendlichen, ihre Erziehung und Befähigung, daß sie der Forderung des Genossen Minister entsprechend in der Lage sind, operativ bedeutsamen Personen , unter die Haut zu kriechen und ins Herz zu blicken, damit wir zuverlässig wissen, wer sie sind, wo sie stehen , verlangt vom Ministerium spezifische Fähigkeiten zur Führung junger Menschen“ Diese Kommentierung macht einen Kommentar überflüssig.
Was das Totalitarismustheorien unterstellte Feindbild betrifft, bedarf es der Differenzierung: Ein Feindbild, das ideologisch geprägt ist und die Rea-lität verzeichnet, ist in der Tat ebenso höchst kritikwürdig wie ein Freund-Feind-Denken. Aber zur Realität gehört auch, daß dem Systemgegensatz zwischen Ost und West eine Unaufhebbarkeit zugrunde lag, die sich nicht in irgendeiner unverbindlichen Formel auflösen ließ. Auf das Bild eines Feindes des demokratischen Verfassungsstaates konnte und kann nicht verzichtet werden. Das gilt auch für die Gegenwart. Wer rechts-oder linksextremistische Bestrebungen ohne Dämonisierung anprangert, macht sich kein Feindbild zu eigen. Das reale Bild eines Feindes, das ohne Verzeichnungen auskommt, ist von einem irrealen Feindbild zu unterscheiden, wie es etwa dem geheimen „Wörterbuch der Staatssicherheit“ aus dem Jahre 1985 zu entnehmen ist „Der moralische Inhalt des H. [Hasses] ist abhängig vom Gegenstand, auf den er gerichtet ist, und kann von daher wertvoll und erhaben oder kleinlich und niedrig sein. H. zielt immer auf die aktive Auseinandersetzung mit dem gehaßten Gegner, begnügt sich nicht mit Abscheu und Meldung, sondern ist oft mit dem Bedürfnis verbunden, ihn zu vernichten oder zu schädigen. H. ist ein wesentlicher, bestimmender Bestandteil der tschekistischen Gefühle, eine der entscheidenden Grundlagen für den leidenschaftlichen und unversöhnlichen Kampf gegen den Feind.“
All das -und vieles mehr -war Wirklichkeit, und noch längst wissen wir nicht genug über das MfS und seine Auftraggeber. Wer fordert, die Akten der Staatssicherheit jetzt bzw.demnächst zu vernichten oder den Zugang zu ihnen zu erschweren, findet in Ost und West aus unterschiedlichen Gründen Unterstützung. Der Wissenschaftler kann sich mit einem solchen Postulat nicht anfreunden. Eines seiner Werkzeuge wird ihm entzogen, und gerade Fragen wie die nach der totalitären Struktur des politischen Systems in der DDR lassen sich auch durch die in der Regel nicht geschönten Akten einer Klärung näherbringen Ein Begriff wie Totalitarismus ermöglicht jenen, die an vorderster Stelle mitgemacht haben, unter Beru-fung auf Befehlsnotstand leichter eine Exkulpation, als habe es aufgrund der Repressionen keine andere Wahl gegeben. Daß dies so nicht stimmte -niemand mußte beispielsweise zu den Grenztruppen wissen wir. Die Zahl derjenigen, die sich weigerten, für das MfS zu arbeiten, soll fünfmal größer als die Zahl der Geworbenen gewesen sein
Die Gretchenfrage lautet: Ist nun ein derartiges, von der Partei angeleitetes Überwachungssystem eine Widerlegung der These von der nachlassenden totalitären Dynamik? Meine Antwort mag provokativ und paradox zugleich ausfallen. Aber manches spricht für die folgende Vermutung: Die gestiegene Zahl der hauptamtlichen und weit über 100000 Inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes zumal in den achtziger Jahren -ihre genaue Zahl dürfte sich niemals feststellen lassen -signalisiert wohl nicht eine Zu-, sondern eher eine Abnahme des totalitären Charakters des politischen Systems. Die DDR konnte es sich nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher leisten, gegen alle Andersdenkenden offen vorzugehen, sie etwa festnehmen zu lassen, mußte politische Abweichungen nach außen hin stärker dulden und sie mit weicheren, subtileren Repressionen verfolgen Die Unterwanderung der wenigen Friedens-gruppen und weiterer oppositioneller Zirkel war so stark, daß sie im nachhinein bald schon als kontraproduktiv erscheinen muß.
VI. Schlußbetrachtung
Hatte sich die DDR damit in eine von Repressionen weitgehend freie „Nischengesellschaft“ transformiert Wahrlich nicht! Politikfreie Nischen sind für die DDR-Gesellschaft nicht charakteristisch gewesen. Der Begriff der Nische wird dadurch falsch, daß er das diktatorische Element in gewisser Weise analytisch eskamotiert. Hätte Günter Gaus die Nischengesellschaft als private Reaktion auf staatlichen Druck hin gedeutet, wäre dieses Interpretationsmuster überzeugender. Daß die Menschen in der DDR private Interessen in den Vordergrund stellten, ist kein hinreichendes Indiz für die Auflösung des diktatorischen Elements. War diese Mentalität nicht eher „eine rationale Technik des Überlebens“ Günter Gaus hatte 1983 geschrieben: „Es gibt den Druck einer ständigen Aufpasserei nicht.“ Und noch nach dem Kollaps der DDR heißt es, die DDR-Bürger hätten sich durch die „Möglichkeit der Nische, des individuellen Glücks im Winkel, mit dem Regime ihres Staates arrangiert“ War es nicht umgekehrt? Weil sie sich eben nicht arrangiert hatten, flüchteten sie in Nischen.
Für Siegfried Mampel, der aus der DDR flüchten mußte und 1978 einigen Widerständen zum Trotz eine „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ ins Leben gerufen hat, ist kein Grund einsichtig, „vom Totalitarismuskonzept abzugehen, es sei denn, es gehe um einen Aufwertungseffekt für das politische System der DDR“ Je nachdem, ob Totalitarismus als normativer Typusbegriff oder als empirisch angeleiteter Begriff aufzufassen ist, fällt die Bewertung unterschiedlich aus. Diese These stimmt, begreift sie Totalitarismus als Gegenposition zum demokratischen Verfassungsstaat, und in der Tat gab es in den siebziger und achtziger Jahren eine Reihe von DDR-Forschern, die diktatorische Elemente zu bagatellisieren suchten, etwa ein Teil der „Berliner“. Gänzlich unberechtigt erscheint Mampels Warnung jedoch dann, wenn ein Forscher zwar die diktatorischen Elemente nicht anzweifelt, sie zur Sprache bringt und analysiert, aber sich veranlaßt sieht, stärker autoritäre gegenüber totalitären zu betonen. DDR-Forschung ist vor und nach der „Wende“ -ein beschönigender Terminus aus dem Munde von Egon Krenz -zu weiten Teilen Diktaturforschung, unabhängig davon, zu welchen Ergebnissen der Wissenschaftler im Hinblick auf die autoritäre und die totalitäre Komponente zumal in der Spätphase der DDR kommt. Fazit: Die einst totalitäre Ulbricht-DDR hat unter Erich Honecker vor allem in der zweiten Hälfte der achtziger Jahren neben fortbestehenden totalitären Elementen immer mehr auch Züge einer autoritären Diktatur angenommen -ein Posttotalitarismus des Anden rtgime, der in vieler Hinsicht -was etwa die Labilität der Situation betrifft -dem Prätotalitarismus Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre ähnelt, ihm allerdings auch widerspricht. Stark vereinfacht: Seinerzeit wollte die SED die Gesellschaft umformen, konnte es jedoch noch nicht; später konnte die SED sie umformen, wollte es aufgrund der eigenen Entkräftung und anderer Faktoren aber nicht mehr. In einem Wortspiel ließe sich, anknüpfend an Timothy Garton Ashs Wendung von den osteuropäischen Refolutionen 1989/90 (eine Kombination aus Reform und Revolution habe die Diktaturen hinweggefegt), für die Spätphase der DDR von einer autalitären Diktatur sprechen, wobei dieses -zugegebenermaßen etwas konstruiert anmutende -Kunstwort das spezifische Mischungsverhältnis angemessen zum Ausdruck bringen soll. Insofern schließt sich der Kreis -die zu Beginn gestellte Frage ist nicht rhetorischer Natur, und sie bedarf -zumal für die Spät-phase -weiterer Forschung: War die DDR totalitär?