I. Die neue Regierung-Kontinuität oder Neubeginn? nen (FI, Lega Nord, AN = 366 Sitze). Im Senat dagegen hat die Regierung keine stabile Mehrheit. FI, AN und Lega Nord verfügen hier nur über 155 der 315 Sitze. Die Regierungsparteien mußten daher bei der Vertrauensabstimmung im Mai 1994 weitere Stimmen aus dem Zentrum (Partito Popolare Italiano [PPI], Patto Segni) herausbrechen und von den Senatoren auf Lebenszeit holen.
Die oppositionelle „Fortschrittsallianz“ hat im Senat 122 Sitze. Sie könnte -rein rechnerisch -zusammen mit dem Zentrum aus PPI und Patto Segni (31 Sitze) sowie den „Übrigen“ (sieben Sitze) die neue Regierung parlamentarisch blockieren
Die Vertrauensabstimmung im Abgeordnetenhaus entschied die neue Regierung am 20. Mai 1994 mit 366 Ja-Stimmen gegenüber 245 Nein-Stimmen klar für sich. Schwierig war dagegen das Vertrauensvotum im Senat zwei Tage zuvor. Am 18. Mai 1994 wurde der Regierung mit 159 Stimmen -das heißt mit nur einer Stimme über der notwendigen absoluten Mehrheit von 158 Stimmen -das Vertrauen ausgesprochen.
Die politische Schwäche Berlusconis und der Forza Italia wurde erneut deutlich, als der Senat Anfang Juni 1994 die Vorsitzenden der Ausschüsse wählte Während die Regierungsparteien im Abgeordnetenhaus in fast allen Ausschüssen Vorsitzende aus ihren Reihen durchsetzen konnten, reichte die parlamentarische Mehrheit im Senat dafür nicht aus. Die Lega Nord ließ sich nicht in die Regierungsdisziplin einbinden. Die Oppositionsparteien konnten daher den Vorsitz in fünf Senatsausschüssen (PPIIPatto Segni: Bildung, Landwirtschaft und Finanzen, Progressisten: Arbeit und Industrie) erobern, Forza Italia dagegen nur in zwei (Bilanzen, Gesundheit), und Lega Nord konnte einen Vorsitz (Öffentliche Arbeiten) erringen. Wegen der schwierigen Stimmverhältnisse mußte der Vorsitz von fünf Senatsausschüssen verlost werden (Verfassung, Justiz, Äußeres, Verteidigung, Umwelt). Berlusconi kommentierte bitter, er sei jetzt zu allem bereit, auch zu Neuwahlen.
2. Der schwierige Koalitionspartner und eine instabile Mitte
Die parlamentarische Machtbasis der Regierung ist seitdem -trotz der für Forza Italia erfolgreichen Europa-Wahlen am 12. Juni 1994 -schwächer geworden. Denn die Lega Nord -Zünglein an der Koalitionswaage -geht zunehmend auf Distanz zum Ministerpräsidenten, nachdem U. Bossi Berlusconi für dieses Amt zunächst sogar abgelehnt hatte. Die Lega Nord wiederholt heute das alte Koalitionsspiel des Partito Socialista Italiano (PSI) Craxis, nämlich der führenden Regierungspartei mit Stimmentzug zu drohen, um den eigenen politischen Handlungsspielraum zu erweitern. Berlusconi reagierte auf diese politische Erpressung bisher im Stile der alten Christdemokratie. Er droht in diplomatisch verklausulierten Erklärungen mit Neuwahlen, falls die Regierungspolitik künftig durch koalitionsinterne Konflikte oder schwierige parlamentarische Mehrheitsverhältnisse im Senat blockiert wird.
Die parlamentarische Basis der Regierung hängt auch von der künftigen Entwicklung des politischen Zentrums ab. Die politisch zwischen links (Progressisti) und rechts (Polo della Libertä) zerrissene Mitte aus PPI und Patto Segni, die unter den zentrifugalen Druck des Mehrheitswahlrechts geraten ist, hat langfristig keine Chance, sich zu einem stabilen Zentrum und zu einem koalitionspolitischen Machtfaktor -wie die FDP in der Bundesrepublik -zu entwickeln Das Zentrum wird sich in und außerhalb des Parlamentes vermutlich weiter spalten. Die Lösung des Centro Cristiano Democratico (CCD) vom PPI und die parlamentarische Sezession der vier PPI-Dissidenten am 18. Mai 1994 sind Indizien für den strukturellen Zerfallsprozeß einer ohnehin schon instabilen Mitte. Der bevorstehende Parteitag des PPI -geplant für Ende Juli 1994 -wird voraussichtlich mit einer erneuten (Ab-) Spaltung nach rechts enden. Eine starke PPI-Rechtsabspaltung könnte die parlamentarische Basis der Regierung im Senat stabilisieren.
Die polarisierenden Effekte und zentrifugalen Tendenzen des Mehrheitswahlrechts waren von den Verfassungsreformern, welche die pervertierte Proporzdemokratie (consociativismo) auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts aufbrechen und ein normales Wechselspiel von Regierung und Opposition (alternanza) institutionalisieren wollten, durchaus geplant.
III. Neofaschisten an der Regierung
1. MSI/AN -Neofaschisten oder demokratische Rechte?
Die nationale und internationale Öffentlichkeit reagierte mit mehr oder weniger offener Kritik auf die neue Regierung Berlusconi. Dafür gab es einen doppelten Grund: (1) In keiner westlichen Demokratie war ein Regierungschef bisher zugleich landesgrößter Medienuntemehmer. Ist in Italien durch die Medienkonzentration in Berlusconis Händen der institutioneile Kern westlicher Demokratie -die Meinungsfreiheit und der Pluralismus -bedroht? (2) Nationale und internationale Bestürzung provozierte insbesondere die Regierungsbeteiligung von fünf Ministern der AN, die kurz vor den Märzwahlen 1994 aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) hervorgegangen war.
Berlusconi lehnt es wie viele andere italienische Politiker und die Mehrheit der Bevölkerung ab, die AN als „neofaschistisch“ zu bezeichnen. Außenminister Antonio Martino, der auf zahlreichen Auslandsbesuchen die Normalität der Regierung unterstreicht, empfahl im Mai 1994 eine einfache Lesart dieser Dreierkoalition ohne historisches Vorbild. Nach Martino sitzen auf der Regierungsbank keine Neofaschisten, sondern nur fünf Minister der Alleanza Nazionale. Die AN aber sei etwas ganz anderes (ben diversa) als der MSI, und der MSI müsse seinerseits vom Faschismus unterschieden werden (cosa diversa)
2. Nationale und internationale Kritik
Die italienische Linke, vor allem die orthodoxe Rifondazione Comunista (RF), beschwor die Gefahr des Neofaschismus oder der autoritären Umstrukturierung des demokratischen Systems herauf. Der Partito Democratico della Sinistra (PDS) sieht in einer Telekratie (telecrazia) Berlusconis eine noch stärkere Bedrohung der Demokratie als in den Wahlerfolgen und der Regierungsbeteiligung von MSI/AN.
Die Zentrumsparteien PPI und Patto Segni sowie die liberale Presse Italiens -vor allem der „Corriere della Sera“ -kritisierten ebenfalls die Regierungsbeteiligung von Neofaschisten sowie Berlusconis Doppelrolle als Ministerpräsident und Medienunternehmer. Siegfried Brugger, Chef der Südtiroler Volkspartei, führte in der zweiten Kammer aus, wegen der Beteiligung von fünf Ministern der MSI/AN sei die neue Regierung politisch disqualifiziert, denn die Partei habe ihrer faschistischen Vergangenheit nicht abgeschworen
Das Europäische Parlament, führende EU-Regierungen, die Vereinigten Staaten sowie die europäische Linke reagierten unterschiedlich auf die neue Regierung -nämlich mit scharfer Kritik, politischen Vorbehalten, höflicher Distanz, ermunternden Mahnungen oder mit gedämpfter Freundlichkeit.
Die Regierungen der USA und der Bundesrepublik zeigten nach anfänglichem Zögern politische Offenheit. Bei seinem ersten Auslandsbesuch, den Berlusconi der Bundesrepublik abstattete, empfing Bundeskanzler Helmut Kohl den neuen Ministerpräsidenten Italiens mit demonstrativer Freundlichkeit Kohl vermied aber die ansonsten übliche gemeinsame Pressekonferenz mit dem ausländischen Gast -angeblich aus Zeitgründen, aber wohl auch, um sich und Berlusconi unliebsame Fragen einer kritischen Öffentlichkeit zu ersparen. Dem Wunsch Berlusconis, die Aufnahme der Forza Italia in die Fraktion der Europäischen Volkspartei zu unterstützen, kam der deutsche Bundeskanzler im Juni 1994 nicht nach.
3. Entdramatisierung der neofaschistischen Regierungsbeteiligung
Die koalitionspolitische Entscheidung Berlusconis wird von italienischen Politikern und Diplomaten mit einigen plausiblen Argumenten verteidigt: Die italienische Demokratie ist in ihren Kernstrukturen stabil und kann durch die AN, selbst wenn sie es wollte, nicht ernstlich gefährdet werden. Nur drei der Minister sind alte MSI-Mitglieder, während zwei Minister aus der alten Democrazia Cristiana (DG) und dem Partito Liberale Italiano (PLI) kommen. Die Schlüsselministerien liegen außerdem nicht in den Händen der AN-Minister.
Parteichef Gianfranco Fini bekannte sich 1994 wiederholt zur pluralistischen Demokratie und erteilte dem Totalitarismus eine Absage. Zwischen dem harten MSI-Flügel und den demokratieorientierten Neuerern der AN gibt es daher zunehmend ideologische und politische Konflikte.
Berlusconi und vor allem die Lega Nord betonten wiederholt, daß sie die Alleanza Nazionale mit allen Mitteln auf demokratischem Kurs halten wür-den. Und schließlich: Die Wähler haben im März 1994 mit den Stimmen für die AN keineswegs den Neofaschismus gewählt. Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt eine Rückkehr zur Republik von Salö klar ab. Nur wenige Italiener sehen ihre Demokratie durch die AN ernstlich gefährdet. Selbst die Linke befürchtet keine neofaschistische Machtergreifung.
4. Demokratische Wachsamkeit
Die politischen Risiken der italienischen Regierungsbildung vom April 1994 dürfen also nicht überdramatisiert werden. Es gibt bisher aber auch keinen Anlaß, sie zu entdramatisieren. Der Wandel vom neofaschistischen Movimento Sociale Italiano zur rechtsnationalen Alleanza Nazionale war das Ergebnis einer kurzfristigen Wahlstrategie Gianfranco Fini gründete die AN nur, um die Chancen des MSI bei den Märzwahlen 1994 zu erhöhen und die Bündnisfähigkeit des MSI zu stärken, der 1944 bis 1994 prinzipiell vom demokratischen Verfassungsbogen (arco costituzionale) ausgeschlossen war.
Die politische Kehrtwende vom antipluralistischen MSI zur »demokratischen 4 AN leitete der MSI-Chef G. Fini im Januar 1994 durch eine überraschende Spitzenentscheidung ein, die innerparteilich nicht diskutiert wurde. Bei der taktischen AN-Gründung von oben wurde der MSI keineswegs aufgelöst. Es fand auch kein Gründungskongreß statt, der die weitreichende partei-und bündnis-politische Umorientierung und den Bruch mit der Vergangenheit beschloß. Statt dessen wurde die AN auf einer Versammlung von nicht gewählten Lokalfunktionären und handverlesenen Fini-Vertrauten per Akklamation und ohne parteiinterne Debatten gegründet.
Während die übrigen Parteien ihre Kandidatenlisten für die Märzwahlen von Ex-Parlamentariern weitgehend freihielten, stellte Fini zu 95 Prozent die alten Parlamentarier des MSI auf. Insgesamt blieb die , neue‘ AN in ihren organisatorischen, personellen und programmatischen Strukturen mit dem gemäßigten MSI-Flügel identisch, der sich seit längerer Zeit um eine größere demokratische Akzeptanz bemüht.
Zahlreiche öffentliche Äußerungen und regierungspolitische Signale aus den Reihen von MSI/AN geben jedoch bis in die jüngste Zeit hinein Anlaß zu demokratischer Wachsamkeit. Zwar können die politischen Programme, nicht aber die neofaschistischen Strukturen und Traditionen von MSI/AN in so kurzer Zeit demokratisch umgebaut werden. Ein Europakandidat der AN sprach im Wahlkampf beispielsweise von neu einzurichtenden KZs für Homosexuelle Der neofaschistische Vorsitzende des außenpolitischen Parlamentsausschusses wollte den Vertrag von Osimo aufkündigen und damit die europäische Friedensordnung in Frage stellen. Etliche MSI-Extremisten reden von Grenzrevisionen gegenüber Slowenien. Sie möchten ferner die mühsam erkämpfte Südtiroler Autonomie unter nationalen Vorzeichen wieder einschränken. Es gibt Widerstände von AN-Ministern gegen die Aufnahme der neuen Republik Slowenien in die EU, weil MSI/AN die Istrien-Frage noch nicht für gelöst hält Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte des demokratischen Italien konnten 1994 Hunderte von Naziskins mit offizieller Genehmigung des örtlichen Parteichefs durch das norditalienische Vicenza marschieren Bevor der Polizeichef von Vicenza gerügt wurde, gab es zwei Tage lang keine politische Reaktion der Regierung auf die Aktion rechtsextremistischer Antidemokraten.
IV. Die Kollision wirtschaftlicher und politischer Interessen
Als Silvio Berlusconi 1993 die politische Arena betrat, wurden in fast allen politischen Lagern zwei grundsätzliche politische Einwände gegen den Unternehmer laut. Die Kritik zielte und zielt erstens auf dessen immense private Medienmacht sowie zweitens auf die Kollision von unternehmerischen Interessen und Regierungspolitik in der Person Berlusconis.
1. Berlusconis Fininvest-Imperium
Seit den siebziger Jahren baute Berlusconi ein riesiges Firmenimperium auf Dazu gehören Buch-und Zeitschriftenverlage, Fernsehsender, Werbeagenturen, Kinoketten, Versicherungen, Warenhäuser, Reisebüros, Investmentfonds, der Fußballklub AC Mailand und weitere Sportvereine. Der Mischkonzern umfaßt mehr als 300 Un ternehmen mit rund 40000 Beschäftigten und hat einen jährlichen Umsatz von elf Milliarden DM. Berlusconis Firmenkonglomerat türmte bis in die jüngste Zeit einen Schuldenberg von etwa vier Milliarden DM auf. Dem stehen wohl mindestens ebenso große Vermögenswerte gegenüber, die aber niemand genau schätzen kann. Vermutlich drängten die großen Banken Berlusconi seit Herbst 1993, den Fininvest-Konzern umzubauen und die Finanzen durchschaubarer zu machen. Mit dieser Aufgabe wurde Francesco Tato beauftragt. Der Finanzierungs-und Rationalisierungsexperte will eine Konzentration des Imperiums auf die Bereiche Verlag, Fernsehen, finanzielle Dienstleistungen und Handel durchsetzen. Mit einem TV-Marktanteil von 44, 4 Prozent sind die drei Privatsender Berlusconis dabei, die drei öffentlichen RAI-Sender mit ihren 45, 2 Prozent zu überrunden. Sollte es Berlusconi und dem Firmensanierer Francesco Tatö durch künftige Zusammenlegungen und damit verbundene Synergie-effekte gelingen, das gigantische Projekt mit dem Codenamen „Big TV“ zu verwirklichen, wird Berlusconis Position am nationalen TV-Medienmarkt deutlich stärker.
2. Der politische Angriff auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen
Durch die neue Regierung verschärfte sich die medienpolitische Situation für das öffentliche Fernsehen. Nunmehr kann der landesgrößte Medienunternehmer als Ministerpräsident zusätzlich politischen Einfluß auf das öffentliche Fernsehen nehmen. Es bestehen heute auf keiner politischen Seite Zweifel an einer notwendigen Strukturreform der RAI Die Parteibuchwirtschaft im öffentlichen Fernsehen wurde über Jahrzehnte großgeschrieben. Die Programme orientierten sich seit den siebziger Jahren an der DC (RAI 1), an dem PSI (RAI 2) und Partito Comunista Italiano (PCI) /PDS (RAI 3). Außerdem wurde finanziell katastrophal gewirtschaftet. Die notwendige Strukturreform der RAI ist aber etwas anderes als ein politischer Angriff auf das öffentliche Fernsehen. Zu einem solchen Angriff starteten Berlusconi, die und die Forza Italia Alleanza Nazionale drei Wochen nach der Regierungsbildung. Am 7. Juni 1994 griff der Ministerpräsident die RAI öffentlich an. Berlusconi erklärte, es sei anomal, daß im öffentlichen Fernsehen eine gegen die Regierung gerichtete Redaktionspolitik betrieben werde G. Fini (AN) stellte sich vorbehaltlos hinter diese Erklärung.
Der Konflikt um die Zukunft der RAI führte im Juni 1994 zu der ersten politischen Bewährungsprobe der neuen Regierung sowie zu einer ernsten Machtprobe zwischen Regierung und Opposition. Die neue Regierung ließ zwar keinen Zweifel daran, daß die RAI staatlich weiter subventioniert und das öffentliche Fernsehen erhalten bleiben soll. Berlusconis Kabinett versuchte aber, die ausweglose Finanzsituation der RAI und den politischen Machtwechsel zu nutzen, um das öffentliche Fernsehen unter die Kontrolle der Regierung zu bringen.
Am 26. Juni 1994 beschloß der Ministerrat, das Ciampi-Dekret zur finanziellen Rettung der RAI (decreto salva-RAI) zu erneuern. Das Dekret wurde jedoch an entscheidender Stelle modifiziert. Seit Juni 1994 muß der RAI-Verwaltungsrat zurücktreten, wenn die Regierung den von ihm unterbreiteten Dreijahresplan ablehnt
Der politische Hintergrund der Regierungmaßnahme war klar: Der Verwaltungsrat und seine fünf Mitglieder Murialdi, Sellerio, Benvenuti, Gregory und Demattö (Präsident der RAI) waren 1993 durch die Parlamentspräsidenten G. Napolitano (PDS) und G. Spadolini (Partito Republicano Italiano -PRI) ernannt worden. Aus Sicht der neuen Regierung sind diese fünf Repräsentanten des alten Parteiensystems, die per Dekret abgelöst und durch Vertreter des neuen Regierungskurses ersetzt werden sollen
In der Forza Italia und Alleanza Nazionale kursierten zunächst weitergehende Pläne. Vertreter beider Parteien wollten das bestehende System der parlamentarischen Ernennung und Kontrolle der RAI per Dekret durch ein staatliches Modell ablösen. Ein solcher medienpolitischer Vorstoß Berlusconis gegen die parlamentarische RAI-Kontrolle hätte im Juni 1994 die regierende Dreierkoalition aus FI, AN und Lega Nord gesprengt. Denn Umberto Bossi (Lega Nord) sprach sich mit Nachdruck dagegen aus, die Ernennung der RAI-Verwaltungsratsmitglieder künftig dem Staatskonzern IRI -statt den Präsidenten beider Kammern -zu überlassen. Der Lega-Chef war am medienrecht liehen Status quo aus parteipolitisch naheliegenden Gründen interessiert. Seine Partei verfügt in den beiden Kammern des Parlamentes über einen größeren Einfluß als in der Regierung.
Indem Berlusconi im Juni 1994 zunächst auf ein staatliches Kontrollsystem verzichtete, verhinderte er, daß eine mehr oder weniger geschlossene Oppositionsfront von dem linksdemokratischen PDS und dem christdemokratischen PPI über den Staatspräsidenten Luigi Scalfaro bis hin zur Lega Nord entstand. Die Errichtung einer Regierungskontrolle per Dekret wäre einem Verfassungsbruch gleichgekommen. Staatspräsident L. Scalfaro, der sich für ein unabhängiges öffentliches Fernsehen stark macht, war nicht bereit, ein solches Dekret zu unterschreiben Unter dem Druck der Lega Nord, der opponierenden PDS und PPI, der liberalen Öffentlichkeit sowie aufgrund der Resistenz des Staatspräsidenten mußte die Regierung das ursprüngliche Ziel fallen lassen, die RAI direkt der Regierung zu unterstellen.
V. Die neoliberale Wirtschaftspolitik
1. Hohe Verschuldung und sinkende Wettbewerbsfähigkeit
Italien erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ein rasantes Wirtschaftswunder. Heute erwirtschaftet das Land ein Bruttosozialprodukt (BSP) von 1090 Mrd. US-Dollar (1990) Mit diesem BSP liegt Italien hinter der Bundesrepublik (1488 Mrd.) und Frankreich (1190 Mrd.) und vor Großbritannien (975 Mrd.). Auch das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung kann sich mit 15953 US-Dollar (1990) gegenüber dem der Bundesrepublik (18212), Frankreichs (17376) und Großbritanniens (15 882) sehen lassen.
Im Vergleich zu den wirtschaftlich führenden G 7-Ländern ist Italien aber hoch verschuldet und auf vielen, besonders auf technologieintensiven Sektoren wenig wettbewerbsfähig. Die Schwerregierbarkeit des Landes und eine rückständige Infrastruktur verringern zusätzlich die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Die internationale Finanzwelt wartet seit Jahren auf anhaltende politische Vertrauenssignale aus dem verschuldeten Italien. Unter den christdemokratisch geführten Regierungen wuchsen die Staatsschulden in den achtziger Jahren von etwa 60 Prozent (Schulden/BSP) im Jahre 1980 auf etwa 110 Prozent im Jahre 1992.
Die 52. Regierung unter Azeglio Ciampi genoß aufgrund einer sichtbaren öffentlichen Sparpolitik zunehmendes internationales Vertrauen. Berlusconi, der die tiefe Skepsis der internationalen Finanzwelt abbauen will, besetzte das Schatzministerium mit Lamberto Dini, einem parteilosen Experten der unabhängigen italienischen Notenbank Der 61jährige Dini war über zwei Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten tätig, davon viele Jahre als Exekutivdirektor Italiens beim Internationalen Währungsfonds. Das Finanzministerium übergab Berlusconi dem 47 Jahre alten Rechtsanwalt und Dozenten für Steuerrecht, Tremonti, der aus den Reihen des christdemokratischen Patto Segni kommt. Der neue Finanzminister will die Zahl der Steuern deutlich herabsetzen und das gesamte System einfacher und gerechter machen.
2. Das neoliberale Wirtschaftskonzept
Die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung ist neoliberal ausgerichtet Ohne bisher die sozialen Härten des englischen Modells einzuplanen, orientieren sich Berlusconi und die Experten der Regierung -mit der nötigen wirtschafts-und sozialpolitischen Distanz -am Thatcherismus und an den Reagonomics.
Im Mittelpunkt des neoliberalen Wirtschaftsprogramms stehen die Deregulierung der Steuer-, Investitions-, Sozial-und Arbeitsmarktpolitik, die Privatisierung der Staatsunternehmen und öffentlichen Kreditinstitute sowie der Abbau öffentlicher Schulden. Durch eine zügige Deregulierung dieser Politikfelder sollen die Innovations-und Investitionsspielräume der Privatwirtschaft -vor allem der kleinen und mittleren Unternehmer -erweitert, die staatliche Bürokratie effektiver gemacht und die gesetzliche Regelungsdichte verringert werden. a) Privatisierung Die Privatisierung der Staatsunternehmen ist ein zentraler wirtschaftspolitischer Reformpunkt der neuen Regierung. Unter den sieben führenden Industrienationen verfügt Italien seit Jahrzehnten über den größten staatlichen und öffentlichen Unternehmenssektor Dieser Sektor war die finanzielle Basis für die Pfründen-und Patronagewirtschaft der alten Parteien. Staatliche Aktivitäten machen in Italien heute immer noch 20 Prozent der Gesamtwirtschaft aus.
Die 52. Regierung unter Ciampi entwickelte schon 1993 ein umfassendes Privatisierungsprogramm und tätigte erste große Verkäufe. Unter Ciampi wurden die nationalen Großbanken Credito Italiano und Banco Commerciale privatisiert. Trotz dieser Maßnahmen gehören der öffentlichen Hand heute immer noch zwei Drittel der Kredit-wirtschaft.
Kurz nach der Regierungsübernahme signalisierte das neue Kabinett seinen politischen Willen zu einer beschleunigten Privatisierung. Per Dekret wurde der Verkauf von 51 Prozent des Kapitals der nationalen Versicherungsholding INA, der zweitgrößten italienischen Versicherungsgruppe, erlaubt. Um die Kleinaktionäre, die zur politischen Basis der Forza ltalia gehören, zu stärken, können neue Aktionäre höchstens ein Prozent (bisher drei Prozent) der Aktien erwerben. Die neue Regierung will verhindern, daß sich starke Kapitalgruppen zusammenschließen und kleinere Aktienpakete aufkaufen. Der Aktienbesitz soll demokratisiert und nach amerikanischem Vorbild der Public Companies gebildet werden. b) Staatsverschuldung und öffentliche Unternehmen Unter den staatlichen Großunternehmen gibt es seit den achtziger Jahren viele ökonomische Verlierer. Die größte Staatsholding IRI baute bis 1993 einen Schuldenberg von rund SOMrd. DM auf. Die Schulden der IRI waren damit höher als der Umsatz. Die nationale italienische Chemiegesellschaft Enichem schreibt seit 1991 ebenfalls rote Zahlen. 1993 fuhr Enichem einen Jahresverlust von 2650 Mrd. Lire (etwa 2, 8 Mrd. DM) ein. Für 1993 werden die saldierten Verluste der staatlichen Konzerne auf etwa zehn bis zwölf Mrd. DM geschätzt.
Es gibt aber auch profitable Staatsunternehmen, etwa die staatliche Fernmeldegesellschaft Telecom oder die Ölgesellschaften des ENI-Konzerns. Der neue Schatzmeister Dini hofft, durch den Verkauf lukrativer staatlicher Beteiligungen an neue Aktionäre in absehbarer Zeit etwa 80 Mrd. DM in die Kassen zu bekommen Das würde den akkumu lierten Schuldenberg etwas abflachen und das Haushaltsdefizit senken, das nach Berechnungen vom April 1994 in diesem Jahr voraussichtlich um ein Zehntel auf 160 Mrd. DM ansteigen wird. c) Öffentliche Schulden und Haushaltspolitik Über Jahrzehnte erkauften sich die christdemokratisch geführten Regierungen Italiens den sozialen Konsens im Lande durch hohe Subventionen, überdimensionale Sozialausgaben sowie durch günstige Zinsen und Sparanlagen. Wegen dieser öffentlichen Ausgabenpolitik, die auch in der Wachstumsphase der achtziger Jahre nicht durch einen härteren Sparkurs abgelöst wurde, erhöhte sich Italiens Staatsschuldenberg bis in die jüngste Zeit hinein auf fast 120 Prozent des Sozialproduktes. Ende 1994 dürfte dieser Schuldenberg auf mehr als 2000 Mrd. DM gewachsen sein
Die renommierte amerikanische Agentur Standard & Poor’s, die internationale Kreditrisiken bewertet, stufte im Frühjahr 1993 die Bonität der Verbindlichkeiten des italienischen Staates herunter. Als einziges Land unter den sieben größten Industrienationen der Weit genießt Italien, das im Jahre etwa 25 Mrd. DM Zinsen ans Ausland zahlen muß, seitdem nicht mehr die höchste Kreditwürdigkeit. Wegen dieser immensen Staatsschulden ist es für die internationale Finanzwelt ein Prüfstein, ob es der Regierung Berlusconi gelingen wird, die Neuverschuldung in den Haushalten 1994 und 1995 zu senken und in einigen Jahren auch den Abbau des Schuldenbergs einzuleiten. Diese fiskalpolitische Großoperation steht der neuen Regierung noch bevor.
Die Chancen der Regierung, das Budgetdefizit für den Haushalt deutlich zu verringern, sind allerdings gesunken, seitdem durch ein Rentenurteil des Verfassungsgerichtshofs der staatlichen Rentenanstalt INPS voraussichtliche Mehrausgaben von etwa 17 Mrd. DM ins Haus stehen. d) FIA T: Privatwirtschaft in der Rezession Nicht nur staatliche Unternehmen, sondern auch die Privatwirtschaft hat mit einer Rezession zu kämpfen, die nach einhelliger Expertenmeinung erst 1995 überwunden sein wird. Nachdem die Regierung Ciampi im Haushaltsplan 1993 noch von einem Wachstum von 0, 4 Prozent ausging, schrumpfte die wirtschaftliche Gesamtleistung Italiens 1993 um 0, 7 Prozent. Für 1994 prognostizierte die Regierung Ciampi im April 1994 ein Wachstum von 1, 3 Prozent. Hauptmotor der Konjunktur ist nach diesen Schätzungen der Export. Die Inflationsrate (April: 4, 5 Prozent) soll bis Ende des Jahres 1994 auf 3, 5 Prozent zurückgehen
FIAT, ein strategischer Sektor der italienischen Industrie, hat wegen der ungünstigen nationalen und internationalen Konjunktur in der Fahrzeugbranche mit großen Absatzschwierigkeiten zu kämpfen. 1993 geriet der Konzern mit 1, 9 Mrd. DM Verlust nach Steuern zum ersten Mal seit über zehn Jahren in die roten Zahlen. Die Verschuldung FIATs ist inzwischen von 4, 7 Mrd. DM auf 5, 5 Mrd. DM gestiegen. Die Schuldenmasse, die 25 Prozent des Nettovermögens ausmacht, ist jedoch nicht beängstigend.
Die schlechte Konjunkturlage und sinkende Absätze vernichten weitere Arbeitsplätze. Von den 95000 FIAT-Arbeitsplätzen in Italien sollen in absehbarer Zeit 6300 abgebaut werden. Mit Investitionen in Höhe von neun Mrd. DM hofft der Konzern ab 1995 auf eine verstärkte Nachfrage im In-und Ausland und auf erhöhte Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten. e) Deregulierung des Arbeitsmarktes und Förderungjunger Unternehmer Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Schaffung von zwei Millionen Arbeitsplätzen waren zentrale Programmpunkte in Berlusconis Wahlkampf. Durch ein Dekret, das im Mai 1994 erlassen wurde, hob die Regierung das Vermittlungsmonopol der Arbeitsämter teilweise auf Unternehmen mit Belegschaften bis zu 15 Personen können ab sofort das Personal nach eigenem Bedarf aussuchen und einstellen. Es besteht nur noch die Pflicht, den Arbeitsämtern diese Vorgänge anzuzeigen. Vorschriften für Teilzeitarbeit und die Arbeitsvermittlung durch private Arbeitsbüros sollen erlassen werden.
Die neue Regierung stellte schon im Mai 1994 Mittel für die Schaffung eines Fonds für junge Unternehmensgründer in Süditalien bereit. Zwei Mrd. DM bereits genehmigte, aber noch nicht ausgezahlte Subventionen wurden für 13 500 Betriebe in Süditalien freigegeben. 3. Abbau oder Umbau des Sozialstaats?
Der Anteil der Renten an den Staatsausgaben liegt in Italien mit 21, 1 Prozent im EU-Vergleich ungewöhnlich hoch (Deutschland: 15 Prozent, Frankreich: 18 Prozent) Das italienische Renten-system benötigt 1994 einen staatlichen Defizitausgleich von etwa 50 Mrd. DM.
Seit 1987 weigerte sich die staatliche Sozialversicherungsanstalt INPS trotz zahlreicher Einzel-urteile zugunsten der Unterversicherten, die Mindestrenten auszuzahlen. Nach dem neuesten Urteil vom Juni 1994 steht der überlebenden Frau aber die Rente des Mannes gesetzlich zu. Vor allem soll Rentenversicherten, die nur geringe Beiträge gezahlt haben und eine Rente unter dem Sozialsatz beziehen, der Anspruch auf eine gesetzliche Mindestrente eingeräumt werden. Der staatlichen Rentenanstalt INPS stehen damit voraussichtlich Mehrausgaben von etwa 17 Mrd. DM ins Haus
Wie die neoliberale Regierung mit den sozialstaatlichen Herausforderungen umgehen wird, ist schwer einzuschätzen. Bisher will die Regierung nicht um jeden Preis die privatwirtschaftliche Initiative fördern, soziale Einschnitte in den Haushalt machen, die den sozialen Frieden gefährden könnten, und den Staat im politischen Eiltempo entschulden, ohne die langfristig negativen infrastrukturellen Folgewirkungen im Auge zu behalten. Zur Zeit spricht wenig dafür, daß Berlusconi, der Kontakt zu den landesstärksten Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL sowie den autonomen Gewerkschaften hält, durch eine schockartige Politik der Deregulierung die offene Konfrontation mit der Gesellschaft riskiert.
VI. Renationalisierung der Außenpolitik?
1. Kalter Krieg: Bündnistreue statt Außenpolitik Italien entwickelte jahrzehntelang nur wenige politische und diplomatische Aktivitäten auf der internationalen Bühne. Bedeutende Analytiker führen diese außenpolitische Passivität auf historische, strukturelle und geopolitische Faktoren zurück. Danach kann Italien als Mittelmacht, die sich schwertut, ihre nationalen Interessen klar zu definieren, als schwächste der großen europäischen Mächte nur eine ambivalente Rolle auf der internationalen Bühne spielen
Italienische Diplomaten und Politiker waren in den zentralen Institutionen der EG/EU, der WEU, der UNO, der KSZE und der NATO nicht sonderlich aktiv. Durch die Entscheidung für die EWG/EG/NATO und wegen der engen atlantischen Bindungen der über vier Jahrzehnte regierenden Christdemokratie blieb das Land im Windschatten der großen Bündnispartner, vor allem der USA, der Bundesrepublik und Frankreichs.
Dennoch wurden italienische Politiker in der Regel aktiv, wenn es um außen-und wirtschaftspolitische Entscheidungen ging, die zentrale Interessen des Landes unmittelbar berührten. So waren verstärkte Aktivitäten Italiens beispielsweise im GATT oder wegen gemeinsamer EG-/EU-Maßnahmen gegen japanische Autoimporte und im Verteilungskampf um Sondermittel des europäischen Regionalfonds zu beobachten.
2. 1994: Kontinuität und Neubeginn
Die Jahrzehnte der Außenpolitik eines niedrigen Profils und der selektiven Wahrnehmung nationaler Interessen im internationalen System dürften mit der Regierung Berlusconi beendet sein. Berlusconi hat in mehreren Erklärungen deutlich gemacht, daß Italiens Stimme im Konzert der großen Mächte künftig stärker zu hören sein wird Schon heute (Juni 1994) zeichnet sich eine aktivere Präsenz Italiens in den internationalen Organisationen ab.
Berlusconi unterstrich aber wiederholt die außen-politische Kontinuität. In seiner Regierungserklärung vor dem Senat betonte er am 16. Mai 1994 die Treue zur atlantischen Allianz, die Zusammenarbeit im Rahmen der EU, die Ablehnung des Krieges als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte sowie die Treue (fedeltä) zu den KSZE-Vereinbarungen über die Unveränderbarkeit (stabilitä) der Grenzen, die Verteidigung der Menschenrechte, die Selbstbestimmung der Völker und die Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder Berlusconi stellte in Aussicht, die neue Regierung werde „Protagonist“ in der EU sein, ihre Erweiterung unterstützen und die Handelsbeziehungen mit Freihandelsländern stärken.
3. UNO-, Friedens-und Interventionspolitik
Die jüngste Bereitschaft der Regierung Berlusconi, im Rahmen international abgestimmter UNO-Aktionen italienische Truppen nach Ruanda zu entsenden, steht in der Kontinuität einer Neuprofilierung der italienischen Außenpolitik seit 1990. Als das östliche Paktsystem und die Sowjetunion 1989/90 zusammenbrachen, stand die Außenpolitik Italiens -wie der übrigen EG-Länder -vor grundsätzlich neuen Problemen. Alte Feindbilder, die Konsens und Identität nach innen und außen stifteten, verloren ihre politische Integrationskraft. Unterhalb des alten globalen und regionalen Bipolarismus tauchten neue internationale Probleme und Konfigurationen auf.
Vor dem Ende des Kalten Krieges beteiligte sich Italien nur in wenigen Fällen mit relevantem militärischen Einsatz an UNO-Aktionen (1950 in Somalia, 1982 in Lybien). Das änderte sich in den letzten fünf Jahren. Seit 1990 waren die italienischen Streitkräfte mit insgesamt 11400 Soldaten an Interventionen in 14 Ländern beteiligt
Im Juni 1994 signalisierte die Regierung Berlusconi ihre weitgehende Bereitschaft, sich an UNOkonzertierten Aktionen in oder außerhalb Ruandas zu beteiligen. Italien lehnte es jedoch ab, Frankreichs Interventionswünschen, die von nationalem Prestigedenken und vom Kampf um die Wahrung französischer Einflußzonen beherrscht seien, vorbehaltlos zu folgen. Die italienische Regierung machte eine Mission in Zentralafrika von der UNO-Zustimmung sowie von der Bildung einer multinationalen Truppe, von einer vorherigen Einigung über das Kommando der Operationen sowie von einer Zustimmung der beiden Konfliktparteien, die rebellierenden Tutsi eingeschlossen, abhängig.
4. Die Zukunft Europas: eine deregulierte EU
Die nationale Dimensionierung der Außenpolitik wird durch den neuen Außenminister Antonio Martino unterstützt. Er hat seit seinem Amtsantritt beachtliche internationale Aktivitäten entwickelt und in kurzer Zeit die Außen-und Europapolitik seines Landes neu akzentuiert. Der renommierte Ökonomieprofessor Martino gilt wirt-schaftspolitisch als Anhänger von Margaret Thatcher. Gegen die weit verbreitete Meinung, er teile auch das antieuropäische Konzept der konservativen, EG-kritischen M. Thatcher, führt er ins Feld, Europa sei schon immer das Anliegen seiner Familie gewesen. Vater Gaetano habe die römischen Verträge mitgestaltet und der Sohn stehe also auch familiär in festen europäischen Traditionen
Sicher ist schon jetzt, daß Außenminister Martino im Unterschied zu seinen christdemokratischen Amtsvorgängern die europäische Wirtschaftspolitik stärker deregulieren und eine „dirigistische“ EU, die nach seinem Urteil von Jacques Delors inspiriert wurde, verhindern will.
Einer Erweiterung der EU nach Osten, wie die Bonner Regierung sie anstrebt, steht die neue italienische Regierung aufgeschlossen gegenüber -vermutlich mit dem europapolitischen Hintergedanken, daß eine Erweiterung der EU auf absehbare Zeit ihre Vertiefung ausschließt., Einem künftigen Souveränitätsverzicht Italiens zugunsten supranationaler EU-Strukturen wird Berlusconis Kabinett daher stärkeren politischen Widerstand entgegensetzen als alle vorherigen Regierungen.
Seit den Römischen Verträgen von 1957 unterstützten die DC-geführten Regierungen den Ausbau der EG-Institutionen meistens an vorderster Front. Rom war in diesen Jahrzehnten zu einem weitgehenden nationalen Souveränitätsverzicht bereit. Die starke EWG-/EG-Orientierung, die den Hoffnungen breiter Bevölkerungsanteile entsprach, dürfte seit März 1994 vergangenen Zeiten angehören. Neueste Umfragen zeigen, daß italienische Intellektuelle und Meinungsführer den politischen Einigungsbemühungen der EU heute skeptischer gegenüberstehen Viele italienische Politiker sind davon überzeugt, daß Europa auf der Achse Bundesrepublik -Frankreich basiert und daß diese beiden Länder die Entscheidungen der EU künftig hegemonisieren werden.
Auf dem EU-Gipfeltreffen in Korfu (Juni 1994) verdeutlichte Berlusconi, es gäbe einen französischen Weg nach Europa, der über eine stärkere innereuropäische Regulierung führe. Der italienische Ministerpräsident ließ keinen Zweifel daran, daß seine Regierung den anderen Weg eingeschlagen hat. Der EU wird nur bis zu einem gewissen Grad die Verteidigung, die Außenpolitik und die Wirtschaftspolitik überlassen. Im künftigen Europa soll aber auf allen Politikfeldern das Subsidiaritätsprinzip angewendet werden („un’ applicazione continua del principio di sussidiarietä“)
Berlusconi betonte auf dem EU-Gipfel in Korfu, Bundeskanzler Helmut Kohl habe erklärt, daß auch Deutschland gegen eine exzessive Regulierung der europäischen Politik sei („contro un eccesso di regolamentazione“). Auf dem gleichen Treffen der zwölf Staats-und Regierungschefs wies Berlusconi darauf hin, daß es eine neue anglo-italienische Übereinstimmung (convergenza) über Themen der Europäischen Union gibt. Im Spätsommer 1994 soll in Rom ein italienisch-britischer Gipfel stattfinden, an dem die Außen-, Verteidigungs-, Schatz-, Handels-und Industrieminister beteiligt sind.
Die neue Europapolitik der Regierung Berlusconi ist zur Zeit erst in ihren Grundzügen erkennbar. Nach den bisherigen Erklärungen ist aber davon auszugehen, daß sich Italien künftig auf einen mittleren EU-Kurs zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik begeben wird.