I.
„Alles muß sich ändern, damit alles so bleibt wie bisher“, sagte der skeptische Fürst von Sahna in dem berühmten Roman „Der Leopard“ von Tomasi di Lampedusa. Die Welle der Skandale hat vor zweieinhalb Jahren angefangen, und nach den Parlamentswahlen ist nun eine neue Regierung an der Macht. Große Umwälzungen in kurzer Zeit, doch schon treten die ersten Zweifel auf: Kann eine „Zweite Republik“ Italien das Glück einer stabilen Regierung bringen? Oder ist Italien nur dabei, seine „Erste Republik“ zu verschönern? Neue Leute sind am Ruder eines Schiffes, das weiterhin auf bewegter See fährt, wo Orkane die Normalität, Schiffbrüche aber eher unwahrscheinlich sind. Doch kann mit diesem Wagnis allein eine Erneuerung bewirkt werden? Völker werden von Emotionen bewegt, aber der von der Geschichte und von der Sozialstruktur geprägte Kern bleibt, vielleicht sogar unversehrt, bestehen.
II.
Gerade in diesen Erfolgen -und Mißerfolgen -steckt der Keim des Niederganges der achtziger Jahre, als die „hinkende Bipolarität“ sich zu einem Regierungssystem verfestigt hatte. Die normale dialektische Beziehung zwischen Regierung und Opposition wurde verwässert. Die Suche nach Einstimmigkeit war die Gegenleistung für die vernünftige Entwicklung der Kommunisten in Richtung der westlichen Demokratie. Der Konsens führte zum „consociativismo“, d. h., beteiligt wurde nun faktisch auch die Opposition an der Machtausübung, obwohl sie weder regieren konnte noch wollte. Die Regierungen hatten in jenen Jahren eine verhältnismäßig lange Lebenszeit: Craxis Regierung dauerte immerhin drei Jahre und bekam aus dem Ausland viel Lob, das, an den Ergebnissen gemessen, teilweise berechtigt war. Selbstgefälligkeit und Arroganz, Allmacht und fehlende Ideale bei den Parteien, Politikverdrossenheit der Bürger und die Selbstüberschätzung der Politiker hatten eine Atmosphäre geschaffen, in der den Mächtigen alles erlaubt schien und zuviel Geld in alle möglichen Richtungen floß. Korruption blühte in einer Art von allgemeiner Verschwörung allenthalben, und am Anfang schien sie sogar noch für die Gesamtheit günstig. Sowohl für den Bestechenden als auch für den Bestochenen waren die Subventionen durch öffentliche Aufträge von Vorteil und die Verzerrung des Wettbewerbes durch die Vermittlung der allmächtigen Politik sehr willkommen, besonders im Norden. Die Sozialisten saßen, vor allem in Mailand, mit den Christdemokraten fest im Sattel, die Opposition konnte keine echte Alternative bieten.
Das politische System Italiens ist oft und kompetent analysiert worden, wobei vor allem seine Besonderheiten als Beispiel oder als Mahnung beschrieben wurden Aus der Katharsis der wiedergewonnenen Freiheit der Jahre 1943-1945 entstand ein System (und eine Verfassung), das dem Kompromiß zwischen drei Komponenten der italienischen Gesellschaft Rechnung tragen mußte: der kommunistischen, der katholischen (mit der „Democrazia Cristiana“ an zentraler Stelle) und der liberal-laizistischen. Das wechselseitige Spiel unter diesen drei Kräften hat dazu geführt, daß* keine echte politische Alternative vorstellbar war, da eine der drei Strömungen -die kommunistische -als regierungsunfähig erklärt wurde. Die ideologische Konfrontation zwischen Ost und West hat sich jahrzehntelang auch auf die italienische Innenpolitik ausgewirkt, als dialektische Konfrontation, als eine Art „hinkender Bipolarität“, die Erfolge und Mißerfolge verursachte.
Am Ende der achtziger Jahre stellte sich dann heraus, daß dieses System nicht mehr imstande war, das zu leisten, was die vielen Interessenten von ihm erwarteten. Geld aus der Staatskasse war knapp geworden, und der Staatshaushalt konnte nicht mehr gebändigt oder gesteuert werden. Wie durch eine List der Geschichte kamen mehrere Faktoren von innen und von außen zusammen und brachten das gut geölte System ins Schleudern.
Der Fall der Mauer hatte die Funktion des Deus ex machina: Dieses unvorhergesehene Ereignis setzte eine Kettenreaktion in Gang, die allerdings schon sozusagen reif dafür war. Alle Angst war verflogen, und die Kommunisten waren nun keine Kommunisten mehr. Schnell waren die Parteienloyalitäten in der Funktion eines Schutzpatrons überflüssig geworden. Die Wirtschaft war nicht mehr bereit, für politische Rückversicherung zu zahlen. Die Verflechtung von Staat, Politik und Ökonomie hatte geleistet, was sie hatte leisten können.
Im reichen Norden entdeckten die tatkräftigen Bürger, daß es nicht ausreicht, zu arbeiten und Geld zu verdienen. Staatliche Gelder wurden -natürlich in Komplizenschaft mit den Politikern und „denen in Rom“ -in Süditalien verschwendet. Am Anfang der Entwicklung stand im Norden noch eher die Suche nach der Geborgenheit der lokalen und regionalen Heimat. Später wurde daraus die überzeugte Unterstützung einer neuen politischen Kraft. Die Lega Nord wurde gegründet. Ihre Slogans, aus denen durchaus Überlegenheitsgefühle sprachen, und ihre folkloristischen Kundgebungen verdeckten kaum ihre klaren Zielsetzungen: das Wählerpotential im Norden zu beherrschen, um regierungsfähig zu werden und eine „Gemeinschaft von Interessen“ zu bilden, eine Gemeinschaft der Wohlstand erzeugenden, kleinbürgerlichen Mittelschicht. Die empörte Ablehnung der Korruption, von der diese Schichten immerhin profitiert hatten, kommt etwas verspätet und vereinigt sich mit konkreten Problemen, deren Lösung an die Stelle von Idealen treten sollen: Kampf gegen den Zentralismus , (im nationalen, noch nicht im europäischen Sinne und ein konfuses Streben nach Föderalismus. Die traditionellen Parteien, die diese Interessengruppen früher vertraten, begriffen die Wende nicht rechtzeitig: Bisher hatte die Psychologie Norditaliens die politische Kultur Italiens im Grunde eher wenig beeinflußt, denn diese verstand die Animosität des Nordens nicht. Plötzlich aber ist das Nord-Süd-Gefälle, wie es vor hundert Jahren, politisch und nicht nur ökonomisch, existiert hatte, wieder da.
Ein neues Wahlsystem sollte das Wunder bewirken, die vorhandene politische Klasse abzuwählen, und Volksabstimmungen wurden -vorwiegend im Norden -als das einzige Mittel verstanden, um die Verkrustung der Politik und die Unschlüssigkeit des Parlaments aufzubrechen. Es bedurfte zweier Volksabstimmungen, die als Rebellion empfunden wurden, und zwei Jahre dauernder Verhandlungen, um das neue Wahlgesetz einzuführen: Mehrheitsprinzip mit einer Proporzregelung für ein Viertel der Sitze. Man wollte künstlich eine wechselnde Alternative bilden: zwei Gruppen bzw. zwei Pole, um am Ende nur einen Sieger zu haben, der die Stabilität gewährleisten sollte.
III.
Verbindendes Element zwischen den verschiedenen Faktoren der radikalen Umwandlung des politischen Systems war das Justizwesen. Im Februar 1992 wurden -vermutlich per Zufall -die ersten Fäden eines politischen Korruptionsknäuels entdeckt; das politische System brach wie ein Kartenhaus zusammen. Aber warum erst 1992? Die Frage bleibt bis jetzt ohne überzeugende Antwort: Kritiker behaupten, daß die Justiz angesichts der Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft Zurückhaltung geübt oder sogar mit den Machthabern geliebäugelt habe, obwohl linke Neigungen innerhalb der Justiz nicht verschwiegen werden können.
Nach 1992 aber machte sich die Justiz zum Sprachrohr für die Gefühle der Bürger, oft demagogisch durch eine kluge und zielbewußte Nutzung des Fernsehens. Daher die plötzliche Popularität der Richter, die noch 1987 Zielscheibe einer Volksabstimmung gewesen waren, mit der ihre als übertrieben empfundene Unabhängigkeit angefochten werden sollte. Die Richter haben nicht nur das Streben der Bürger nach Gerechtigkeit gefördert, sondern sind zum Symbol der Moralisierung und damit zu einer Art Ersatz der Politik geworden, dies jedoch durch umstrittene Maßnahmen oder öffentliche Erklärungen. Das Fernsehen hat dabei eine große und nicht immer positive Rolle gespielt. Eine „Kultur des Verdachtes“ breitete sich aus. Die Bürger finden in dem Vorgehen der Justiz den Beweis dafür, daß -auch wenn dies noch nicht durch Prozesse bestätigt ist -alle Politiker und fast alle Amtsträger sich schuldig gemacht haben: Es ist eine Atmosphäre angeblicher Gerechtigkeit statt Recht entstanden, in der sogar Rache statt korrekter Urteile gefordert wird: ein Plebiszit der Straße zur Unterstützung der Richter; aber die Straße verdreht die Grundbegriffe der liberalen Justiz: Man verleumdet den, der zu sagen wagt, daß es gerechter wäre, einen Verbrecher auf freiem Fuß zu lassen, als einen Unschuldigen ins Gefängnis zu werfen. Die Bürger vergessen das Postulat, nach dem ein Angeklagter bis zur Verkündung des Urteils unschuldig ist. „Für die Korrupten ist die Barbarei der Untersuchungshaft gerechtfertigt“, sagt man ohne Scham, und die Justiz hat keine Bedenken, Untersuchungshaft als Ersatz für oder „Vorschuß“ auf die vermutete Strafe zu benutzen, weil die Verfahren selbst oft langwierig sind. Lange Monate im Gefängnis gelten als Mittel, um Aussagen zu erzwingen, während die Wahrheit doch nur durch Prozesse und ordentliche Urteile gefunden werden darf: Viele sprechen von einer neuen Art der Folter Diese „Kultur des Verdachtes“ entspricht einer Art von Schadenfreude oder sogar Lynch-Gedanken: Es ist so befriedigend, die hohen und früher mächtigen, arroganten und natürlich hofierten Politiker im Gefängnis zu sehen bzw. sie auf dem Bildschirm bis zum Tor des Gefängnisses zu begleiten!
Die uneingeschränkte Freude an diesen Säuberungen ist jetzt vielleicht vorbei, aber Mitte Juli reichte noch ein Dekret der Regierung, dessen Ziel die Einschränkung der Willkür der Untersuchungshaft war, aus, um die Richter zu wütenden Erklärungen zu veranlassen, die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen, die Trennung unter den Staatsgewalten zu gefährden und schließlich Parteien und Bürger auf der Straße in einen demagogischen Kampf zu ziehen Ist eine „Partei der Richter“ Teil der Politik geworden? Aber wer legitimiert eine solche nicht durch das Volk gewählte Partei
IV.
Die Wahlen der letzten Monate (die Kommunalwahlen im November/Dezember mit ihrem Erfolg für die Linke, die Parlamentswahlen am 27. /28. März und die Europawahlen am 12. Juni) haben die Stimmung wiedergegeben: den Willen der Wähler zur Mitgestaltung und -bestimmung, nicht mehr im Rahmen der Parteien, sondern durch die Nutzung des Wahlsystems zu einer vielschichtigen Rebellion gegen die Parteien, die die Politik besetzt hatten wie ein fremdes Heer. Wie sollen solche deutlichen Wahlergebnisse interpretiert werden? Das Italien der Mitte ist nach rechts gerückt, aber wie weit? Wer hat denn nach dem Zerfall des alten Parteiensystems gewonnen? Die Antwort war am Tag danach einfach: Die Linke hat verloren, und eine neue Mitte ist entstanden.
Im Dezember 1993, nach den Ergebnissen der direkten Wahlen der Oberbürgermeister der wichtigsten Städte, hatte die Linke kein Hehl aus ihrer Entschlossenheit gemacht, endlich an die Macht zu gelangen. „Ich lasse alle Wahlen gewinnen“ -habe der Generalsekretär des Partito Democratico della Sinistra (PDS), Occhetto, einem Zeitungsbericht zufolge geschmunzelt -„und dann fahre ich in die Karibik in Urlaub.“ Warum sollte eine solche Vorstellung unrealistisch sein? Die Programme der Linken waren schwach, aber vernünftig, und die Kommunisten können sich einer langen Tradition der guten Verwaltung rühmen. Seit langer Zeit hatten sie eine kluge und wohldurchdachte Politik verfolgt, um alle Bereiche der Kultur und der Information zu beeinflussen. Die großen Zeitungen sprachen sich für ihren Sieg aus, und das staatliche Fernsehen, das seit jeher unter den Parteien aufgeteilt war, hatte keine Schwierigkeit, sich auf die Seite des wahrscheinlichen Siegers zu stellen. Die Gegner waren wie gelähmt; ihr Antikommunismus war angesichts der nicht mehr existenten Furcht vor dem Kommunismus chancenlos. Zudem war die Democrazia Cristiana (DC) in Ermittlungen verwickelt; dies galt in noch stärkerem Maße für die Sozialisten, die völlig aus der Politik ausgeschieden waren. Die Lega war mächtig, aber zwangsläufig nur im Norden. Allerdings war eine Sezession natürlich nicht möglich, weswegen die Lega fast schon am Rande der Entmutigung war. Nichts konnte sich also offenbar der „freudigen Kriegsmaschine“ -wie Occhetto den Wahlkampf definierte -in den Weg stellen. Viele sahen die Würfel schon gefallen, und man begann bereits, in der neuen Struktur Schutz und Nische zu suchen.
Plötzlich tauchte etwas ganz Neues auf. Ein erfolgreicher Unternehmer, dessen Verbindungen mit den entmachteten Herren -und besonders mit Craxi -kein Geheimnis war und der sich vermutlich seit Monaten vorbereitet hatte, zog die Konsequenz aus dem neuen Mehrheitswahlsystem: Gegen die Linke mußte absolut unausweichlich ein neues Bündnis der Gegner ins Leben gerufen werden, während die noch vorhandenen alten Parteien mit verstaubten Denkspielen Zeit verloren. Dank seines organisatorischen Geschicks und dank auch -aber nur auch -des Besitzes von drei großen Fernsehsendern verbreitete er ein neues Bild der Politik: ein Bild der Zuversicht. Er, der Unternehmer, hatte Erfolg in der Wirtschaft; warum also sollte er diese Erfolgsfähigkeit nicht ebenso auf Italien anwenden? Es gelang ihm, eine Identifizierung des Bürgers mit sich selbst zu erzielen, und zwar über die Fernsehbilder, wie sie von „Telenovela“ oder den Soapoperas vermittelt werden („Dallas“, „Beautiful“, „Dynasty“). Das Versprechen eines neuen Wunders klang glaubwürdig. Das Versprechen, eine Million neuer Arbeitsplätze zu schaffen, führte zu einem Klima der Hoffnung. Der Schwung der 13 000 in wenigen Tagen entstandenen Clubs „Forza Italia“ bezeugt, daß Bürger bereit sind, sich freiwillig und kraftvoll zu mobilisieren. Demagogie? Vielleicht. Oberflächlichkeit? Auch. Aber sicher handelt es sich hier um die einzige neue Erscheinung in der politischen Landschaft, der es gelingt, Kräfte zu bündeln, die sich bis vor kurzem fremd und feindlich gegenübergestanden haben. Gibt es ein Programm? Nein, eher einige Grundideen, die mit einem Wandel innerhalb der Gesellschaft zusammenfielen. Diese Gleichzeitigkeit hat Berlusconi aufgefangen und politisch genutzt. Die Politik-und Parteienverdrossenheit der Wählerschaft war nur der äußere Aspekt, nicht der Inhalt des Wandels.
Nach dem Wirtschaftserfolg der achtziger Jahre (an dem auch die Korruption ihren Anteil hatte) und angesichts der Krise des westlichen Systems nach dem Zerfall der sozialistischen Alternative (Arbeitslosigkeit als besorgniserregendes Symbol) war die Gesellschaft dabei, die neuen Herausforderungen zu erforschen. Sie hatte unterschwellig begriffen, daß eine neue Struktur erforderlich war, wenn sie die Ziele des Wohlstandes aufrechterhalten wollte. Für die Italiener kippt die alte Beziehung zum eigenen Staat. Sie spüren -und es gibt zahlreiche Anzeichen dafür -, daß ihre traditionelle Haltung gegenüber dem Staat -ihn gleichzeitig als Feind und als Kuh, die man melken kann, zu betrachten -nicht mehr möglich ist. Der auf Lebenszeit gesicherte Arbeitsplatz bleibt ein Ziel, aber gleichzeitig beginnt man sich mit der Möglichkeit anzufreunden, sich auf sich selbst zu verlassen, wenn der Staat nur endlich bereit ist, seine erstikkenden Vorschriften und bürokratischen Hemmnisse zu reduzieren. Man ist bereit, von der Flexibilität der Arbeit zu reden: bis dahin ein Tabu. Die Distanzierung vom Staat wird spürbar -und steht für eine Ursache des Erfolges der Lega Nord; der Wind weht in die Richtung der Selbstverwaltung der Gesellschaft. Die Zentralregierung soll eine geringere Rolle spielen, der Wunsch nach Regionalisierung oder Kommunalisierung offenbart die Neigung zur Geborgenheit im Kleinen. Früher hatten Regierungen und Parteien die Entscheidungsmacht, und Wirtschaft und Korruption hatten mit ihnen zu einer gegenseitig vorteilhaften Komplizenschaft gefunden. Wenn jedoch der Einfluß des Staates -aber dann auch Europas als maßgebender Integrationsfaktor? -eingeschränkt wird, müßten dann nicht der „consociativismo“, nämlich die verständnisvolle Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition, und die Auffassung des alten christlich-demokratischen Zentrums von der Aufteilung der Klassen zugrunde gehen?
Die Linke hat diese sich andeutende Wende nicht begriffen und deshalb politisch verloren, obwohl sie immer noch ein Drittel der Wählerschaft beherrscht. Mit ihren ausgewogenen, aber veralteten Programmen konnte sie weder Hoffnung noch Optimismus erzeugen; statt dessen hat sie meist die Schwierigkeiten der Lage beschrieben und das Lob der Regierung Ciampi gesungen -einer Regierung, die bei den meisten Italienern übrigens nicht in hohem Ansehen stand. Zudem ist es der Linken nicht gelungen, sich von dem immanenten Widerspruch zwischen privater Initiative und Kontrollfunktion des Staates zu lösen. Kein Zufall, daß die PDS die übriggebliebenen Kommunisten (Rifondazione Communista, immerhin 6-8 Prozent der Wähler) mitgeschleppt hat, um nicht ihr Profil als Partei der Arbeiterklasse zu gefährden und um die linke Alternative weiter zu festigen. Die alte KPI hatte ihre eigene Funktion und Glaubwürdigkeit erworben, während die neue PDS den Sprung in die Sozialdemokratie noch nicht mit Klarheit gewagt hat. Der noch laufende Versuch, eine Partei der linken Mitte zu werden, ist etwas ins Stocken geraten.
Wie soll es mit der Identität der PDS und der Linken weitergehen, um sie endlich von dem Image zu befreien, niemals die Regierung bilden zu können? Die Ideologie der Linken reiche nicht aus, mahnen viele aus den Reihen der Linken selbst, weil sie kein klares Ziel verfolge. Die Fragen und Zweifel sind nicht unbegründet, weil die Bedeutung der Wahlniederlage über die zahlenmäßigen Ergebnisse hinausgeht. Die PDS hat weiterhin eine gewichtige Gefolgschaft und bleibt eine starke Vertretung im Parlament: die größte organisierte Partei überhaupt in Italien. Aber zum ersten Mal seit dreißig Jahren hat sich die Linke nach den Wahlen in einer echten Opposition gefunden: Bisher hatte sie -wenn auch unterschwellig -mitregiert und wichtige Positionen innerhalb der dominierenden Gruppierungen besetzt. Das ist jetztnicht mehr der Fall, weil die Sieger alles wollen: Es ist die harte Logik eines Mehrheitssystems, dem sich die Linke nicht anpassen will.
Der Aufruf zum „Antifaschismus“ ist -wie auch andernorts -Ausdruck von Ratlosigkeit und von Ideenmangel, wie jetzt viele Linke selbst beklagen: Der Rücktritt von Occhetto bezeugt es. Solch ein Aufruf verfehlt seine politische Wirkung, denn wie kann man die Wähler überzeugen, daß die Demokratie gut ist, wenn die Linke gewinnt, und schlecht ist, wenn sie durch die Schuld der Wähler nicht gewinnt Doch einige Fehler der Regierung Berlusconi und die populistische Seele der Lega Nord sowie die Manöver der Popolari (der ehemaligen Christdemokraten) eröffnen der PDS neue Wege, und sie denkt daran, die alten Mechanismen wiederzubeleben. Sie glaubt bereits, daß der „consociativismo“ noch nicht tot sei und man neue Koalitionen ins Leben rufen könne.
V.
Die siegreiche Gruppierung setzt sich aus drei Kräften zusammen, die -aus bestimmten Gründen -eine sehr streitsüchtige Koalition bilden. Und die Stimmung um diese Koalition hat ein besonderes Gewicht: Selten hat die Psychologie eine solche politische Wirkung ausgeübt. Berlusconi ist es gelungen, drei inhomogene Gruppen zusammenzubringen und viele Splitter von anderen Parteien aufzufangen. Es handelt sich dabei nicht um eine politische Integration, sondern um eine machtorientierte, pragmatische parlamentarische Einheit mit vielen Widersprüchen und vielen Keimen der Instabilität. Bis heute geht es nicht um eine politische Synthese, sondern lediglich um eine Bündelung von Kräften, die zumindest in der ersten Phase wichtig war. Doch Wahlen zu gewinnen ist eine Sache, aber die harte Realität des Regie-rens muß mehreren Faktoren Rechnung tragen: eine schwierige Aufgabe.
Ein erster Punkt betrifft die Rolle des Fernsehens, wo Ministerpräsident Berlusconi Produzent und nun sein eigener (politischer) Darsteller ist. Berlusconi hat den Wahlkampf wie eine Werbeaktion für ein neues Produkt geführt, was viele ihm, nicht ohne einen Hauch von intellektuellem Hochmut, vorwerfen. Tatsache ist, daß Berlusconi seinen Kampf wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt hat, und das hat den Italienern gut gefallen, die der üblichen Worte der Politiker müde und mißtrauisch geworden waren. Und sie waren auch nicht glücklich mit dem „consociativismo“, der das staatliche Fernsehen beherrscht und dem Informationswesen eine starke linksorientierte Prägung gegeben hatte. Deswegen hat in Italien die Debatte um das private Fernsehen andere Züge als in anderen Ländern. Es handelt sich nicht nur um ein Problem wirtschaftlicher Macht, sondern eher um die Festigung des Pluralismus der Ideen und der Information. Dasselbe gilt für die Diskussion um die Trennung Berlusconis von seinem Wirtschaftsimperium. Die Debatte war etwas künstlich und zeugt hauptsächlich von einer Wende in der politischen Führung -von professionellen Politikern zu Politikern, die aus der Wirtschaft kommen; für Italien etwas Neues.
Forza Italia und Berlusconi stehen eigentlich vor anderen Problemen: Unabhängig vom Erfolg ihrer Tätigkeit in der Regierung stellt sich die Frage: Was soll und was kann aus einer solch eigenartigen Bewegung wie Forza Italia werden, die. eine Gruppe von ehemaligen Christdemokraten mit einschließt? Es kann interessant sein, Italien wie ein Unternehmen zu führen, und vielen Italienern würde dies als positiver Ansatz zu einer breiteren Privatisierung des politischen Lebens wohl gefallen. Aber kann der Erfolg ohne eine unterstützende Partei lange andauern? Was wird also aus der Forza Italia werden? Eine normale Partei? Aber mit welchem Gesamtkonzept und welchem Grundsatzprogramm? Wird sie eine Partei des Präsidenten? Aber das wäre für die Italiener nicht nachvollziehbar, weil die pluralistische Demokratie letztlich tiefe Wurzeln im Lande hat.
Bis heute sind keine Anzeichen autoritärer Tendenzen erkennbar, obwohl Berlusconi sich vor allem auf sein Charisma berufen möchte, da er in seiner Person die Zukunft verkörpern will. Geht es also nur um einen Pragmatismus der persönlichen Entscheidungskraft und Entschlossenheit oder um eine Personifizierung der Politik insgesamt oder sogar um die Anmaßung, eine Mission zu erfüllen oder einer Berufung zu folgen, um das Land zu „retten“ und zu „erneuern“?
Berlusconi führt eine Koalition -keine Neuigkeit in Italien -, und von diesem Blickwinkel aus gesehen ist die Wahlrechtsreform schon fast als gescheitert anzusehen Die Parteien sind wieder da, sie suchen Vereinbarungen hinter dem Rücken der Wähler, keine von ihnen hat die alte Gewohnheit des „trasformismo“ aufgegeben. Und schon den-ken sie an die Möglichkeit neuer Regierungen mit den bekannten politischen Spielereien. Berlusconi selbst scheint sich sicher zu sein, diese Entwicklung verhindern zu können.
VI.
Die Solidität des Bündnisses, das die Wahlen dank des einigenden Elements Berlusconi gewonnen hat, liegt in den Händen der beiden mit ihm verbündeten Parteien.
Zunächst die Alleanza Nazionale, die sich stolz als „Rechte“ bezeichnet und die besonders im Ausland als „neofaschistisch“ verfemt wird. Eine Ambivalenz tritt hier zutage. Einerseits hat diese „Rechtspartei“ eine sehr offene Haltung in der Frage der sozialen Dimension der Gesellschaft: Die soziale Komponente des Faschismus und der faschistischen Republik im Norden von 1943-45 ist keine vergessene Lektion. Andererseits ist die Alleanza Nazionale kaum identisch mit dem Movimento Sociale Italiano (MSI), der noch existierenden Partei faschistischer Prägung. Dieser geschickte Kurs ist das Werk von Gianfranco Fini, eines sehr begabten Politikers, wie alle, Freunde und Feinde, anerkennen. Sicher stellt sie keine Gefahr für die Demokratie und keine Wiederbelebung der Vergangenheit dar. Sind aber alle Mitglieder „Postfaschisten“? Die Interpretationen sind unterschiedlich: Für die Gegner sind sie in der Vergangenheit verhaftet; Fini vertritt dagegen die Auffassung, daß sie nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, weil Italien in einer anderen Gegenwart lebt. Seine Formel lautet: Die Vergangenheit nicht verleugnen, die Vergangenheit nicht wiederbeleben.
Das zweite Mitglied der Koalition hat andere Probleme, die die Stabilität der Regierung beeinträchtigen. Die Lega Nord ist vom Ergebnis der Wahlen enttäuscht, weil sie mit auf einen gefährlichen Italia Konkurrenten gestoßen ist. Beide sind marktwirtschaftlich orientierte und bürgerliche Bewegungen, und beide wollen nahezu dieselbe Wählerschaft ansprechen. Um wieder stärkeres Profil zu finden, hat sich die vorgenommen, Lega zumindest im Norden den Kampf für eine bedingungslose Moralisierung demagogisch fortzuführen und weiterhin die Abneigung der Kleinbürger gegen die Intellektuellen, gegen die Großindustrie, gegen den Zentralstaat und zuletzt sogar gegen die Regierung zu schüren, und dies alles in einem volkstümlichen und populistischen Geist. In dieser Optik stünden Forza Italia und Alleanza Nazionale auf dem rechten Flügel, und die Lega wäre der linke Flügel, als Hüterin der Erneuerung, obwohl das tägliche Verhalten der Lega unberechenbar ist und ihr Umgang mit der Politik zwischen Basisdemokratie und autoritärer Willkür der Parteioberen schwankt. Das ist keine gerade neue Linie, sondern eher die alte Methode der Parteipolitik, die nur durch die politische Vereinfachung der Basis in der Lombardei möglich ist. Trotzdem verwandelt sich diese eher primitive Demagogie in eine schlaue politische Kunst.
VII.
Das Rätsel und auch das langfristig entscheidende Element der italienischen Politik liegt in der katholischen Mitte.
Eine katholische Bewegung ist unverzichtbar und unvermeidlich in einem Lande, wo die Kraft und die Beteiligung der Katholiken immer ein Kontinuum in der Geschichte gewesen sind. Nicht nur als Ausdruck der sozialen Doktrinen der Kirche, sondern mehr noch als die Verkörperung einer Mentalität, aufgrund derer fast ein Drittel der Bevölkerung den engen Umgang mit der Religion als ein Element ihres täglichen Lebens empfindet. Können die Ideale der katholischen Welt untergehen?
Die Partei von Katholiken, nicht der Katholiken, wie De Gasperi die Democrazia Cristiana zu nennen pflegte, war es gewohnt, Regierungspartei zu sein. Jetzt stellt sich wegen des neuen Wahlsystems die Frage nach der Identität dieser Partei, die einen neuen Anlauf sucht *Es ist nicht einfach, ihre Tradition einzuordnen, weil sie sich zwischen der religiösen Loyalität und der Kritik an den konservativen Zügen der katholischen Hierarchie, zwischen Populismus und Konservatismus, zwischen der Ablehnung von allem, was mit dem Begriff der Rechtsbewegung verbunden ist, und der Konkurrenz zu den Sozialisten oder Kommunisten bewegt und um ihre Zukunft bangt. Die Unschlüssigkeit bleibt auch nach dem letzten Parteitag im Juli: Soll der Partito Popolare Italiano (PPI) mit der Forza Italia ins Gespräch kommen oder soll sie sich kritisch mit dem PDS verständigen? Wie allerdings kann sie sich überhaupt realistisch vorstellen, wieder selber eine Alternative zu schaffen?
VIII.
Die Italiener haben bisher mit strategischer Besonnenheit gewählt. Die gewünschte Alternative sollte neue Wege betreten und keine sterile Protestaktion sein. Sie haben einem neuen Mann, Berlusconi, die Gelegenheit geboten, seine Fähigkeiten zu beweisen, aber sie haben sich gesträubt, ihn übermächtig zu machen: kein Plebiszit für Berlusconi.
Welches sind die Fragen für die nächste Zukunft? In Stichworten: -Es gibt eine allgemeine, aber verhaltene Erwartung auf einen Wiederaufschwung der Wirtschaft und generell der Gesellschaft: Sie richtet sich auf Steuerpolitik, Arbeitsmarkt, öffentliche Verwaltung, Gesundheitswesen, Renten, Privatisierung. Werden die Versprechen eingelöst und die Hoffnungen verwirklicht? Die bisherigen Maßnahmen waren nicht immer gut durchdacht und nicht immer überzeugend. -Die Einführung föderalistischer Elemente wird keinen großen Dissens verursachen, und die Parolen der Sezession sind vergessen. -Die Unverbrauchtheit der Regierungsmitglieder ist vielversprechend, weckt jedoch auch Zweifel: Inwieweit sind die neuen Politiker in der Lage, einen Staat zu verwalten -Wie sollen sich die Parteien entwickeln? Heute erscheinen sie diskreditiert. Soll man sich Parteien als Wahlvereine, als politische Gruppie-rungen im Parlament oder als Parteien in der Gesellschaft vorstellen -Hat Italien tatsächlich eine Alternative aufgezeigt? Oder ist Italien wieder auf dem Wege zum alten Regime? Ist die Linke bereit, den Spielregeln der Alternative zu folgen, oder zieht sie ein Einvernehmen vor, das das alte Spiel der Parteien wiederbeleben kann? Koalitionen statt klarer Alternativen?
Kein Zweifel: Italien ist dabei, einen großen Versuch der Erneuerung der Politik zu unternehmen und zu durchleben. Italien als Modell Zeigt Italien neue Wege auf? Wiederbelebung der Unternehmenskraft, neue Überlegungen über die Arbeit, neue Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Individuen? Vielleicht ein neuer „Contrat Social“? Haben die Italiener tatsächlich neue Maßstäbe gesetzt und gezeigt, wie man in einer industrialisierten modernen Gesellschaft die heutigen Probleme der Beziehungen zwischen Politik und Bürgern angehen kann, um neue Wege zu erschließen, sogar durch die Anwendung der Medien?
Früher herrschte eine gewisse Stabilität der Politik durch die Möglichkeit zum Wechsel der Regierungen. Heute erfahren wir vielleicht die Dauerhaftigkeit der Regierung, aber eine Unberechenbarkeit der Politik. Die Zukunft ist nicht düster, sondern nur schwierig: Moralität, Skeptizismus, Individualismus, fehlender Fanatismus, Ausgewogenheit und Freundschaft und Treue gegenüber den Partnern bleiben stets Eigenschaften, die Italien schützen, auch wenn sie vielleicht nicht sehr geschätzt werden, wenn Heuchelei neue Maßstäbe setzen will.