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Die Republik der Friedlosigkeit Äußere und innere Belastungsfaktoren der Epoche von Weimar 1918-1933 | APuZ 32-33/1994 | bpb.de

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APuZ 32-33/1994 Die Weimarer Reichsverfassung Die Republik der Friedlosigkeit Äußere und innere Belastungsfaktoren der Epoche von Weimar 1918-1933 Die kommunistische Linke und die Weimarer Republik

Die Republik der Friedlosigkeit Äußere und innere Belastungsfaktoren der Epoche von Weimar 1918-1933

Manfred Funke

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bewertung der Weimarer Republik durch das vorgeschaltete Erfahrungsprisma „Drittes Reich“ trägt oft der Tatsache nicht angemessen Rechnung, daß jene Epoche für die Zeitgenossen immerwährende „Nachkriegszeit“ war, nicht aber eine unmittelbare Hinführung zur Hitler-Diktatur. Die Dauerpräsenz des Versailler Vertrags in der deutschen Innenpolitik, die Verewigung der Reparationen und die Militär-Besatzungen als Ausweis französischer Faustpfand-Politik überforderten die erste deutsche Demokratie. Die Bevormundung durch die Sieger und deren Kontrollpolitik verstärkten die offene und verdeckte Rebellion gegen die niederdrückende deutsche Wirklichkeit durch rechts-und linksradikale Republikfeinde. Die Widerstandskraft der Mitte erlahmte unter dem Druck der Wirtschaftsnöte und der geistig-politischen Orientierungslosigkeit. Eine Selbstpreisgabe der Demokratie bereitete sich vor, weil der Leidensdruck weder in praktischer Politik noch in realistischen Zukunftsentwürfen vermindert werden konnte. Dieser Tumult-Charakter der Epoche muß von der Zeitgeistforschung weiter erschlossen werden, wenn man den Ausstieg aus der Verantwortung für die erste deutsche Republik angemessen begreifbar machen will.

Wehe dem, der nur das Schattendasein der Gefühle sieht und ihre furchtbare Dynamik vergißt.

Hans von Hentig Gegenwart als Erfahrungs-Saldo rückt Vergangenheit oft unbedacht unter die Maßstäbe unseres heutigen Wissens. So wird auch unser Weimar-Bild durch die Erfahrung des Dritten Reiches geprägt. Die erste deutsche Republik gilt entsprechend als Vorstadium zur „Machtergreifung“. Wirtschaftskrise, Parteien-Egoismus, Reparationspolitik, der Druck von rechts und links, die Dialog-Verarmung der Tarifpartner, Straßenkämpfe der Parteienmilizen, die durch die Massenverzweiflung eingeschnürten Mittelparteien, Haß-und Hetzpropaganda gegen das Versailler Friedensdiktat sowie die Faszination der Gegenentwürfe vom autoritären Organstaat gelten als Gründe für die Selbstpreisgabe der Republik und ihre Auslieferung an Hitler.

So richtig ein solcher Deutungsverbund auch ist, so bleibt er doch zu vervollständigen um die zunächst banal anmutende, aber das Epochenverständnis vertiefende Tatsache, daß sich für die Deutschen in der Weimarer Republik selbst die eigene geistig-politische Ortsbestimmung anders gestaltete: eben nicht von 1933 her, sondern ausgehend von 1918/19.

Für die Zeitgenossen war die Republik nicht Vorspiel zu Hitler, sondern Nachkriegszeit, die nicht vergehen wollte. Zwar schwiegen die Kanonen, aber es gab keinen Frieden. Wühlende Ruhelosigkeit, revisionistische Aggressivität, geistige Bruch-zonen bewiesen, daß mit dem Versailler Vertrag die Kunst des Friedensschlusses verlorengegangen war, sich innere an äußerer Belagerung auflud, das Leiden sich nicht läuterte zur Annahme der Republik als geistig-politischer Verantwortungsraum einer Nation, der eine Sturzgeburt vom Obrigkeitsstaat in schimmernder Wehr hin zur brodelnden Moderne zugemutet wurde.

Die neue Freiheit suchte ihre Gestalt zwischen Reformen, Revolten und Revolution und machte nur eines als dauerhaft spürbar: die Ketten der Sieger. Völkerverständigung, Demokratie, kollektive Sicherheit und nationale Selbstbestimmung blieben überlagert von Mißtrauen, Sicherheitsneurosen, Drohgebärden, Erfolgszwängen. Der Versailler Vertrag und seine problematische Umsetzung machten den Ersten Weltkrieg allgegenwärtig, bestimmten ihn zum Handlungshorizont deutscher Politik und unmittelbarer Empfindung. Die Republik wurde auf einem Grund errichtet, in dem es wühlte und strudelte, sich tektonische Verwerfungen aufbauten, die nicht geordnet werden konnten und zu Faktoren des Scheitems der ersten Republik gerieten.

Als die Oberste Heeresleitung aufgrund der materiellen Überlegenheit der USA zum Waffenstillstand gezwungen war, hoffte man in Berlin auf einen Frieden gemäß den berühmten 14 Punkten der Friedensadresse des amerikanischen Präsidenten Wilson. Die Räumung der besetzten Gebiete, die Abtretung Elsaß-Lothringens, die Zulassung eines polnischen Staates wurden darin zwar verlangt, aber dies in Verbindung mit dem Angebot eines Rechtsfriedens und internationaler Partnerschaft. Deutschland betreffend, hieß es unter Punkt XIV: „Wir wünschen nicht, ihm Unrecht zu tun oder seinen rechtmäßigen Einfluß oder seine Macht zu blockieren... Wir wünschen von ihm lediglich, daß es den Platz der Gleichheit unter den Völkern der Welt einnehmen möge -der neuen Welt, in der wir leben -anstelle des Platzes der Vorherrschaft.“

Unmißverständlich hatte Wilson allerdings zu verstehen gegeben, daß zur Verhandlung nur die Vertreter des deutschen Volkes willkommen seien, nicht die „Militärpartei und die Männer, deren Glaube die imperiale Macht ist“ Am 23. Oktober 1918 war Wilson noch deutlicher geworden. In die-ser Note hieß es, daß Deutschland nicht verhandeln könne, sondern sich zu ergeben hätte, wenn man mit den deutschen Militärs und monarchisch gesinnten Aristokraten konferieren müsse. Die Reaktion in Deutschland steigerte sich zum Glauben, einen guten Frieden zu bekommen, wenn der Kaiser abdanken würde, was tatsächlich am 9. November (offiziell erst am 28. November) geschah.

An diesem Tag rief Philipp Scheidemann (SPD) ohne Absprache mit dem deswegen empörten Friedrich Ebert die Republik aus, der auf der Basis der Verfassung vom 28. Oktober eine um die Bürgerlichen erweiterte Koalitionsregierung unter Führung der SPD anstrebte. Am selben Tag verkündete aber auch der linksradikale Karl Lieb-knecht in Berlin „die freie sozialistische Republik“ als Ausgangspunkt einer proletarischen Revolution. Daß zur Niederschlagung des öffentlichen Aufruhrs Ebert mit General Groener paktierte, um mit Soldaten gegen die Aufständischen vergehen zu können, zerriß die ohnehin schon angespannte Solidarität von Sozialdemokraten, Sozialisten und Spartakisten. Auf der Rechten sorgten bald Ludendorff und Hindenburg für Zwietracht im Volk durch ihre Verbreitung der „Dolchstoß“ -These, wonach die „Heimatfront“ mangels Solidarität und Opfergeist mit Streiks und Friedens-forderungen die militärischen Kräfte in ihrem Rückraum ausgelaugt hätte. In Wirklichkeit war für den Kriegsausgang Amerika „die kriegsentscheidende Macht“, wie Ludendorff selber zuvor zugegeben hatte

Mit der Abdankung Wilhelms II., seiner Überwechslung ins Exil nach Holland und der Übernahme der Konkursmasse durch Ebert und andere Repräsentanten der Volksparteien glaubte man den Weg frei für einen Frieden im Geiste Wilsons. Was Deutschland, unfähig zur Wiederaufnahme des militärischen Kampfes, dann allerdings unterzeichnen mußte, veranlaßte Wilson selbst zu der Bemerkung: „If I were a German I think I should never sign it.“ Denn der Diktatfrieden „begrub alte, ungeheilte Konflikte unter der dünnen Decke neuer, spannungserzeugender Forderungen. Die Demokratie führte den Polizeistaat in die Weltpolitik ein.“ Frankreichs Recht auf Rache, Revanche, Wiedergutmachung und Sicherheit vor Deutschland vollzog sich in einem faktisch unbefristeten Kontrollanspruch gegenüber der Reichs-souveränität in territorialer, ökonomischer, währungspolitischer und völkerrechtlicher Hinsicht. Führende Politiker Frankreichs glaubten, sich am besten der Wählergunst versichern zu können, indem man Deutschland wie eine Kuh behandelte, die bei knappstem Futter beste Milch (Reparationen) liefern sollte.

Eine solche Politik wurde in Deutschland als verdeckte Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln empfunden, gesteigert durch die Schmach der Wehrlosigkeit gegenüber einem Sieger, der seinen Triumph über das Reich letztlich dem Kriegseintritt Amerikas zu verdanken hatte. Die Verbitterung fraß sich dabei um so tiefer ins deutsche Gemüt, als Amerika sich von Europa politisch zurückzog und infolgedessen auch in gewisser Weise ebenfalls England, so daß im deutsch-französischen Konfliktfeld Washington als erhoffter pro-deutscher Moderator gegenüber Paris weitestgehend ausfiel.

Der Versailler Vertrag zwang Deutschland die Abtretung von 70579 km 2 mit 6, 475 Mio. Einwohnern ebenso auf wie die Zerschneidung Ostpreußens durch den polnischen Korridor und die Internationalisierung seiner großen Ströme. Dem deutschen kulturimperialen Selbstverständnis versetzte es einen tiefen Stoß, daß entgegen vorvertraglicher Absprache die Kolonien des Reiches den „fortgeschrittenen Nationen“ als Mandatsgebiet zugeeignet wurden. Um die gewaltigen Sachlieferungen jederzeit erzwingen zu können, mußte als Bürgschaft die Besetzung der Rheinlande mit den Brükkenköpfen Köln, Koblenz, Mainz und Kehl hingenommen werden. Am tiefsten traf die Deutschen die Zuweisung der Alleinschuld am Krieg (die „Schmachparagraphen“ Art. 227-231), die Reduktion der deutschen Militärstärke auf 100000 Mann ohne schweres Gerät, die drastische Verkleinerung der Seestreitkräfte. Das Gros der Flotte mußte sich bei Scapa Flow internieren lassen, wo sie am 21. Juni 1919 von den Besatzungen selbst versenkt wurde.

Im Westen wurde das Reich mit einer erzwungenen Flankenöffnung zur Disposition Frankreichs gestellt. Denn weder auf der linken Seite des Rheins noch in einer 50 km breiten „neutralen Zone“ auf dem rechten Rheinufer durfte das Reich Militär stationieren und Festungen unterhalten. Trotz einer mehrheitlichen Volksabstimmung zugunsten Deutschlands in Oberschlesien wurden entgegen dem im Versailler Vertrag feierlich proklamierten Selbstbestimmungsrecht die Kreise Rybnik, Pleß, Kattowitz und Königshütte Polen zugesprochen.

Zutiefst beschämend empfand man auch Frankreichs Forderung nach Auslieferung von 900 Persönlichkeiten, d. h.der sogenannten deutschen „Kriegsverbrecher“ in Heeresleitung und Staats-führung einschließlich der Person des Kaisers. Holland verweigerte dies ebenso wie der in diesem Punkt geschlossene Widerstand des deutschen Volkes. Die Mehrheit empfand „Versailles“ als die Entmannung des Reiches. Das Friedensdiktat galt um so tiefer als unverdienter und damit unerträglicher Straffrieden, als nach allgemeiner Auffassung die Verantwortung für die Entfesselung des Krieges 1914 zumindest unter Berlin, Wien, Paris und St. Petersburg aufteilbar erschien. Mit dem Zerfall Österreich-Ungarns, so hatte der deutsche Reichskanzler im Sommer 1914 gefürchtet, würde „die slawische Welt einen Sieg von säkularer Bedeutung erzwingen“ und Deutschland nur als „östlichen Winken gefügiger Vasall überleben“. Daß andererseits England angesichts des deutschen Truppenvormarsches gegen Frankreich durch Belgien hindurch (Kanalküste in deutscher Hand!) stillhalten würde, war von vornherein Selbstbetrug. „Unsere Lage ist schrecklich“, endete deshalb die Analyse von Kurt Riezler -Vertrauter und Sekretär des Reichskanzlers Bethmann Hollweg -auch durchaus folgerichtig, und dennoch löste sich Berlin nicht aus dem Bann der „alle Welt beherrschenden Machtideen“, wurde das Reich zum Opfer und Täter einer Staatskunst, die nichts anderes mehr vermochte, „als die Verwirklichung ihrer Aspirationen von dem Glück der Waffen abhängig zu machen“ S. Von den innenpolitischen Herausforderungen des herandrängenden neuen Zeitalters und eines modernen demokratisch-konstitutionellen Staatsdenkens her leitete das alte System ein Notwehrrecht ebenso ab wie aus dem Syndrom antideutscher Einkreisung und geneideter Weltgeltung. Offensiv im Selbstultimatum defensiver Verzweiflung, prägte sich im Bewußtsein der meisten Deutschen der Krieg als Verteidigungskrieg ein, für dessen Ausbruch man in Versailles die Alleinschuld zugesprochen bekam. Als Karl Kautsky im Dezember 1919 mit seiner Schrift „Wie der Weltkrieg entstand“ Deutschland die Hauptschuld am Kriegsausbruch anlastete, wies dies der Historiker Martin Spahn als „blutschänderisch“ zurück. Innerste Zerrissenheit steigerte sich, bis das Nein zu Versailles die einzige Klammer zwischen dem deutschen Volk und seinem neuen Staat darstellte. Sie bildete sich aus der Ohnmacht, mit welcher man Frankreichs Protektion in den umstrittenen Abstimmungsgebieten Schlesiens zugunsten Polens beobachtete. Sie verstärkte sich aus der Auslieferung der deutschen Handelsflotte, obwohl das Reich 800000 Opfer der Hungerblockaden registrieren mußte. Sie resultierte aus von Frankreich geförderten und 1923 wiederholten Separationsbestrebungen in der Pfalz, in Mainz, Wiesbaden oder Birkenfeld. Sie erwuchs aus, der Drangsalierung der Bevölkerung im Saarland und in Ost-bayern durch französische Eingeborenentruppen. Mit Verweis auf das von Wilson formulierte Selbstbestimmungsrecht forderte die österreichische Nationalversammlung den Anschluß ans Reich (14. März 1919), ebenso der Landtag von Tirol (23. September 1919). Paris stellte sich taub.

Obwohl Prinz Max von Baden und sein Nachfolger im Amt des Reichskanzlers, Friedrich Ebert. mehrfach den amerikanischen Präsidenten und die Öffentlichkeit der USA bedrängten, Deutschlands Ehre und nationalen Stolz zu achten, blieb es bei dem aufgezwungenen „Gewaltfrieden“ (so Reichs-präsident und Reichsregierung am 8. Mai 1919). In ultimativer Form wurde seine Annahme verlangt, der Vorbehalt gegen die Zuweisung der Kriegs-schuld an Deutschland verworfen. Die oktroyierte Hinnahme des Friedensvertrags im Reichstag mit 237 zu 138, die Ratifikation durch die Nationalversammlung mit 208 zu 115 Stimmen zeigten bereits die innenpolitische Explosivkraft eines über Kriegsschuld und Demütigung zutiefst verbitterten Reiches. Das „Heerlos! Wehrlos! Ehrlos!“ wurde zur Klage-und Protest-Parole. Während die Republik im Kampf um eine parlamentarisch-demokratische Neuordnung stand, andererseits mit dem Ehrhardt-Kapp-Putsch, der Aufsässigkeit der Frei-korps (Lüttwitz), dem Aufstand in Plauen (Hölz), mit der Roten Ruhr-Armee und rechtsradikalen Selbstschutzverbänden fertig werden mußte, bewirkte das Fiebrige der öffentlichen Verhältnisse eine wachsende Verrohung und Verwahrlosung. In München tobte Hitler gegen das Judentum als die „Rassentuberkulose der Völker“. In Preußen sah sich Kultusminister Haenisch veranlaßt, das Tragen von Hakenkreuz-Abzeichen in den Schulen zu verbieten (8. November 1920).

II. Sieger-Kontrolle der deutschen Wirtschaft

Die Situation in den deutschen Ländern im Frühjahr 1921 bezeugte, daß der Ausnahmezustand zur Regel geworden war. Vor allem die Reparationspolitik der Sieger säte Zwietracht unter die Deutschen, spaltete ihre Führung in Verweigerer-und sogenannte Erfüllungspolitiker.

Ohne exakte Bestimmung des von Deutschland zu erbringenden Reparationsumfangs besetzten fran-zösische Truppen am 8. März 1921 wegen ausstehender Lieferungen Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort. Es war ein Vorgeschmack auf die zu erwartenden Sanktionen, wenn Deutschland die am 27. April in London von der Reparationskommission festgesetzte Schuldsumme von 132 Milliarden Goldmark nicht akzeptieren sollte. Entsprechend hatte die Reichsregierung innerhalb von nur vier Tagen zu wählen zwischen Annahme der Forderungen oder Besetzung des Ruhrgebiets. Obgleich das Fehlen jeglicher Alternative die Annahme gebot, entlud sich gegen die „Erfüller“ und die zumeist aus dem linken Lager kommenden Befürworter einer Verständigung mit dem Westen höhnische Wut. Die Entente schien ohne Gespür für die sich aufbauende Protestgewalt in Deutschland und trieb ihre Politik der Nadelstiche und Demütigung weiter. Zwanzig Monate nach Kriegsende mußte Deutschland sein Luftschiff LZ 120 an Italien und LZ 121 („Nordstern“, seit 1919 auf der Strecke Berlin-Stockholm verkehrend) an Frankreich ausliefem. Am 28. März 1922 mußte Deutschland den Hapag-Dampfer „Bismarck“, das damals mit 56551 BRT größte Schiff der Welt, an England übergeben. Trotz Hunger, Streik und Unruhen leistete das Reich vom Mai 1921 bis April 1922 Reparationen in Höhe von 1, 2 Milliarden Goldmark und für 555 Millionen Sachlieferungen. Ein Jahr darauf nahm Paris minimale Terminversäumnisse bei deutschen Leistungen zum Anlaß für die Besetzung des Ruhrgebietes, das industrielle Herz Deutschlands. Der passive Widerstand des Reiches mußte nach neun Monaten abgebrochen werden, da der Unterhalt von Millionen Menschen ohne produktive Arbeit nur mit Papiergeld bezahlt werden konnte, hinter dem bald kein Gegenwert mehr stand. Vielfacher Exportboykott der Siegermächte gegen Deutschland, die damit erschwerte strukturelle Umstellung von Kriegs-auf Friedenswirtschaft, die politischen Eruptionen als Ursache und Folge ökonomischer Instabilität und die wilde Betätigung der Notenpresse (von Januar bis Dezember 1921 hatte sich der Umlauf der Reichsbanknoten bereits um 66, 5 auf 104, 57 Milliarden vermehrt) führten dann zur Hyperinfla-'tion, welche die wirtschaftliche Basis breiter Schichten des Bürgertums vernichtete und die man -gleichsam als zweite Niederlage -ebenfalls dem neuen „System“, wie die Weimarer Republik von ihren Gegnern verächtlich genannt wurde, in Rechnung stellte. „Selbst der vierjährige Krieg hatte weniger auflösend auf die Moral und das gesamte Leben gewirkt, als dieser rasende Wirbel, der die Menschen täglich von neuem bodenlos machte.“

Die Währungssanierung mittels der Rentenmark und die Annahme des Dawes-Planes über die vorläufige Regelung der Reparationsfrage erbrachten ab 1924 eine ökonomische Scheinblüte, aber keine Befreiung von der Vormundschaft der Sieger. Zwar wurde die Reichsbank von der Reichsregierung unabhängig, aber zur Sicherung der Dawes-Anleihe und zur Beobachtung der deutschen Leistungsfähigkeit im Reparationsbereich wurde der Reichsbank ein ausländischer Notenkommissar sowie ein Generalrat beigegeben, der zur Hälfte aus Ausländern bestand. Sie behielten die Kontrolle darüber, daß die 40 Prozent Gold-und Devisen-deckung des Notenumlaufs nicht manipuliert wurden.

Gemäß dem Dawes-Plan sollte die Jahresleistung (Annuität) der Reparationen 1925 1 Mrd. Goldmark, 1926 1, 22 Mrd., 1927 1, 5 Mrd., 1928 1, 75 Mrd. und ab 1929 1, 5 Mrd. Goldmark betragen. Nicht zuletzt aufgrund hoher Importzölle der westlichen Länder konnten diese Reparationsleistungen nicht aus erzielten Außenhandelsüberschüssen, sondern mußten aus aufgenommenen Auslandskrediten mit hohen Zinssätzen, mit denen man das benötigte Geld anlockte, bezahlt werden. Der entsprechende Passivsaldo bei Handels-und Zahlungsbilanz stellte den kurzfristigen Wohlstand auf um so schwankenderen Boden, als durch die „politischen Löhne“ (Gustav Stolper) in Deutschland selbst ein Lohnkostenniveau erreicht wurde, das zu einem Schuldnerstaat ganz und gar nicht paßte

Was den Gegnern des Dawes-Plans in Deutschland Aufwind gab, war der Schwebezustand in der Frage der Reparationsdauer. Einerseits mußte bei flacher Konjunktur die Zahlung der Reparations-Annuitäten in Deutschland besonders schmerzen, die Klimavergiftung und die Agitation steigern. Andererseits stand zu befürchten, daß bei guter deutscher Ertragslage sich der Appetit der Sieger womöglich steigern und versteigern würde. Als dann im Juni 1929 -fast elf Jahre nach Kriegsende -mit dem Young-Plan eine deutsche jährliche Zahlung von durchschnittlich zwei Mrd. RM über 59 Jahre vereinbart wurde, konnte die rechtsradikale Agitation zwar ein Volksbegehren gegen den Young-Plan letztlich nicht durchbringen, aber es war nicht mehr verwunderlich, daß sich Hitlers Rebellen-Image im ganzen Reichsgebiet steigerte. Die Annahme des Young-Plans war der Preis für die endgültige Räumung des Rheinlands von den Truppen französischer Faustpfandpolitik Ende Juni 1930. Die Befreiung von diesem Joch hatte die radikale Rechte immer von der Reichsregierung gefordert. Als das Ziel erreicht war, wurde es von den Nazis als wertlos erklärt

Die Präsenz der Sieger auf deutschem Boden, die ökonomische Knebelung durch Reparationen und antideutsche Importsperren, die Bezahlung deutscher Schulden mit von den Gläubigern fortwährend geliehenem Geld führten zu einer inneren Frontbildung gegen die jeweilige deutsche Regierung. Aber mit dem pompösen „So nicht!“ verband sich kein realitätsfähiger Gegenvorschlag. Die Annahme des Versailler Friedensvertrags, die Dawes-Regelung, der Young-Plan, der Locarno-Vertrag wurden bekämpft, ohne wahrhaben zu wollen, daß nur unter Hinnahme dieser Auflagen Deutschland die Räumung der besetzten Zonen, den Rückzug der Interalliierten Militärkommission erreichen und damit Zeit und Spielraum zum Wiederaufstieg gewinnen konnte. Mit dem Locarno-Pakt, der Frankreich eine willkürliche kriegerische Intervention verbot (1925), mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926), vor dem das Reich alle Verfehlungen der Sieger weltweit zu Gehör bringen konnte, und mit dem deutsche Gutwilligkeit dokumentierenden Beitritt zum Kriegsächtungspakt (1928) bildete sich ein Aufbauklima „als Voraussetzung für die Wiedererstarkung Deutschlands“. Um den Würger vom Hals zu kriegen, so suchte Stresemann seine Kritiker im eigenen Lager zu beruhigen, müsse deutsche Politik zunächst darin bestehen, „zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen“

In solcher behutsamen Optimierung des Zeitfaktors zur Wiedergewinnung des internationalen Vertrauens sah die Rechte Feigheit und fortdauernde Abhängigkeit von „Versailles“. Stresemanns Eintreten für eine Überwindung der nationalistischen Interessengestaltung durch eine die Zoll-grenzen sprengende „Weltwirtschaft“ (am 6. August 129 in Den Haag) 9 blieb bei den Vertretern des deutschen Machtstaatsgedankens und des dumpfen Revisionismus erst recht unbegriffen. Dieser schien zur einzigen Fluchtchance zu werden, als sich mit der von New York herüber-schwappenden Weltwirtschaftskrise die Aversionen gegen den „Westen“ und „Amerikanismus“ steigerten. Gegen Börsianer, Krämergeist und Händlertum wurde -wie schon zu Beginn des Weltkriegs -der Held gesetzt, der nur sich und seinem eigenen Volk vertraut, vaterländische Pflichterfüllung anstelle privaten Gewinnstrebens opferbereit vorlebt.

III. Innenpolitische Belastungsfaktoren

Fühlten sich die französischen Kabinette bemüßigt, durch äußere Erfolge gegen Deutschland ihre innenpolitischen Positionen zu sichern, so verstärkten sich damit zugleich in Deutschland die antiwestlichen Affekte. Man sah sich gefesselt durch einen äußeren Gegner, dessen Parlamentarismus und häufige Regierungskrisen ebenso Grund zur Verächtlichmachung gaben wie seine Riesenschulden bei den Amerikanern, einem Volk ohne „Tiefe“, das seine Spekulanten-und Broadway-Kultur nach Europa transferiere und aus Berlin die Weltmetropole des individualistischen Lebensgenusses, den Explosionsherd neuer Kunst, neuer Ideen, neuen Theaters mache. Die bis 1918 führenden Gesellschaftsschichten samt ihrer Etikette wurden zu umschwärmten Ruinen einer besonderen Klientel. Ein neuer Geld-und Kultur-Adel festigte bei den Vertretern der Welt von gestern die nationalistischen Ressentiments. Sie richteten sich indessen nicht allein gegen Paris und New York, sondern ebenso, ja mit größter Vehemenz, gegen Moskau als Sinnzentrum der proletarischen Weltrevolution.

Als im Dezember 1918 Finanzaktionen zwischen dem russischen Diplomaten Adolf Abramowitsch Joffe und der USPD (Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) ans Licht kamen, Joffe daraufhin wegen bolschewistischer Umtriebe ausgewiesen wurde, verfestigte sich im Meinungsklima die Auffassung, mit russischem Geld solle der „rote Oktober“ in Deutschland wiederholt werden. Als am 20. Dezember von 85 Delegierten der Spartakus-Bünde unter Führung Karl Lieb-knechts, Rosa Luxemburgs und Wilhelm Piecks die Kommunistische Arbeiterpartei gegründet wurde, war eine sowjetische Delegation mit Karl Radek an der Spitze anwesend. Am 17. Januar 1919 protestierte die deutsche Regierung gegen die Unterstützung der Spartakisten aus Moskau. Ende November des Jahres trat die USPD (750000 Mitglieder) der Dritten Internationale (Moskau) bei.

Während die Schwächung der Republik durch Aufruhr, Streik, politischen Bandenkrieg und Hunger (im Juni 1920 wurden im Regierungsbezirk Düsseldorf 2, 5 Pfund Brot pro Kopf wöchentlich verteilt) die extreme Rechte nach der durchgreifenden Ordnungsdiktatur rufen ließ, sah die extreme Linke die Chance zum revolutionären Durchbruch. Die Verachtung von Kompromissen vervielfältigte die Tendenzen zur Polarisierung. Entsprechend stiegen bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 die Gewinne der Rechts-und Linksparteien an. Die DVP (Deutsche Volkspartei) erreichte Prozent (1919: 4, 4 Prozent), die DNVP (Deutschnationale Volkspartei). 15, 1 Prozent (1919: 7, 6 Prozent), die USPD 18 Prozent (1919: 3 Prozent) und die neue KPD 2 Prozent. Die SPD rutschte von 37 Prozent (1919) auf 21, 6 Prozent. In der Mitte sackte das Zentrum von 18, 8 Prozent (1919) auf 6 Prozent. Die DDP (Deutsche Demokratische Partei) erhielt 8, 4 Prozent (1919: 18, 1 Prozent).

Schon jetzt wurde die Auszehrung der politischen Mitte sichtbar. Fast gleichstark mit der SPD, die damals durchaus neben Reform-auch Klassenkampfpartei war, profilierte sich die USPD/KPD als ein sozialistisches Potential zur Machtübernahme, das wiederum den Fanatismus der Rechten befeuerte. Im Oktober 1923 wollte die KPD von Sachsen aus losschlagen, doch die SPD verweigerte ihre Unterstützung. Angesichts der Truppen unter General Müller waren zudem die Massen nicht mobilisierbar. Der Plan einer proletarischen Erhebung mußte fürs erste aufgegeben werden. Hitler, seit 25. September Führer des Deutschen Kampfbundes, putschte am 9. November 1923 in München, scheiterte aber im Grunde an der Uneinigkeit seiner rechtsbürgerlichen Komplizen (von Kahr, von Lossow und von Seißer) sowie letztlich an der Undurchsichtigkeit von Seeckts („die Sphinx“), der ein „Direktoriums“ -Kabinett der Rechten von Ebert forderte, zumindest die Entlassung Stresemanns, aber dann auf die Kraftprobe mit Ebert und Reichwehrminister Geßler verzichtete 10.

Aus Angst vor ihren eigenen Anhängern trat die SPD aus der Koalitionsregierung aus, in welcher ihr für die Bestrebungen von rechts zuviel Wohl-wollen herrschte. Dies bedeutete für die SPD als größte Fraktion im Reichstag allerdings die eigene Verabschiedung von der Regierungsmacht für fünf Jahre -ein folgenschwerer Chancenverlust für die Stabilisierung der Republik. Denn in dieser Zeit setzte die Agitation von rechts und links gegen die Republik nicht aus. „Geht man so den Reichstag von der äußersten Rechten bis zur äußersten Lin-ken durch, so gewahrt man, wie wenig zuverlässige und durch keinerlei »nationale 6 oder »revolutionäre 6 Phraseologie zu verwirrende Kämpfer noch die Völkerverständigung hat.“ Hitler hetzte gegen Stresemanns „wahnsinnige Franzosenpolitik“, die Deutschlands Machtlosigkeit nur verewige, und die KPD forderte: „Schart Euch um die Fahne der Revolution! Kämpft gegen den Glauben an die bürgerliche Demokratie, ihre Parlamente und Ausbeuterregierungen!

In der Zwischenphase der scheinbaren Prosperität drangen die Angriffe von rechts und links gegen die Republik freilich nicht so peinigend in das Bewußtsein 13. Erst unter dem Wirbel der Wirtschaftskrise steigerten sich KPD und NSDAP zu den stärksten Zentrifugalkräften. Die SPD behauptete ihre Stellung als numerisch größte Partei bis zur Reichstagswahl 1930, aber bereits ohne Kraft zur Gravitation und zu politischer Strukturierung. Bekämpft von der KPD als „sozialfaschistischer“ Todfeind, geriet die SPD in die Isolation, als die übrigen Mittelparteien zunehmend von rechts aufgesaugt wurden und unter ihnen eine trotzhafte Manie zur politischen Besitzstandswahrung die Kompromißverachtung zum „selbstmörderischen Treiben“ (so der preußische Ministerpräsident Otto Braun) geraten ließ 14.

IV. Die Auszehrung der Staatsverantwortung

Die Wende zu den Präsidialkabinetten Brüning, von Schleicher und von Papen charakterisierte die „goldenen Zwanziger“ (1924-1928) letztlich als Übergangsphase, in welcher ein aktiver, geistiger, streitbarer Demokratieschutz ebensowenig gelang wie die Verfassungssicherung mit den Mitteln des Rechts. Von 1919 bis 1923 gab es nach der Untersuchung Emil Gumbels 354 politische Morde von rechts, 22 von links. Die tödlichen Anschläge auf Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Matthias Erzberger, Karl Gareis, das Blausäure-Attentat auf Scheidemann und dann der Mord an Walther Rathenau (24. Juni 1922) erzwangen unter dem Druck des öffentlichen Aufruhrs ein „Gesetz zum Schutz der Republik“.

Ein Staatsgerichtshof wurde eingerichtet, bei dem der Oberreichsanwalt als Ankläger jedoch nur tätig werden konnte, wenn eine Landesregierung oder der Verletzte eine Einleitung oder eine Übernahme des Verfahrens beantragten. Bei den Antragsberechtigten handelte es sich nur um Personen, die Staatsautorität verkörperten. Da die Betroffenen vor einem Gericht agierten, in dem nur drei Berufsrichter, ansonsten sechs Laien (delegiert von den Landesregierungen) saßen, war die Politisierung der Verfahren unausweichlich, weil die Verfahrensregelung dem Reichsinnenminister mit Zustimmung des Reichsrats, der Vertretung der Länder also, oblag und somit die Verfahren vor allem die jeweiligen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Ländern widerspiegelten. Deutlich schlug sich in den Verfahren die Tatsache nieder, daß z. B. in Württemberg, Baden und Bayern vornehmlich die Linken verfolgt und die Rechten geschont wurden, aber in Preußen besonders scharf gegen die Rechten vorgegangen wurde. Zudem sorgte der Gerichtsvorsitzende, Senatspräsident Niedner, mit seinem aggressiven Antikommunismus für eine groteske Klassenjustiz.

In der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurde es infolge der antirepublikanischen Hetze trotz des zweiten Republikschutzgesetzes vom 25. Mai 1930 sogar möglich, die Verhöhnung der Reichsfarben als „Schwarzrotscheiße“ mit nur 30 Mark Geldstrafe zu ahnden. Obwohl der Beschimpfungsparagraph des Republikschutzgesetzes eine Strafe von drei Monaten Gefängnis vorsah, die nur bei Vorlage mildernder Umstände unterschritten werden durfte, wies die Kriminalstatistik danach folgendes Ergebnis aus: Bei 829 Verurteilungen wurden nur 14, 2 Prozent der Angeklagten zur gesetzlichen Mindeststrafe von drei Monaten verurteilt. Jeder zweite kam mit einer Geldstrafe davon. Bei 85, 7 Prozent wurden milderne Umstände anerkannt

Die Feiern zum Verfassungstag (11. August) gestalteten sich oft pflichtgemäß quälend, bekundeten offiziellen Respekt und zeigten Zustimmung ohne innere Überzeugung. Der Sedan-Tag oder Kaisers Geburtstag blieben für viele Menschen populärer. Auch die Fahne der Republik blieb fremd. Schwarz-Weiß-Rot hatte die alten Reichs-farben Schwarz-Rot-Gold seit 1871 fast vergessen gemacht. Nun waren sie Symbol der Kriegsniederlage. Mit der Flaggenverordnung vom 1. Juni 1921 waren nicht weniger als zehn Flaggen zugelassen worden. Die Reichsfarben behielten ihre Geltung für die Nationalflagge, für die Standarte des Reichspräsidenten, für die Flagge der Reichswehr und die Reichssportflagge. Schwarz-Weiß-Rot fand in Verbindung mit Schwarz-Rot-Gold Verwendung u. a. bei der Handelsflagge, der Flagge mit dem Eisernen Kreuz (für Handelskapitäne, die früher Offiziere der Reichsmarine waren), der Reichskriegsflagge sowie bei der Dienstflagge der Reichsbehörden zur See

Solch teilweise Fortgeltung der alten Farbsymbole, unter denen Deutschland militärisch mächtig geworden war, offenbarte auch hier eine Halbherzigkeit der Auffassungen, die nicht genug Abwehr-kraft gegen die Sturmläufe für eine Rechtsdiktatur oder für die Wandlung des Reichs zu „Sowjet-deutschland“ (Klara Zetkin) zu mobilisieren vermochte. 322 politische Terroranschläge mit 72 Toten und 495 Schwerverletzten allein in Preußen zwischen dem 1. Juni und 20. Juli 1932 steigerten die Sehnsucht nach Ruhe, Ordnung und der großen Vereinfachung, zunehmend verschärft durch die der Wall Street angelastete Konjunkturkrise wie durch die Angst vor einer von Moskau betriebenen proletarischen Revolution.

V. Verwerfungen im gesellschaftspolitischen Bewußtsein

Die Affektionen gegenüber dem westlichen Liberalismus und dem östlichen Bolschewismus legten ein republikanisches Verantwortungsvakuum bloß, das von den alten Kräften ebensowenig gefüllt werden konnte wie von der schwindenden Zahl der neuen Vernunft-Demokraten. Diese wurden schleichend überwältigt von neuen Verheißungen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sollten weder im Sinne westlich-bürgerlicher Individualität noch im Geiste des bolschewistischen Zentralismus Erfüllung finden, sondern in der »deutschen 6 Synthese aus Nationalismus, Sozialismus, völkischer Auffassung, von innerer Geschlossenheit und äußerer Stärke. Tat, Wille, Opfer, Leistung, Rassebewußtsein bildeten sozialromantische Stimulan-zien für die Suche nach der „dritten Partei“ jenseits des rüden rechtsradikalen Rabaukentums, parlamentarischer Selbstlähmung und eines revolutionären Universalismus.

Diese „dritte Partei“ als Chiffre einer kultischen Imperialität erhielt Anschauung in der propagandistischen Konzeption eines parteienfernen Machtstaats als Gegensatz zum Parteienstaat, der zum Exponenten der Interessen und Stimmungen von Wählermassen verkommen sei. Carl Schmitt forderte die Entscheidung gegen solche Brüderlichkeit, gegen solche Liberalität, gegen Parlamentarismus und westliche Demokratie, gegen das System von Versailles und die Revolution, gegen die Anarchie und das „Chaos“; er forderte die Entscheidung für den Staat, für die Ordnung, für den Soldaten

Solche „Alternativangebote“ für ein verstörtes Volk im fortwährenden Krisentaumel gaben kompensatorische Hoffnung. Barfußpropheten, die geistesaristokratische Verachtung für das Ameisentreiben der Menschen (Gottfried Benn, Stefan George, Ernst Jünger), die Drogen-Romantik einer sprachmächtigen heroischen Gefühligkeit unter dem von Hugo von Hofmannsthal gestifteten Begriff der „konservativen Revolution“ (1927), die Formenvielfalt des Asketisch-Elitären sowie der Vertrauensverlust in die Bindungskräfte christlicher Lebensethik steigerten letztlich unter dem Druck der materiellen Verelendung die Sehnsucht nach Erlösung von den pathologischen Ausprägungen des Politischen. Ausgerechnet das oft belächelte Italien schien im Zeichen des Mussolini-Faschismus die erste Ordnungsdiktatur nichtkommunistischer Art erfolgreich zu praktizieren und aus der ewigen Krise der Demokratien herauszuführen, welche selbst in England von vielen jungen Repräsentanten der alten Elite für nicht mehr zeitgemäß gehalten wurden

Ein Jahr nach Mussolinis Marsch auf Rom putschte Hitler in Bayern. Es war das Jahr, in welchem Arthur Moeller van den Bruck in seiner Abhandlung über „Das Dritte Reich und die jungen Völker“ schrieb, daß eine Lösung gefunden werden müsse, die Sozialismus und Nationalismus, Massenkraft und Einzelkraft, Menge und Mensch versöhne: „Wir Deutschen haben das erlösende Wort noch nicht gefunden.“ Es sollte bald für viele „Hitler“ lauten, aus Verzweiflung diesen durchaus bewußt als „Ersatzlösung“ in Kauf nehmend.

Im selben Jahr meinte Carl J. Burckhardt in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal: „Kommt es aber so weit, daß die Menge aus nackter Angst einem Einzelnen alle Gewalt übergibt, so wird er sie mißbrauchen, denn er wird der Masse gleichen, die ihn erhoben hat.“ Recht besehen gingen weder Hitler noch die Deutschen in der Umsetzung solcher Prophetien füreinander auf. Die Wirklichkeit war viel komplizierter; sie schien hineingewuchtet in gespannteste Ambivalenzen, in welchen die Eiferer von rechts und links nach ihrer baldigen großen Stunde gierten und die Massen sich zunehmend nach der Kleinbürgerfigur von Oskar Maria Grafs „Franz Sittinger“ ausrichteten, der immer in der Sorge vor dem, was kommt, zu einer Art Rückversicherung mittels passiver Mitgliedschaft im Lager der Rechten neigte.

Der geistige Pluralismus der Weimarer Republik war nicht von nazistischen Doktrinen besiegt worden, sondern er wurde nach der „Machtergreifung“ politisch verboten. Ermöglicht wurde dies letztlich nicht direkt durch die Steigbügelhalter und Vordenker der Diktatur, sondern durch die Wähler. Sie entschieden sich gegen die parlamentarische Lebenskultur, als bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 (dem angeblichen Signal für den Niedergang der NSDAP) von 582 Mandaten 100 an die Kommunisten und 196 an die Nazis gingen. Mehr als die Hälfte der Sitze erhielten die entschieden antidemokratischen Parteien. Erstmals zeigte sich ein neues Wählerbewußtsein. Es holte den Staat aus den alten Traditionsbestimmungen herunter in die nüchterne Zweckzuweisung, ein Leben im Schutz von Recht und Gesetz, in Gewährleistung innerer Sekurität und äußerer Sicherheit durch Stärke zu ermöglichen.

Der Autoritätsverfall der Weimarer Republik hatte mit dem Verdacht begonnen, das Unrecht der Welt nicht für die Mehrheit der Bürger einigermaßen erträglich machen zu können. Die Nicht-gewähr des Prä-Politischen: Sicherheit, Ordnung, Arbeit, soziale Gerechtigkeit als Staatsziel wie als Gegenleistung für Gehorsam, Gesetzestreue und Fleiß zersprengte die Loyalität der leidgeprüften Bürger. Zwischen dem Hammer der Restriktionen durch die Entente und dem Amboß einer demütigenden Innenpolitik wurde die Republik belanglos. 1, 7 Millionen Kriegstote und 4, 2 Millionen Verwundete, dazu fast 13 Jahre Geduld mit der ungeliebten Republik verlangten eine andere Zukunft.

VI. Schlußbetrachtung

Monokausale Erklärungsversuche machen das Scheitern Weimars nicht begreifbar. Jedes Portrait der inneren Lebensverhältnisse dieser ersten deutschen Republik bleibt irgendwo offen, nicht vollendbar oder nicht ganz zu erschließen, weil Meinungen, Haltungen, Überzeugungen, Strategien und Techniken mit dem Taumel der Lebensverhältnisse hinter der brechenden Fassaden-Kultur derangierter Zivilität changieren. Der Subjektivismus in der Politik und seine Wahrnehmung behindern eine wissenschaftliche Gesamtbetrachtung, weil im Fall Weimar zwar alle Mosaiksteine geordnet und markiert sind, aber eine flächige Zusammensetzung erschwert wird durch die ungerichtete Dynamik kontaminierter Gefühlslagen, verklumpter Motivketten, wüster Situations-Neurosen, Modus-vivendi-Sicherung im Nachrichtentakt der politischen Alltagskatastrophen.

Der zutiefst durch Friedlosigkeit geprägte Zeitgeist der Republik ist vielfältig belegbar, aber welche Sonde könnte den Einfluß der außen-und innenpolitischen Belastungsfaktoren genau meßbar machen? Gewiß war den alten Machteliten die Weimarer Verfassung zu demokratisch, zu liberal, zu westlich. Zugleich war dieser Westen der harte Friedensdiktator, dessen Reparationspolitik den inneren Feinden der Republik immer neuen Auftrieb gab. Die Linksradikalen verteufelten die Reparationen als kapitalistische Profitgier und antiproletarische Knebelpolitik. Die extreme Rechte beutete die Reparationen als Beleg für den Willen zur ewigen Demütigung Deutschlands aus.

Wer heute die Kriegerdenkmäler (1914-1918) in abgelegensten französischen Dörfern mit den langen Listen der Gefallenen sieht, versteht, warum erst 1928, rund zehn Jahre nach Kriegsende, ein deutscher Außenminister nach Paris kommen konnte. Man muß akzeptieren, daß das „September-Programm“ und der „vergessene“ Friede von Brest-Litowsk mit dem Versailler Diktat zu verrechnen sind. Daß indessen für die wankende Republik wirkliche Unterstützung von draußen ausblieb, daß die Gegner Weimars mit dem zu späten Schuldenabkommen von Lausanne (1932) begünstigt wurden, rückt in gewisser Weise die Sicherheitsbesessenheit Frankreichs in die Kategorie des Tragischen.

Begrifflos bleiben dagegen im Deutschland der Nachkriegsjahre das Erbarmungslose, Rechthaberische, die besessene Überzeugtheit von der eigenen Meinung, die hochfahrende Kompromißverachtung, das ritualisierte Herrenmenschentum, die schneidige Eindeutschung von Empfindsamkeit und Verzweiflung in Zeiten, die Konsens und Solidarität für das Überleben der Weimarer Republik viel notwendiger gemacht hätten. Die Desavouierung des Maßes und der Vernunft trieb Deutschland in eine diabolische Dialektik von Selbstbetrug und Selbstvemichtung, die wohl erst nach 1945 zur Selbstläuterung fand, bei welcher allerdings die Kriegsgegner von einst im Westen für die Bundesrepublik zu hilfreichen Partnern wurden. Ostdeutschland ging einen anderen Weg; mußte ihn unter dem Druck eines anderen Kriegsgegners gehen. Auch dieser Weg begann in Weimar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Heinz Hürten, Die Epoche der Nationalstaaten und der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1981, S. 200ff.

  2. Vgl. Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 514.

  3. Hans von Hentig, Der Friedensschluß. Geist und Technik einer verlorenen Kunst, Stuttgart 1952, S. 299,

  4. Vgl. zum Kontext des Riezler-Zitats Fritz Stern, Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1974, S. 120ff.; die übrigen Zitate nach Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, hrsg. von Jost Dülffer, Essen 1989, S. 111 ff.

  5. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt/M. 1989, S. 61.

  6. Vgl. Rudolf Stucken, Schaffung der Reichsmark. Reparationsregelungen und Ausländsanleihen, Konjunkturen (1924-1930), in: Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876-1975, hrsg. von der Deutschen Bundesbank, Frankfurt/M. 1976, S. 262ff.

  7. Vgl. Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern der Epoche, Bonn 1952, S. 176; Werner Stephan, Acht Jahrzehnte erlebtes Deutschland. Ein Liberaler in vier Epochen, Düsseldorf 1983, S. 182.

  8. Brief Stresemanns an Kronprinz Wilhelm (7. 9. 1925), in: Wolfgang Michalka/Gottfried Niedhart (Hrsg.), Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen-und Außenpolitik 1918-1933, München 1981, S. 163f.

  9. Vgl. P. Schmidt (Anm. 7), S. 117.

  10. Zit. nach Fritz Günther von Tschirschky, Erinnerungen eines Hochverräters, Stuttgart 1972, S. 92.

  11. Vgl. zum Putsch-Jahr 1923 Heinrich August Winkler, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 223ff.; Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 288.

  12. „Das halbe Jahrzehnt von 1924 bis 1929 war äußerlich wesentlich ruhiger als das vorausgegangene. In Wirklichkeit war Deutschlands Lage jedoch kaum erleichtert. Es stand unter der entehrenden Überwachung des Reparations-Agenten, der gelegentlich fast eine Nebenregierung bildete.“ Wilhelm Mommsen, Politische Geschichte von Bismarck bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1935, S. 231.

  13. Heinrich Ströhe!, Brigade Radek-Erhardt, in: „Das Andere Deutschland“. Unabhängige Zeitung für entschiedene republikanische Politik (4. 12. 1926), hrsg. v. Helmut Donat/Lothar Wieland, Königstein/Ts 1980, S. 107.

  14. Illustrierter Beobachter vom 1. 10. 1928, in: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, Februar 1925 -Januar 1933, Bd. III, Teil 1: Juli 1928 -Februar 1929, hrsg. von Bärbel Dusik und Klaus A. Lankheit unter Mitwirkung von Christian Hartmann, München 1994, S. 291; Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, S. 273.

  15. Vgl. dazu mit bibliographischen Verweisen Manfred Funke, Republikschutz in Weimar, in: Schutz der Demokratie, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1992.

  16. Vgl. Alois Friedei, Deutsche Staatssymbole. Herkunft und Bedeutung der politischen Symbole in Deutschland, Frankfurt/M. 1968, S. 35.

  17. Vgl. Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt. Ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991, S. 166; Norbert J. Schürges, Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus, Stuttgart 1989, S. 274.

  18. Vgl. Theodor Eschenburg, Der Zerfall der demokratischen Ordnung zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Der Weg in die Diktatur 1918 bis 1933, München 1962, S. 23; zum politischen Klima in Großbritannien vgl. Harold Nicolson, Tagebücher und Briefe 1930-1941, Stuttgart 1969.

  19. Arthur Moeller van den Bruck, Das Ewige Reich, Bd. I: Die politischen Kräfte, hrsg. von Hans Schwarz, Breslau 1933, 5. 337.

  20. Carl Jacob Burckhardt, Gesammelte Werke. Briefe 1919-1969, Bern o. J., S. 64.

Weitere Inhalte

Manfred Funke, Dr. phil. habil., geb. 1939; Professor und Studiendirektor am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Karl Dietrich Bracher und Hans-Adolf Jacobsen) Die Weimarer Republik. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Düsseldorf 1987; Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen, Düsseldorf 1989; (Hrsg. zus. mit Karl Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz) Deutschland zwischen Krieg und Frieden, Bonn-Düsseldorf 1991; (Hrsg. zus. mit Karl Dietrich Bracher und Hans-Adolf Jacobsen) Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn-Düsseldorf 1992.