„Nirgends auf der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung... Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt.“ Diese außerordentlich positive Beurteilung der ersten parlamentarisch-demokratischen Verfassung Deutschlands die am 31. Juli 1919 verabschiedet und -einem Antrag des Abgeordneten der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Conrad Haußmann folgend -nach dem Tagungsort der Nationalversammlung im Theater der thüringischen Kleinstadt „Weimarer“ Verfassung benannt wurde durch den sozialdemokratischen Reichsinnenminister Eduard David sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das fertige Werk in der Öffentlichkeit nahezu gleichgültig, zumindest jedoch „ohne warme Begeisterung“ aufgenommen wurde. Die am 11. August 1919 von Reichspräsident Ebert Unterzeichnete und am 14. August verkündete Reichsverfassung -nach den treffenden Worten ihres Schöpfers Hugo Preuß angesichts der niederschmetternden Wirkung von Weltkrieg, Revolution und Versailler Vertrag „nicht im Sonnenglanz des Glückes geboren“ -wurde in der Weimarer Republik von der Mehrheit der politischen Kräfte als ein unbefriedigendes Kompromißprodukt angesehen. Vielen galt sie als eine zwar fleißige Juristenarbeit und aller Anerkennung wert, aber letztendlich nur dazu geeignet, das rein technisch-organisatorische Funktionieren des Staatsapparates sicherzustellen, und weit davon entfernt, Respekt und sogar Hochachtung zu wecken.
Die Weimarer Verfassung stellt jedoch -trotz ihres nicht zu verkennenden idealtypischen Charakters -nicht einfach das Produkt einer kleinen Gruppe von Verfassungsexperten dar, die nach der Revolution aus dem Nichts heraus das Modell eines demokratisch-sozialen Rechtsstaates schufen. Das Werden der Verfassung wurde vielmehr in entscheidendem Maße durch die realpolitischen Gegebenheiten wie durch die Erfahrungswerte und Interessenlage der direkt oder indirekt beteiligten Personen und Gruppen geprägt. Ihr Entstehungsprozeß umfaßt somit nicht allein die Spanne der Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung, sondern umgreift den gesamten Zeitraum von der Novemberrevolution bis zu ihrer Verabschiedung im Sommer 1919. Gleichzeitig muß bei einer Beurteilung von Genese und Gestalt der Weimarer Reichsverfassung immer berücksichtigt werden, daß innenpolitische Wirren und außenpolitische Gefahren den Hintergrund für die Verfassungsarbeiten bildeten und den Boden, auf dem die neuen Reichsgewalten standen, stets unsicher und bedroht erscheinen ließen.
I. Von der Revolution bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung
Die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 hatte bereits vor der Machtergreifung durch die revolutionären Arbeiter-und Soldatenräte in den ersten Novembertagen 1918 eine grundlegende Umformung erfahren. Der am 3. Oktober zum Reichskanzler ernannte Prinz Max von Baden hatte sein Kabinett unter maßgebender Mitwirkung der Parteien der Reichstagsmehrheit -Sozialdemokratie, Zentrum, Fortschrittliche Volkspartei -gebildet. Der entscheidende Schritt auf dem Weg zur parlamentarischen Monarchie wurde dann auch verfassungsrechtlich abgesichert durch die am 28. Oktober in Kraft getretenen Gesetze zur Abänderung der Reichsverfassung. Dieser in zeitlicher Parallelität zum Notenwechsel mit dem amerikanischen Präsidenten Wilson -der eine Parlamentarisierung der Regierung als unverzichtbare Bedingung für die Friedensverhandlungen gefordert hatte -um das deutsche Friedensangebot erfolgende Umbau der Verfassung hob die Grundlagen des monarchisch-konstitutionellen Systems auf: Der Reichstag rückte ins Zentrum der politischen Macht, Reichskanzler und Reichsregierung waren nun von seinem Vertrauen abhängig. Allerdings vermochte auch diese Verfassungsänderung weder die offenkundige Erosion der Legitimität von Kaisertum und Monarchie noch den Zusammenbruch der alten Gewalten zu verhindern.
Angesichts der sich im ganzen Reich krisenhaft zuspitzenden Situation und der Bildung von Arbeiter-und Soldatenräten als Träger der revolutionären Macht ergriff Reichskanzler Prinz Max von Baden die Initiative. Am Mittag des 9. November 1918 gab er die Abdankung des Kaisers bekannt und ernannte Friedrich Ebert, den Führer der Mehrheitssozialdemokratie, zum Reichskanzler. Nach Verhandlungen mit Vertretern der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) erfolgte dann am nächsten Tag die Bildung des aus Mitgliedern von SPD und USPD paritätisch zusammengesetzten „Rates des Volksbeauftragten“.
Vordringliches Ziel der mehrheitssozialdemokratischen Führer seit dem 9. November war die schnellstmögliche Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung auf der Grundlage allgemeiner Wahlen, der die endgültige Entscheidung über die neu zu schaffende politische und gesellschaftliche Ordnung überlassen bleiben sollte. Diese Option zugunsten der parlamentarischen Demokratie, durchgesetzt gegen den Widerstand linkssozialistischer Kräfte, die ein Rätesystem nach bolschewistischem Muster erstrebten, und mit großer Mehrheit bestätigt durch den vom 16. bis 20. Dezember 1918 in Berlin tagenden Ersten Allgemeinen Kongreß der Arbeiter-und Soldaten-räte Deutschlands, war die ausschlaggebende politische Weichenstellung des November und Dezember 1918. Sie war verbunden mit einer aufs höchste gespannten Erwartung, die das deutsche Volk in die Weimarer Nationalversammlung setzte; in ihr lag zugleich etwas Utopisches, ja Unwirkliches, das leicht zur Quelle neuer Enttäuschungen werden konnte. Als weitere richtungsweisende Vor-entscheidung des Rates der Volksbeauftragten erwies sich der Verzicht auf jeden Eingriff in die überkommene föderalistische Struktur des Reiches und seiner wirtschaftspolitischen wie gesellschaftlichen Ordnung.
In der am 19. Januar 1919 von allen Bürgern über 20 Jahren nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählten Nationalversammlung war die SPD mit 37, 9 Prozent der Stimmen (165 Mandate) zwar die weitaus stärkste Fraktion, sie verfügte aber -selbst zusammen mit der USPD Prozent, 22 Mandate) -nicht über eine absolute Mehrheit. Stärkste bürgerliche Partei wurde das Zentrum (19, 7 Prozent, 91 Mandate), gefolgt von der DDP (18, 5 Prozent, 75 Mandate). Die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) kam nur auf 10, 3 Prozent der Stimmen (44 Mandate), die DVP (Deutsche Volkspartei) erhielt 4, 4 Prozent (19 Mandate).
Insgesamt betrachtet, hatte sich das Parteien-system des Kaiserreichs über den Einschnitt der Revolution hinweg als bemerkenswert stabil erwiesen 6. Gleichzeitig zeichnete das Wahlergebnis aber eine neuerliche Zusammenarbeit der drei Mehrheitsparteien des alten Reichstages vor: Die „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und der neu-gegründeten linksliberalen DDP verfügte in der Nationalversammlung über mehr als eine Dreiviertelmehrheit. Obwohl die Entscheidung für die Weimarer Koalition auch bedeutete, daß die neue Verfassung nur auf der Basis eines Kompromisses zwischen der Sozialdemokratie und den gemäßigten bürgerlichen Kräften verwirklicht werden konnte, darf aus dem Wahlergebnis nicht einfach geschlossen werden, daß in der Nationalversammlung eine politisch-soziale Ordnungsidee als Ausdruck eines bestehenden Konsenses der Mehrheitsparteien vorherrschte. Vielmehr unterschieden sich die Verfassungsideen und -ziele der Koalitionsparteien grundlegend, in einigen Bereichen -wie der Kultur-und Wirtschaftsordnung -sogar diametral voneinander, so daß die vorhersehbaren Kontroversen nur bei beträchtlichem Zurückstekken programmatischer Forderungen auf allen Seiten zu entschärfen sein würden.
Der erste wichtige Schritt auf diesem oft mühsam wirkenden Weg der Kompromisse, an dessen Ende die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung stand, war die bereits am 15. November erfolgte Berufung von Hugo Preuß 7, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Handelshochschule, zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern (RMI) mit dem ausdrücklichen Auftrag, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Hugo Preuß, im Kaiserreich als Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei engagierter Liberaler und der „wohl am weitesten links gerichtete Staatsrechtslehrer des damaligen Deutschland“ hatte bereits 1917 aus eigener Initiative einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der auf die Einfüh rung einer parlamentarischen Monarchie abzielte. Einen Tag vor seiner Berufung an die Spitze des RMI publizierte er im „Berliner Tageblatt“ den in der Öffentlichkeit mit großem Interesse zur Kenntnis genommenen programmatischen Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat“ in dem er vehement Einspruch gegen eine Alleinherrschaft der Sozialdemokratie erhob und die verantwortliche Beteiligung des liberalen Bürgertums an der zukünftigen Neugestaltung einforderte. Die Entscheidung für einen liberalen Verfassungsentwurf und die umgehende Berufung Preuß’ -dessen demokratische Gesinnung außerhalb jeden Zwei-fels stand, dessen antisozialistische Grundhaltung aber auch hervorragend dazu geeignet war, in weiten Kreisen des Bürgertums Vertrauen zu schaffen -war eine der wesentlichsten verfassungspolitischen Weichenstellungen vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung.
Innerhalb weniger Tage hatte Preuß, der sich dabei auf seine eigenen Vorarbeiten aus dem Jahre 1917 stützen konnte, die Grundzüge eines Verfassungsentwurfs ausgearbeitet, der in einer vertraulichen Zusammenkunft vom 9. bis 12. Dezember 1918 mit Vertretern der Reichsämter und hinzugezogenen Sachverständigen -darunter Max Weber -besprochen wurde. Das Ergebnis dieser Beratungen wurde von Preuß erneut überarbeitet und, gemeinsam mit einer von ihm verfaßten Denkschrift, als „Entwurf der künftigen Reichsverfassung (Allgemeiner Teil)“ am 11. Januar 1919 den Volksbeauftragten übersandt. Dieser zunächst geheimgehaltene, 68 Paragraphen umfassende Vorentwurf gliederte sich in die drei Abschnitte „Das Reich und die deutschen Freistaaten“, „Der Reichstag“ und „Der Reichspräsident und die Reichsregierung“. Er konstituierte das Deutsche Reich als parlamentarische Demokratie und stellte dem Reichstag einen Reichspräsidenten mit einer starken, eigenständigen Gewalt gegenüber. Als Grundrechte wurden neben der Glaubens-und Gewissensfreiheit nur die Gleichheit vor dem Gesetz und der Schutz nationaler Minderheiten formuliert, da Preuß fürchtete, daß eine zeitraubende Grundrechtsdebatte -wie damals in der Frankfurter Paulskirche -den zügigen Abschluß des Verfassungswerkes gefährden würde.
Entscheidend war jedoch die vorgesehene vollkommene Umgestaltung der bisherigen föderativen Ordnung: Ausgehend von der Idee des Einheitsstaates sah der Entwurf eine Neugliederung des Reichs in 16 annähernd gleich große und jeweils etwa zwei Millionen Einwohner umfassende Gebiete vor.
Am 14. Januar 1919 beriet der Rat der Volks-beauftragten über den Entwurf und veränderte ihn besonders in zwei Punkten: Zum einen wurden die zwingenden Neugliederungsvorschriften durch allgemeinere Formulierungen ersetzt, zum anderen verlangte Friedrich Ebert eine detailliertere Grundrechtskodifizierung, eine „scharfe, ins Auge fallende Betonung gewisser demokratischer Gesichtspunkte: persönliche Freiheit..., Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw.“ Diesen Bedenken trug Preuß in einem revidierten Entwurf Rechnung, der dann am 20. Januar 1919, einen Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung, zusammen mit der Denkschrift veröffentlicht wurde. Allerdings blieb auch dieser zweite Entwurf Fragment, da die Bestimmungen über die künftige Wehrverfassung, das Verkehrs-, Zoll-und Handelswesen, die Reichs-finanzen und die Rechtspflege ebenso fehlten wie Übergangs-und Schlußbestimmungen.
Der Verfassungsentwurf führte zu heftigen Protesten der Einzelstaaten, denen es gelang, auf einer eilig einberufenen „Staatenkonferenz“ Ende Januar 1919 die Berücksichtigung ihrer Interessen in der Reichsverfassung durchzusetzen. Obwohl sowohl Preuß als auch die Volksbeauftragten energisch jedem Versuch entgegentraten, die Nationalversammlung in ihrer Souveränität einzuschränken, konnten sie die Bildung einer Länder-kommission nicht verhindern, die zusammen mit Vertretern des RMI über die Reichsverfassung vom 26. bis 30. Januar und vom 5. bis 8. Februar 1919 beriet. Unter Führung Bayerns und Preußens errang hier der Föderalismus einen wichtigen Sieg: Neben der Aufrechterhaltung der bundesstaatlichen Staatsstruktur und der Wahrung traditioneller Reservatrechte wurde die Einführung eines „Reichsrats“ als Vertretung der Länder-regierungen beim Reich beschlossen. Aufgrund des § 32 des „Gesetzes über die vorläufige Reichs-gewalt“ wurde der veränderte Entwurf als erster Verfassungsentwurf der Reichsregierung dem „Staatenausschuß“ vorgelegt, der ihn in zwei Lesungen vom 18. bis 21. Februar 1919 behandelte. Erst nach diesen Beratungen konnte die Regierung den Verfassungsentwurf der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorlegen, wobei abweichende Vorschläge der Ländervertreter -wie in der Frage der Gebietsveränderungen von Gliedstaaten oder der Stimmenverteilung im zukünftigen Reichsrat -dem Entwurf als Fußnoten beigefügt waren.
II. Die Verfassungsberatungen in der Nationalversammlung
Die zweite deutsche Nationalversammlung, am 6. Februar 1919 in der thüringischen Residenzstadt Weimar eröffnet, wohin sie auf Wunsch der Reichsregierung -entgegen dem Widerstand von Preuß -angesichts der Berliner Januar-Unruhen verlegt worden war, um sie dem Druck von Massendemonstrationen zu entziehen war kein revolutionäres Gremium. Im Gegenteil -sie sollte die Revolution beenden und zu geordneten staatsrechtlichen Zuständen zurückkehren, sollte, wie Emst Troeltsch es treffend formulierte, der „neue Bismarck“ sein, geleitet von der historischen Aufgabe, die Demokratie „nicht von außen her, sondern von innen heraus aus dem Volkswillen selbst“ zu schaffen. Die Abgeordneten begannen mit der Verfassungsarbeit jedoch erst, nachdem mit dem „Gesetz über die vorläufige Reichs-gewalt“, das am 10. Februar 1919 verabschiedet wurde und Reichstag, Reichspräsident, Reichs-ministerien und Reichsrat konstituierte, die verfassungsrechtlichen Fundamente des neuen Staats-baus gelegt waren. Obwohl Hugo Preuß bei der Begründung des Verfassungsentwurfs herausstellte, daß „noch niemals in der deutschen Geschichte ... ein Parlament tatsächlich und rechtlich so unbeschränkte Macht“ besessen habe, konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die organisatorische Grundstruktur der Republik somit bereits vorgezeichnet war.
Nach der ersten Lesung im Plenum (24. Februar bis 4. März) wurde der Entwurf an einen 28köpfigen Ausschuß (22 Koalitions-und sechs Oppositionsmitglieder) unter dem Vorsitz von Conrad Haußmann verwiesen. Dieser Verfassungsausschuß begann mit seinen Beratungen am 4. März und tagte mit Unterbrechungen bis zum 18. Juni. Das Ergebnis seiner nichtöffentlichen Beratungen diskutierte die Nationalversammlung vom 3. bis 22. Juli in zweiter und vom 29. bis 31. Juli in dritter Lesung. Mit 262 Stimmen der Mehrheitssozialdemokraten, der Deutschen Demokratischen Partei und des Zentrums wurde die Verfassung gegen 75 Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschen Volkspartei, des Bayerischen Bauern-bundes und der Unabhängigen Sozialdemokraten am 31. Juli verabschiedet. Sie trat, nachdem Reichspräsident Friedrich Ebert sie am 11. August unterzeichnet hatte, mit ihrer Verkündung im Reichsgesetzblatt am August 1919 in Kraft.
III. Die Weimarer Reichsverfassung: Inhalt, Belastungen, Chancen
Die Weimarer Verfassung gliedert sich in zwei Hauptteile: „Aufbau und Aufgaben des Reichs“ (Art. 1-108) und „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ (Art. 109-165); die übrigen 16 Artikel enthalten Übergangs-und Schlußvorschriften. Mit dieser Zweiteilung folgte die Nationalversammlung einer europäischen Tradition, wenn auch die Grundrechte in der Regel den staatsorganisatorischen Bestimmungen vorangestellt wurden -wie dies auch zunächst vom Verfassungsausschuß vorgesehen war. Mit einer Änderung dieser Systematik in der zweiten Ausschußlesung folgten die Abgeordneten einer Anregung von Hugo Preuß; auch sein Fraktionskollege, der Kasseler Oberbürgermeister Erich Koch-Weser, betonte: „Erst muß doch ein Staat da sein, ehe die Grundrechte geschützt werden können.“ 14
Bereits die Präambel signalisiert den Anbruch einer neuen Epoche: Schlossen die deutschen Dynastien in der Reichsverfassung von 1871 einen „ewigen Bund“, so konstituierte die Weimarer Verfassung das Reich als parlamentarische Republik: „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“
Neben dem Bekenntnis zur Volkssouveränität -mit der Erwähnung des „deutschen Volkes“ als Subjekt der Verfassung ein Meilenstein der deutschen Verfassungsgeschichte -beinhaltet die Präambel mit ihrem Bekenntnis zur national-staatlichen Einheit, zur inneren Freiheit und zur sozialen Gerechtigkeit bereits die leitenden Grundgedanken des Werkes von Weimar. Die Volkssouveränität als das tragende Fundament des ganzen Rechtsgebäudes der Verfassung erteilte der jahrhundertelangen monarchischen Tradition eine Absage: Nach Art. 1 war der Souverän jetzt das Volk, die Gesamtheit der über 20 Jahre alten Männer und Frauen. Die beiden Eckpfeiler des Verfassungssystems waren durch Wahl Beauftragte des Volkes: Reichstag und Reichspräsident. 1. Reichstag und Reichspräsident
Zentrales Verfassungsorgan und wichtigstes Instrument der Repräsentation des Volkswillens war der auf vier Jahre nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts gewählte Reichstag (Art. 20-40) als „Träger der Souveränität, die beim Volke ruht“ wobei sowohl die republikanische Staatsform als auch das parlamentarische Regierungssystem den Ländern zwingend vorgeschrieben waren (Art. Die kollegial organisierte Reichsregierung bedurfte zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages (Art. 54); dieser übte die Gesetzgebung für das Reich und die Kontrolle der Exekutive aus. Demgegenüber verfügte der Reichsrat als das föderative Organ des Reiches bei der Reichsgesetzgebung nur noch über ein suspensives Veto (Art. 74). Er vermochte lediglich Abänderungsvorschläge vorzubringen (Art. 69) und konnte bei einem etwaigen Einspruch gegen ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz mit Zweidrittelmehrheit überstimmt werden.
Neben den Reichstag stellt die Verfassung den vom Volk gewählten Reichspräsidenten, dessen umfangreiche Vollmachten dem bis weit in die Reihen der Linksparteien hinein befürchteten „Parlamentsabsolutismus“ durch die Schaffung einer „starken Kontrollgewalt“ Vorbeugen sollten. Aufgrund der Direktwahl durch das Volk (Art. 41) und seiner Amtszeit von sieben Jahren mit der Möglichkeit unbeschränkter Wiederwahl (Art. 43) war er unabhängig von der Parlamentsmehrheit. Zudem erhielt er -neben den rein repräsentativen Aufgaben eines Staatsoberhaupts -eine äußerst einflußreiche Position durch die ihm übertragenen Exekutivbefugnisse: Er berief und entließ die Reichsregierung (Art. 53) ebenso wie die Reichs-beamten und Offiziere (Art. 46); daneben konnte er durch die Anordnung eines Volksentscheids in das Gesetzgebungsverfahren eingreifen (Art. 73) und den Reichstag -wenn auch nur einmal aus dem gleichen Anlaß -auflösen. Er übte den militärischen Oberbefehl über die Wehrmacht aus (Art. 47) und vertrat das Reich nach außen (Art. 45). Schließlich verfügte er mit dem Art. 48 -dessen potentielle Tragweite von der Mehrheit der Nationalversammlung weit unterschätzt wurde -über das Institut des Ausnahmerechts, was es ihm ermöglichte, bei einer erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die zu ihrer Wiederherstellung nötigen Maßnahmen zu treffen, bestimmte Grundrechte außer Kraft zu setzen, Not-verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen und mit militärischer Gewalt einzugreifen.
Sowohl die Konstruktion als auch die Ausstattung des Amtes mit so weitreichenden Befugnissen verdeutlicht plastisch die Zielsetzung der Nationalversammlung, in der Person des Reichspräsidenten eine vom Parlament möglichst unabhängige Instanz zu schaffen. Nach der Auffassung des sozialdemokratischen Verfassungsexperten Max Quarck fand die angestrebte Balance der obersten Regierungsorgane ihren klarsten Ausdruck in den Artikeln 25 und 43: Der Befugnis des Präsidenten, den Reichstag aufzulösen, stehe als Korrelat die Möglichkeit gegenüber, den Präsidenten auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung abzusetzen 17. Zudem knüpfte sich an diesen Gleichgewichtsgedanken die Hoffnung, daß der Reichspräsident als parteipolitisch neutrale Institution eine integrierende Funktion ausüben würde, wobei besonders Hugo Preuß, der zu Beginn der Beratungen sogar für eine zehnjährige Amtsdauer plädiert hatte, in einem starken Präsidenten den elementaren Garanten für eine kontinuierliche Entwicklung des demokratischen Staatslebens sah.
Neben der Volkswahl des Reichspräsidenten gelangten -vor allem auf Drängen der Linksparteien -mit der Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid (Art. 73 f.) zum ersten Mal Formen der direkten Demokratie in die Verfassung eines modernen Großstaates. Während Preuß eine Ausdehnung des Referendums für unzweckmäßig hielt und davor warnte, das parlamentarische System unter das „Damoklesschwert der direkten Demokratie“ zu stellen, galt der großen Mehrheit der Nationalversammlung das Referendum als fundamentales Ventil für das Mißtrauen bzw. die Skepsis gegenüber der repräsentativen Demokratie.
2. Reich und Länder
Die Weimarer Verfassung entschied sich hinsichtlich der föderativen Ordnung für eine bundesstaatliche Lösung mit stark unitaristischen Zügen. Das Verhältnis zwischen dem Reich und den Einzelstaaten, die nach einem Vorschlag des DDP-Abgeordneten Erich Koch-Weser nicht mehr als „Staaten“, sondern nur noch als „Länder“ bezeichnet wurden, in deren Existenz sogar durch verfassungsänderndes Reichsgesetz eingegriffen werden konnte erfuhr einen grundsätzlichen Wandel. Im Gegensatz zum Kaiserreich wurde der Föderalismus von einem staatsgründenden Prinzip zu einem bloßen Strukturprinzip innerstaatlicher Ordnung. Diese Verschiebung der Kompetenzverhältnisse zeigt sich nicht nur deutlich im Wandel vom Bundesrat -als eigentlichem Souverän des Kaiser-reichs -zum Reichsrat, sondern auch in der Verteilung der Aufgaben zwischen Reich und Ländern, die von einer weitgehenden Verlagerung zugunsten des Reichs (Art. 6-12) gekennzeichnet war.
Insofern wirkte die Nationalversammlung hier konservativ und progressiv zugleich. Sie erhielt die Reichseinheit und den bundesstaatlichen Charakter des Reichs, entsprach jedoch zugleich der zukünftigen Notwendigkeit, die staatlichen Macht-kompetenzen zu erweitern. Während die früheren Reservatrechte, die die Bismarcksche Reichsverfassung den süddeutschen Ländern gewährt hatte, aufgehoben wurden, erhielt das Reich weitgehende Gesetzgebungskompetenzen, so auf dem Gebiet des Heerwesens, des Verkehrs und der Finanzen. Zudem war das Reich nach Art. 14 zur Ausdehnung der Reichsverwaltung durch einfaches Reichsgesetz ermächtigt.
Eine der einschneidendsten Änderungen im Verhältnis zwischen Reich und Ländern bedeutete die Erzbergersche Reichsfinanzreform von 1920, die neben der Einführung einer reichsgesetzlich geregelten allgemeinen Abgabenordnung auch eine einheitliche Reichsfinanzverwaltung vorsah. Wichtigste Grundlage für diese völlige Neuordnung des Steuersystems durch eine richtungweisende Konstruktion des Aufbaues der Reichs-und Staats-finanzen war die Reichsverfassung, indem sie in Art. 11 die Zuständigkeit des Reichs auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung festlegte, die früheren Matrikularbeiträge beseitigte und so das Reich als den „großen Steuer-Souverän der Zukunft“ konstituierte.
3. Die Grundrechte
Neben dem institutionell-organisatorischen Teil der Reichsverfassung gewann im Verlauf der Beratungen des Verfassungsausschusses der Grundrechtsteil -nach einem Antrag des Sozialdemokraten Simon Katzenstein mit „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ überschrieben -eine immer größere Bedeutung. Obwohl Hugo Preuß sich aus Furcht vor einer Verzögerung der Verhandlungen hier sehr reserviert verhielt -so beantwortete er in der zweiten Lesung im Plenum die Frage, ob er sich zur Vaterschaft der vorliegenden Grundrechte bekenne, mit einem „lauten und vernehmlichen Nein“ -, kam es über den zweiten Hauptteil der Verfassung zu langen und engagierten Debatten. Die schließlich verabschiedeten fünf Abschnitte mit ihren 56 Artikeln (1. Die Einzelperson, Art. 109-118; 2. Das Gemeinschaftsleben, Art. 119-134; 3. Religion und Religions-gesellschaften, Art. 135-141; 4. Bildung und Schule, Art. 142-150; 5. Das Wirtschaftsleben, Art. 151-165) übernahmen nicht nur die traditionellen liberalen Freiheitsrechte wie Freiheit der Person und des Eigentums, Presse-, Vereins-und Versammlungsfreiheit. Auf die Arbeit des Verfassungsausschusses -hier besonders Friedrich Naumanns (DDP) und Konrad Beyerles (Zentrum) -geht es zurück, daß die Weimarer Reichsverfassung bestrebt war, eine neue, richtungweisende, den Bedürfnissen der sich verändernden Gesellschaftsordnung entgegenkommende Sozialordnung zumindest in den Grundzügen sicherzustellen und in den Grundrechten zu verankern.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen jedoch nicht die „klassischen Grundrechte“, die -wie es der DVP-Abgeordnete Wilhelm Kahl formulierte -„das Freiheitsverhältnis des einzelnen zur Staatsgewalt festlegen“ sondern die Kultur-und die Wirtschaftsordnung. Besonders in diesen Bereichen ließ sich ein allgemeines Andrängen der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppen erkennen, die ihre spezifischen Forderungen in die Form von Grundrechten zu kleiden suchten, um sie unter den erhöhten Schutz der Verfassung zu stellen.
Auf kulturellem Gebiet waren vor allem die Artikel zu Kirche und Schule umstritten; aufgrund ihrer weltanschaulichen Gegensätze fiel es den beiden Koalitionspartnern Zentrum und SPD hier besonders schwer, zu einem annehmbaren Ausgleich zu gelangen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Kirche einigte man sich schließlich auf einen Kompromiß, dessen Kernpunkte neben der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates in der Absage an das Staatskirchentum einerseits und der Aufrechterhaltung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Kirche andererseits bestanden (Art. 137) -wobei diese unverändert in das Grundgesetz übernommene Übereinkunft den Kirchen vor allem das Recht der Steuererhebung sicherte.
Auf dem Gebiet des Bildungswesens überantwortete die Verfassung dem Reich das Recht zur Grundsatzgesetzgebung (Art. 10, Ziffer 2). Erst nach langwierigen Auseinandersetzungen konnten sich die Koalitionsparteien auf den „Weimarer Schulkompromiß“ einigen, der in seinem Kern die Simultanschule als Regelschule festschrieb, bis zum Erlaß eines Reichsschulgesetzes aber sowohl Bekenntnis-als auch bekenntnisfreie Schulen auf Antrag der Erziehungsberechtigten zuließ.
Auch im Bereich der Wirtschaftsordnung kam es zu einem Kompromiß. Zum einen verpflichtete die Verfassung den Staat zur Förderung eines selbständigen Mittelstandes (Art. 151), sicherte die Vertragsfreiheit im Wirtschaftsverkehr (Art. 152) und garantierte das Eigentum (Art. 153); zum anderen aber wurde der Art. 153 durch den Gedanken der Sozialpflicht und das Recht des Staates, Enteignungen gegen angemessene Entschädigung vorzunehmen, eingeschränkt. Durch die Verankerung der Arbeiterräte in der Verfassung (Art. 165) -nicht als politisches Prinzip, sondern unter dem Aspekt der betrieblichen Mitbestimmung -war der erste Schritt hin zu einer Wirtschaftsdemokratie getan: Grundsätzlich sollte der neue Staat vom Gedanken der Marktwirtschaft mit den Gewerkschaften als gleichberechtigten Tarifpartnern geprägt sein.
IV. Ausblick und Würdigung
In den „Gemeinbesitz der Nation“ überzugehen, wie dies der Jurist und Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei (BVP) Konrad Beyerle hoffte ist der Weimarer Reichsverfassung nicht gelungen. In der Nationalversammlung existierte keine vorherrschende, den verschiedenen Parteien gemeinsame politisch-soziale Ordnungsidee, die Ausdruck eines bestehenden Konsenses gewesen wäre. Keinem der Koalitionspartner war es gelungen, seine Vorstellungen vollständig durchzusetzen, vielmehr hatten SPD, DDP und Zentrum sich damit begnügen müssen, die ihnen wichtigsten Grundsätze sp weit zu realisieren, wie es -zumal in Anbetracht der gespannten innen-und außenpolitischen Lage des Frühjahrs und Sommers 1919 -die bestehende parlamentarische Konstellation zuließ. Das Ergebnis bildete eine Diagonale der vorhandenen divergierenden Gruppeninteressen und der ihnen jeweils zugrunde liegenden politisch-weltanschaulichen Wertesysteme.
Nach Entstehung und Inhalt war die Weimarer Reichsverfassung ein Gebilde zahlreicher Kompromisse. Wer ihr dies vorwirft, greift jedoch zu kurz: Aufgrund der Heterogenität der gesellschaftlichen Kräfte sind in jedem Verfassungswerk Konzessionen der beteiligten Parteien unvermeidlich. Zu Recht hat Ernst Friesenhahn darauf hingewiesen, daß der Kompromiß zu den Grundlagen der Demokratie gehöre, und herausgestellt: „Wer der Weimarer Reichsverfassung ihren Kompromißcharakter ankreidet, negiert bereits das demokratische Prinzip au fond.“ Entscheidend ist in diesem Zusammen hang vielmehr, daß die getroffenen Vereinbarungen vorwärtsgerichtet waren und weder die fortschreitende Entfaltung der Verfassung noch ihre zukünftige Entwicklung zu stark behinderten.
Dieses übergeordnete Ziel zeigte sich besonders deutlich im zweiten Hauptteil der Verfassung, der durch das Streben gekennzeichnet war, traditionelle Freiheitsrechte mit den Ideen und Idealen einer sich wendenden Zeit zu verbinden, Werte zu benennen, die anzuerkennen, in ihrem Bestand zu sichern und auszugestalten die Verfassung den Gesetzgeber verpflichten sollte. Die Grundrechte und Grundpflichten sollten aber nicht nur die Gesetzgebung und Exekutive an bestimmte Sachinhalte binden, ihnen war noch eine weitere bedeutungsvolle Aufgabe zugedacht: den Beziehungen des einzelnen Menschen zur Staatsgewalt, dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft eine tragfähige rechtliche Grundlage zu geben und damit für die Staatstheorie und -praxis Ansatzpunkte zu bieten, aus denen neue Formen staatlicher Ordnung wie des Gemeinschaftslebens hätten entwikkelt werden können.
Zwar spiegelte der Grundrechtsteil die politische und soziale Zerklüftung einer modernen Industriegesellschaft wider, er war aber weit mehr als das Zeugnis eines verfassungsrechtlichen Eklektizismus. Insofern greift der bereits von Zeitgenossen vorgebrachte Vorwurf, der Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung sei nichts weiter als eine „verspätete Renaissance der Welt von 1848“ zu kurz. Es muß anerkannt werden, daß die Nationalversammlung sich bemühte, ethische Werte in Politik und Wirtschaft deutlich herauszustellen: Gerade der zweite Hauptteil enthielt zahlreiche Ansätze eines umfassenden Sozialprogramms, das durch die Gesetzgebung hätte ausgebaut werden können. Dagegen berücksichtigten die Abgeordneten der Nationalversammlung zu wenig, daß neben den in der Verfassung festgeschriebenen Freiheitsrechten als unabdingbares Korrelat eine Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber festgeschrieben werden muß. Letztlich wurzelte diese auf fatale Weise falsche Vorstellung von der demokratieimmanenten Bewegungsfreiheit in einem zu großen Vertrauen darauf, daß sich alle gesellschaftlichen Gruppen im Rahmen rechtsstaatlicher Legalität bewegen würden.
Allerdings wird auch deutlich, daß die Weimarer Verfassung -in einem weit höheren Maße als die Bismarcksche Reichsverfassung -den Charakter einer theoretischen, grundsätzlichen, nach Perfektion strebenden Lösung trug. Neben den Elemen-ten direkter Demokratie wie Volksentscheid und Volksbegehren zeigt sich dieses Ziel vor allem in den Bestimmungen, die das Amt des Reichspräsidenten, seine Rechte und Pflichten, umreißen. Die unmittelbare Wahl durch das Volk verlieh seinen umfassenden Befugnissen eine demokratische Legitimation und machte ihn vom Reichstag unabhängig. Zudem war die Verfassung sorgsam darauf bedacht, ihn als das Haupt der Exekutive mit einer eigenen starken Autorität auszustatten.
Die kunstvolle Balance von Reichspräsident und Reichstag und ihrer Zuständigkeiten als tragende Pfeiler des gesamten Verfassungsbaus war der eigentlich maßgebliche systematisch-strukturelle Gedanke der Weimarer Reichsverfassung. Trotzdem waren sich weder so kritische Denker wie Hugo Preuß oder Max Weber noch die Mehrheit der Nationalversammlung dessen bewußt, welche Machtmittel dem Reichspräsidenten -besonders mittels der Parlamentsauflösung und des Ausnahmezustandes -in die Hand gegeben wurden. Die auf dem Gedanken des Gleichgewichts der obersten Staatsorgane basierende Konstruktion, die in dem Reichspräsidenten eine Art Nothelfer sah, der in Krisenzeiten, „in der Stunde der Gefahr... in den Streit der Meinungen mit ernsten Worten eingreift“ wog jedoch weit weniger schwer als die Tatsache, daß die Verfassung keinerlei Vorkehrungen enthielt, die den Staat vor regierungsunfähigen Parlamentsmehrheiten schützen konnten. Dieses Mißverhältnis erwuchs unmittelbar aus der Vorstellung von Aufgabe und Funktion der Parteien. In ihrer Furcht vor einem Parlaments-absolutismus übersahen die Abgeordneten die Gefahren, die aus einer übermäßigen politischen Schwächung des Reichstags erwuchsen. So verkannte die Verfassung die wichtigsten Aufgaben und Pflichten der Parteien, zur politischen Willensbildung beizutragen und den pluralistischen Charakter einer modernen Gesellschaft zu spiegeln, was diesen die „Flucht aus der Verantwortung“ außerordentlich erleichterte. Darüber hinaus rechnete sie zu wenig mit der Möglichkeit, daß auch von der Seite des Reichspräsidenten her die parlamentarische Demokratie erschüttert werden könnte.
Die Weimarer Reichsverfassung -konsequent auf dem demokratischen Mehrheitsprinzip aufgebaut -war weit elastischer konstruiert als das Bonner Grundgesetz; dies war zugleich ihre größte Stärke und ihre größte Schwäche. Alles hing davon ab, in welchem Geiste sie gehandhabt wurde -ihr Schicksal wurde weniger von systemimmanenten Strukturfehlern bestimmt, sondern weit eher durch das Handeln und Unterlassen jener Männer, die in der Krise der Republik an den Schalthebeln der Macht saßen. So ist es problematisch, bei einer rein technischen Kritik der Verfassung, bei einem Abwägen ihrer Vorzüge und Mängel stehenzubleiben. Es wäre sicherlich zu vordergründig gedacht, wollte man glauben, daß ein System von Paragraphen allein aufgrund seiner Existenz die Fähigkeit besessen hätte, die politische Wirklichkeit vollkommen zu dirigieren.
Jedes Grundgesetz eines Staates erhält seinen Charakter nicht allein aus den einzelnen Verfassungsbestimmungen, sondern auch durch das menschliche Wirken, das diese Bestimmungen erst mit Leben erfüllt. Das Scheitern der Weimarer Republik kann nicht in gerader Linie auf die Bestimmungen der Weimarer Verfassung zurückgeführt werden, ebensowenig wie die Stabilität der politischen Verhältnisse in Deutschland eine unmittelbare Folge der Normen des Bonner Grundgesetzes gewesen ist, dem -im Zeichen eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs und stabiler politischer Verhältnisse -eine ernste Belastungsprobe bisher erspart blieb.
Zudem verdient die unter beträchtlichen Schwierigkeiten erbrachte Leistung der Weimarer Verfassungsväter und -mütter größte Hochachtung: die Erhaltung der Staatlichkeit des Deutschen Reiches und die Begründung einer von sozialer Verantwortlichkeit geprägten demokratischen Republik. Die Nationalversammlung hat sich redlich bemüht, Hindernisse zu vermeiden, die der Entwicklung einer die Republik als Verfassungsordnung und politisches System tragenden politischen Kultur entgegenstanden: Sie rückte die Mitwirkungs-und Mitverantwortungsbereitschaft aller Bürger in den Mittelpunkt, aus der heraus jedes Staatswesen lebt und die für seine Existenz unerläßlich ist. Insofern hatte sie beispielhaft die Aufgabe gelöst, die Hugo Preuß an die Verfassung gestellt hatte: „Keiner Verfassung ist es gegeben, die für ein gedeihliches Zusammenleben unentbehrliche Solidarität zwischen Volk und Regierung, von Gesamtheit und Gliedern durch Rechtsbestimmungen zu schaffen; das ist Sache der Volkserziehung in deren höchstem Sinne, der Entwicklung politischer Gesinnung. Aber eine Verfassung kann und soll Hindernisse vermeiden, die der Entwicklung solcher Solidaritätsgesinnung entgegenstehen und Einrichtungen schaffen, die diese Entwicklung erleichtern.“