I. Markt und demokratisches Entscheidungsverfahren, Homo oeconomicus und Homo politicus
Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus hat sich die freie Marktwirtschaft -das Wirtschaftssystem mit dezentraler Planung und Lenkung wirtschaftlicher Prozesse -endgültig als überlegen erwiesen. Es stützt sich auf den Homo oeconomicus und die freie Preisbildung auf den Märkten. Der Homo oeconomicus ist definiert als der allein auf die Maximierung seines eigenen Nutzens ausgerichtete Mensch. Steht dieser im offenen Wettbewerb mit anderen Nutzenmaximierern und hat er Gelegenheit, in Austauschbeziehungen zu treten, dann folgt aus der Nutzenmaximierung vieler einzelner Marktteilnehmer eine Steigerung des Gesamtnutzens aller Der Staat legt in diesem System mit seiner Wirtschaftspolitik lediglich den rechtlichen Rahmen für das Funktionieren des Wettbewerbs fest.
Wie wir wissen, ist dieses Modell der freien Marktwirtschaft blind für soziale Negativeffekte im Sinne der Verdrängung der Schwachen aus dem Wettbewerb. Dieser blinde Fleck der freien Marktwirtschaft ist durch den Aufbau eines Systems der sozialen Absicherung der Wettbewerbsschwachen in der sozialen Marktwirtschaft beseitigt worden. Inzwischen zeigt sich immer deutlicher, daß die Marktwirtschaft auch im Hinblick auf ihre ökologischen Folgeprobleme mit einer gewissen Blindheit geschlagen ist. Ihre Ergänzung durch eine ökologische Komponente ist daher die Aufgabe der nächsten Zukunft. Der stets nutzenkalkulierende Homo oeconomicus und der Markt führen zu einer Übernutzung des nicht preisregulierten globalen Gemeinschaftsgutes „Umwelt“. Wir trauen dem Homo oeconomicus und dem Markt die Lösung der ökologischen Probleme allein nicht mehr zu und setzen unsere Hoffnungen in eine zukunfts-1 weisende ökologische Politik. Ob die Politik diese Erwartungen erfüllen kann, erscheint indessen zweifelhaft.
Im Unterschied zum Homo oeconomicus verhält sich der Homo politicus nicht in erster Linie nutzen-, sondern zielmaximierend. Er will nicht den größten Nutzen im Hinblick auf mehrere Ziele erreichen, sondern strebt -zumindest für eine gewisse Zeit -nach der Verwirklichung ganz bestimmter Ziele, auch auf Kosten der Realisierung anderer, im Extremfall sogar nach der Verwirklichung eines einzigen Zieles. Je mehr er dabei in Konflikt mit anderen gerät, die andere Ziele verfolgen, um so mehr benötigt er Macht, um den Widerstand dieser zu überwinden. Der Homo politicus handelt also strikt zielgerichtet, ist auf Konfliktaustragung und Machtgebrauch eingestellt; er erzeugt dabei im Rahmen demokratischer Entscheidungsverfahren bei der Bewältigung von Konflikten stets neue Konflikte.
In Zentrum moderner Politik stehen der Homo politicus und das demokratische Entscheidungsverfahren. Sie unterscheiden sich grundsätzlich vom Homo oeconomicus und vom Markt als Verfahren der ökonomischen Allokation, also der Verteilung von Ressourcen und Präferenzen. Auf dem freien Markt kann jeder nach Belieben Wünsche äußern und Angebote unterbreiten. Bei genügend Übersicht der Marktteilnehmer ergibt sich durch das „freie Spiel der Kräfte“ tendenziell ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage.
In der Politik gibt es die freie Allokation von Ressourcen und Präferenzen nach individuellen Entscheidungen nicht. Hier muß eine Entscheidung getroffen werden, die für alle Geltung besitzt, weshalb ein viel größerer Einigungsbedarf besteht. Je weiter die Interessen auseinanderliegen und je weniger Zeit für das Ausräumen von Gegensätzen zur Verfügung steht, um so mehr müssen Entscheidungsregeln in Anwendung kommen. Der Mehrheitsentscheid in demokratischen Systemen ist eine solche Entscheidungsregel. Hier tritt der Homo politicus auf den Plan. Während der Homo oeconomicus nur den Anbieter des von ihm nachgefrag-ten Gutes oder nur den Nachfrager des von ihm angebotenen Gutes finden muß, um seinen Nutzen zu steigern, muß der Homo politicus also darum kämpfen, sein Ziel gegen konkurrierende Ziele durchzusetzen.
Das demokratische und rechtsstaatliche Entscheidungsverfahren nach der Mehrheitsregel, bei stets möglicher Wiederaufnahme des Verfahrens und Minderheitenschutz mittels Einspruchsrechten, ist darauf ausgerichtet, Entscheidungen zustande zu bringen, die für alle verbindlich sind. Es bewahrt ein gewisses Gleichgewicht zwischen maximaler Offenheit und minimaler Entschlußfähigkeit. Je mehr Menschen es unmittelbar oder mittelbar in die Entscheidung einbindet, ohne an Entschlußkraft zu verlieren, um so mehr werden Entscheidungen herauskommen, die von allen als bindend betrachtet werden, obwohl viele doch andere Entscheidungen vorgezogen hätten.
Die Mehrheitsbildung in demokratischen Entscheidungsverfahren ist ein Prozeß der Machtmobilisierung, deren Erfolg sich in der Anzahl von Stimmen bei Wahlen und Abstimmungen äußert. Die erfolgreiche Mobilisierung von Macht erlaubt einer Regierung, auch einschneidende Maßnahmen zu treffen, die wehtun und denen viele nicht ohne weiteres zustimmen würden. Genau dies ist die Situation, in der wir uns befinden. Weil einer wachsenden Zahl von Menschen immer mehr Handlungsmöglichkeiten offenstehen, nehmen die Konflikte enorm zu. Es stellt sich die Frage, ob die Politik diese noch bewältigen kann.
II. Die Herausforderung der Politik
1. Zunahme von Widersprüchen und Konflikten durch die wachsende Inanspruchnahme wohlbegründeter Rechte
Die Expansion des Marktes steigert nicht nur den Nutzen aller, sondern es nehmen auch die externen Effekte und damit die Konflikte und der Bedarf an kollektiver Streitschlichtung zu. Dabei ist das Gesetz der großen Zahl durchgehend wirksam. Solange die meisten Menschen die Möglichkeiten, die das moderne Leben bietet, gar nicht nutzen konnten, war es noch leicht, Konflikte zu vermeiden und Frieden zu wahren. Je mehr Menschen indessen in der Lage sind, gegebene Freiheiten auszuleben, um so mehr stoßen sie dabei auf-bzw. gegeneinander: Privatflieger gegen Spaziergänger, Angler gegen Badende, Motorradfahrer gegen Ruhesuchende, Autofahrer gegen Fahrrad-fahrer, Flughafengegner gegen Urlaubsreisende, Skifahrer gegen Umweltschützer, Touristen gegen Einheimische, Hungrige gegen Gesättigte, Einheimische gegen Fremde usw. Solche Konflikte können kaum einvernehmlich bewältigt werden, weil zu viele Beteiligte jeweils zu viele gute Gründe auf ihrer Seite haben. Wie läßt sich z. B.der Schutz von Mensch, Tier und Umwelt gegen den geplanten Ausbau von Autobahnen und Schienenschnellverkehrsstrecken in Ostdeutschland im Quasi-Notstandsverfahren mit besseren Argumenten versehen, denen alle zustimmen müßten, wenn knapp sechzehn Millionen Menschen nach vierzig Jahren DDR-Sozialismus ihr Recht auf den gleichen materiellen Wohlstand wie die westdeutschen Bundesbürger einklagen? Hätte etwa der Vorschlag von Umweltschützern, wonach das Wohlstands-niveau der Westdeutschen zugunsten der Ostdeutschen gesenkt werden müßte, damit beim Aufbau im Osten schonender mit der Umwelt umgegangen werden kann, irgendeine Chance, auf Zustimmung? Gewiß nicht. Die Mehrheit gewinnen diejenigen, die glaubhaft machen können, daß alles zusammen verwirklicht werden kann: rascher Verkehrswegeausbau, Wohlstandssteigerung im Osten und Westen und Verminderung der Belastungen von Mensch, Tier und Umwelt.
So sieht sich erfolgsuchende Politik vor der Aufgabe, in einer Zeit, in der sich Widersprüche und Konflikte verschärfen, eben diese zu kaschieren, wegzudefinieren oder zu leugnen. Das heißt, daß tendenziell mehr versprochen wird, als gehalten werden kann. Es ist deshalb kein Zufall, wenn Politikern inzwischen vorgeworfen wird, sie seien dazu übergegangen, Utopien zu verbreiten, statt sich um die mühsame Arbeit des politisch Machbaren zu kümmern Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine enorme Inflation des Wertes der Worte, mit denen in der Politik kommuniziert wird. Da dieser Wertverlust nicht verborgen bleibt, schwindet das Vertrauen in die Politik. Wir mißtrauen den Regierenden, wählen jedoch trotzdem diejenigen, die die Widersprüche und Konflikte des modernen Lebens am besten umschiffen können und uns vor dem Blick auf die harte Realität bewahren. In der Bundesrepublik verkünden die Christdemokraten, daß die Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums, die Steigerung des Wohlstandes für alle und der Schutz von Mensch, Tier und Umwelt ein und dasselbe seien. Die Freien Demokraten tun dies auch, jedoch mit mehr Betonung der Kräfte des Marktes und der Rechte der einzelnen Bürger. Ebenso verlautbaren die Sozialdemokraten, daß wachsender Wohlstand für alle, soziale Gerechtigkeit und Schutz von Mensch, Tier und Umwelt Zusammengehen. Die Grünen propagieren den Schutz der Umwelt, dürfen sich aber, wenn sie Wahlstimmen gewinnen und erfolgreich in der Politik mitmischen wollen, nicht allzu präzise zu den damit verbundenen Kosten äußern.
2. Neue Verteilungskonflikte durch die Einschränkung von Rechten
Die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Politik resultieren aus ihrer Verstrickung in Widersprüche. Sie ist auf die Bereitstellung von Chancen zur Wahrnehmung elementarer Bürgerrechte ausgerichtet: materieller Wohlstand, persönliche Entfaltung, Freiheit, politische Teilnahme, Gleichheit, soziale Sicherheit und Bildung für alle. So bemüht sich die Politik durchaus darum, den alten Auftrag der Aufklärung zu erfüllen. Gleichzeitig setzt sie dadurch aber auch eine sich steigernde Dynamik der Wahrnehmung dieser Rechte durch immer mehr Menschen in Gang, die auf einer neuen Stufe der Moderne in das Hobbessche Problem führt: Der Mensch wird des Menschen Wolf, und das durchaus auf der Grundlage verbriefter Rechte, wie es auch schon in Hobbes’ Naturzustand auf der Basis naturgegebener Rechte geschieht
Ein Beispiel bietet der Massentourismus. Man betrachte nur folgende Zahlen und schreibe die von ihnen angezeigte Entwicklung gedanklich für weitere 30 Jahre fort: Von der Bevölkerung der Bundesrepublik im Alter von über 14 Jahren ist der Anteil der Menschen, die sich eine mindestens fünftägige Ferienreise im Jahr leisten, von 1954 bis 1985 von 15 auf 66 Prozent gestiegen. Zwischen 1970 und 1980 hat sich der Anteil außereuropäischer Reiseziele an allen Reisen von 1, 9 auf 8, 5 Prozent erhöht In Spanien ist die Zahl ausländischer Besucher pro Jahr zwischen 1955 und 1991 von rund 2, 5 auf rund 53, 5 Millio-nen gewachsen Der Massentourismus hat jetzt ein Ausmaß erreicht, daß die von ihm Heimgesuchten trotz materieller Wohlstandssteigerung, die er ihnen gebracht hat, inzwischen dazu veranlaßt, Dämme gegen das Überschwappen der Tourismusflutwelle zu errichten: Kapazitäten werden bewußt nicht mehr erweitert, die Zahl der hereingelassenen Touristen wird beschränkt, Straßen werden zum Fernhalten der Wochenendtouristen gesperrt. Die vom Transitverkehr Geplagten, wie etwa die Anrainer der Brennerautobahn, erwägen eine Straßensperrung bei zu hoher Belastung der Luft durch die Autoabgase. Die Eingriffe des Massentourismus in die natürliche und soziokulturelle Lebensumwelt der Dritten Welt haben heftige Proteste der Umweltschützer hervorgerufen. Das gilt etwa für den Himalaya-Tourismus in Nepal
Alle Besänftigungsformeln vom „sanften“ Tourismus scheinen an diesem Zerstörungsprozeß nichts ändern zu können. Die Politik wird sich in wachsendem Maße in den Widerspruch verstricken, daß sie einerseits noch auf die Expansion der Wahrnehmung von Freiheitsrechten eingestellt ist, andererseits jedoch immer mehr gezwungen wird, diese durch Regulierungen wieder einzuschränken. , Die damit einhergehenden Verteilungskonflikte lassen sich in der modernen Gesellschaft nicht mehr nach dem klassischen Muster der allgemeinen Anhebung des Lebensstandards ohne grundlegende Umverteilung lösen, denn das knappe Gut „Umwelt“ ist nicht beliebig vermehrbar. Die Umwelt ist unteilbar und kann nicht in individuelle, auf dem Markt frei handelbare Teile zerstückelt werden. Sie ist ein Gemeinschaftsgut, dessen Nutzung nur durch politische Entscheidung bestimmt werden kann, wenn eine Zerstörung durch Übernutzung vermieden werden soll.
Es fehlen indessen die Kriterien, nach denen die Nutzung des knappen Gemeinschaftsgutes der natürlichen und soziokulturellen Umwelt geregelt werden kann. Die zaghaft einsetzende Diskussion über die Erhöhung der Mineralölsteuer ist der Anfang der auf uns zukommenden Auseinandersetzungen. Die Grundfrage wird sein: Kehren wir durch den preisregulierten Zugang zur Umwelt zur Klassengesellschaft alten Zuschnitts zurück, oder führen wir die egalitäre Gesellschaft ein, in der dasgleiche eingeschränkte Recht auf die Nutzung der Umwelt festgeschrieben wird? Haben wir z. B. das Recht, mehr Auto-, Bahn-oder Flugkilometer zu bewältigen als andere, wenn wir mehr bezahlen, oder darf jeder nur eine begrenzte Kilometerzahl pro Jahr zurücklegen, so daß die Gesamtbelastung der Umwelt in Grenzen gehalten wird? Es spricht alles dafür, daß die egalitäre Lösung nicht in das gegebene Gesellschaftssystem paßt, würde sie doch das Leistungsprinzip außer Kraft setzen und den Markt aushebeln. Das heißt aber: Der Streit um die Umweltpolitik findet nicht jenseits der Verteilungskonflikte statt. Diese kommen in neuer Form zu uns zurück.
Der Streit wird sich auf Fragen wie die folgenden konzentrieren: Richten wir durchgängig ein System von frei handelbaren, in der Menge aber begrenzten Zertifikaten für jede nur denkbare Nutzung der Umwelt ein, die dann nach jeweiliger Kaufkraft von den Umweltkonsumenten in größeren oder kleineren Mengen erworben werden können? Beschränken wir diesen Handel mit Umweltnutzungszertifikaten wohlfahrtsstaatlich, indem wir jedem einzelnen und jeder Gesellschaft in der ganzen Welt ein Minimum an nicht handelbaren Zertifikaten als Existenzgrundlage zuweisen? Wie groß soll der Anteil dieses Existenzminimums sein, wie groß der Anteil der frei handelbaren Zertifikate?
III. Das politische Dilemma: Expansion und Einschränkung von Rechten
1. Notwendigkeit der Modifizierung traditioneller Wachstumspolitik
Bevor wir dieser neuen Realität gewahr werden, täuschen wir uns noch eine Weile mit Konzepten zur Überbrückung des aufgezeigten Widerspruchs. Wir erwarten von der Politik, daß sie weiter die Expansion unserer Freiheitsrechte betreibt, uns zugleich aber vor ihren Negativeffekten schützt, und reagieren mit Unmut, wenn sie ihre Versprechen nicht einhalten kann. An diesem strukturellen Widerspruch, der dem sich ausbreitenden Unmut über die Politik zugrunde liegt, wird jede noch so wohlmeinende Verbesserung der „Bürger-nähe“ von Parteien und Regierungen nichts ändern.
Ohne eine deutliche Abkehr von klassischer Wachstumspolitik -vom Programm der unablässigen Steigerung des materiellen Wohlstands -werden wir uns noch für geraume Zeit mit den damit einhergehenden Widersprüchen herumschlagen müssen: So läßt z. B. die Regierung den Umweltminister berichten, daß die Autos den Umweltschutz überrollen, der Wirtschaftsminister ist dagegen bemüht, die Zeichen auf Wachstum zu halten, was beim Anteil der Automobilindustrie an diesem Wachstum nur ein weiteres Überrollen des Umweltschutzes durch Kraftfahrzeuge bedeuten kann. Der Verkehrsminister baut die erforderlichen Straßen dazu. Die Bundesregierung will bis zum Jahr 2005 die Kohlendioxid-Emissionen um 25 bis 30 Prozent senken. Eine Studie zum neuen Verkehrswegeplan prognostiziert jedoch gerade umgekehrt eine aus seiner Realisierung resultierende Steigerung von mehr als 40 Prozent 17.
Während es gelungen ist, die industriellen Schadstoffemissionen durch technologische Innovationen zu reduzieren, sind die Belastungen durch den Verkehr über die Jahre weiter gewachsen. In der Bundesrepublik ist von 1966 bis 1986 der Stickoxydausstoß (N 02) von 1, 9 auf 3, 0 Millionen Tonnen gestiegen, um dann bis 1990 wieder auf den Wert von 1974 in Höhe von 2, 6 Millionen Tonnen zurückzugehen. In diesem Zeitraum hat sich der Anteil des Verkehrs an diesen Emissionen von 42, 2 auf 72, 9 Prozent vergrößert, während sich der Anteil von Bergbau und Industrie von 25, 2 auf 9, 1 Prozent verringert hat. Der Anteil des Straßenverkehrs hat sich von 1975 bis 1990 von 41, 9 auf 63, 5 Prozent erhöht. Die neuesten Zahlen des ersten gesamtdeutschen Umweltberichtes zeigen im Personenverkehr -wohl infolge der vermehrten Nutzung von Katalysatoren -immerhin einen Rückgang des jährlichen N 02-Ausstoßes von 1, Millionen auf 806000 Tonnen, dagegen im Straßengüterverkehr einen Anstieg von 520000 auf 733000 Tonnen. Obwohl die gesamten Kohlendioxydemissionen (C 02) in den alten Bundesländern wieder unter das Niveau von 1970 gesunken sind, hat sich im Verkehr ein Anstieg von mehr als 60 Prozent ergeben. Von 1970 bis 1990 ist der Anteil des Verkehrs an den C 02-Emissionen von 13, 6 auf 22, 8 Prozent gestiegen. Nach dem Bundesverkehrswegeplan von 1992 soll bis zum Jahr 2010 der Personenverkehr um 32, der Güter-verkehr um 77 Prozent zunehmen. Daraus ist ein weiteres Wachstum der C 02-Emissionen um 40 Prozent zu erwarten.
Der Verkehr ist inzwischen zur dominierenden Umweltbelastung geworden. Allein der exorbitante Zuwachs des PKW-Bestandes zeugt davon: In den alten Bundesländern war von 1961 bis 1992 ein Wachstum des PKW-Bestandes von 4, 8 auf 32 Millionen PKW zu verzeichnen, je 1000 Einwohner allein zwischen 1980 und 1990 von 377 auf 432. Im Flugverkehr sind zwischen 1960 und 1990 folgende Steigerungen festzustellen: Beförderte Personen von 4, 885 auf 62, 576 Millionen, beförderte Güter von 79000 auf 1, 148 Millionen Der Kölner Stadtanzeiger vom 18. /19. Juni 1992 informiert uns darüber, daß der Verkehrsminister einen Bedarf des Aus-oder Neubaus von 11600 Kilometern Fernstraßen anmeldet. Am 7. Juli 1992 berichtet dieselbe Zeitung von den Ausbau-plänen des Köln-Bonner Flughafens So sollen bis zum Jahr 2000 die Passagierzahlen von derzeit 3, 1 Millionen pro Jahr auf 7, 8 Millionen gesteigert werden. Damit verbunden ist eine Verdoppelung des Verkehrs zu Land und in der Luft zum und vom Flughafen mit einer entsprechenden Zunahme der Lärmbelästigung und Luftverschmutzung. Zu unserer Beruhigung erklärt jedoch der kaufmännische Geschäftsführer der Flughafengesellschaft, man werde beim erforderlichen Ausbau mit dem Gelände „sorgsam umgehen“ und alle „Bauaktivitäten mit einem ökologischen Begleitplan versehen“ Die lärmgeplagten Anwohner werden mit Finanzhilfen für Lärmschutzscheiben für Schlaf-und Kinderzimmer besänftigt. Unerwähnt bleibt, daß nicht nur die Anwohner in einer schmalen Einflugschneise unter dem Lärm leiden, sondern Millionen Menschen unter einen flächendeckenden Dauerlärmteppich gepackt werden. Über die Verdopplung von Lärm und schlechter Luft werden wir mit ein paar Grashalmen hinweggetröstet, die durch einen „ökologisch angepaßten“ Erweiterungsbau des Flughafens gegenüber einem „ökologisch unangepaßten“ Bau gerettet werden. Zu der schleichenden Entwertung der Sprache durch den immer gedankenloseren Gebrauch von Worten wie „ökologisch“ und „umweltgerecht“ heißt es in einem Zeitungskommentar: „Die Ethik des neuen Reisens ... erschöpft sich weitgehend im Erfinden neuer Begriffe mit der Vorsilbe , Öko‘.
2. Widersprüche: Theoretische Einsichten versus inkonsistentes Verhalten
Solche Einsichten werden uns jedoch kaum davon abhalten, fortzufahren wie bisher: Eine Illustrierte lädt einen Umweltschützer zu der programmatischen Erklärung ein, daß der Schutz von Mensch, Tier und Umwelt einen Totalverzicht auf alle Urlaubsflüge erfordere; den Lesern werden an anderer Stelle Reisen in alle Länder dieser Welt schmackhaft gemacht Ein Wirtschaftsmagazin berichtet in einem Schwerpunktartikel, daß wir nach Berechnungen eines angesehenen Forschungsinstituts in Deutschland jährlich Umwelt-schäden von über 600 Milliarden DM verursachen. Der Rest des Magazins widmet sich dem üblichen Geschäft: der Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums. In derselben Ausgabe plädiert ein Industriemanager in einem umfangreichen Artikel für eine umfassende Deregulierung, die vor allem auch das Umweltrecht einschließt, um den Aufschwung Ost zu ermöglichen
Wir alle sind jedoch nicht besser als Regierungen, Industrieunternehmen und Massenblätter. Wir protestieren gegen den Flughafenausbau und die Müllverbrennungsanlage nebenan, besteigen aber ungebremst bei der nächsten Geschäfts-oder Urlaubsreise den Jet und beteiligen uns ungehemmt an der großen müllproduzierenden Konsumorgie. Wir plazieren bei der Frage nach den drängendsten Problemen unserer Zeit unser Kreuzchen beim Umweltschutz: Im Frühjahr 1992 äußerten 89 Prozent (West: 88, Ost: 95) der Deutschen, 85 Prozent der gesamten EG-Bevölkerung, daß sie den Umweltschutz für ein unmittelbar drängendes Problem hielten Nach einer Befragung aus dem Jahr 1986 wollten jedoch nur 26, 5 Prozent der Deutschen die Ökologiebewegung unterstützen, in Frankreich waren es sogar nur 10, 3 Prozent, in Großbritannien nur 16, 9. Nicht fördern wollten die Ökologiebewegung in der Bundesrepublik 38, 5 Prozent, in Frankreich 79 Prozent, in Großbritannien 66 Prozent Das Ansinnen, den Benzinpreis durch Anhebung der Mineralöl-steuer um das Fünffache höher zu setzen, würden wir glatt als Angriff auf die soziale Gerechtigkeit zurückweisen, weil sich dann nur noch die reicheren Leute das ungezügelte Autofahren leisten könnten
Verglichen mit solcherart widersprüchlichem Verhalten nehmen sich manche Inkonsistenzen unserer Behörden noch bescheiden und geradezu liebenswürdig aus. Das rührt von dem Schneckentempo her, mit dem sie sich an die Gegebenheiten der modernen Zeit anpassen. Paradoxerweise verbieten Verordnungen z. B. noch heute zur Mittagszeit und in den Abendstunden die Benutzung von Kinder-spielplätzen oder Freizeitanlagen für Kinder und Jugendliche in Wohngebieten; zur selben Zeit müssen sich die Anwohner wegen des permanenten Straßen-und Fluglärms schon längst die Ohren zuhalten.
Das Wissen um die Fehler unseres Gesellschaftsprogramms wird täglich angereichert, dennoch tun wir uns schwer, das Programm umzuschreiben. Vielmehr konzentrieren wir unsere Bemühungen auf seine Einhaltung, und zwar im vollen Bewußtsein der Mängel. Eigentlich müßten wir doch über jedes nicht verkaufte Automobil glücklich sein, aber wir reagieren auf jeden Absatzrückgang der Automobilindustrie mit Anstrengungen, diesen wieder nach oben zu bringen, um Gewinne, Löhne und Arbeitsplätze zu sichern. Bei konsequenter Umsetzung des ökologischen Wissens in politisches Handeln müßten wirjedoch auf eine Verminderung des PKW-Bestandes und des Verkehrs hinwirken Der Verlust von Arbeitsplätzen wäre -wie etwa aus einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Beschäftigungseffekten durch Umweltschutz hervorgeht -durch eine Umstellung auf umweltschonende Produktion zumindest teilweise zu kompensieren. Man wird der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß der Kostendruck durch den Umweltschutz innerhalb einer Leistungsgesellschaft nicht anders aufgefangen werden kann als durch eine Verteuerung aller die Umwelt belastenden Produkte.
Daß Erhaltung und Schonung der Umwelt mit hohen Kosten verbunden sind, dürfte uns inzwischen klar sein -was wir uns noch nicht richtig vor Augen geführt haben, ist die damit verbundene Rückkehr der Verteilungskonflikte, die uns ins Haus stehen, wenn wir die Leistungsgesellschaft ökologisch umbauen wollen.
IV. Vereinbarkeit von Wohlstandssteigerung und Belastungsreduktion
Die Hoffnungen richten sich in dieser Situation auf Lösungen, die eine Reduktion der Belastungen von Mensch, Tier und Umwelt mit der weiteren Steigerung des Wohlstands in Einklang bringen. Eine Vereinbarkeit von Wohlstandssteigerung und Belastungsreduktion wird recht unterschiedlich beurteilt: Die Einschätzungen reichen von vorsichtigem Optimismus bis zur defätistischen Katastrophenprophetie.
1. Das Beispiel der Steigerung der Energieproduktivität
Eine eher optimistische Studie zum Treibhauseffekt gelangt z. B. zu dem Schluß, daß eine „sanfte“ Politik der stetigen Verteuerung der Energiepreise durch eine Steuererhöhung um inflationsbereinigte fünf Prozent jährlich, bei einem Anteil der Energiekosten von fünf Prozent an den gesamten Lebenshaltungskosten, die Lebenshaltung nur um 0, 25 Prozent pro Jahr verteuern würde, wobei dieser Betrag durch die Steigerung der Energieproduktivität um jährlich drei Prozent sogar auf 0, 1 Prozent gesenkt werden könnte. Ganz kostenlos kämen wir davon, wenn der Staat die Steuermehreinnahmen auf dem Wege der Senkung anderer Steuern bzw. durch Ausgleichszahlungen an Personen, die keine direkten Steuern zahlen, wieder zu den Verbrauchern zurückfließen ließe.
Ernst Ulrich von Weizsäcker, der Autor der Studie, findet zu der Einschätzung, daß durch diese stetige Anhebung der Energiepreise genügend Anreize zur Steigerung der Energieproduktivität gegeben sind, so daß diese in 20 Jahren zweifach, in 40 Jahren vierfach höher liegen könnte. Durch die steigende Energieproduktivität und den Spardruck steigender Energiepreise könnte so eine ständige Verminderung des Energieverbrauchs erreicht werden. Beim Treibstoff wird mit einem dreifach geringeren Verbrauch im Vergleich zum heute niedrigsten Wert in Japan und Italien gerechnet. Diese Annahme wird mit dem Nachweis begründet, daß heute der Treibstoffverbrauch in den Ländern mit den niedrigsten Treibstoffpreisen am höchsten ist, nämlich in den USA, in Kanada und Australien, während er in den Ländern mit den höchsten Treibstoffpreisen am niedrigsten ist, nämlich in Japan und Italien. Diese Argumentation wird durch eine neue Untersuchung des DIW bestätigt
Allerdings müssen bei dieser „sanften“ Politik der Wohlstandssteigerung einige Parameter konstant gesetzt werden, deren Konstanz nur mit Zweifeln angenommen werden kann. Das exorbitante Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern, die unablässig ausgreifende Mobilität und die Anspruchsexpansion in den Industrieländern können schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Wächst die Zahl derer, die Treibstoff verbrauchen, weltweit schneller als der Treibstoffverbrauch pro Kopf sinkt, dann nehmen die Emissionen zu und nicht ab. Leisten sich die Menschen in den reichen Industrieländern mit ihrem erhöhten Einkommen mehr Wohnraum, mehr Reisen, mehr Konsumgüter, noch mehr Mobilität, dann steigt der Treibstoffverbrauch pro Kopf auch bei verbesserter Energieproduktivität.
Rechte, die allen zustehen, werden von einer immer größeren Zahl von Menschen wahrgenommen, je mehr Hindernisse abgebaut werden. Außerdem führt die Befriedigung von Bedürfnissen nicht zu einer allgemeinen Sättigung, sondern zu neuen, noch weiter reichenden Bedürfnissen. Wer schon viel gesehen hat, bleibt nicht zu Hause, sondern reist noch weiter, um noch mehr zu erleben. Es gibt inzwischen keinen Winkel der Erde mehr, der vor unserem massenhaften Ansturm sicher ist. Der Run auf die letzten Naturparadiese ist in vollem Gange. Weltweit ist die jährliche Zahl der registrierten Touristenankünfte zwischen 1985 und 1989 von 323 auf 414 Millionen und bis 1992 nochmals auf 476 Millionen gesteigert worden. Die Reiseausgaben haben sich zwischen 1985 und 1989 von 116 auf 209 Milliarden US-Dollar nahezu verdoppelt. Die Zahl der Flugpassagiere ist zwischen 1980 und 1989 von 645 auf 987 Millionen hochgeschnellt, der PKW-Bestand zwischen 1980 und 1988 von 316 auf 410 Millionen
Ein Ende dieser Entwicklung ist im Rahmen stetiger Wohlstandssteigerung nicht absehbar. Die Lufthansa bringt jetzt „Szenegänger“, „Musical-freunde“, „Nachtschwärmer“ und „treue Fans“ zusammen mit „Partygästen“, „Trauzeugen“, „Teens und Twens“, „lieben Omis“ und „Lieblingsenkeln“ nach 19. 30 Uhr zum besonders billigen „Abend-Expreß-Tarif“ an den Ort des Geschehens Die neue Konkurrenz auf dem EU-Binnenmarkt setzt das Unternehmen unter Druck, mit allem nur erdenklichen Erfindungsgeist Erlebniswerte der Mobilität zu bieten, mit deren Hilfe sich immer neue Kundenschichten gewinnen lassen. Die Kilometer, die wir heute schon geschäftlich und privat, alltäglich und auf großen Reisen fahren oder fliegen, werden jährlich nicht weniger, sondern mehr. Wie sollen die Reiseveranstalter und die Fluggesellschaften sonst ihre Wachstumsraten erzielen?
2. Das Beispiel des „sanften Tourismus“
Kann eine Entwicklung, die sich gewaltsam ihre Bahn bricht, überhaupt abgebremst werden? Nehmen wir wieder den Tourismus als Beispiel. Er soll jetzt „sanft“ werden. Daß dies gelingen kann, muß angesichts der Vernetzung von Interessen sowohl der Touristikunternehmen als auch der Reisenden und der in den Urlaubsgebieten lebenden Menschen bezweifelt werden. In dem Maße, in dem sich bestimmte Regionen mit dem Fortschreiten der internationalen Arbeitsteilung auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Urlauber spezialisieren, verlagert sich der wirtschaftliche Tausch von der lokalen Ebene auf die globale. Die Beschäftigungsmöglichkeiten der in den Ferienregiönen ansässigen Bevölkerung beschränken sich zunehmend auf das Touristikgewerbe und das mit ihm verzahnte Handwerk. Wollen die Einheimischen ihre Arbeit behalten oder -nach Möglichkeit sogar -besser leben als im Jahr zuvor, dann werden sie sehen müssen, daß sie ihre Einkommen aus Dienstleistungen sichern oder -besser noch -steigern. Es muß also (mehr) Geld in die Kassen der Hotel-, Pensions-und Restaurantbetriebe fließen, was bei wachsender Konkurrenz nicht einfach durch Erhöhung der Preise geht. Wie soll es dann anders gelingen als durch die wachsende Auslastung mittels steigender Urlauberzahlen? Dazu muß angesichts der Ansprüche der Feriengäste und der Konkurrenz entsprechend mehr geboten werden: Freizeitanlagen, Bergbahnen, Liftanlagen, mehr Hotels, Pensionen, Appartementhäuser. Investoren fallen ein, wittern Geschäfte und bauen immer größere Komplexe, um noch weitere Touristen anzulocken. Wo soll da gestoppt und auf sanften Tourismus umgeschaltet werden?
Jetzt beginnen einige Gemeinden damit, „sanft“ zu werden, indem sie vor ihren Toren riesige Parkplätze anlegen, um die Touristen in einem nun autofreien Gehege herumlaufen zu lassen. Damit werden möglicherweise noch mehr Reisende angelockt, die unterwegs die Umwelt belasten. Die Entwicklung -vom einst sanften Tourismus zur heutigen touristischen Flutwelle -umzukehren, würde voraussetzen, daß wieder weniger gereist wird: mit der Folge einer Wohlstandseinbuße der in den Ferienregionen lebenden Menschen. Hochpreispolitik, die in manchen, meist exklusiven Gebieten bereits betrieben wird, dürfte diesen Prozeß allenfalls ein wenig abmildern.
V. Schlußbemerkungen
Die letzte Ursache, aufgrund derer sich die moderne Politik auf der Suche nach Konfliktlösungen durch Konfliktsteigerung paralysiert, liegt in der Logik des demokratischen Entscheidungsverfahrens selbst, bei dem regelmäßig berechtigte Interessen auf der Strecke bleiben. In der Folge kommt es zu neuen Konflikten. Die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Politik wird dadurch -gerade auch im Hinblick auf die ökologischen Probleme der Gegenwart -beschränkt. Zu den offenen Entscheidungsverfahren moderner demokratischer Politik gibt es trotzdem keine Alternative. Um so mehr sind alle politischen Akteure gefordert, die Kunst der Konsensbildung zu pflegen. Eine ihrer vordringlichsten Aufgaben der Zukunft wird sein, einen Konsens über die Verteilung von Umwelt-nutzungsrechten herbeizuführen. Dabei steht der Politik vor allem eines ins Haus: die Rückkehr der Verteilungskonflikte, und dies zu einer Zeit, in der die Konkurrenz neu aufsteigender Anbieter auf dem Weltmarkt ganze Wirtschaftszweige in den bislang führenden Industrieländern unter Kostendruck setzt. So werden die Verteilungskämpfe von zwei Seiten zugleich verschärft: von seiten der Umweltpolitik und von seiten der wachsenden Globalisierung der Märkte. Die soziale Ordnung der wohlstandsverwöhnten Industriegesellschaften steht vor einer unerwartet großen Zerreißprobe. Die Politik wird dabei dem weiteren Dilemma ausgesetzt, auf nationaler Ebene für Probleme zur Verantwortung gezogen zu werden, die globaler Lösungen bedürfen.